Читать книгу Brüchige Zeiten - Luis Stabauer - Страница 6
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Schon als Lucía ein kleines Mädchen war, hatte ihr ihr Vater Eduardo Martín Sanchez von den spanischen Faschisten erzählt. Als sie fünfzehn war, sprach er auch über seine Angst, die er im Februar 1981 gehabt hatte, als die Falangisten in Madrid wieder die Macht übernehmen hatten wollen. Ja, er habe große Zweifel gehabt, ob sich der König gegen die Militärs und putschenden Teile der Guardia Civil durchsetzen würde können. Schon 1976, vor seiner Aufnahme in den diplomatischen Dienst, sei er von uniformierten Männern vier Stunden lang befragt worden, ob er noch jemanden aus der anarchistischen Gewerkschaft kenne, welche Bücher er zu Hause habe, wann und wo er bei Demonstrationen dabei gewesen sei und bei welchen, erinnerte er sich.
„Was ist putschen?“, fragte ihn Lucía. Er erklärte es ihr und sprach darüber, wie froh er sei, dass sich der König schlussendlich erfolgreich für die Demokratie eingesetzt hatte.
„Ich war zweiunddreißig, als mich die spanische Regierung 1976 in die Botschaft nach Wien entsandte. Mama war damals fünfundzwanzig, wir hatten noch vor der Übersiedlung geheiratet. Sie telefonierte täglich mit ihren Eltern in Madrid, aber zurück wollten wir beide nicht mehr.
‚Wir sind schon richtige Wiener‘, sagte sie manchmal, wenn uns neue Freunde besuchten. Die spanische Sonne vermissten wir schon ein wenig.
Zum ersten Hochzeitstag überreichte mir Mama drei Sonnenblumen. ‚Weißt du‘, hatte sie gefragt, ‚warum diese Blume dem Lauf der Sonne folgt?‘
Ich wusste es nicht.
Mama hatte gelacht: ‚Sie kann nicht anders … Auch du bist meine Sonne.‘ Wir umarmten einander lange.
‚Wie schön‘, flüsterte ich Mama damals ins Ohr, auch sie war meine spanische Sonne in Wien.
Bald darauf wurde Mama schwanger. 1977 holten wir uns mit deiner Geburt noch eine Sonne ins Haus: Dein Licht strahlte von da an für uns, daher heißt du Lucía. Wir unternahmen lange Spaziergänge im Prater mit dir und dir gefielen die Wanderungen im Wienerwald. An unsere Konzert- und Theaterbesuche während der Volksschulzeit wirst du dich sicher noch erinnern können. Wir waren schon damals stolz auf dich.“
Eduardo Martín Sanchez drückte seine Tochter an sich, Rosa García Mendoza brachte die Torte ins Esszimmer und stimmte „Cumpleaños feliz“ an.
*
Im April 1999, Lucía war einundzwanzig, reisten Rosa und Eduardo nach London. Zwei Tage später sah Lucía im Fernsehen die Bilder vom Sprengstoffanschlag in Soho. Am nächsten Morgen rief die Botschaft an, ihre Eltern waren unter den Opfern.
Martina meldete sich nicht am Telefon. Albert hatte bereits ein Handy, ihn erreichte sie. Er kam zu ihr und versuchte sie mit seinen Beraterweisheiten zu beruhigen. Lucía blieb drei Tage lang im Bett und weinte beinahe ununterbrochen. An den Abenden konnte sie zumindest mit Albert reden.
„Ich gehe nicht mehr an die Uni“, sagte sie nach zwei Tagen zu ihm. Albert antwortete nicht. Am vierten Abend meinte er, sie mit Zärtlichkeiten trösten zu können. Sie wollte es anfangs nicht, gab aber seinem Drängen doch nach, auch die Pille hatte sie nicht mehr genommen. Wenn es denn sein sollte, dachte sie, ein Kind würde mich da herausholen.
Nachdem die Regel zehn Tage ausgeblieben war, hatte sie den Schwangerschaftstest gemacht. „Wir werden Eltern“, sagte sie zwei Monate später zu Albert.
„Mhm“, erwiderte er nur. Wieder fiel sie in ein Loch. Dann schlug Albert doch einen Hochzeitstermin vor.
Lucía beendete das Sommersemester und ließ sich danach von der Universität beurlauben. Albert hatte noch vor der Geburt eine schöne Wohnung gefunden. Sie konnte den Kaufbetrag mit dem Geld aus der Erbschaft ihrer Eltern beinahe zur Gänze aufbringen. Mit einem kleineren Kredit beteiligte sich Albert am Rest.
„Es ist ja deine Wohnung“, hörte sie in den Jahren nach der Geburt von Fabian öfter, wenn sie Alberts Beteiligung im Haushalt einforderte. Sie konzentrierte sich auf ihren Sohn. Wo immer es möglich war, zeigte sie ihn her, fotografierte ihn täglich und führte für ihn ein Babytagebuch.
Erst nachdem Fabian im Kindergarten war, setzte Lucía ihr Studium fort. In Spanisch konnte sie sich auf Literatur konzentrieren, für die Sporttheorien arbeitete sie hart, wenn Fabian schlief.
Zwei Mal hatte Lucía während des Studiums an einem Gymnasium im 17. Bezirk hospitiert. 2005, direkt nach Abschluss des Studiums, wurde sie dort als Lehrerin übernommen. Zu Sport und Spanisch wurde ihr noch die Verantwortung für die Tauchausbildungen übertragen. Zwei Jahre später kandidierte sie bei den Personalvertretungswahlen und wurde gewählt. Albert wollte sie nicht zur Wahlparty begleiten. Er blieb bei Fabian.
Ihre neuen Freunde aus der Schule konnten mit ihrem Mann wenig anfangen und auch er wusste nichts mit ihnen zu reden, wenn sie auf Besuch kamen. Aber allen überreichte er seine Berater-Visitenkarte. Die sozialen Verhältnisse in Österreich und Lucías Aktivitäten gegen das versteinerte Schulsystem interessierten Albert nicht. Die einzige linksliberale Tageszeitung Österreichs wollte er abbestellen, Lucía bestand darauf, das Abo zu behalten. Er fuhr täglich mit ihrem gemeinsamen Auto ins Büro, und wenn Lucía einmal das Auto gebraucht hätte, rechtfertigte er sich mit einem seiner Stehsätze: „Die Straßenbahnen werden immer voller, lauter Ausländer.“
„Du hast eine spanischstämmige Frau“, entgegnete Lucía. Albert schwieg.
Im Jänner 2011 wollte Lucía unbedingt an der Demonstration gegen den Akademikerball der Burschenschafter teilnehmen, vor allem, weil die Polizei die Kundgebung verbieten hatte wollen. Albert war wieder einmal in Deutschland unterwegs, daher hatte Lucía eine Kollegin gebeten, bei Fabian zu bleiben. In den folgenden Wochen beschimpfte sie Albert wiederholt als verantwortungslose Mutter. Die Gefährdung der Demokratie durch die Burschenschafter diskutierte sie in den sozialen Netzwerken und mit einigen Freunden aus dem Kollegium. Albert gegenüber schwieg sie.
„Dein Körper, deine Haare, dein Mund, deine Ausstrahlung, du bist eine Wucht“, hatte er früher gesagt und sie auch stolz seinen Freunden vorgestellt. In den letzten Jahren bekam Lucía nur mehr von anderen Komplimente. Nach einer gemeinsamen Schulveranstaltung baute sich eine erotische Stimmung zwischen ihr und einem Kollegen auf. Hätte ich dem nachgeben sollen?, dachte sie, nachdem sie wieder einmal allein ins Bett gegangen war.
Anfangs fehlte ihr die körperliche Liebe. Entweder war Albert unterwegs, oder er wollte auf Fabian Rücksicht nehmen, der ja nebenan schlief. Ein Jahr lang hatte er sie schon nicht mehr berührt. Immer häufiger kam er erst nachts nach Hause und Lucía meinte, fremdes Parfum und Wein zu riechen. Als sie dann einmal seine Hand unter der Decke spürte, drehte sie sich weg.
Am 1. Mai 2012 war es so weit. „Feigling!“, murmelte sie, als am Morgen sein Brief auf ihrem Nachtkästchen lag. Er schien es gut geplant zu haben. Vielleicht hat er sogar die Scheidung als Projekt angelegt, dachte Lucía. Ende Mai zog er in seine neue Wohnung. Wenn Fabian ihre Tränen bemerkte, legte er beim Frühstück seine Hand in ihren Nacken. Wenn sie trotzdem traurig war, sagte er:
„In einer Badewanne
saß eine dicke Dame.
Dicke Dame lachte
Badewanne krachte.“
Spätestens danach lachten beide.
Noch vor dem nächsten Schulanfang war alles geregelt.
„Wir haben das Besuchsrecht für jedes zweite Wochenende vereinbart. Papa wollte außerdem, dass du während der Woche in einem Internat bist, zumindest bis du fünfzehn bist. Dem habe ich zugestimmt“, sagte sie zu Fabian nach dem Gerichtstermin. „Dein Vater hat dir ein Zimmer mit Glotze eingerichtet.“
Den Kuba-Urlaub hatten sie noch gemeinsam geplant. Sie verbrachte ihn nun mit Fabian allein. Bei einem Stadtbummel in Havanna gestand er ihr, seinen Vater schon zweimal mit einer Frau getroffen zu haben.
„Ich sollte nicht drüber reden. Aber jetzt? Sie hat versprochen, mir ein Tablet zu kaufen, wenn ich dir nichts sage.“
Lucía blieb stehen, drehte sich abrupt zu Fabian und holte tief Luft. „Danke, dass du es mir sagst“, sagte sie und drückte ihn an sich. „Leider haben Papa und ich seit einiger Zeit nicht mehr viel miteinander geredet, so ist unsere Liebe zerflossen. Versprich mir bitte, immer mit mir zu reden, wenn dich etwas belastet. Du bist mein ganzes Leben.“
Fabian nickte.
Fabian hatte die ersten Jahre am Gymnasium gut abgeschlossen. Er besuchte dieselbe Schule, in der seine Mutter als Lehrerin unterrichtete. Gegen seinen Willen bestand Lucía auf Fabians Internataufenthalt, sie wollte sich auch nicht mehr mit Albert darüber streiten, schon gar nicht vor Gericht.
In ihrer gemeinsamen Schule kritisierte sie den neuen Deutschlehrer offen vor der Kollegenschaft: „Fällt dir für die Schularbeitsthemen nichts Besseres ein als germanische Göttergeschichten oder Monsterfiguren als Anregungen?“, sagte sie im Konferenzraum. An den Wochenenden versuchte sie auch Fabian vor ihm zu warnen. Sie wollte seine Deutschtümelei nicht gutheißen, die er angeblich zur Inspiration der Schüler einsetzte. Vielleicht stimmte es auch. Immerhin motivierte er Fabian zu fabelhaften Aufsätzen.
„Linkslinke wie du werden es auch irgendwann kapieren, dass sie als Gutmenschen nur nützliche Idioten sind. Womöglich ist es aber dann für dich zu spät“, flüsterte ihr der Kollege zu, als sie einmal zufällig gemeinsam aus dem Schulgebäude gingen. Lucía zeigte ihm den Mittelfinger. Sie beobachtete seine Aufsatzthemen nun noch genauer.
„Dein Deutschlehrer ist eine Gefahr für die Demokratie“, sagte sie an einem Wochenende, nachdem sie Fabians Hausaufgaben durchgesehen hatte. „Misch dich nicht ein“, erwiderte Fabian und schob sein Heft in die Tasche.
Die Kinder ihrer Klassen liebten sie. Sie erzählte ihnen Begebenheiten, die sie während ihrer Aufenthalte bei ihrer Madrid-Oma erlebt hatte, und immer wieder sprach sie auch von Ernesto Che Guevara und seinen Reisen durch Lateinamerika. Lucía regte damit die Schüler zu gesellschaftskritischen Referaten in Spanisch an. Im Juni 2014 eröffnete die Direktorin die Notenkonferenz mit einem Elternbrief an die Schule, in dem die Klassenarbeit von Lucía als vorbildlich gelobt wurde. Alle applaudierten, selbst der Deutschlehrer klatschte. Einige aus der Kollegenschaft wollten didaktische und methodische Tipps von ihr. Immer häufiger wurde sie auch zu privaten Festen eingeladen.
Zur Bundespräsidentenwahl 2016 bezog sie in einem TV-Spot einer antifaschistischen Gruppe eine klare Position. Die Direktorin empfahl ihr mehr Zurückhaltung. Auch ihr Eintreten für eine Gesamtschule werde von der Kollegenschaft nicht geteilt, hatte sie gesagt. „Und bedecken Sie Ihre Oberarme, man hat das Tattoo gesehen“, ergänzte sie.
Albert hatte ihr nach diesem Fernsehinterview eine lange WhatsApp-Nachricht geschrieben, und er hatte diese zusätzlich an Fabian adressiert:
Du kannst es nicht lassen! Wann wirst du erwachsen? Mit deinen linken Ausritten hast du unsere Familie zerstört. Die von dir beschimpfte Partei wird sich das nicht gefallen lassen, gerade du müsstest wissen, wie gut die vernetzt sind, und gegen Lehrer gehen sie besonders strikt vor. Du wurdest immer wieder auf Twitter und Facebook gesperrt. Reichen dir diese Warnungen noch nicht? Mit deinen Aktionen gefährdest du auch Fabian. Ich werde ihn schützen und auch seine Indoktrinierung nicht dulden!
Lucía war tagelang wütend und besprach ihre Situation mit einer Therapeutin. Zu Fabian sagte sie nichts. Er fand sie nach dem TV-Auftritt nur mehr peinlich. Klar, in der Pubertät soll er sich an mir reiben, dachte Lucía.
Ein Jahr später wurde sie von einer Gratiszeitung interviewt. Der Fotograf hatte sie in erotischer Pose abgebildet. Sie hatte doch keine Stiefel getragen? Hatten die auf dem Foto ihren Busen vergrößert? Im Hintergrund war ihre Schule ins Foto montiert worden. „Eine Lehrerin klagt an: Burschenschafter gefährden Österreichs Demokratie“, stand daneben. Am nächsten Schultag zitierte sie die Direktorin zu sich.
„Nehmen Sie Platz, wir müssen reden. Ich habe Sie gewarnt, Sie scheinen mich nicht verstanden zu haben. Ich bin nach wie vor mit Ihrer Arbeit zufrieden, aber mit dem Zeitungsinterview sind Sie eindeutig zu weit gegangen.“
„Ich glaube, das Foto wurde manipuliert“, setzte Lucía zu einer Erklärung an.
„Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Sie haben auf das Ansehen der Schule zu achten. Außerdem ist es gerade in Vorwahlzeiten wichtig, vor den Schülern eine objektive Haltung zu wahren, da hilft es Ihnen nicht, dass Sie gewählte Vertreterin sind. Ich bin von der Schulbehörde beauftragt, Ihnen diese Verwarnung vorzulegen.“
„Und wie beurteilen Sie die Aktivitäten von Fabians Deutschlehrer und dessen militärische Kleidung?“
„Reicht Ihnen diese Verwarnung noch nicht?“, fragte die Direktorin.
Lucía unterschrieb.
Ihre vermeintlichen Vertrauten in der Kollegenschaft wichen ihren Fragen aus. Einige folgten ihr nicht mehr auf Twitter oder kündigten die Freundschaft auf Facebook. Es störte sie nicht, denn nach dem Zeitungsartikel wuchsen ihre Kontakte in den sozialen Medien auf einige Tausend an. Es war allerdings mühsam, die verdeckten Rechten unter ihnen zu erkennen und zu sperren.
Die meisten ihrer Lehrerkollegen wichen ihren Gesprächsversuchen aus oder antworteten nicht. „Sind dir gesellschaftspolitische Haltungen wichtiger als dein Job“, fragte einer, und eine Kollegin, die sie als Freundin bezeichnet hätte, meinte sogar: „Mit deinem Engagement erreichst du bei deinem Sohn womöglich das Gegenteil.“ Andererseits, mit Alberts neoliberalen Einstellungen konnte und wollte sie sich nicht arrangieren. Bestand tatsächlich die Gefahr, das Verständnis ihres Sohnes zu verlieren?
Ab der sechsten Klasse schickte sie Fabian nicht mehr in das Internat. „Ich gestehe ihm ein freies Leben zu“, sagte sie bei einem Kaffeeplausch zu ihrer Freundin Martina. Trotzdem redete er kaum noch mit ihr und übernachtete häufiger bei seinem Vater. Lucía wollte jeweils am Vortag darüber informiert werden. Das tat er über WhatsApp. „Alle lachen über dich“, schrieb er einmal dazu.
Lucía wollte in der Schule mit ihm reden, lud ihn in ein Café ein, schlug einen gemeinsamen Abend vor, er blockte alles ab. Erneut suchte sie Hilfe bei einer Therapeutin. Auf deren Vorschlag, dass Fabian mitkommen sollte, reagierte er unmissverständlich: „Ich bin nicht der Kranke“, schrieb er.
In der zweiten Therapiestunde erzählte sie vom gemeinsamen Lachen über Kindersprüche und wenn sie Fabian ihre Grimassen zeigte, von den Zeiten auf den Spielplätzen, von den vielen Fragen, die er ihr gestellt hatte, von seinem Wunsch, bei ihr im Bett zu schlafen und eine Katze zu haben. „Im ersten Jahr nach der Scheidung war er besonders lieb zu mir und es tat mir gut“, sagte Lucía. Beim nächsten Termin besprachen sie, wie Lucía mit ihrem Sohn wieder eine Gesprächsbasis finden könnte.
„Ich könnte Fabian um Unterstützung bei meiner Entscheidung bitten, ob ich noch einmal für die Personalvertretung kandidieren soll“, sagte Lucía zur Therapeutin. „Als Klassensprecher des Maturajahrgangs unseres Gymnasiums ist auch er davon betroffen.“
Die Maturatermine waren für Anfang Juni 2018 angesetzt worden. Fabian stimmte einem Gespräch zu.
Für einen Samstag im März vereinbarten sie ein gemeinsames Frühstück. Bereits am Tag davor gestaltete Lucía den Tisch mit bunten Servietten, einem Osterstrauch und einem großen Schokolade-Hasen, die er so gernhatte. Um sich auf das Gespräch mit Fabian einzustimmen, ging sie hinauf. Das Schafzimmer mit dem Balkon, das Bad und sein Zimmer waren in der oberen Etage untergebracht. Fabian war für die Ordnung in seinem Zimmer selbst verantwortlich, das hatten sie bereits vereinbart, als er noch im Internat gewesen war. Sie kontrollierte es kaum. Wenn die Haushaltshilfe angekündigt war, hatte er zumindest den Boden leergeräumt, das bestätigte diese. Diesmal wollte sie bei ihm aufräumen, darüber hatte er sich schon als Kind gefreut. Aha, der Kasten ist um 90 Grad gedreht und das Bett steht an der Wand.
Am Kasten hing ein neues Plakat. In großer Schrift leuchteten ihr die Worte entgegen:
Gott ist immer mit den starken Bataillonen!
(Friedrich der Große)
Gott in Frakturschrift und Bataillone! Lucía schloss die Augen und atmete einige Male tief durch. Habe ich die Faschisten im eigenen Haus? Sie hielt sich am Türstock fest, ihr Schwindelgefühl wurde weniger und sie ging näher hin. Iboesterreich stand ganz klein am unteren Rand. Die Identitären! Sie wusste im Moment nicht, was sie tun konnte. Wen konnte sie anrufen? Wer konnte wissen, woher solche Plakate kommen? Kam es von diesem Deutschlehrer?
Lucía riss den Kasten auf und wühlte in Fabians T-Shirts. Sie hielt ein gelbes Shirt in der Hand. IDENTITÄRE BEWEGUNG und Heimat – Freiheit – Tradition war darauf zu lesen.
„Verdammte Scheiße“, schrie sie, setzte sich auf Fabians Bett und vergrub ihr Gesicht in den Händen. So verharrte sie einige Zeit. Draußen begann es zu dämmern, sie knipste das Licht an. Ohne weiter nachzudenken, hob sie die Matratze ein wenig. Aufkleber kamen zum Vorschein. Auf einem rot-schwarzen Sticker stand in großen Buchstaben BLOOD IN – BLOOD OUT, Burschenschafter mit Schwertern waren abgebildet. Auf einem anderen war MERKEL MUSS WEG aufgedruckt.
Sie hörte Fabians Schritte auf der Stiege. Er sprang herein: „He, was soll das! Das ist deine Verbotszone!“, schrie er.
„Was! Was?“, schrie Lucía zurück und hielt ihm mit der einen Hand das T-Shirt, mit der anderen einen Aufkleber vor das Gesicht.
„Geh! Verschwinde, sofort! Das geht dich nichts an!“
„Und ob mich das was angeht. Ich bin deine Mutter, und das ist meine Wohnung. Woher hast du das? Ich will eine Antwort, hier und jetzt!“
„Nein! Verschwinde!“ Es war das erste Mal, dass sich ihr Sohn vor ihr aufbaute.
„Sei vorsichtig. Ich verlange von dir eine plausible Erklärung.“
„Nichts werde ich erklären. Du hast kein Recht, in meinen Sachen zu wühlen. Raus aus meinem Zimmer! Es stimmt, mit dir redet man am besten nicht.“
„Was, mit mir redet man nicht? Wer sagt das? Steckt da dein Vater dahinter? Setz dich hierher und rede!“
„Raus“, schrie Fabian nochmals, „und lass Papa endlich in Ruhe!“ Er machte einen Schritt auf seine Mutter zu. Kurz hob er den Arm. „Du bist eine Volksverräterin! Meine Freunde und ich verteidigen das Eigene. Und du? Du bist immer noch für die illegale Grenzöffnung.“
Lucía atmete einmal kräftig aus, öffnete die Arme und versuchte einen Schritt auf Fabian zuzugehen. Er wich zurück.
„Bitte, Fabs“, sagte sie mit leiser Stimme, „kannst du nicht erkennen, dass die, die vom Eigenen reden, Rassisten sind?“
„Typisch Linke. Wenn ihr nicht mehr weiterwisst, sind alle, die nicht eurer Meinung sind, Rassisten oder Faschisten. Wir werden die Islamisierung Österreichs nicht zulassen.“
Lucía setzte sich nochmals auf Fabians Bett.
„Steh auf! Verschwinde aus meinem Zimmer, sonst riecht mein Bett nach dir.“ Seine Stimme überschlug sich.
Lucía schloss kurz die Augen und erhob sich.
„Gut, du willst es nicht anders. Nimm diesen Mist und was du sonst noch brauchst. Fahr wieder zu Papa. Mach deine Matura, vielleicht bist du danach bereit, mit mir zu reden.“
Sie drehte sich um, ging vor die Tür und zählte bis zehn. Dann bewegte sie sich die Stiege hinunter. Langsam. Der Handlauf gab ihr einigermaßen Sicherheit. Im Wohnzimmer suchte sie ihr Telefon.