Читать книгу Von Jerusalem nach Marrakesch - Ludwig Witzani - Страница 8
Keine Chance,
den Rucksack abzustellen Akko – Zefad – Tiberias - Nazareth
ОглавлениеGegen keine Fluggesellschaft der Welt wurden bisher mehr Anschlagspläne entwickelt als gegen die israelische Staatslinie El Al. Unzählige Attentate wurden geplant und doch gilt die El Al als die sicherste Fluggesellschaft der Welt.
Wie war das möglich? Ich sollte es bald erfahren.
Es fing damit an, dass jeder Passagier sein Gepäck auf einen Tisch legen, auspacken und seinen Inhalt dem Sicherheitspersonal erläutern musste. Da sich in meinem Pass Einreisestempel aus Marokko, Algerien und Tunesien befanden, wurde ich aus der Warteschlange herausgewunken und in einen separaten Raum geführt, in dem sich zwei Angestellte ausführlich über meine maghrebinischen Reisen informieren ließen. Wieviel Tage waren Sie in Marrakesch? In welchem Reisebüro haben Sie ihr Fährticket nach Tunis gekauft? Wo genau haben Sie sich in der Zentralsahara aufgehalten? Die Antwort auf diese Fragen musste ich auf einen Zettel schreiben und abgeben, ehe ich an ein zweites Befragungsteam weitergereicht wurde, dem ich erklären musste, warum ich so oft nach Nordafrika gereist sei. Ob die Sicherheitskräfte mit meinen Antworten zufrieden waren, wusste ich nicht, denn nun wurde ich einem dritten Befragungsteam übergeben, vor denen ich alle meine Zeit- und Ortsangaben aus dem ersten Gespräch noch einmal wiederholen musste. Hätte ich gelogen oder mir die maghrebinischen Reiserouten nur ausgedacht, wäre ich todsicher aufgefallen. So aber hielt ich mich eisern an die Wahrheit und erhielt nach neunzig Minuten individueller Überprüfung endlich meinen Boardingpass. Ich wusste allerdings, dass damit die Sicherheitsvorkehrungen der El Al noch nicht ausgeschöpft waren. Sollte es einem Terroristen trotz aller Kontrollen gelingen, eine Waffe an Bord zu schmuggeln, würde er sich mit mindestens zwei Sky Marshalls auseinanderzusetzen haben, die äußerlich als normale Passagere getarnt bei allen Elf Al Flügen dabei waren. Sie würden im Ernstfall eingreifen. Und zwar ohne Rücksicht auf Verluste.
So aufwändig das Einchecken auch gewesen sein mochte, der vierstündige Flug von Düsseldorf nach Tel Aviv war unspektakulär. Kein Terroranschlag, keine Turbulenzen, aber auch kein Unterhaltungsprogramm. Wer nach Israel fuhr, würde schon Abwechslung genug erleben. Immerhin wünschte uns der Kapitän auf Englisch, Deutsch und Hebräisch ein frohes Fest, denn wir schrieben den 24. Dezember, und es war Weihnachten.
Da niemand auf dem Flughafen von Tel Aviv landete, der nicht bereits vorher genau geprüft worden war, gingen die Einreiseformalitäten schnell über die Bühne. Um 17.00 Uhr verließ ich den Flughafen und war in Israel. Es regnete, war dunkel und schweinekalt. Mit dem Flughafenshuttle fuhr ich zuerst zum Busbahnhof von Tel Aviv, dann zur gut einhundert Kilometer entfernten nordisraelischen Hafenstadt Akko. Regen und Wind klatschten gegen die Scheiben des Busses, und das Wetter wurde immer schlechter. In Akko nahm ich ein Taxi, das mich zur Jugendherberge brachte, einem uralten Bau direkt in der Umfassungsmauer des alten Hafens. Ich war der einzige Gast und konnte mir mein Bett in einem Vierzig-Betten-Schlafsaal nach Belieben aussuchen. Eine Nachtlampe gab es nicht. Das Abendprogramm bestand aus dem Heulen des Windes und dem Klatschen der Wellen gegen die Ufermauern. Ich war so einsam, dass es fast schon wieder ein Erlebnis war.
Da ich nicht einschlafen konnte, kramte ich meine Stirnlampe aus dem Rucksack und las ein wenig in meinen Reiseführern. Dort wurde Akko als eine der ältesten Städte der Welt dargestellt, als ein Schmerztiegel der Völker, in der sich die antiken Reiche gleichsam die Klinke in die Hand gaben. Ägypter, Phönizier, Syrer und Hethiter, die Israeliten, Assyrer, Perser, Griechen, Römer und Byzantiner hatten nacheinander die Stadt kontrolliert. An die Araber fiel Akko schon im Jahre 636, gerade mal vier Jahre nach dem Tod des Propheten, und ganz gleich, welche Herren später noch kommen sollten - mohammedanisch ist Akko seit dieser Zeit geblieben. In Akko wurden die Schiffe gebaut, mit denen die Araber im achten Jahrhundert Konstantinopel belagerten, Kreta eroberten und die Seeherrschaft im östlichen Mittelmeer errangen. Akko wuchs und wurde reich, Stadtmauern entstanden und schützen die großen Karawansereien der Stadt. Auch die Epoche der Kreuzzüge vermochte an der moslemischen Prägung der Stadt nichts mehr zu ändern. Akko wurde erobert, ging wieder verloren und wurde neu erobert, doch am Ende fiel die Geschichte wie ein Fallbeil über die Kreuzfahrer nieder – und zwar nirgendwo anders als eben in Akko, das im Jahre 1291 als die letzte Kreuzfahrerfestung der Levante an die Moslems zurückfiel. Zigtausende Christen wurden von den siegreichen ägyptischen Mamluken erschlagen, und wer konnte, floh nach Zypern.
Als ich am nächsten Morgen durch Akko spazierte, war der Himmel aufgerissen. Die Regenwolken hatten sich verzogen und die Sonne brachte einen Hauch von Frühling in die Stadt. Auch nach der Gründung des Staates Israel war die Bevölkerungsmehrheit Akkos arabisch geblieben. Es handelt sich die Nachkommen jener Araber, die im ersten Nahostkrieg vor den anrückenden arabischen Armeen nicht aus Israel geflohen, sondern im Land geblieben waren und denen der jüdische Staat deswegen die israelische Staatsbürgerschaft verliehen hatte. Doch auch wenn diese „israelischen Araber“ durch eigene Abgeordnete in der Knesset vertreten waren, betrachteten die meisten von ihnen den Staat Israel als Besatzungsregime. Auf der anderen Seite erkannten viele Juden in ihnen nichts weiter als die fünfte Kolonne der arabischen Todfeinde im eigenen Land. Mehrere Terroranschläge die aus den Reihen der israelischen Araber in den letzten Jahren unternommen worden waren, bestärkten sie in dieser Auffassung. Erst vor kurzem hatte ein israelischer Araber in der Straßenbahn von Jerusalem eine junge britische Frau niedergestochen. Einfach so. Aus dem ewigen Hass heraus, der jedem nahöstlichen Unrecht einen schrecklichen Ewigkeitsstatus verleiht.
Von diesem Hass war bei meinem Rundgang durch Akko nichts zu bemerken. Die Händler und Besucher in den Souks scherzten mit den Touristen, freundlich wurde mir ein Tschai serviert, und als ich Orangen kaufte, erhielt ich als Dreingabe eine Handvoll Datteln geschenkt. Es roch nach Pfeffer, Muskat und Ingwer, und unablässig dampfte der Tee aus den kleinen türkischen Gläsern. Wohin ich auch blickte, das Leben, das mich umgab, war merkwürdig intensiv, die Gesten und Reden waren raumgreifend und laut, und ich hatte das Gefühl, dass der Orientale alles was er tat – Lachen, Schimpfen, Verhandeln oder Teetrinken – immer mit der ganzen Person tat. Dass viele Moslems auch im Kampf und im Hass ganz bei sich selbst waren, gab dem Nahostkonflikt seine bitterste Note.
Manche Feinheiten des Orients begreift man übrigens erst im Winter. So war es bei Regen im Souk nahezu unmöglich, in der Mitte zwischen den Auslagen zu gehen, weil die Pergolas dafür sorgten, dass einem das Wasser von beiden Seiten in den Kragen lief. Man konnte sich nur links oder rechts in der Nähe der Stände fortbewegen, eine Chance, die sich kein Händler entgehen ließ.
Die meisten Sehenswürdigkeiten, die es für mich an diesem Tag in Akko zu besichtigen gab, entstammten der Türkenzeit, genauer gesagt, der Epoche des bosnischen Paschas Ahmed, der um 1800 in Akko als Stellvertreter des türkischen Sultans residierte und dem die Einwohner den wenig schmeichelhaften Namen „El Jezzar“, der Schlächter, gegeben hatten. So blutig der Schlächter in Akko auch regiert haben mochte, in der nach ihm benannten Moschee Ahmed-el-Jezzar herrschte eine weltabgewandte Ruhe. Unter zwei kleinen Apfelsinenbäumchen im Vorgarten stand der Reinigungsbrunnen, an dem die Gläubigen sich säubern mussten, ehe sie das marmorweiße Gotteshaus mit seinen grünen Ziegeln betreten durften. Im Innern der Moschee bewunderte ich die Schönheit der Ornamente, die Ausgewogenheit der Linienführung und die Verhaltenheit der Farben. Ich dachte an die überbordende Plastik hinduistischer Tempel und erkannte, dass Schönheit immer auch durch Beschränkung entstand. Insofern war das Verbot der Figurendarstellung im Islam auch ein Geschenk an die Kunst.
Nur unter der Erde fand man noch Spuren der Kreuzfahrerzeit. Kalt und düster wirkte die Krypta des heiligen Johannes, einem der großen Versammlungsräume des Johanniter Ritterordens. An der Decke der Krypta befand sich übrigens eines frühesten Beispiele gotischer Spitzbogengewölbe, eine bauliche Innovation, die in diesem Weltteil nicht mehr zur Entfaltung kommen konnte. Stieg man die Kreufahrerkrypta empor, führten nur wenige Schritte den Besucher gleich einige Jahrhunderte weiter in Richtung Gegenwart. Ich erreichte die Zitadelle und die Stadtmauer und erblickte die gigantische Befestigungsanlage, die selbst Napoleon auf seiner Orientexpedition von 1799 nicht hatte erstürmen können. Vor den Mauern dieser Festung war die französische Armee elend zugrunde gegangen, während der junge Feldherr zurück nach Frankreich geflohen war. Das war lange her und doch nicht vergessen, wie es mir überhaupt vorkam, als würde wenig vergessen in Akko. Ein jahrtausendealtes urbanes Gefäß, in dem die Geschichte so lebendig geblieben war wie an kaum einem Ort sonst. Keinen Menschen sah ich in der restaurierten Karawanserei Khan-ei-Umdan, und doch war die Stimmung uralter Zeiten übermächtig. Vor meinem inneren Auge sah ich die Händler aus Isfahan, Kairo oder Bagdad, die im ersten Stock untergebracht waren, während man im Innenhof ihre Kamele versorgte.
Als ich von Akko aus durch die Berge Galiläas nach Zefad fuhr, begann es wie aus Eimern zu regnen. Auf 500 Höhenmetern verwandelte sich der Regen in Schnee und die Straße wurde rutschig. Gottlob herrschte kaum Verkehr, nur hier und da kam uns ein Fahrzeug mit aufgeblendeten Scheinwerfern entgegen.
Am Ortseingang von Zefad war kein Mensch auf der Straße zu sehen. Nur eine Tankstelle hatte offen, in die ich vor dem Schneeregen flüchtete. Als ich fragte, ob ich meinen Rucksack abstellen dürfte, um mir eine Stunde die Stadt anzuschauen, rief der Tankstellenwart einige Worte nach hinten. Sofort erschienen zwei Männer im Verkaufsraum und verlangten auf der Stelle zu sehen, was sich in meinem Rucksack befand. Erfahrung machte misstrauisch.
Zefad war neben Jerusalem, Hebron und Tiberias eine der vier heiligen Städte des Judentums und ein Ort, in dem die Erinnerung an Kampf und Vertreibung über die Jahrtausende hinweg in besonderer Weise gegenwärtig geblieben war. Nach der Vertreibung der Juden aus dem Heiligen Land hatte sich in Zefad eine kleine jüdische Gemeinde behauptet, die sich im Laufe der Zeit zu einem Scharnier und Anlaufpunkt der jüdischen Diaspora entwickelte. Eine wirkliche Neubesiedlung Zefads durch die Juden erfolgte jedoch erst, als die katholischen Könige in Spanien 1492 die Ausweisung aller sephardischen Juden aus Spanien verfügt und die osmanischen Sultane eine Ansiedlung der Juden in Zefad gestattet hatten. Im 17. Jahrhundert versorgten jüdische Druckervereine in Zefad, die Glaubensbrüder in aller Welt mit jenen heiligen Texten, die nicht zuletzt die Rückkehr der Juden ins Heilige Land verhießen.
Diese wechselvolle Geschichte hatte in den Synagogen von Zefad wenig Spuren hinterlassen. Die Synagogen waren kaum größer als Turnhallen, ihre Scheiben waren beschlagen, und nur funzelige Lichtquellen erhellten die holzgetäfelten Räume. Den Mittelpunkt der Synagoge bildete der Thora-Behälter, der sich entweder mitten im Raum befand oder in die Wand eingelassen war. Wenn die Lichtverhältnisse besser gewesen wären, hatte man die Synagoge als ein Gotteshaus zum Schmökern bezeichnen können, denn immerhin existierten bequeme Sitzgelegenheiten und reichlich heilige Texte, die für Studium und Erbauung bereitstanden. So aber befanden sich nur wenige ältere Männer im Raum, die vor den Textrollen saßen, ohne hineinzublicken. Entweder war ihnen das Licht zu schlecht, oder sie kannten die Texte auswendig.
Gerade mal gut zwei Stunden blieb ich in Zefad, denn ich fand keinen Ort, um meinen Rucksack abzulegen, und als ich mit dem Rucksack die Synagogen besuchen wollte, ging das niemals ohne Kontrollen ab. Das Misstrauen, das mir entgegenschlug war nichts Persönliches, sondern die Folge der Erfahrungen mit moslemischen Terroranschlägen. Doch auf die Dauer vergällte es mir das Interesse an der Stadt, so dass ich lange vor der Zeit zur Bushaltestelle zurückging und meine Reise fortsetzte.
Als ich mit dem Bus durch die Berge Galiläas weiter zum See Genezareth fuhr, hörte der Regen unvermittelt auf. Der Himmel riss auf und beschien unvermittelt eine gewaltige Erdkerbe, ein ungeheures Loch mitten im Land, das von der Umgebung Zefads aus über tausend Meter in die Tiefe reichte, bis der gut zweihundert Meter unter dem Meeresspiegel gelegene See Genezareth erreicht war. Innerhalb kürzester Zeit hatte ich die Klimazone gewechselt und mich umgaben plötzlich eine linde Luft, saftige Wiesen und Palmen an der Uferpromenade von Tiberias. Auch diese Idylle war Israel.
Aber nicht nur. Auf dem Busbahnhof von Tiberias stieg eine rundliche junge Frau aus dem Bus, den Militärrucksack auf dem Rücken, das Maschinengewehr umgehangen, um sich für eine Falafel an einer Garküche anzustellen. Ein orthodoxer Jude mit langem Kaftan, Bart und Schläfenlocken wechselte die Straßenseite, als ihm einer Gruppe junger Mädchen in kurzen Röcken entgegen kam. In einem kleinen Restaurant in Ufernähe lernte ich Bill kennen, einen amerikanischen Juden aus Brooklyn, der in Israel die Religion seiner Väter suchte. Er habe noch nichts gefunden, sagte er, was aber daran liege, dass er gar nicht wisse, wonach er suchen sollte. Das einzige, was er bisher erkannt habe, sei sein über alle Maßen eingefleischtes Amerikanersein.
Ich schlief in einer Backpackerherberge in der Nähe des Sees. Es war laut und teuer, und es gab nur ein lausiges Frühstück. Am Morgen beklagte sich ein Franzose, dass ihm der MP3 Player gestohlen worden sei, der Wirt zuckte die Schultern und drehte sich um.
Es dauerte etwas, bis ich in Tiberias das Grab des Maimonides fand, jenes spanischstämmigen Juden, den die Verfolgungen auf der iberischen Halbinsel zuerst nach Marokko, dann nach Ägypten und schließlich nach Palästina getrieben hatten. Ein orthodoxer Jude kniete vor dem Kenotaph und bewegte seinen Körper im rhythmischen Auf und Ab seiner Lobpreisungen. Neben ihm stand ein Moslem, die Hände in Andacht und Ehrerbietung am Grab des gefaltet. Keiner von beiden blickte den anderen an.
Am See Genezareth erreichte ich eines der Ursprungsgebiete des christlichen Glaubens. Hier hatte Jesus in Kapernaum seine ersten Jünger gewonnen: Petrus, Andreas und Jakobus. Hier vollbrachte er seine ersten Wunder: er heilte den Besessenen, die Schwiegermutter des Petrus, das todkranke Kind und den Mann mit der verdorrten Hand. In der Synagoge von Kapernaum hielt Jesus seine erste programmatische Rede („Ich bin das Brot der Welt“), von Kapernaum aus ruderte Jesus zum Ostufer des Sees, wo schon fünftausend Menschen warteten, die er mit Brot und Fisch versorgte. Das christliche Wunder im Dienste des Catering.
Am Nordufer des Sees besuchte ich die Auferstehungskirche, an deren Altar Jesus nach seiner Auferstehung mit seinen Jüngern gespeist haben soll. Hinter der Auferstehungskirche, gleich in der Nähe des Ufers befand sich eine Skulpturengruppe, die den segnenden Jesus zeigte, wie er dem Fischer Petrus seine Kirche übertrug. Weide meine Schafe. Über Taghba, den Berg der Seligpreisungen, ging die Sonne auf, als ich zum Franziskanerhospiz spazierte. Hier las ich auf den acht Kolonnaden die acht Seligpreisungen nach Matthäus.
„Selig, die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden. Selig, die keine Gewalt anwenden denn sie werden das Land erben. Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden. Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden. Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen. Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden. Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihnen gehört das Himmelreich.“
Nazareth, die Geburtsstadt Jesu, erreichte ich im strömenden Regen. Über der Grotte, in der der Erzengel Gabriel Maria die Geburt Jesu verkündet haben soll, erhob sich eine fast siebzig Meter hohe Kirche mit einer raketenartigen Spitze und einer über dreißig Meter langen Seitenfront. Um in die vermeintliche Grotte zu gelangen, musste man im Innern der Kirche auf eine etwas niedrigere Plattform herabsteigen, wo Geistliche der verschiedenen christlichen Konfessionen die Besucher mit Argusaugen beobachteten. Vor dem Eingang der Grotte stand ein blumengeschmückter Altar, flankiert von großen Kerzen und unablässig flackernd im Blitzlichtgewitter der Touristengruppen. Es waren Pilger, aus aller Welt, die in der Weihnachtszeit auf ihrer Reise in das Heilige Land die Verkündigungsgrotte besuchten - in manchen Gesichtern erblickte ich Skepsis, in manchen unbedingten Glauben, in vielen aber erkannte ich jene „Begierde der Augen“, von der Augustinus behauptet hatte, dass es die Gier sei, alles zu sehen, ohne wirklich zu verstehen. Hätte ich einen Spiegel zur Hand gehabt, hätte ich mich möglicherweise selbst erkannt.