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10. Im Kuhstall der Ameisen.

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Während sie beide die entlegensten Winkel des Hauses besuchten, konnte sich Max von der Weitläufigkeit des Baues überzeugen. Es gab weite Gemächer, die mittels Gängen und Gräben in Verbindung standen. Alle mündeten sie in einen großen Saal im Mittelpunkt des Hauses. Wenn die Tageshitze am größten war, vereinigten sich hier in ihren Ruhestunden die Bewohner. In den weiten, dunklen, von Säulen und Pfeilern gestützten Gewölben tastete Max sich mit seinen feinen Fühlern sicher vorwärts und bewunderte überall die geistreiche Anlage des schönen Baues.

Die Ameisen, das sah er klar, sind nicht bloß gute Pfleger, starke Arbeiter, schlaue, kluge Tunnelgräber, sie sind auch große Baumeister. Er stand nicht an, dies laut preisend Fuska als Artigkeit zu sagen.

»Es wäre eine falsche Bescheidenheit«, erwiderte diese mit würdigem Stolze, »dein Lob abzulehnen. Aber ich muß auch gestehen, daß wir Ameisen zwar alle großes Geschick im Bauen haben, trotzdem besitzen wir aber keine bestimmte Bauart, wie z. B. die Bienen. Jeder arbeitet bei uns sozusagen nach eigenem Geschmack und eigener Laune. Auf diese Weise bekommen wir Häuser von unglaublicher Vielseitigkeit, die alle etwas Persönliches an sich haben.«

»Es müßte sehr schwer sein«, bemerkte Max altklug, »eine Geschichte des Ameisenstiles zu schreiben.«

»Riesig schwer! Denke, es gibt außer den verschiedensten Arten unserer unterirdischen Nester auch solche in freier Luft.«

»In freier Luft? Schwebend? Wie merkwürdig!«

»Jawohl! Es gibt Ameisenarten, die bauen ihr Häuschen auf Pflanzenzweige, sie kleben Blätter zusammen als Dach; andere wohnen in Eichengallen, in Felsenspalten, Mauerritzen, sogar im Holz der Bäume.«

»Also Holzschnitzer, nicht wahr?«

»Vollendete!«

»So sind die Ameisen auch Bildhauer«, murmelte Max, und jetzt dachte er erst mit Verständnis an Namen, die ihm einst in der Schule recht langweilig schienen. Da war im Lesebuch von einem berühmten Mann die Rede, der Dante hieß; dieser war zugleich ein Staatsmann, ein Dichter und Gelehrter. Ein anderer hieß Michelangelo Buonarroti; von diesem gab es eine ganze Litanei zu merken: Bildhauer, Maler, Baumeister, Ingenieur, Dichter und Soldat sollte er einst gewesen sein! Und alles mit Note eins! Er hatte es nie recht glauben können, aber jetzt schien es ihm doch eher möglich, nachdem er bei den Ameisen auch so vielerlei Kunst vereinigt sah. Es war nicht ohne Grund, wenn er auf einen drolligen Einfall geriet:

»Es kommt mir vor«, dachte er, »als ob ich, seit ich Ameise bin, ein großer Mann geworden sei.«

Er fand übrigens, daß dies, was die Ameisen ihr Haus hießen, viel eher eine kunstvoll befestigte Stadt genannt werden durfte. Max, der von Fuska bereits gelernt hatte, Entfernungen abzuschätzen, berechnete die Tiefe und Höhe des Baues auf mindestens dreihundert Ameisenlängen und dachte mitleidig an das größte Menschenbauwerk, die berühmten ägyptischen Pyramiden. Ihr Bild hing in Onkel Walters Zimmer, und Onkel erzählte von ihnen, daß sie neunzigmal die Höhe eines Menschen hätten.

Trotz aufrichtiger Bewunderung und Staunen für die kleinen Insekten, denen er jetzt selbst angehörte, spürte er nach und nach eine ihm von jeher wohlbekannte Regung seines Magens.

Ohne Umstände sagte er daher:

»Alles ist wunderschön, alles ist vorhanden, was eine Ameise sich wünschen kann, aber darf ich fragen, ob nicht irgendwo etwas Eßbares zu finden ist?«

»Du kleiner Hungerleider«, lächelte Fuska. »Bisher bist du von mir gespeist worden, es ist aber jetzt an der Zeit, daß du allein essen lernst.«

»O da mache ich sicher die schönsten Fortschritte, ich will es gerne versprechen!«

»So komm, du sollst jetzt unsere Ställe kennenlernen.«

Eine neue Überraschung! Ställe!

»Ställe? Wirkliche, wahrhaftige Ställe?«

»Komm nur, wir werden unsere Kühe melken.«

Ziemlich einfältig blickte Max um sich.


»Kühe? Wo? Melken? Wie?« – Kopfschüttelnd ging er hinter Fuska her, die ihn in einen schiefen, aufwärts strebenden Gang führte, der bis zur Erdoberfläche reichte. Er fühlte die Luft freier und kühler wehen und bemerkte, daß der Gang oberhalb des Erdbodens weiter senkrecht emporstieg. Im Hohlraum des Ganges stand aus dem Erdboden herauswachsend der Stengel einer Pflanze. Es war ersichtlich, daß der röhrenförmige Bau errichtet war, um diese Pflanze zu schützen. Sie kletterten in die Höhe und gelangten schließlich in einen erweiterten Raum. Dieser glich einer hohlen Kugel. Hier lebten Insekten, die Max nicht gleich erkannte. Durch ein kleines Fensterchen drang ein Lichtstrahl ein, und Max sah, daß es Tierchen waren, wie er solche oft herdenweise an den Rosenzweigen in seinem Garten beobachtet hatte und die Onkel Walter Blattläuse nannte.

»Hier hast du zwei Arten von Milchkühen«, lud Fuska ein, »wähle und laß es dir tüchtig schmecken.«

Max stand verblüfft vor den Blattläusen und den Gallenläuschen, die Fuska Kühe genannt hatte.

»Melken? Ja, wie denn? – wo denn?«

»Nun hinten!« ermunterte ihn Fuska.

Max war verblüffter als zuvor. Wahrhaftig, für eine saubere Ameise, die sogar an den Füßen ihre Kämmchen mitführte, war dies eine schmutzige Geschichte. Allerdings hatte seine Mutter einmal in der Küche Brötchen mit einer gewissen Schnepfensache bestrichen, die dem Namen nach auch nichts Schönes versprach, die sich aber als Leckerbissen herausstellte. Ohne länger zimperlich zu zaudern, ahmte er Fuskas Beispiel nach, fing sich eine fette Kuh aus der Herde und begann tüchtig zu melken und zu schlucken, was sich die Blattlaus ohne Widerrede gefallen ließ. Es war natürlich keine Milch, was ihm da so gut mundete, sondern der ihm bereits bekannte vorzügliche Sirup. In mächtigen Zügen trank er sein Bäuchlein so rundlich voll, daß er zur Verdauung an die frische Luft zu gehen wünschte.

Durch das Fenster stieg er mit Fuska ins Freie und kletterte längs der Außenwand zur Erde hinab. Nun lag das anmutige Bauwerk im Mondlicht vor seinen Blicken, dessen Äußeres er sich vorher nicht gut vorzustellen vermochte.

Vom Erdboden aus erhob sich der Röhrenbau in Gestalt einer wohlgeformten, fast senkrecht stehenden Walze und schloß zu oberst in einer kugeligen Ausbuchtung ab. In diesem erweiterten Raume lebten die Blattläuse und Gallenläuse. Eine zierliche Krönung fand das hübsch gebaute Türmchen durch die langen, grünen Blätter der Pflanze, die aus der Dachöffnung herauswuchsen.

»Beim Anblick dieses Bauwerkes steht mir ja der Verstand still«, meinte Max.

»Und doch ist es gar nicht schwer, das alles zu begreifen«, sprach Fuska. – »Die Blattläuse saugen ihre Nahrung aus der saftigen Rinde der Pflanzen. Wir verzehren mit Vorliebe den Honigseim, den sie in ihrem Körper bereiten und nach außen abgeben. Darum holen wir uns diese Insekten herbei, halten sie als Haustiere und melken sie, wie du es eben selbst getan hast.«

»Ja, ja!« unterbrach Max schmunzelnd die Belehrung, »ich habe heute melken gelernt, und es hat mir geschmeckt wie noch nie im Leben.«

»Gewiß! – Allein, damit die Tierchen ihre süße Flüssigkeit von sich geben können, müssen sie auch zu essen haben. Darum haben wir ihnen den Stall um eine lebende Pflanze gebaut; auf dieser finden sie ihre Nahrung. Für gewöhnlich halten wir unsere Kühe in einem Raume innerhalb des Hauses. Das erspart viel Arbeit und ist viel bequemer. Aber wenn wir beim Ausheben unserer unterirdischen Höhlenwohnungen nicht auf die Wurzeln einer lebenden, saftigen Pflanze stoßen, dann müssen wir außerhalb des Hauses solche Bauten aufführen.«

Wenn die Ameisen, wie es manchmal Menschen zustößt, sich hinterdenken könnten, dann hätte Max vor Verwunderung seinen Verstand verloren. – Unglaublich! – Die Ameisen hatten, geradeso wie die Menschen, ihre melkbaren Kühe, sie bauten für diese Ställe, und diese Ställe waren in allem der Lebensweise ihrer Bewohner angepaßt. Die Kühe fanden darin, ohne daß man es ihnen hätte hintragen müssen, ein gutes Futter und gaben dafür ihre süße Milch. Was Max bis jetzt vom Ameisenleben gelernt hatte, war fast zuviel für seinen kleinen Kopf.

Er mußte immer noch darüber nachdenken, als sie den Turm wieder hinaufkletterten, durch das Fenster einstiegen und durch die Röhre in das Ameisenhaus zurückkamen. Was er gelernt hatte, erregte seine helle Begeisterung: Die kleinen Ameisen sind Kindergärtnerinnen, Lehrer, Bergmänner, Soldaten, Maurer, Baumeister, Bildhauer und schließlich gar noch Viehzüchter.

Doch als sich Max an Fuskas Belehrungen über die Natur der Blattläuse erinnerte, kam auch ein banges Gefühl der Besorgnis über ihn, und er sprach zu sich selber:

»Gott soll mich davor bewahren! Aber ich habe eine Ahnung und bringe sie nicht los. – Am Ende hat die Gesellschaft auch noch einen Lateinprofessor, und ich muß wieder Grammatik studieren. – O je, o je!!«

Max Butziwackel, der Ameisenkaiser (Luigi Bertelli) (Literarische Gedanken Edition)

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