Читать книгу Von Jerusalem nach Marrakesch - Ludwig Witzani - Страница 10

„Buy one Jesus
and get one Paulus for free“ Tage in Jerusalem

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Dann flogen die Steine. Zu spät merkte ich, dass es ein Fehler gewesen war, mit der staatlichen israelischen Busgesellschaft Egged auf dem kürzesten Weg nach Jerusalem zu fahren. Denn dieser Weg führte durch das arabische Westjordanland. In der Nähe der Stadt Nablus wurden aus einer Menge von Halbwüchsigen heraus Steine gegen den Bus geschleudert. Rückscheinwerfer und Fenster klirrten. Hasserfüllte Blicke, Fäusteschütteln gegen den israelischen Bus. Zwischen Nablus und Ramallah nahm die israelische Militärpräsenz an allen größeren Kreuzungen zu. Der Busfahrer beklagte sich bei den Soldaten über die Steinwerfer aus Nablus. Die Soldaten hörten ihm mit resignierten Gesichtern zu. Was sollten sie auch tun? Hinter Ramallah wurden wir umgeleitet. Wieder mussten wir warten, weil brennende Reifen den Weg versperrten.

Kurz vor Jerusalem begann es heftig zu schneien, und ein eiskalter Wind fegte über die Berge. Nässe, Kälte, Dunkelheit auf dem Busbahnhof in einem Vorort von Jerusalem. Nichts zu sehen außer Schneematsch, grauen Häuserfassaden und Passanten, die mit hochgeschlagenen Mantelkragen davoneilten. Ich war noch unschlüssig, wohin ich mich wenden sollte, als plötzlich ein junger Mann vor mir stand, der mit Nachdruck eine Unterkunft in der Neustadt von Jerusalem samt Frühstück anpries. Er selbst hatte an diesem Tag wohl noch kein Frühstück erhalten, denn er sah abgezehrt und heruntergekommen aus. Doch er wies mir den Weg zu einem warmen Bett, nach dem mich jetzt mehr als alles andere verlangte, und so folgte ich ihm.

Nach einem kilometerlangen Fußmarsch, bei dem mir fast die Füße abfroren, erreichten wir ein Wohnhaus in einer abgelegenen Straße und klingelten an einer Wohnungstüre im zweiten Stock. Alle Zimmer dieser Wohnung, selbst die Flure, waren mit Doppelbetten zugestellt, in denen Gäste aus aller Herren Länder frierend unter dünnen Decken lagen. Eine verhärmte mittelalte Frau verlangte meinen Pass und sofortige Vorkasse, für die sie mir eine dünne Decke und das Ticket für das Frühstück am nächsten Morgen überreichte. Ihr Gehabe war unfreundlich und herrisch, gierig schaute sie auf meine Geldbörse, als ich die Scheine herausholte. Nach längerem Suchen fand ich in einem stockdunklen Zimmer im hinteren Wohnungsteil ein leeres Bett. Die Laken waren zerwühlt und unsauber, doch es war so bitterkalt, dass ich voll angezogen sofort unter die Decke kroch. Ich verknotete die Schlaufe meiner Kamera mit meinem Gürtel und die Trägerriemen meines Rucksacks mit den Bettpfosten. Leider war an Schlafen nicht zu denken, denn ich lag Kopf an Kopf mit einem älteren Mann, der die gesamte Tonleiter herauf- und herunterschnarchte, zuerst röchelnd, dann fiepend und gurgelnd, immer höher in der Tonlage, als schlösse sich seine Luftröhre, bis er schließlich in einem wilden Schnaufen aufwachte und nach Luft schnappte – um kurz darauf wieder von vorne anzufangen. Als ich dann doch einschlief, versank ich in wirren Träumen, aus denen ich herausgerissen wurde, als mir jemand meine Decke wegziehen wollte. Ich fuhr hoch und riss die Decke an mich, während der Deckendieb fluchend von dannen zog.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, erblickte ich im fahlen Licht der Morgendämmerung einen Raum mit sechs Doppelbetten, die alle belegt waren. Krausköpfe, Blondschöpfe, Glatzköpfe und Käppiträger ragten über den Rand der Decken, ein Afrikaner war bereits wach und blickte mich glasig an, denn er hatte sich gerade einen Joint reingezogen. Auch der Röchler im Nachbarbett war aufgewacht und hustete sich derart aus, dass der Schleim durch die Gegend flog. Seine Bronchitis habe er sich geholt, als er „mangels Kohle“ 14 Tage lang am Strand von Haifa habe schlafen müssen, erzählte er. Dann hätten ihn die Israelis aufgegriffen und ihn in eine eiskalte Gefängniszelle gesteckt, was ihm den Rest gegeben hätte.

Als ich aufstand und durch die Wohnung lief, zählte ich etwa vierzig bis fünfzig Menschen, für die gerade mal ein Bad und eine Toilette zur Verfügung standen. In der Küche warteten die ersten Traveller, um unter der Aufsicht eines jungen Israeli einen dünnen Tee entgegenzunehmen. Ihre Gesichter waren von Kälte und Erschöpfung gezeichnet, sie waren ins Heilige Land gekommen und in einer Vorhölle gelandet, in der es natürlich auch das versprochene Frühstück nicht gab. Was von dem jungen Israeli zu erhalten war, war eine Scheibe Weißbrot mit einem sparsamen Schlag Marmelade. Wer mehr wollte, musste zahlen. Ich trank den Tee, ergriff meinen Rucksack und verließ die Wohnung. Erst im Bus bemerkte ich, dass mir meine Israelkarte, die locker in der Außentasche des Rucksacks gesteckt hatte, gestohlen worden war.

Schon das erste Zimmer, das ich mir in der Altstadt von Jerusalem ansah, gefiel mir so gut, dass ich es gleich für mehrere Nächte im Voraus bezahlte. Es hatte zwar auch keine Heizung, aber ein geräumiges Bett mit drei warmen Decken, eine Nachttischlampe, Tisch und Stuhl und ein kleines Bad, in dem ich mich erst einmal gründlich wusch. Von meinem Fenster aus konnte ich am Ende einer Gasse das Jaffator sehen, gegenüber befanden sich eine öffentliche Garküche, daneben eine Schneiderei und eine Teestube. Die Vermieter meines Zimmers waren zwei arabische Brüder, die mir sofort nach der Anmietung einen Tschai mit Keksen ins Zimmer brachten. In dieser Nacht war es genauso kalt wie in den Nächten vorher, doch ich schlief unter den warmen Decken tief und fest.

Am nächsten Morgen fiel noch mehr Schnee in Jerusalem, und ich sah, wie die Araber dick vermummt durch die Straßen liefen. Zu meiner Überraschung brachten mir meine Vermieter einen kleinen Heizstrahler ins Zimmer, der aber nur eine halbe Stunde arbeitete, ehe der Strom ausfiel. Ich zog mich so warm an wie möglich, schlang mir meinen dicksten Schal gleich mehrfach um den Hals und begann meinen ersten Rundgang durch die Heilige Stadt. Viel zu sehen gab es nicht, denn die Araber hatten wieder einmal einen Generalstreik ausgerufen. Hochgezogene Eisengitter, verunsicherte Touristen auf der Suche nach der Via Dolorosa. Finstere Blicke aus den Hauseingängen. Wohin ich auch kam: nichts als gähnende Leere auf den Straßen. Kein Teeausschank an den Straßenecken, kein Gewürz- oder Mandelduft an der Nähe der Moscheen. Sogar die Souvenir-Shops waren geschlossen.

Ich ging in mein Zimmer am Jaffator zurück, lege mich unter die dicken Decken ins Bett, bis es mir warm wurde und begann ein wenig in meinen Reiseführern zu lesen. Wo immer ich das Buch auch aufschlug, die Nachricht war immer dieselbe: Die Geschichte des Heiligen Landes war eine lückenlose Aufeinanderfolge von Blut und Tod. Folgte man der Bibel, begann alles mit der langen Wanderung Urvaters Abrahams vom Zweistromland nach Palästina. Hier ließen sich die Israeliten in der Stadt Hebron nieder, weswegen sie in den ersten Jahrhunderten ihrer Geschichte auch als „Hebräer“ bezeichnet wurden. Die archäologische Forschung zeigte ein etwas anderes Bild: Demnach erreichten die Israeliten als versprengte Reste der Seevölker Palästina im 13. oder 12. vorchristlichen Jahrhundert. Ein mörderischer Vernichtungskampf gegen die einheimischen Philister und Amalekiter führte zur Einigung der jüdischen Stämme und zur Einführung des Königtums. Dieser Vorgang aus altvorderen Zeiten war den Palästinensern heute noch gegenwärtig, denn sie erkannten darin nicht mehr und nicht weniger die Blaupause der zweiten jüdischen Landnahme im 20. Jahrhundert.

Im Zuge dieser frühgeschichtlichen Kämpfe hatte König David um 1000 vor der Zeitrechnung Jerusalem erobert und die Stadt zur Hauptstadt Israels erhoben. Sein Sohn König Salomo baute den ersten Tempel, der 587 vor Christus von den Babyloniern zerstört wurde, ein traumatisches Ereignis der jüdischen Geschichte, weil im Zusammenhang mit der Zerstörung des großen Tempels die Bundeslade verloren ging. Da nicht ganz auszuschließen ist, dass auch jugendliche Leser dieses Reisebuch studieren werden, hier nur zur Erklärung: Die Bundeslade ist das geheimnisvolle Objekt, dem Harrison Ford in „Jäger des verlorenen Schatzes“ nachspürt. Für alle anderen: Die Bundeslade war der mythische Behälter der zehn Gebote, die Gott auf dem Sinai Mose übergeben hatte.

Wie immer es auch gewesen sein mochte, auch ohne Bundeslade wollten die Juden auf ihren Tempel nicht verzichten. So errichtete Serubabel, der letzte Spross der davidischen Dynastie, unter der Herrschaft der Perser den zweiten Tempel, den der Seleukide Antiochos IV 169 vor Christus in Schutt und Asche legte. Herodes der Große ließ kurz vor der Zeitenwende den dritten Tempel errichten. Ganz fertig wurde er erst im Jahre 64, nur wenige Jahre, bevor er von den Römern 70 nach Christus zerstört wurde. Als Kaiser Hadrian im Jahre 130 auf dem verwaisten Tempelberg einen Jupitertempel errichten ließ, erhoben sich die in der Stadt verbliebenen Juden unter der Führung des charismatischen Pseudomessias Bar-Kochba zu ihrem letzten Aufstand. Diesmal machten die Römer reinen Tisch. Eine halbe Million Juden wurde erschlagen, der Rest wurde versklavt oder aus dem Land gejagt. Weil es den in Palästina verbliebenen Juden verboten war, Jerusalem zu betreten, wurde Tiberias am See Genezareth durch Verlegung des Sanherib (des großen Rates) zum neuen Zentrum des Judentums.

Mit dem Siegeszug des Christentums in der Spätantike verbesserte sich die Lage der Juden kaum, auch wenn ihnen Kaiser Konstantin wieder erlaubte, an besonderen Festtagen Jerusalem zu betreten. Gedankt haben die Juden den Christen das nicht. Als die persischen Sassaniden im Jahre 618 Jerusalem eroberten, unterstützten die Juden die Perser bei der Zerstörung sämtlicher christlicher Kirchen der Stadt. 629 nahm der siegreiche byzantinische Kaiser Herakleios dafür grausame Rache: Alle Synagogen Jerusalems wurden zerstört, und die Christen kippten ihren Müll auf den Tempelberg. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass all diese Ereignisse nur Intermezzi waren oder besser: nur das Vorspiel eines viel fundamentaleren Wandels, der das Gesicht der gesamten bekannten Welt in weniger als einem Jahrhundert fundamental verändern sollte: der Expansion des Islam.

Schon 638, sechs Jahre nach dem Tod des Propheten, eroberte der Kalif Omar Jerusalem, und es dauerte nicht lange, da wurde die Stadt auch für die Moslems heilig, weil man den Ort der Himmelfahrt des Propheten kurzerhand von Mekka nach Jerusalem verlegte. Mit dem Bau des Felsendoms und die Errichtung der Al-Aqsa-Moschee auf dem jüdischen Tempelberg veränderten die Moslems die religiöse Geometrie der Stadt für immer. Eine dritte Weltreligion hatte ihre Hand auf die Stadt gelegt, fest entschlossen, sie nie mehr aus ihrer Kontrolle zu entlassen.

Trotzdem lebten die Juden während der gesamten Zeit der Diaspora unter der Herrschaft der Muslime freier und unbedrängter als unter den Christen, die die Juden als „Jesusmörder“ verfolgten. Ein wirklicher Bevölkerungszuwachs des Judentums im Sinne einer ersten zaghaften Rückwanderung aus der Diaspora setzte erst unter der türkischen Herrschaft ein, als der Sultan den aus ihrer Heimat vertriebenen spanischen Juden im Jahre 1492 die Ansiedlung im Heiligen Land (und hier vor allem in Zefad) gestattete. Damit wurde Zefad zur vierten heiligen Stadt der Juden, zum Ort der Neuinterpretation des Talmuds und zum Sitz des Großen Rates. Unter Sultan Suleiman dem Prächtigen entstanden im 16. Jahrhundert sogar Pläne für die Etablierung eines halbautonomen jüdischen Staatswesens unter osmanischer Oberhoheit.

Die Gründung Israels vollzog sich aber dann doch ganz anders, und zwar als Folge des Zusammenspiels von europäischem Nationalismus und moderner Antisemitismus. Als Pogrome und Judenhass Europa am Ende des 19. Jahrhunderts erschütterten, entstand der Zionismus als politische Reformbewegung und propagierte die Etablierung eines eigenen jüdischen Nationalstaates - und zwar nirgendwo anders als im Land der Väter! In mehreren Einwanderungswellen kehrten die die Juden seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts nach Palästina zurück, kauften das Land von reichen Scheichs aus Damaskus und Beirut, machten es urbar und wussten es gegen die gleichzeitig einsetzende Zuwanderung von Arabern aus den Nachbarregionen zu verteidigen.

Die eigentliche Staatsgründung Israels nach dem Zeiten Weltkrieg wurde für den arabischen Kulturkreis dann zu einem traumatischen Ereignis. Die kleine Streitmacht des neuen Staates besiegte scheinbar mühelos fünf arabische Armeen und etablierte aus der Perspektive der Moslem einen Stützpunkt des Kolonialismus erneut im Herzen der arabischen Welt. Damit waren die traditionell eher guten Beziehungen zwischen Judentum und Islam auf einen Schlag beendet. Die israelisch-arabische Feindschaft wurde zu einem unverrückbaren Eckpfeiler der Weltpolitik.

Am nächsten Tag schien eine zaghafte Sonne über Jerusalem. Mein Frühstück nahm ich im Teehaus auf der anderen Straßenseite, ehe ich die Klagemauer besuchte. Ich erreichte einen großen freien Platz im arabischen Viertel, an dessen Stirnseite sich eine streng bewachte Mauer aus großen Quadern befand. Sie war neunzehn Meter hoch und galt als der letzte Überrest des alten Tempelberges. Vor der Mauer standen zahlreiche Besucher und steckten kleine Zettelchen in die Ritzen der Klagemauer. So hatte es auch der israelische General Mosche Dayan gemacht, der 1967 nach der Eroberung Ost-Jerusalems zur Klagemauer gegangen war und einen Zettel mit dem Wort „Schalom“ zwischen die Steinritzen gesteckt hatte. Dieser Wunsch hatte sich nicht erfüllt, im Gegenteil: gerade an der Klagemauer hatten sich in den letzten Jahren immer wieder neue Konflikte entzündet. Mal verlangten radikale Israelis Zutritt zu den moslemischen Moscheen auf dem Tempelberg, mal warfen Moslems Unrat und Dreck von oben auf die jüdischen Besucher der Klagemauer. Aber auch an der Klagemauer selbst flogen die Fetzen. Ich saß gerade erst entspannt auf einer Brüstung und betrachtete die betenden Männer und Frauen, die nach Geschlechtern getrennt vor der Klagemauer standen, als plötzlich ein Trupp jüdischer Frauen unter großem Geschrei in den Männerbezirk eindrang. Keine Geschlechterdiskriminierung an der Klagemauer, das war ihre Forderung. Ehe sich die Frauen versahen, hatten die würdigen alten Herren, die gerade noch inbrünstig vor der Klagmauer mit Jahwe kommuniziert hatten, ihre Krückstöcke ergriffen, um damit umstandslos auf die Frauen einzuprügeln. Geschrei, Getümmel und Gekreische an einem der heiligsten Plätze des Judentums. Erst der Armee, die immer im Umkreis der Klagemauer in Alarmbereitschaft stand, gelang es nach einiger Zeit, die Parteien zu trennen. Unter lautstarkem Protest, mit Stinkefingern und Flüchen mussten die Frauen den Männerbezirk wieder verlassen.

Nach dem Besuch der Klagemauer bestieg ich den Tempelberg. Er war über vier Treppen zu erreichen, und ebendort, wo sich die alten Tempel der Juden befunden hatten, erhob sich nun der große mohammedanische Felsendom. Er wirkte weder mohammedanisch, jüdisch oder christlich, sondern er war ein Gebäude ganz eigner architektonischer Ordnung, eine berauschende Synthese aus byzantinischer und arabischer Formensprache. Ein Oktagon mit zwei Reihen von Trägerblöcken und Säulen umschlossen im Innern des Doms den heiligen Felsen, der einige Meter aus dem Boden ragte. Dieser heilige Felsen war ein Gestein von eminenter religiöser Bedeutung, weil auf ihm nicht nur Abraham und David geopfert haben sollen, sondern auch, weil nach der moslemischen Überlieferung der Prophet Mohammed in der Nacht seines Todes von diesem Felsen aus auf seinem Pferd Buraq gen Himmel geritten sein soll. Ich war fast ein wenig enttäuscht darüber, dass der Islam, diese vornehme Religion der Anschauungsenthaltung, nicht darauf verzichtet hatte, einen vermeintlichen Fußabdruck von Mohammeds Pferd auf dem Felsen zu hinterlassen. Dafür waren die Schönheit der Ornamente und die Farbenpracht der Innenausstattung unbeschreiblich. Die Kuppel hoch über dem Felsen erschien mir für einen Moment tatsächlich wie der Eingang zum Himmel, als ein magisches Licht durch die bunten Glasfenster in die Halle fiel.

Und doch war diese Pracht kein Spiegel der geschichtlichen Wirklichkeit sondern das Element einer großen historischen Manipulation. Als der arabische Kalif Abd el-Malik im Jahre 683 einen Aufstand in Mekka hatte niederschlagen müssen, war die Kaaba zerstört worden. Da die muslimische Weltgemeinde bis zur Wiederrichtung der Kaaba ein neues kultisches Zentrum benötigte, war der Kalif auf die Idee verfallen, Mohammed mit dem Tempelberg in Verbindung zu bringen. Auf diese Weise war, von offizieller Propaganda unterstützt, die Mär von Mohammeds Himmelfahrt vom Tempelberg aus direkt ins Paradies entstanden. Schmälerte diese rückwirkende Neugestaltung der mohammedanischen Überlieferung den Wert des Felsendoms? Natürlich nicht. Er stand als eine der großen Offenbarungen der Kunst ganz für sich, denn die meisten großen Bauwerke der Weltkulturen beruhen auf Vorstellungen aus der geschichtlichen Fantasie.

Das Kidrontal zwischen den Stadtmauer und dem Ölberg ist die wichtigste Adresse der Welt - jedenfalls nach dem Verständnis eines orthodoxen Juden. Es handelte sich um jenen Ort, an dem nach jüdischem Glauben das Jüngste Gericht stattfinden soll – kurz nachdem in Meggido die letzte Schlacht der Weltgeschichte geschlagen worden wäre. Kein Wunder, dass sich die Juden gerne in der Umgebung des Kidrontals begraben ließen. Wenn es soweit war, würden sie sich nur noch aus ihren Gräbern erheben müssen und befänden sich sofort mitten im Geschehen.

Als ich den Berg Zion erkundete, stieß ich auf das Grab König Davids, das als jüdisches Nationalheiligtum wahrscheinlich alles Mögliche beherbergte, nur nicht die sterblichen Überreste des ersten Judenkönigs. Gleich nebenan konnte man ein Gewölbe besichtigen, von dem allen Ernstes behauptet wurde, in ihm hätte das letzte Abendmahl stattgefunden. Am Ende brach ich meinen Rundgang ab, denn es war fast zu viel für einen Tag: das Jüngste Gericht, Davids Grab und das letzte Abendmahl – in Palästina purzelten die Epochen und Bezüge derart durcheinander, dass alles scheinbar Geschichtliche seinen Kontext abstreifte um als Kitsch, Fake oder Streitobjekt gleich in die Gegenwart zu springen. Zu viel Geschichte und Religion an einem einzigen Ort.

Große Hinweistafeln verlangten am Eingang des Stadtteils Mea Shearim von den Besuchern ordentliche Kleidung und zurückhaltendes Betragen. Jeder, der sich nicht daran hielt, musste mit rüden Reaktionen der Anwohner rechnen. Es gab kein Fernsehen, keine Jugendkriminalität, keine Waschmaschinen und Kühlschränke, dafür jede Menge Kaftane, Kohlsuppen und gefillte Fisch. Willkommen in der Parallelgesellschaft der ultraorthodoxen Juden im Jerusalemer Neustadtviertel von Mea Shearim, der Hauptstadt von Bigotterie und Schmarotzertum unter der Tarnkappe weltentrückter Gläubigkeit. Selbstverständlich verweigerten die Ultraorthodoxen von Mea Shearim den Wehrdienst in der israelischen Armee, nahmen aber gerne die Unterstüzungszahlungen des Staates an. Mit ihren knöchellangen schwarzen Mänteln, den gestreiften Kaftanen und den schwarzen Strümpfen wirken die Gestalten, die mir in den Gassen Mea Shearims begegneten, wie Karikaturen aus den osteuropäischen Ghettos der frühen Neuzeit. Die meisten Bewohner von Mea Shearim sprachen jiddisch, weil ihnen das Hebräische heilig war und ihrer Ansicht nach für die kultischen Verrichtungen reserviert bleiben sollte. Das ganze Viertel wirkte ärmlich und bizarr, aber das Befremdlichste, was ich in Mea Shearim zu sehen bekam, waren die Kinder, die mit ihren Schläfenlöckchen zu beiden Seiten ihrer Köpfe wie kleine Teufel aussahen und die den Besuchern frech und selbstbewusst entgegentraten. Trotzdem machte der Sittenverfall auch vor Mea Shearim nicht halt. Ein orthodoxer Jude mit Kaftan und Zottelbart schwankte mit angesäuselt entgegen und lallte: „Gib mihr a Scheeekel“ Ich ging weiter und verstand plötzlich, warum die orthodoxen Juden bei den normalen Israelis so unbeliebt waren, denn es musste sie nerven, in ihrer Gestalt noch immer mit einem Zerrbild der eigenen Identität konfrontiert zu werden.

Einen ganzen Tag lang wandelte ich auf den Spuren der Christuspassion. Mein Cicerone war meine Fantasie, denn allzu viel vom Leidensweg Christi war nicht mehr erhalten geblieben. Um die Wahrheit zu sagen: es war überhaupt nichts Originales zu sehen, sondern nur ein Sammelsurium zweitrangiger Kunstwerke und Orte, deren Authentizität alles andere als gesichert war. Trotzdem fiel jedem Besucher in den engen Gassen der Altstadt die Orientierung leicht, denn die Araber säumten nicht nur mit ihren Shops die gesamte Länge des Weges, sondern versahen ihre Läden dankenswerterweise mit Anspielungen auf den Namen der jeweiligen Passionsstation. An der Station IV „Jesus begegnet seiner Mutter“ konnte sich der Tourist im Andenkenshop „Spasm of Holy Maria“ nach passenden Souvenirs umsehen. Gleich neben der Station VI „Die heilige Veronika trocknet Jesu den Schweiß“ lud der Kaffeeshop „Holy Veronica“ zum Verweilen ein. Überall verlockende Angebote wie „We print one T-Shirts in 10 Seconds“ oder „Buy one Jesus Skulptur and get one Paulus for free.“ Sogar auf der Rückseite des Jesusgrabes kroch ein armenischer Priester herum und bot den Gläubigen „Holy Candles“an.

Insgesamt passierte ich in dieser Weise folgende vierzehn Stationen des Leidesweges:

I Jesus wird zum Tode verurteilt
II Jesus nimmt das Kreuz auf sich
III Jesus stürzt unter dem Gewicht des Kreuzes zusammen
IV Jesus begegnet seiner Mutter
V Simon von Kyrene hilft Jesus
VI Die heilige Veronika trocknet Jesus den Schweiß
VII Jesus stürzt zum zweiten Mal
VIII Jesus spricht zu den weinenden Frauen
IX Jesus stürzt zum dritten Mal
X Jesus wird entblößt und mit Galle getränkt
XI Jesus wird ans Kreuz genagelt
XII Jesus stirbt am Kreuz
XIII Kreuzabnahme
XIV Grablegung

Die Stationen X bis XIV befanden sich bereits in der Grabeskirche, vor deren Eingang sich die Touristengruppen zu allen Tageszeiten stauten. Die Grabeskirche von Jerusalem war die heiligste Kirche der Christenheit, aber es war ein Heiligkeit, die derart profaniert war, dass sich Jesus, wäre er nicht längst wieder auferstanden, vor Widerwillen im Grab umdrehen müsste. Eingezwängt im Muslimviertel an der Grenze zum Christenviertel, umlagert von Geldwechslern und Tschaiverkäufern, immer von Bauarbeiten verunstaltet und so verwinkelt gebaut, dass sich von keinem Punkt aus eine Gesamtansicht ergab, im Innern zentimeterweise zwischen den einzelnen christlichen Konfessionen parzelliert, glich sie eher einem religiösen Rummelplatz als einem Ort der Andacht und der Besinnung. Rechts neben dem Eingang befand sich der Platz des muslimischen Auf- und Zuschließers, es folgte der Salbungsstein, rechts davon der Ort der Kreuzigung und des Todes. Wandte man sich nach links, gelangte man unter eine große Rotunde, in der man einen Blick auf die leere Grabkapelle werfen konnte. Gebückt bewegten sich die Pilger im Entengang durch den Grabraum, argwöhnisch beobachtet von bärtigen Hierokraten, ehe sie einen vollkommen verkitschten kleinen Raum mit dem leeren Grab erreichten, dessen Inneres aber nicht zu sehen war, weil zwei Marmorplatten auf ihm lagen.

Gegenüber der Grabeskapelle öffnete sich der Eingang zur Kapelle der heiligen Helena, der Mutter Kaiser Konstantins des Großen. Der Kaiser hatte schon im Jahre 325 den Aphrodite Tempel auf dem Golgatha Hügel abreißen und eine erste Grabeskirche erbauen lassen. Wer jenseits der Kapelle der heiligen Helena noch nicht genug hatte, konnte eine Station weiter eine Kapelle besuchen, die an dem Ort errichtet worden war, an dem man das Original-Kreuzigungsholzkreuz gefunden haben wollte. Kein geringer als der später erschossene unglückliche Kaiser Maximilian von Mexiko hatte den Altar dieser Kapelle gestiftet.

So lief ich von Station zu Station, von Wand zu Wand und Bild zu Bild und wurde immer ernüchterter. Am Ende sehnte ich mich regelrecht nach einer völlig bilderfreien und geräumigen Moschee, in der ich mich von diesem Religionskitsch erholen könnte. Obwohl ich mit dem Islam meine Schwierigkeiten habe und das Christentum in ethischer Hinsicht ungleich höher schätze, gebührte dem Islam, dieser stolzen Religion der Selbstgewissheit, im Hinblick auf die ästhetische Gestaltung seiner Gotteshäuser Anerkennung und Bewunderung. In den Augen der Pilger habe ich an diesem Tagen nicht erkennen können, ob sie ähnlich empfanden. Ich beobachtete nur, wie sie, von ihren Reiseführern einer kompletten Verdinglichung ausgesetzt wurden: Ihnen wurden zusammengeklaubte Artefakte als Objekte mit Heilsgehalt verkauft, als regelrechte Fetische, von denen behauptet wurde, ihre Gegenwart sei dazu angetan, die Gnade des Herrn in besonderer Weise anzuziehen. Konnte man sich überhaupt etwas Heidnischeres vorstellen? Was ich in der Grabeskirche zu sehen bekam, war im Kern nichts anderes als eine Religion des Befingerns. Was der Pilger küsste, streichelte oder begrabschte, war eigentlich egal: Hauptsache der Fetisch stand am richtigen Ort, was aber auch nicht stimmte.

Als die Protestanten in die Religionsgeschichte eintraten, waren alle wichtigen Plätze in der Grabeskirche von Jerusalem bereits durch Nestorianer, Armenier, Äthiopier, Kopten, Orthodoxe und Katholiken vergeben. Wen wunderte es, dass sie die historische Wirklichkeit einfach uminterpretierten und sich eine andere Grabeskirche, die sogenannte Erlöserkirche, erbauten.

Als ich mich nach dem Besuch der Grabeskirche in einem arabischen Teehaus sammelte, brummte mir der Kopf. Konnte es ein, dass zu viel Mythologie Kopfschmerzen verursachte? Inzwischen hatte ich fünf Mythen kennengelernt: den jüdischen, den christlichen und den islamischen Mythos zu denen sich noch der Mythos der Kreuzfahrerzeit und der Mythos von der Entstehung des Staates Israel hinzugesellte. Allen diesen Mythen war gemeinsam, dass sie nicht nur ineinander übergingen, sondern schmerzhaft lebendig waren. Sie bestimmten das Fühlen, Werten und Verhalten der Menschen, das deswegen für einen Außenstehenden kaum verständlich war. Vielleicht war der kollektive Wahnsinn, an dem die Bewohner des Heiligen Landes litten, die Folge davon, dass die Geschichte „zu schwer“ geworden ist, dass zu viele mythische Erzählungen in den Köpfen der Menschen durcheinandergingen. Wieder hatte ich den Eindruck: Zu viel Religion auf zu engem Raum.

In Mexiko hatte ich vor einem halben Jahr die bildschöne Israelin Nurid kennengelernt, eine scheue, zarte Frau, die alleine durch Mittelamerika reiste. Sie war so ganz anders als die kampferprobten israelischen Flintenweiber, die ich von meinen indischen Reisen her kannte. Sie wünschte keine Gesellschaft, jedenfalls keine ständige, so dass es mir in Mexiko nur hin und wieder gelungen war, mich in ihrer Gegenwart festzusetzen, sie scheinbar beiläufig zu befragen, sie zu bestaunen und mich schließlich in sie zu verlieben. Ich bin sicher, dass sie meine Zuneigung bemerkte, doch da ich mich zurückhielt, duldete sie meine Gegenwart schließlich doch. Wir spazierten über den Strand von Puerto Escondido, und sie erzählte vom Kibbuz, von ihrem Onkel, der im Libanon gefallen war, von Haifa und ihren Plänen, Lehrerin zu werden, eine Lehrerin für israelische und für palästinensische Kinder gleichermaßen. Ich hatte ihr erzählt, dass ich über den Jahreswechsel durch Israel reisen würde, und sie hatte nicht den Kopf geschüttelt, als ich ihr etwas dreist ankündigte sie bei dieser Gelegenheit in Jerusalem anrufen zu wollen. Dass sie mir sogar ihre Telefonnummer gab, hatte mir den Tag vergoldet, und so hatte mich ihr Bild in den letzten Monaten bei der Vorbereitung der Reise begleitet. Allerdings hatte ich den Anruf nach meiner Ankunft in Israel immer wieder vor mich hinausgeschoben.

Endlich fasste ich mir ein Herz und rief eine Jerusalemer Nummer an. Ein Mann nahm ab und war überrascht, als ich nach Nurid fragte. Als ich ihm erklärte, wer ich sei und dass ich Nurid in Mexiko kennengelernt hatte, berichtete er, dass ich Nurid nicht sprechen könne, weil sie verschwunden sei. Die letzte Nachricht von ihr habe die Familie im Oktober aus Chihuahua in Nordmexiko erhalten, und das letzte, was man von ihr wusste, war, dass sie über Ciudad Juarez und El Paso in die USA einreisen wollte. Seitdem habe man nichts mehr von ihr gehört. Nurids ältester Bruder befinde sich zurzeit in Amerika, um nach ihrem Verbleib zu forschen. Ich schwieg und wusste nicht, was ich sagen wollte. Nurid, diese zarte Blume, auf der Avenida de los Bandidos zwischen Ciudad Juarez und Chihuahua? Allein bei dem Gedanken wurde mir übel. Dann fragte Nurids Bruder, ob ich mir vorstellen könnte, wo sie sich aufhielte. Ich verneinte und erzählte, dass wir uns am Pazifik in der Nähe von Acapulco getroffen und nach ein paar Tagen schon wieder getrennt hätten. Und nein, fügte ich ungefragt hinzu, es war niemand bei ihr, sie war alleine unterwegs. Auf der anderen Seite sei Nuris nicht das erste Mal verschwunden, fuhr der Bruder fort. Im letzten Jahr war sie sechs Monate in Südostasien unterwegs gewesen, ohne sich ein einziges Mal zu melden. Man hatte schon die Polizei in Bangkok kontaktiert, als sie plötzlich wieder in Jerusalem vor der Türe gestanden hatte. Darauf hoffe die Familie auch jetzt, auch wenn Nurids Mutter vor Kummer kaum noch schlafen konnte. Ich hinterließ meine Mailadresse und bat um Nachricht, wenn Nurid wieder auftauchen würde. Ich habe nie wieder von ihr gehört.

Das Israel Museum war ein langgestreckter Bau auf einem der südwestlichen Hügel der Neustadt. Es bestand aus vier Abteilungen, von denen mich nur der „Schrein des Buches“ interessierte. In diesen Schrein wurden die bedeutendsten historischen Schriftrollen des Judentums aufbewahrt, unter anderem das Buch Jesaja, einige Briefe des jüdischen Freiheitskämpfers Bar Kochba und die Schriftrollen aus Qumran. Über 850 Rollen mit überwiegend theologischem Inhalts waren zwischen 1947 und 1956 in elf Felshöhlen in der Nähe vom Qumran von französischen Forschern gefunden worden, eine archäologische Sensation ersten Ranges, nach der die abenteuerlichsten Spekulationen ins Kraut geschossen waren. Die Autoren der Schriftrollen von Qumran wurden mit den Essenern gleichgesetzt, einer asketischen jüdischen Sekte der Zeitenwende, deren Angehörige im Umfeld des Toten Meeres gelebt haben sollen. Plötzlich schien es ein Neues Testament vor Jesu zu geben, manche mutmaßten sogar, dass Johannes der Täufer oder Jesus selbst in Qumran gelebt hätten. Inzwischen hatten sich diese Spekulationen gelegt, weil eine nähere Untersuchung der Schriftrollen doch ganz erhebliche Unterschiede zwischen dem Frühchristentum und den Lehren der Essener zutage gefördert hatte.

Äußerlich glich der Schrein des Buches dem überdimensionalen Deckel eines jener Tonkrüge, in denen die Schriftrollen vom Toten Meer gefunden worden waren. Im Innern waren die Ausstellungsräume Höhlen und Nischen nachgebildet, in denen man hinter Glas die Kopien der heiligen Schriften betrachten konnte. In einem Nebenraum wurde eine Sammlung jüdischer Kultgegenstände ausgestellt, hauptsächlich aus Osteuropa, aber auch aus dem iranischen und dem arabischen Kulturraum: Ziselierte Kerzen, ornamental überladene Weihrauchbehälter mit winzigen Figürchen an den Seiten, dazu alte Handschriften, Monstranzen und Thorarollen-Behälter.

Auf dem Berg Yad Vashem ging ich durch die Allee der Gerechten, eine von Nichtjuden gepflanzte und namentlich gekennzeichnete Baumreihe, die an all die Menschen erinnerte, die während des Holocaust unter Einsatz ihres eigenen Lebens Juden vor den Nazis gerettet hatten. Wer die Schicksale dieser Retter näher betrachtete, würde seine Vorurteile revidieren müssen. Es waren eben nicht in erster Linie die liberalen, toleranten, areligiösen Deutschen gewesen, die ihr Leben für ihre jüdischen Mitbürger riskiert hatten, sondern eher provinzielle, religiös geleitete Menschen, die oft Juden gar nicht leiden konnten und die ihre Hilfe allein aus ihrer christlichen Antrieb herleiteten.

Im „Monument des Kindes“ hatten die Israelis unter Einsatz von Spiegeln und optischen Täuschungen einen schier endlosen schwarzen Raum geschaffen, der von Tausenden und Abertausenden kleiner Lichter erhellt wurde. Jedes Licht stand für ein ermordetes Kind, und über ein Endlosband wurden die Namen der Kinder verlesen. Eine Nacht des Todes, wenngleich versehen mit dem Trost, dass die Namen der Kinder nicht vergessen waren, eine ungemein effektive Inszenierung des Grauens, von der ich mich fragte, ob diese ästhetisierende Vergegenwärtigung des Schrecklichen im Angesicht des letztlich Unverständlichen angemessen sein konnte. Wahrscheinlich aber war sie notwendig, denn das Gemüt des Menschen gleicht nicht nur einem Sieb, durch das alles nur hindurchgeht, sondern es ist auch so robust wie die Borsten einer Sau, so dass die Erinnerung an das Unaussprechliche auf lange Sicht auf sinnliche Anker angewiesen ist.

Im Park des Holy Land-Hotels konnten die Besucher eine Attraktion der besonderen Art besichtigen: ein im Miniaturmaßstab wiederaufgebautes Jerusalem, mit anderen Worten: eine komplett rekonstruierte antike Großstadt wie ich sie noch nie anschaulicher gesehen hatte. Erst im Angesicht dieser fußballfeldgroßen Miniaturstadt begriff ich, wie sehr Jerusalem nicht nur ein überzeitliches Phänomen sondern auch ein urbaner Organismus gewesen war, der sich im Laufe der Jahrtausende verändert hatte. Was man im Park des Holy Land Hotels sah, war nicht das Jerusalem Salomos oder Davids, sondern das Jerusalem der Zeitenwende, war eine jüdisch-syrische-hellenistische Stadt, in der Jesus predigte, gefangengenommen und hingerichtet worden war. Klein und sich wie eine Schlange den Zions Berg hinaufwindend, erkannte ich die Davidstadt, die Keimzelle Jerusalems. Nördlich davon, ein echter Blickfang innerhalb der Rekonstruktion, befand sich der Tempelberg, auf dem aber nicht der Tempel König Salomos, sondern der dritte Tempel stand, den König Herodes der Große ab 19 v. Christus hatte erbauen lassen und der schon bald nach seiner Fertigstellung von den Römern zerstört werden sollte. Oberhalb der Stadtmauer waren die drei herodianischen Türme platziert, der Luppikus, der Phasael und der Mariamne, die mit über 45m Höhe zu den höchsten Türmen des Orients zählten. Rechts daneben erstreckte sich der Palast des Herodes im Schatten der Stadtmauer. In der Oberstadt befanden sich die Bauten der Reichen und Arrivierten, unter anderem der Palast des Hohepriesters Kaiphas und Davids Grab auf dem damals noch von einer Mauer umschlossenen Berg Zion. Ein Gymnasium, eine Agora und eine Rennbahn repräsentierten die hellenistischen Bauelemente der Stadt. Hoch über der Stadt und gleich neben dem Tempelberg beherrschte die römische Antoniafestung die Stadt. Der Hügel von Golgatha, der Ort der Kreuzigung, befand sich zur Zeitenwende noch außerhalb der Stadtmauern.

Seit Beginn der Reise schleppte ich drei Kilo Kosmetik mit mir herum, die mir Alberto, einer meiner Kölner Freunde, für seine Ex-Partnerin Zahala mitgegeben hatte. Endlich kam ich dazu, sie anzurufen, um mit ihr einen Übergabetermin für die Kosmetik zu vereinbaren. Wir trafen uns in der Ben Yehuda Straße in der Jerusalemer Neustadt, keine schlechte Wahl, denn in dieser Straße war von der bedrückenden Gegenwart Israels nichts zu spüren. Ich erlebte eine Mischung zwischen Berlin und Mailand mit Straßenmusik, Cafés, öffentlichem Schmuckverkauf und jeder Menge kleiner Restaurants. Zahala kam mir mit ausgebreiteten Armen entgegen und umarmte mich, eine sympathische, etwas füllige Frau mit roten Haaren und einem runden Gesicht. Wie mir Alberto erzählt hatte, musste sie in ihrer gemeinsamen Kibbuz-Zeit ein richtiger Feger gewesen sein. Nun aber war sie eine gläubige Jüdin geworden, führte mich in ein koscheres Restaurant und erklärte mir den Sinn des koscheren Essens. Die Nichtvermischung von Milch und Fleisch, so Zahala, gehöre zum Niveau menschlicher Humanität, weil es barbarisch sei, das Fleisch der Kuh in ihrer eigenen Milch zu genießen. Es ist doch nie die gleiche Kuh, deren Fleisch und Milch wir verspeisen, dachte ich, behielt diesen Einwand aber als zu sophistisch für mich. Stattdessen fragte ich, ob man das koschere Essen mit der Abneigung gegen Pferdegulasch vergleichen könne, denn für mich gehöre es auch zum Niveau menschlicher Humanität, kein Pferd zu verspeisen. Und wie verhielte es sich mit den Chinesen, die für sich in Anspruch nähmen, die älteste Hochkultur der Welt zu vertreten, die aber zugleich alles verputzten, was ihnen auf den Teller kam? Diese Nachfragen stießen bei Zahala auf wenig Gegenliebe. Wie es sich mit dem Pferdegulasch und den Chinesen verhielte, wisse sie nicht, sagte sie, aber das koschere Essen gehe auf göttliche Offenbarung zurück, wovon beim Pferdegulasch ja wohl nicht die Rede sein könne. Als sie das Fünfte Buch Mose zitierte: „Du sollst das Zicklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen“ musste ich passen, denn an Kenntnis des Alten Testamentes konnte ich es mit Zahala nicht aufnehmen. So lenkte ich das Gespräch auf Alberto, über dessen israelische Lebensetappe ich gerne mehr erfahren hätte. Alberto war zusammen mit seiner Familie aus dem Rumänien des Diktators Ceausescu nach Israel ausgewandert, wo er mit Bruder und Schwester eine Zeitlang im Kibbuz gelebt hatte, ehe die ganze Familie nach Deutschland ausgewandert war. So hatten sich viele moderne Juden verhalten: Vor die Wahl gestellt, ein hartes Leben im Land ihrer Urväter zu führen oder ein bequemes im Land ihrer Mörder, entschieden sie sich für das zweite. Aber wer war ich, darüber zu richten? Viel witziger waren die Geschichten, die Zahala über Albertos Militärdienst zu berichten wusste. Einmal, als Alberto mit seiner Einheit auf dem Sinai stationiert war, hatte er sich in seiner Freizeit hinter eine Düne zurückgezogen und sich unter Vorlage einer Playboy-Ausgabe einen heruntergeholt. Leider wurde diese Aktion von der amerikanischen Satellitenaufklärung aufgezeichnet und dem Kommandeur des Bataillons übermittelt. „Wie kannst du unsere große Armee nur so blamieren?“ hatte der Kommandeur gebrüllt und Alberto zum Strafdienst in der Latrine eingeteilt. Das war lange her, und ich konnte ihr meinerseits berichten, wie gut sich Alberto und seine Familie in Deutschland eingelebt hatten. Nein, eine feste Beziehung habe er immer noch nicht, erzählte ich, und Zahala nickte mit wissender Miene.

Am letzten Tag meines Aufenthaltes in Jerusalem erkletterte ich den Ölberg, um mir das Gesamtpanorama der Stadt anzusehen. Im Vergleich zur Miniaturausgabe der antiken Stadt im Garten des Holyland-Hotels fehlte im Süden die Davidstadt und der umwallte Zionsberg. An der Stelle des großen Tempels erkannte ich vom Ölberg aus die Umrisse des Felsendoms, den Stolz der Moslems und den ewigen Kummer der frommen Juden. Längst hatte sich die Stadt über die alte Stadtmauer hinaus in den hügeligen Norden ausgebreitet. Es war nicht nur eine heilige Stadt, die ich erblickte sondern auch eine Großstadt mit 800.000 Einwohnern, deren Lärm bis in die Höhen des Ölberges hinaufschallte.

Als ich durch die Umgebung des Ölbergs spazierte, kamen mir drei moslemische Knaben entgegen. Einer der drei, ein schlaksiger Kerl mit einer Frisur wie ein iranisches Schaf, trat ohne Vorwarnung gegen meine Fototasche. Als ich mich ihm zuwendete, hauten die beiden anderen ab, doch der Angreifer nahm eine groteske Kampfstellung ein, etwa so, wie er sie in Kung Fu Filmen gesehen haben mochte. Er hatte eine lange Nase, große Henkeltopfohren und fast keine Stirn. Seine Augenwülste standen vor, ebenso sein Mund, mit dem er ausspuckte und rief: „Go home, go home“. Als ich mit dem Fuß aufstampfte, als wolle ich ihn angreifen, lief er davon.

Von Jerusalem nach Marrakesch

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