Читать книгу Von Jerusalem nach Marrakesch - Ludwig Witzani - Страница 13
Die Reise zum Mosesberg Durch den Süden Israels zum Sinai
ОглавлениеAm nächsten Tag fuhr ich mit einem arabischen Bus zum Toten Meer. Kaum hatten wir Jerusalem auf der Schnellstraße 90 verlassen, wurden wir von einer israelischen Militäreskorte angehalten. Fünf Soldaten umstellten den Bus mit gezogenen Waffen, ein Soldat kontrollierte im Bus die Ausweise. Der Soldat trug eine schusssichere Weste, einen Helm mit Sprechvorrichtung, einen Patronengurt und ein Funkgerät am Gürtel. Seine Gesten waren wachsam und misstrauisch, sein Ton herrisch, als wisse er, dass Freundlichkeit in diesem Bus verlorene Liebesmühe war. Als er meinen Ausweis kontrollierte, fragte er mich auf Englisch, warum ich einen arabischen Bus nähme. Weil er gerade da war und losfuhr, antwortete ich. „Seien sie vorsichtig“, sagte er, als er mir meinen Pass zurückgab.
Nach einer weiteren Kontrolle kurz vor hinter Nabi Musa war das Tote Meer erreicht, das mit etwa vierhundert Metern unter dem Meeresspiegel tiefgelegendste Gewässer der Erde. Der erste Anblick des Toten Meeres war gespenstisch: ein abflussloses Becken, das die Gewässer des Jordan aufnahm und das nur aus zwei Farben zu bestehen schien: dem tiefen Blau von Meer und Himmel und dem Gelbbraun der Wüste. Wie schon am See Genezareth hatten sich die Temperaturen innerhalb kürzester Zeit abrupt erhöht.
Der Süden des Toten Meeres im Umkreis von El Gedi präsentierte sich wie aus der Zeit gefallen. Seifiges Wasser vor einer lebensfeindlichen Wüstenlandschaft, in der nicht einmal die viel beschworene Fliege überleben könnte. Geradezu surreal wirkten die Touristen, die sich unter der Aufsicht ihrer Fremdenführer in das Wasser des Toten Meeres legten und sich daran ergötzten, wegen des hohen Salzgehaltes nicht unterzugehen. Scharfe Schatten zwischen den Felsen, als die Sonne tiefer sank, vor allem aber große Fläche von Salzablagerungen im Uferbereich, die darauf hinweisen, dass das Tote Meer immer weiter schrumpfte. Dieser Schrumpfungsprozess hatte sich beschleunigt, seitdem Israel immer größere Mengen von Jordanwasser für die eigene Wasserversorgung abzweigte. Inzwischen lag der Wasserspiegel des Toten Meeres bereits 421 Meter unter dem Meeresspiegel.
Im Kibbuz El Gedi verlangte man für ein Zimmer mit Vollverpflegung stolze 155 Dollar In der benachbarten Jugendherberge buchte ich ein Bett in einem Sechserzimmer für 35 Dollar. Ich notierte: Israel ist kein Land für klamme Backpacker. Bei der Anmeldung der Jugendherberge traf ich den rachitischen Österreicher wieder, dessen Röcheln mir in Jerusalem den Schlaf geraubt hatte. Er flog gerade aus der Jugendherberge heraus, weil er sein Bett nicht mehr bezahlen konnte. „Scheiß Juden“, brüllte er, als er das Gelände verließ.
Wo zehn Menschen zusammenkommen, bildet sich eine Gemeinde, sagen die Juden. Wo sechs Menschen in einem Schlafsaal schlafen, ist mindestens immer ein Schnarcher dabei.
In der Nähe von El Gedi befanden sich in den Felswänden von Nahal Hever einige Höhlen, in denen sich Simon bar Kochba beim letzten Aufstand der Juden im Jahre 135 verschanzt haben soll. Da in El Gedi sonst nichts gebacken war, spazierte ich in der Hitze des Tages nach Nahal Never, entdeckte aber nichts weiter als einige Höhlen in den Felswänden, in die man nicht hineinklettern durfte und einen Wasserfall, aus dessen Becken die Ziegen tranken.
Die Festung Massada wurde zwei Generationen vor Jesus von Herodes dem Großen auf dem abgeflachten Plateau eines gigantischen Felsens errichtet. Abstürze zwischen einhundert bis vierhundert Metern und gut gefüllte Vorratsspeicher machten diesen Riesenfelsen praktisch uneinnehmbar. Am Ende des jüdischen Krieges, als die Römer bereits das gesamte Land und alle Städte in ein Meer von Blut getaucht hatten, verschanzten sich die letzten Aufständischen in der Festung. Da wegen der enormen Vorratshaltung in Massada ein Aushungern der Festung nicht in Frage kam, erbauten die Römer eine gigantische Rampe, auf der sie Belagerungsmaschinen hochbeförderten, die so große Breschen in die Bergmauern schlugen, dass die Römer endlich zum Sturm ansetzen konnten. Doch die Eroberer fanden nur Leichenberge. Fast eintausend jüdische Männer, Frauen und Kinder hatten sich noch vor dem Angriff der Römer in der Festung selbst den Tod gegeben.
Inzwischen waren nur noch Torbögen, Brunnenreste, und Mauerfragmente auf dem Felsplateau von Massada erhalten, ein grausandiges Ruinenfeld im Abendlicht, dem seine tragische Geschichte nicht mehr anzusehen war. Dafür erschloss sich von der obersten Plattform Massadas ein Rundblick über den gesamten Süden des Toten Meeres bis tief nach Jordanien hinein. Totes Land, dem nicht das Leben, sondern die Religionen entsprossen. Als ich den Berg herunterkam, setze ich mich in einigem Abstand auf einen Felsen und betrachtete die Umrisse des Berges: wuchtig, abweisend, erratisch, ein Ort des Kampfes und der Niederlage - und ein Symbol der jüdischen Selbstbehauptung. Denn trotz ihrer Niederlage am Berg Massada waren die Juden zurückgekehrt, um den Berg wieder in Besitz zu nehmen. Das war der Stand der Dinge fast zweitausend Jahre nach der Tragödie von Massada. Doch weil niemand wusste, was die Zukunft bringen würde, weil nichts von Dauer war und alles sich ändern konnte, hatte sich die Israelische Armee entschlossen, ihre Wehrpflichtigen auf dem Berg Massada zu vereidigen. Bei Sonnenaufgang, wenn sich das Licht über die Weite des Landes ergoss, hoben die Soldaten die Hand zum Schwur auf ihr Volk, die uralten Umrisse des Römerlagers und der Rampe wie ein Menetekel für einen jederzeit möglichen Untergang vor Augen.
Bekanntermaßen galt in Israel die allgemeine Wehrpflicht für Männer und Frauen gleichermaßen. Nach der Ableistung der zwei bis drei Jahre langen Grundausbildung waren pro Jahr fünf Wochen Reserveübungen vorgeschrieben – und zwar immer mit der gleichen Truppe, was ein intensiveres Gefühl der nationalen Verbundenheit schuf als alle Workshops und Tagungen zusammen.
Am Toten Meer lernte ich, dass Israel auf drei Pfeilern ruht: auf der Religion, der Armee – und dem Wasser. Eine nationale Wasserleitung, gespeist aus großen Wasserreservoirs aus dem Küstengebiet und der Westbank durchzog das ganze Land und benötigte dafür 10 % des gesamten israelischen Energieaufkommens. Der Wasserverbrauch eines Israelis ohnehin ist fünf- bis zehnmal so hoch wie der eines Arabers. Mit diesem Wasser werden nur die Früchte angebaut, die in Relation zu den Weltmarktpreisen den höchsten Ertrag bringen: Orangen Avocados, Blumen statt Getreide.
Mit dem Grund der Suppenschüssel verhält es sich wie mit dem Boden der orientalischen Teekanne. Das Gehaltvollste befindet sich immer ganz unten.
In El Gedi hörte ich einen Israel-Witz. Ein junger Israeli erzählte ihn mir beim Frühstück in der Jugendherberge. „Worin unterscheiden sich die USA von Israel und was haben sie gemeinsam? Der Unterschied: In den USA gibt es 90 Prozent Idioten und 10 Prozent Intelligente. In Israel gibt es 90 Prozent Intelligente und 10 Prozent Idioten. Die Gemeinsamkeit: Die 10 Prozent stellen in beiden Ländern die Regierung.“
Langer Sabbat in El Gedi. Kein Bus fuhr. Keine Teestube hatte offen. Alles stand still. Keine Chance nach Jericho zu gelangen. Trampen war ausgeschlossen, weil kein Wagen fuhr. Aber auch wenn Wagen fahren würden, war Trampen in Israel praktisch kaum noch möglich, weil vor kurzem ein moslemischer Selbstmordattentäter sich und die israelische Familie, die ihn im Auto mitnahm, in die Luft gesprengt hatte. So setzte ich mich in den Garten der Jugendherberge und las das Buch von Angelika Schrobsdorff: „Jericho. Eine Liebesgeschichte“, eine Mischung von Erzählung und Reisebericht, die mir gut gefiel. „Aus Jericho hörte man nie etwas von Terroraktivitäten oder gar Anschlägen“, las ich. „Das jedenfalls war der Eindruck, den man als Fremder mitbekam, und wenn es ein falscher war, wussten die Jeriochoer Hass und Wut gut zu verbergen.“ Zwanzig Jahre waren seit der Abfassung dieses Buches vergangen, und wenn das Verbergen von Hass und Wut ein Maßstab war, dann waren die Dinge inzwischen so schlimm geworden, dass die Menschen ihren Hass und Grimm kaum noch verbergen konnten. So hatte ich es jedenfalls in Hebron erlebt.
Am nächsten Tag brachte mich ein Bus in vier Stunden von El Gedi nach Eilat. Diesmal flogen keine Steine. Flaches, totes Land, Bergketten am Horizont, ansteigende Temperaturen. Um mich herum israelische Touristen, die in Eilat Urlaub machen wollten - und Hans, der Holländer, der wie ich auf eigene Faust durch Israel reiste. An einer Raststätte kamen wir ins Gespräch, als wir zwei Hähnchenschenkel aßen. Hans zeigte mir Bilder seiner Frau und seiner Tochter, die er sehr liebte, obwohl es auch sehr gut täte, die beiden mal einige Wochen vom Hals zu haben. Sagte er und lachte. In Eilat teilten wir uns ein Zimmer in einem Privathaus, in dem jeder Quadratzentimeter im Dienste des Billigtourismus stand. Eine raffgierige Frau mit blondgefärbten Haaren hatte uns gleich am Busbahnhof abefangen und uns das Zimmer aufgeschwatzt. Ein Zim-mer mit zwei Holzbetten, einem Stuhl, einem Tisch und einem Fenster zum Hinterhof. Hans aus Holland war zufrieden, mir war es egal. Als erstes brachte er sein kleines Radio ans Laufen, und wir hörten Oldies, als wir unsere Rucksäcke auspackten.
In Timna zeigte die Wüste in der kalten Jahreszeit ihr Schokoladengesicht. Rund um den Mount Timna erhoben sich im Halbrund eine Reihe kleiner Bergketten, wunderlich schraffiert und im Schattenspiel der wandernden Sonne immer neu beleuchtet. In den Tälern dieser Berge befanden sich einige der ältesten Schmelzöfen der Welt, in denen schon in altägyptischen Zeiten die örtlichen Erze verarbeitet worden waren. Die auf dem Boden herumliegenden Kupferklumpen waren mit Blasebälgen und Blasrohren in einem Steinofen auf 1180 Grad erhitzt worden, bis sich das Kupfer vom Gestein gelöst hatte. Durch die Legierung dieses Kupfers mit Zinn war Bronze entstanden, ein besser zu formendes und härteres Material als das bisher gebräuchliche Eisen. Später gelangte König Salomo in den Besitz dieser Minen, deren Ausbeutung einen Teil seines Reichtums begründete.
In der Umgebung von Timna hatte sich die Natur als Bildhauerin betätigt. Wind und Regen, Erosion und Zeit. hatten hochhaushohe Pilze, gewaltige Säulen („Salomos Pillars“), abgefräste Buckel und Zacken aller Art geformt, eine Freiluftausstellung der Natur, gerade so, als hätte der Schöpfer in der Wüste von Timna eine verspielte Stunde gehabt.
Ich hatte Glück und konnte mich einer italienischen Familie anschließen, die mit einem Jeep den etwa 60 qkm großen Timna-Park durchfuhr. Wolken wie weiße Wattebäuche zogen über den Himmel und verwandelten den Himmel in ein Panoramagemälde aus Weite und Licht.
Stopp an einer nachgemachten Goldgräbersiedlung an der Straße zwischen Taba und Eilat. Ein Bilderbuchfake, wie man es stilechter auch in Arizona oder Dakota nicht finden könnte. Viel Freude bei den Touristen, die jubelnd ihre Specknacken in die öffentliche Galgenschlinge legten. Am Ende der Straße warteten die Beduinen und hievten die Besucher für einen Ritt durch die Westernstadt auf eines ihrer Kamele. Zur Freude der Touristen wurde einem Kamel ein mit Gas gefüllter Ballon ins Maul gestopft. Das Tier verschlang den Ballon und musste erleben, wie der unverdauliche Gummiballon ihm immer wieder hochkam. Was für ein Spaß.
Unterwasserobservatorium in Eilat. Eine Treppe führte zu einem unterirdischen Raum, nur erleuchtet durch ein grandioses Korallenriff, das hinter Glas in allen Farben der Meere prangte. Haie und Rochen zogen ihre Kreise. Im aquanautischen Museum wurde in fünfzehn hell erleuchteten Bassins die Lebenswelt von Langusten, Krabben, Kraken und grellbunter Fische präsentiert. Ich kannte die Namen zahlreicher altmexikanischer Götter, aber nicht einen einzigen Namen jener Meereswesen, die ich an diesem Tag hinter betrachtete. Schande über mich. Einige Namen schrieb ich mir auf, vergaß sie aber bald wieder.
Ausflug zu den Koralleninseln im Golf von Aqaba. Ein rüstiges altes Segelschiff dümpelte mit zwei Dutzend Passagieren nach Süden, bis wir in der Nähe der ägyptisch-israelischen Grenze die Reste einer Kreuzfahrerfestung erreichten. Ursprünglich als Sprungbrett für eine Eroberung Ägyptens von den Christen befestigt, fiel die Burg schnell in muslimische Hand. In der langen Nacht der osmanischen Herrschaft war die Burg funktionslos geworden und verfiel - immerhin auf so malerische Weise, dass sie heute noch als Fotomotiv herhalten kann. Unterhalb der Kreuzfahrerfestung stoppte das Schiff und die Besatzung servierte das vorbestellte Barbecue: Lamm, Reis, und Hähnchen, dazu Bier und Wein nach Belieben. Die Schatten der Uferberge hatten die Burg fast erreicht, kein Wölkchen war am Himmel zu sehen.
Ich wollte mich nach dem Essen gerade auf einer der Matten ausstrecken, als ich Professor Scheuch aus Köln erkannte. Vor 25 Jahren war er mein Held gewesen, als er sich in den Hörsälen der Kölner Universität Kommunisten und Anarchisten entgegengestellt hatte. Nun saß er klein und unscheinbar mit gebeugtem Rücken seiner Frau gegenüber, einer Mitvierzigerin, von der ich noch wusste, dass sie sich in jenen 68er Kampfzeiten vom tapferen Scheuch hatte freien lassen. Um sie herum wuselte ein schlecht erzogener launiger Bengel, das unruhige Kind einer späten Liebe.
Ich hatte bei Professor Scheuch mein Rigorosum im Nebenfach abgelegt und überlegte, ob ich ihn ansprechen sollte. Ich ließ es. So verschrumpelt wie er mir erschien, so befremdlich würde mein Backpackeroutfit auf ihn wirken.
Einmal mit den Gedanken in der Vergangenheit angekommen, überließ ich mich den Reminiszenzen eines goldenen Nachmittags. Alle hatten nun gegessen, und viele waren auf den Matten und Liegen eingeschlafen. Leise Jazzmusik tönte über Schiff und Meer. Ich dachte an zuhause, an meine jugendliche Geliebte, die mir bald von der Fahne springen würde, eine schöne junge Frau in der Blüte ihrer Jugend, die mit einem Vaganten wie mir auf Dauer nichts anfangen konnte.
Um die Wahrheit zu sagen: Das Baden in Eilat war alles andere als ein Vergnügen. Zwar schien die Sonne, doch der winterliche Wind, der aus Jordanien herüberwehte, war so eisig, dass sich niemand längere Zeit am Strand aufhalten mochte. So schloss ich mich Hans an, der auf seiner Weiterreise nach Kairo das Katharinenkloster auf dem Sinai besuchen wollte. Seit dem Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel war das ohne weiteres möglich.
Die Reise von Eilat zum Weg zum Katharinenkloster auf der Halbinsel Sinai war einfacher als erwartet. Frieden zwischen Arabern und Israeli war also doch möglich, jedenfalls wenn man die Lockerheit zum Maßstab nahm, mit der die Touristen aus Israel die ägyptische Grenze passierten. „Schalom“ und „Salam“ und Stempel in den Pass – und schon waren wir in Ägypten.
Die Wüste Sinai, das geografische Verbindungsstück zwischen Asien und Afrika bestand im Norden aus Sanddünen und im Zentrum aus einem Hochland voller Geröll und respektabler Berge. Aus der Entfernung erinnerten mich die goldgelben Dünen vor dem Hintergrund der Berge an die Sahara zwischen In Salah und Tammarasset. Alles war eindeutig in dieser Landschaft, großflächig unmissverständlich, das ideale Bühnenbild für eine der entscheidendsten Stunden der Menschheitsgeschichte: die Übergabe der Zehn Gebote von Jahwe direkt an Moses, den Führer der Israeliten, die nach ihrer Flucht aus Ägypten auf der Suche nach dem gelobten Land durch den Sinai gezogen waren.
Der Legende nach soll Kaiserin Helena, die Mutter Konstantins des Großen, bereits im vierten Jahrhundert zu Füßen des Mosesberges den Bau der „Kapelle des flammenden Dornbuschs“ veranlasst haben. Gesichert war, dass Kaiser Justinian zweihundert Jahre später die kleine Anlage durch einen stabilen Festungswall von achtzig mal achtzig Metern umgürten ließ. Dieser Wall prägte das Erscheinungsbild des Klosters bis heute, eine wuchtige, burgartige Anlage, die stark an die Koptenklöster Ägyptens erinnerte. Katharinenkloster hieß die Anlage zu Ehren der heiligen Katharina von Alexandrien, von der behauptet wurde, ihre Gebeine seien durch einen Engel von einem Engel Kairo zum Sinai gebracht worden. Unglaublich, wie viele Reliquien in der Antike durch die Gegend geflogen waren. Wieder ein Ort, an dem Juden, Christen und Moslems dem gleichen Mythos huldigten, diesmal aber ausnahmsweise ein Ort, der in seiner Geschichte von Mord und Zerstörung weitgehend verschont geblieben war. Immer wenn arabische Räuberbanden, Mamluken oder Türken das Kloster hatten plündern wollen, wurde ihnen der Schutzbrief des Propheten Mohammed unter die Nase gehalten. So jedenfalls die Klosterlegende, die wie selbstverständlich von der Alphabetisierung orientalischer Wegelagerer auszugehen schien.
In der Hauptkirche des Klosters erschlug mich die übliche orthodoxe Überladung mit Lüstern, Leuchten, Lampen, Pfeilern und Baldachinen. Die Ikonen, die es in der Kirche zu besichtigen gab, waren so düster, als läge über ihnen schon der Schatten der Endzeit.
Kein Mensch hat eine Idee davon, wie gnadenlos kalt es auf der Halbinsel Sinai im Winter werden konnte. Vor allem auf einer Höhe von fünfzehnhundert bis zweitausend Metern. Nur wenige Minuten Aufenthalt im Schatten genügten, um die Knochen vor Kälte knacken zu lassen. Frierend kroch ich am Abend in meinen Schlafsaal in einem ungeheizten Raum, der durch nichts weiter erwärmt wurde, als durch die Körpertemperaturen von zehn schlafenden Individualreisenden.
Mitten in der Nacht, zwischen drei und vier Uhr, standen alle auf und rüsteten sich für die Besteigung des Mt. Sinai. Der asketische Teil der eiskalten Nacht ohne Wasser und sanitäre Anlagen lag hinter uns, nun wartete noch die Ekstase auf uns, vorausgesetzt, es würde gelingen im Dunkel der Nacht den Gipfel knapp 2.300 Meter hohen Mosesbergs zu ersteigen. Wie oft ich während der folgenden zwei bis drei Stunden gestolpert und auf die Steine gefallen bin, weiß ich nicht mehr. Immerhin geriet ich auf diese Weise nicht nur gehörig ins Schwitzen sondern erreichte genau zur Stunde des Sonnenaufgangs den Gipfel. Wie sich die Sonne im Osten über den Weiten der arabischen Wüste erhob, sah großartig aus, doch die Eiseskälte des Höhenwindes zwang mich sofort hinter Gesteinsvorsprüngen in Deckung zu gehen. Welcher gnädige Geist hinter einem dieser Felsen einen Beduinen mit heißem Tee positioniert hatte, wusste ich nicht, doch ich kaufte dem Araber sofort zwei Becher Tee ab, trank den ersten sofort und hielt meine zitternden Hände so lange an den zweiten Becher, bis sie wieder leidlich warm wurden. Im Windschatten des Felsens, in der Nähe eines kleinen Feuerchens, das der Beduine für die Zubereitung des Tees entzündet hatte, beobachtete ich, wie sich der kleine glutrote Sonnenball langsam aus dem Dunst herausschälte, mit seinem Licht den Morgen flutete und bald den gesamte Horizont erfüllte.
Das Leben der Beduinen vom Sinai war kein Zuckerschlecken. Tag und Nacht hockten sie mit ihrem Teegeschirr und ihren Kamelen vor den Klostermauern, um den Touristen zu Diensten zu sein. In der klirrenden Kälte trugen sie nichts anderes als verschlissene Jacketts mit zu kurzen Ärmeln, darunter einen fußknöchellangen Rock mit angegriffenem Schuhwerk. Trotzdem lachten sie, als sie uns für kleines Geld nach unserem Abstieg vom Mosesberg einen herrlichen Couscous servierten.
Trennung von Hans. Er fuhr weiter nach Kairo, ich musste nach Tel Aviv. Im Bus zur Grenze versuchte der Busfahrer von jedem Reisenden ganz ungeachtet der offiziellen Preise einen maximalen Geldbetrag abzuzapfen. Als sein Schwindel aufflog und die Passagiere mit dem Aufstand drohten, gab er ohne mit der Wimper zu zucken, jedem das überzählige Geld wieder heraus. Von Scham keine Spur. Einen Versuch war es ihm Wert gewesen.
Schon am Mittag erreichte ich wieder den Busbahnhof von Eilat. Um zwei Uhr aß ich meine letzte Falafel in Israel. Es war Sabbat, aber diesmal funktionierte der Transport zum Flughafen nach Tel Aviv. Im Abfertigungsraum des Ben Gurion Flughafens hatten die Traveller für die anstehende Nacht bereits die Schlafsäcke ausgepackt. Die Flüge nach Europa würden erst am nächsten Morgen starten. Gottseidank war es warm im Flughafen.
Schlafsack an Schlafsack kam ich mit Anke ins Gespräch, einer Essener Krankenschwester, die in Israel ihren Freund besucht hatte. Leider hatte sich Ariel, ihr israelischer Freund, ganz anders verhalten als vor einem halben Jahr in Deutschland, erzählte sie. Mäßig interessiert, abgelenkt und in seinen Umgangsformen nachlässig, hatte er Ankes Erwartungen bitter enttäuscht. „Warum hat er mir denn nicht einfach geschrieben, dass ich ihm nichts bedeute, dann wäre ich gar nicht erst gekommen“, sagte sie. „So kam ich mir vollkommen überflüssig vor, aufdringlich und lästig.“ Anke hatte ein ehrliches Gesicht, helle Haut und blonde kurzgeschnittene Haare. In ihren Augen lag etwas Verträumtes, ihr Körper war rundlich, der Mund vernascht. Eine Frau, die bereit gewesen wäre zur Liebe, musste unverrichteter Dinge wieder heimreisen. Die Ehrlichkeit, mit der sie ihre Zurückweisung eingestand, imponierte mir, und so begann auch ich, ohne recht zu wissen, warum, von mir zu erzählen. Anke hörte mir zu, nickte hier und da, fragte nach und schwieg genau an den richtigen Stellen.
Ehe wir unser Gespräch weiter vertiefen konnten, aber war es auch schon zu Ende. Übergangslos gingen im ganzen Flughafen die Sirenen an. Ohrenbetäubender Lärm dröhnte aus den Lautsprechern, Rauch und Nebel quollen aus den Nachbarräumen, Schüsse und Schreie waren zu hören, als eine Durchsage kam, die alle Passagiere aufforderte, sich wegen Terroralarms fort zu ihren Abflugschaltern zu begeben. Da Anke zum Counter der Maschine nach Frankfurt lief und ich den Abfertigungsschalter für die Maschine nach Düsseldorf suchte, habe ich sie nie mehr gesehen. Der Alarm war übrigens nur eine Übung gewesen.