Читать книгу Brüchige Zeiten - Luis Stabauer - Страница 5
ОглавлениеGABY KALONER
Wo bin ich?, denkt sie noch im Halbschlaf und spürt eine Hand am Oberarm. Sie öffnet die Augen. Eine Frau im grauen Schlafanzug sitzt an ihrem Bettrand. Vor dem vergitterten Fenster stehen zwei weitere Frauen. An der Wand hängt ein Kalender. Jänner 2019 kann sie lesen.
„Du hast die halbe Nacht geweint“, sagt die Frau neben ihr und zieht ihre Hand zurück. „Das haben wir in den ersten Nächten alle. Denk nicht zu viel nach, das hilft. Wie heißt du?“
Die Frau dürfte in ihrem Alter sein, so um die vierzig.
„Lucía, Lucía Gruber“, sagt sie. „Entschuldige, ich habe mich nicht gleich orientieren können.“
„Jö, a feina Pinkel, orientieren hat sa si net kennan, hast wen hamdraht, oder was?“, sagt eine der beiden anderen Frauen aus dem Hintergrund.
„Hör nicht auf sie. Die reden nur blöd“, flüstert die Frau an ihrem Bett. „Ich bin die Karin.“ Sie streicht Lucía übers Haar, lächelt sie an und erhebt sich. Mit den Schlüsselgeräuschen an der Tür setzt sich Lucía auf.
„Kaffee, Tee, Kakao?“ Auf dem Servierwagen liegen Brote in einem kleinen Korb, Butter und Marmelade sind auf vier Teller aufgeteilt.
Lucía hat keinen Hunger, greift aber doch zu einem der Teller und legt ein Brot dazu. Sie erinnert sich wieder, die Frauen haben schon geschlafen, gestern, spätabends, nachdem sie ein Transporter hierhergebracht hat. Ihre Reisetasche steht neben dem Bett. Sie haben ihr noch keinen Kasten zugeteilt. Zwei Monate war sie bereits in Untersuchungshaft in Wien, und jetzt diese Überstellung nach Schwarzau. Ihr Rechtsanwalt hat noch versucht, sie vor der Abfahrt zu beruhigen, und ihr mitgeteilt, dass ihre Freundin Martina sie in der Justizanstalt Schwarzau besuchen kommen werde. Es sei ihm nicht möglich gewesen, gegen diese Überstellung Rechtsmittel einzulegen.
„Sie sind die erste Person, die in der Zweiten Republik de facto in Schutz- und Beugehaft genommen wird. Es wird versucht, Ihnen terroristische Aktivitäten vorzuwerfen“, hatte er ihr damals im Erstgespräch in der Justizanstalt Mittersteig erklärt. „Aber machen Sie sich keine Sorgen, wir werden diese Maßnahme auch auf europäischer Ebene bekämpfen. Und lassen Sie sich vom Gezeter der Polizisten und Staatsanwälte nicht einschüchtern. Gegen unliebsame Personen verwenden sie fast immer den Gesetzestext zu § 278c StGB Terroristische Straftaten.“
Lucía nimmt sich vor, nach dem Frühstück zu fragen, ob sie für den Besuch ihrer Freundin einen ungestörten Raum benützen kann. Jene Wachebeamtin, die das Frühstücksgeschirr abholt, weiß nichts, sie zeigt nur auf einen Kasten. Lucía räumt ihre Kleidung und die Toilettesachen ein und legt sich hin.
Wieder dreht sich der Schlüssel im Schloss. Dieselbe Frau scheint jetzt doch etwas zu wissen: „Lucía Gruber, kommen Sie mit. Sie haben das Erstgespräch mit der Frau Oberstleutnant.“
Die Leiterin der Justizanstalt mustert Lucía argwöhnisch, lässt sie vor ihrem Schreibtisch stehen und nippt am Kaffee. „Irgendwie müssen Sie gefährlich sein“, sagt sie, „sonst müssten wir Sie nicht als besonderen U-Häftling in unserem Schloss für Schwerverbrecherinnen aufnehmen. Aber das zu beurteilen ist nicht unsere Aufgabe. Verhalten Sie sich ruhig und befolgen Sie die Regeln, dann wird Ihr Aufenthalt angenehm werden, das verspreche ich Ihnen. Ja, und noch etwas: Sie scheinen prominent zu sein, denn bereits für morgen ist der Besuch einer Psychologin genehmigt, sogar mit der Freigabe von Audioaufnahmen, wenn Sie einverstanden sind.“
Lucía blickt der Frau Oberstleutnant ungläubig in die Augen, hebt die Schultern kurz an, dann nickt sie zögerlich.
Die Leiterin der Anstalt ergreift eine Mappe, öffnet sie und blättert darin.
„Fluchtgefahr, Gefahr der Begehung einer neuerlichen Straftat und Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit, drei Tattoos und ehemalige Gymnasiallehrerin“, murmelt sie und sagt dann laut:
„Noch etwas: Eine Frau Professor Magistra Martina Hager steht auf der Besucherliste. Sie kommt um 15:15 Uhr und darf fünfzehn Minuten bleiben. Die Frau Professor wird als Mitangeklagte geführt. Wir werden das Gespräch überwachen, seien Sie vorsichtig.“ Frau Oberstleutnant drückt eine Taste und lässt Lucía wieder in die Zelle führen.
*
Lucía geht im kleinen Besucherraum hin und her, dann wird die Tür geöffnet und Martina wird hereinbegleitet. Sie stellt ihre Tasche ab und umarmt Lucía lange.
„Ich hab dir Eva schläft von Francesca Melandri und Unter der Drachenwand von Arno Geiger mitgebracht, ich denke, die kennst du noch nicht. Und da, Dörrzwetschken und Marillenmarmelade.“
„Danke. Bedeutet das, dass du noch immer mit einem längeren Aufenthalt rechnest?“
„Ich hoffe nicht. Unser Anwalt ist echt super, ich habe lange mit ihm telefoniert. Wir haben deinen Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht und die Zusage zu einer Verfahrensprüfung bekommen. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum das Justizministerium den beantragten Therapiegesprächen zugestimmt und die Tonaufnahmen genehmigt hat. Du kannst der Therapeutin vertrauen, ich kenne sie von diversen Aktionen. Sie heißt Gaby und wird dich ausführlich befragen. Sie kommt morgen zu dir. Wir hauen dich da raus.“
„Danke, Martina, ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun würde. Und? Hast du sonst keine Infos für mich?“
Martina schließt kurz die Augen, sie weiß, was Lucía hören möchte, und schüttelt langsam den Kopf.
„Ich habe ihm noch zwei weitere Mails und eine WhatsApp-Nachricht geschrieben. Er hat alles gelesen oder zumindest geöffnet. Keine Reaktion. Was soll ich noch tun? Soll ich deinen Ex auch anschreiben?“
„Nein, der weiß sicher Bescheid, stand ja in allen Zeitungen. Halte Fabian bitte weiterhin auf dem Laufenden, vielleicht meldet er sich doch einmal.“
„Es kann nicht sein, dass du wegen dieser Kirchenbesetzung immer noch in Untersuchungshaft bist. Der Pfarrer hat keine Besitzstörungsklage eingebracht und die könnte auch kein Haftgrund …“
Eine Wachbeamtin nähert sich den beiden und sagt in strengem Ton: „Die Zeit ist abgelaufen.“
„Das waren noch keine fünfzehn Minuten“, setzt Martina zu einem Protest an. Lucía schüttelt den Kopf und flüstert: „Red mit dem Anwalt.“ Die beiden Frauen umarmen einander. Lucía wird von einer Strafvollzugsbediensteten in ihre Zelle zurückgebracht.
„Alle Achtung, du bist eine Frau Professor“, empfängt sie Karin und eine der anderen beiden Zellengenossinnen meint: „Du kuntast uns sicha was leanen“, und lacht.
Woher wissen die das?
*
Lucía öffnet die Augen und blinzelt. „Kaffee, Tee, Kakao?“, fragt eine dunkelhaarige Frau in Uniform und schiebt den Servierwagen in die Mitte der Zelle.
„Frau Gruber, um 8:55 Uhr hole ich Sie ab, Sie haben ein Gespräch im Medienraum. Machen Sie sich fesch, vielleicht werden Sie sogar fotografiert“, sagt die Wachebeamtin.
Lucía wartet in einem Raum mit einer Sitzecke, einer Couch und einem Regal voller Bücher. Sie kann keine Kamera entdecken. Die Tür geht auf, die Frau Oberstleutnant selbst begleitet eine brünette Frau in den Raum. In Jeans und grauem Pulli, die Jacke legt sie auf die Couch, auch sie dürfte in den Vierzigern sein. Die Gefängnisleiterin lässt die beiden Frauen allein.
„Gaby Kaloner. Gaby mit Ypsilon. Sind das Du und Lucía als Anrede okay?“ Lucía nickt. Gaby lächelt und legt ihr Handy als Aufnahmegerät auf den Tisch.
„Du weißt Bescheid und bist einverstanden, ja? Das ist unser Erstgespräch, wir können es kurz halten und vielleicht schon heute mit ersten Tonaufnahmen über dein Leben beginnen.“
„Ja, alles klar“, sagt Lucía. „Wie viel Zeit haben wir?“ Leise ergänzt sie: „Martina hat mir …“
Gaby hebt ihre Hand ganz leicht über den Tisch und deutet mit einem leichten Wippen an, nicht weiter zu reden. Lucía nickt, bevor Gaby fortfährt: „Heute haben wir zwei Stunden, aber sie haben insgesamt zehn Termine genehmigt. Ich weiß bereits einiges aus den Vernehmungsprotokollen, möchte jedoch alles aus deinem Mund hören. Versuche bitte chronologisch zu erzählen, du kannst gerne bei deinen Eltern beginnen. Ich werde dich nur unterbrechen, wenn ich mich nicht auskenne. Die Gespräche und die Aufnahmen sind für die Analyse deiner psychischen Gesundheit wichtig.“ Gaby zwinkert einige Male recht heftig, schreibt etwas in ihr Notizbuch. Dann dreht sie es in Lucías Richtung, damit diese den Text lesen kann: Ich mache aus deiner Erzählung einen Bericht. Er könnte später auch für den Widerstand gegen die Regierung und für den Europäischen Gerichtshof sehr wichtig werden! Okay?
Jetzt lächelt Lucía.