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KLYTIA

Martina und Katharina hoben nicht ab. Beiden hinterließ sie eine Nachricht. Lucía versuchte es bei Albert, er meldete sich nicht. Sie stellte die angefangene Flasche Wodka auf den Tisch und holte ein Glas aus der Küche. Jene Nacht fiel ihr ein, als sie erfahren hatte, dass ihre Eltern in Soho umgekommen waren. Wie damals fühlte sie sich unsagbar leer und einsam. Hatte sie deswegen Albert angerufen? Nach dem ersten Schluck war sie froh, dass er nicht abgehoben hatte. Nach dem zweiten Glas hörte sie die Wohnungstür ins Schloss fallen, sie ging hinaus und verriegelte sie. Nach dem vierten Glas wurde ihr leichter, sie suchte ihre Reggae-Wiedergabeliste am Laptop und drehte auf halbe Discolautstärke. Alpha Blondy ertönte.

Das Handy klingelte. Lucía wusste nicht, wie spät es war. Martina.

„Danke, du bist ein Schatz“, stammelte Lucía.

„Das klingt arg beschissen, was du auf meine Box gestammelt hast. Erzähl bitte von Anfang an. Was war los?“

Ihre Erzählung vom Plakat, dem T-Shirt, den Aufklebern und Fabians Reaktionen wurde vor allem bei den Erwähnungen der Drohgesten ihres Sohnes von trockenem Schluchzen unterbrochen. Es war, als würde sie ein heftiger Schluckauf plagen, der allerdings in ihrem Kopf entstand und ihr für einige Sekunden den Atem nahm.

„Was ist, was ist?“, fragte Martina einige Male in den Sprechpausen. Lucía schaffte es, irgendwie fertig zu berichten.

„Dass Fabian seinen Vater verteidigt, verstehe ich. Das Plakat und die Aufkleber traue ich Albert aber nicht zu“, ging Martina auf Lucías Vermutung ein und ergänzte: „Bitte leg dich hin, ich komme morgen am Nachmittag zu dir nach Wien.“

„Nein, das ist nicht notwendig, ich schaffe das schon.“

„Papperlapapp, ich komme. Stell die Flasche in den Schrank und leg dich hin. Ruf an, wenn du etwas brauchst, ich schalte mein Handy nicht ab. Okay?“

„Gut, aber ich glaub, morgen sieht alles anders aus.“

„Dann ist es ja gut, ich komme trotzdem. Pass auf dich auf.“

Lucía schleppte sich hinauf ins Schlafzimmer. Beim Ausziehen der Jeans wankte sie, den Pulli behielt sie an.

„Nicht Zähne geputzt“, dachte sie. Es war ihr egal. Zwei- oder dreimal klingelte ihr Handy, sie rührte sich nicht.

Es war bereits hell geworden, als sie ihr Telefon erneut hörte. Sie konnte nicht aufstehen, es war, als würde ein riesiger Stein auf ihr liegen. Unmöglich. Was war los? Irgendwann schaffte sie es bis zur Toilette. Danach kroch sie wieder ins Bett, es wäre ihr nicht möglich gewesen, sich länger auf den Beinen halten. Sie wollte nur schlafen.

Meinen letzten Rausch hatte ich jedenfalls vor Fabians Geburt, sinnierte sie und überlegte, einen Kübel zum Bett zu stellen. Wie soll ich das schaffen? Wie soll es überhaupt weitergehen? Die Tage nach dem Tod der Eltern fielen ihr wieder ein, auch damals hatte sie keinen Ausweg gesehen. Irgendwie hatte sie es dann doch geschafft. Mit diesen Gedanken musste sie wieder eingeschlafen sein.

Langsam hob sie die Lider, Martina saß an ihrem Bett, sie hatte eine Tasse Tee auf das Nachtkästchen gestellt. Welcher Tag war heute?

„Du siehst aus, als hättest du zwei Flaschen Schnaps getrunken, und du riechst auch so. Ich helfe dir beim Ausziehen. Deinen Pyjama habe ich schon herausgelegt.“

Lucía ließ ihre Freundin gewähren. Während des Lüftens musste sie sich nur kurz auf die unbenutzte Seite des Doppelbetts wälzen, damit Martina Tuchent und Polster aufschütteln konnte. Danach setzte sie sich wieder an Lucías Bettrand, half ihr Tee zu trinken und legte ihr die linke Hand auf den Arm. In der Rechten hielt sie ein altes Buch. Klytia stand in goldener Frakturschrift am Buchrücken.

„Schon nach eurer Scheidung wollte ich dir diesen Roman bringen. Du warst so traurig und ich fragte mich: Wo ist meine Lucía mit dem sonnigen Gemüt?“

„Was? Ich werde momentan sicher nichts lesen und in Frakturschrift schon gar nicht.“

„Musst du auch nicht“, Martina tätschelte Lucías Arm, „oder zumindest nicht sofort, aber bitte, erinnere dich an unsere Unizeiten. Du warst unsere Humorpflanze. Was haben wir mit dir gelacht, wenn du so getan hast, als würdest du Carlos, den Spanisch-Professor, beim Verlassen des Lehrsaals mit deinen Schritten verfolgen, und wie exzessiv du deinen Kopf nach ihm gedreht hast. Kannst du dich noch …“

„Du strengst mich an. Ich möchte nur schlafen“, unterbrach Lucía sie.

„Okay, ich will doch nur … Darf ich deinen Laptop benützen? Ich schreibe auf, warum ich dir dieses Buch mitgebracht habe. Meine Nachricht kannst du dann jederzeit lesen.“

„Mhm“, brummte Lucía und drehte sich auf die andere Seite. Martina schloss das Fenster, schaltete den Computer ein und setzte sich an die Tastatur.

Meine liebe Lucía,

ich will dich aus deinem schwarzen Loch herausholen. Du kannst auf mich zählen, wann immer du mich brauchst.

Es geht dir momentan beschissen, klar, aber vergiss bitte nicht, wie oft du bereits mir und anderen geholfen hast. Jetzt bist du dran. Okay?

Klytia, den Roman von George Taylor, habe ich gleich nach deinem Anruf herausgesucht. Ich habe mich richtig erinnert, die weibliche Hauptperson Lydia ist ein junges Mädchen in Heidelberg des sechzehnten Jahrhunderts, das mit ihrer Existenz und mit ihrer Liebe scheinbar Unmögliches bewegt hat. Sie hat mich schon beim Lesen an dich erinnert. George Taylor schreibt der blonden, unerfahrenen Lydia Klytias Eigenschaften zu lieben auf den Leib. Ich weiß, du kennst Klytia, die Gestalt aus der griechischen Mythologie, die den Sonnengott Helios mit ihrem Blick neun Tage lang in seinem Sonnenwagen verfolgt hat, aber von ihm nicht erhört wurde. Klytia wurde zur Sonnenblume, der spanischen Girasol, die ihren Kopf immer noch nach der Sonne ausrichtet.

Lydia hat im sechzehnten Jahrhundert Männer verzaubert. Bist du nicht auch eine Menschenverzauberin?

Verstehst du, was ich dir erklären wollte? Wir haben dich in der Uni Girasol genannt, weil auch du deinen Kopf immer wieder nach anderen ausgerichtet hast. Verbunden mit deinem bedingungslosen Glauben an das Gute in den Menschen bist du für uns zur Girasol geworden. Dein positives Denken und deine Liebe werden dich auch jetzt aus dieser Krise retten. Du warst uns allen ein Vorbild und du sollst es bleiben.

Der Roman Klytia soll dir Hilfe, Erinnerung und vielleicht dort oder da auch Anleitung für die Befreiung von Altlasten sein.

Bitte, liebe Lucía, versuche wieder jene Girasol zu werden, die mir und auch sich selbst schon so viel Freude bereitet hat.

Ich will dich wieder lachend, verzückend und mitreißend erleben. Dann werden wir bald wieder tanzen gehen und den einen oder anderen Mann verwirren. Wie damals.

Und, vielleicht das Wichtigste: Wenn du wieder lieben kannst, wie eben Lydia in den Eigenschaften von Klytia, dann werden du und Fabian wieder eine gute Mutter-Sohn-Beziehung leben können.

Deine Freundin Martina

Als sie aufwachte, sah Lucía Martina an ihrem Bettrand sitzen. „Bist du noch immer da oder schon wieder?“

„Noch immer. Du musst etwas essen“, sagte Martina. „Ich habe dir eine Gemüsesuppe gemacht.“

Sie half Lucía sich aufzusetzen und reichte ihr die Schale. Danach blickte Lucía auf ihren Radiowecker. Sonntag, 11:20 Uhr. Sie erschrak und versuchte aufzustehen. Gestützt von Martina erreichte sie die Toilette.

„Ich rufe morgen in der Direktion an“, sagte Martina, als Lucía wieder im Bett gelandet war. „So gehst du mir nicht in die Schule. Ich melde dich krank. Der Roman und meine Erklärung, was Klytia mit dir zu tun hat, liegen hier in die Lade. Wenn du Fragen hast, reden wir ein anderes Mal darüber.“

Lucías Blick verfinsterte sich, sie wollte etwas sagen und hob die Hand, gleichzeitig wurde ihr klar, sie würde auch am Montag noch keine Kraft haben. Martinas Stimme klang, als wäre sie ein Echo. Weit weg und verzerrt. Lesen wollte sie momentan nichts.

Die Tage vergingen. Martina und Katharina wechselten sich in der Betreuung von Lucía ab. Albert kam zweimal in die Wohnung und nahm einige Kleidungsstücke für Fabian mit. Über ihn sagte er nichts.

Nach einer Woche hatte Lucía Martinas Brief gelesen und begonnen, in Klytia zu schmökern. Die Figuren gefielen ihr, sie wusste wenig über die konkreten Religionskonflikte im sechzehnten Jahrhundert in Heidelberg. Dann trat Lydia auf. Sie wurde ihr zur Vertrauten. Ohne erkennbare Aktivitäten konnte sie Menschen und Situationen beeinflussen, nur durch ihr Sein, ihr gelebtes Interesse und ihre bedingungslose Liebe. Wer hat mir die Kraft genommen, andere motivieren zu können?, notierte Lucía an einen Seitenrand. Lydia hatte aber auch sich und ihren Vater aus Liebe ins Gefängnis gebracht und war nur gnadenhalber befreit worden. Keine Gnade, ich muss mich selbst befreien, schrieb Lucía auf die letzte Seite des Romans.

*

Es war bereits nach Ostern, als Martina wieder einmal die Post aus dem Postkasten brachte. Ein Brief vom Stadtschulrat war dabei. Lucía bat sie ihn zu öffnen und vorzulesen:

Werte Frau Kollegin,

vor vier Wochen wurden Sie ordnungsgemäß von Ihrem Hausarzt krankgemeldet, jedoch ohne Angabe der Diagnose. Wir ordnen daher eine amtsärztliche Untersuchung an und ersuchen Sie, den Termin am 8. Mai 2018 wahrzunehmen.

Personalmanagement des Wiener Stadtschulrates

Lucía schüttelte den Kopf und schob den Brief unter den Polster. Außer einem Anruf der Direktorin, ob sie im Sommer den Tauchkurs übernehmen könne, hatte sich niemand aus der Schule bei ihr gemeldet. Und das dürfte nur ein Vorwand gewesen sein: „Pardon, ich muss Sie vorladen lassen“, hatte die Schulleiterin am Ende des Telefonates gesagt.

An diese Schule wollte sie nicht mehr zurück. Auch wegen Gerhard, Fabians Geschichtslehrer. Anfangs hatte es ihr gefallen, wieder ab und zu mit einem Mann zusammen zu sein. Drei Jahre lang hatte er sie hingehalten, war dann aber schließlich doch bei seiner Frau geblieben. Im Konferenzzimmer wich er ihr aus. Lehrerkollegen, mit denen sie früher oft Gespräche geführt hatte, mieden sie. Der Direktorin wollte sie auch nicht begegnen.

Und Fabian? Seit sie wieder halbwegs klar denken konnte, schickte sie ihm jeden Morgen eine WhatsApp-Nachricht. Er meldete sich nicht. Lucía wollte ihn in Ruhe die Matura machen lassen, wusste allerdings nicht, wie sie mit seiner Gesprächsverweigerung auf Dauer umgehen konnte. Wie konnte sie wieder in eine aktive Rolle kommen? Fabian konnte doch nicht alles vergessen haben. Wieder fielen ihr die glücklichen Stunden mit ihm ein und wie gut ihr Verhältnis bis in das Jahr nach der Scheidung gewesen war. Erneut suchte sie Hilfe und rief die Therapeutin an. Nach einigen Sitzungen fasste diese Lucías Situation zusammen:

„Nach Ihrem Zusammenbruch ist klar, Sie müssen etwas verändern. Und wenn Sie die finanziellen Ressourcen haben, halte ich Ihre Überlegung, für einige Zeit wegzufahren, durchaus für einen heilsamen Weg. Aber bitte brechen Sie den Kontakt zu Fabian nicht ab. Das könnte Ihr Trauma wieder aufleben lassen.“

Zu Hause nahm Lucía den Roman Klytia zur Hand, durchstöberte ihre Notizen, las einige Passagen und schrieb die interessantesten Seitenzahlen in ihr Notizheft. Dort hatte sie auch nach den Therapie-Sitzungen Fragen und Anregungen notiert:

Meine Freunde meinen, ich kann ihnen in schwierigen Situationen gut helfen. Wieso kann ich aber mir nicht helfen?

Ich darf mir auch von Fabian mein Leben nicht einschränken lassen.

Meine Erfahrungen mit Albert und Gerhard – zum Vergessen. Werde ich mich in neuen Beziehungen vor solchen Enttäuschungen schützen können?

Was hält mich an dieser Schule?

Gegen wie viele Windmühlen müsste ich kämpfen, um dieses Schulsystem zu verändern?

Sie würde Fabian nicht helfen, wenn sie sich für ihn aufopferte, das hatte ihr auch die Therapeutin bestätigt. Der Wunsch wegzufahren wurde immer stärker. Meine Befreiung aus den Zwängen der Schule, der Politik und aus der Familie könnte ich auch woanders finden, zum Beispiel in den neuen Bewegungen Spaniens, dachte sie, nachdem sie wieder einmal über den Tod ihrer Eltern nachgedacht hatte.

Lucía begann im Internet über Spanien zu recherchieren. Es schien interessante und neue Bewegungen zu geben, die nicht wie in Österreich und Deutschland der neuen Rechten zuzuordnen waren. Konnte sie da mitmachen und auch ein wenig mitgestalten? Über Klytias Geschichte in Heidelberg wollte sie ebenfalls mehr wissen, suchte im Internet und auf einschlägigen Facebook-Seiten. Dabei fand sie das Profil eines alten Freundes aus Uni-Zeiten. Der hatte sie damals drei Semester lang umschwärmt. Sie schickte ihm eine Freundschaftsanfrage und wollte ihn treffen, falls sie nach Heidelberg kommen würde. Er meldete sich nicht.

Lucía hatte ihre Idee nach Spanien zu reisen in der Therapiestunde besprochen. „Ein Ortswechsel könnte Ihnen guttun“, unterstützte sie die Therapeutin darin, „aber hören Sie auf Ihr Gefühl.“

Zu Martina sagte sie einen Tag vor der angeordneten amtsärztlichen Untersuchung: „Schauen wir einmal, was passiert, wenn ich den Termin sausen lasse.“

„Willst du echt deinen Job verlieren? Das ist jetzt nicht dein Ernst.“

„Was soll ich an einer Schule, die aus liebenswürdigen Buben hassende Jugendliche macht? Was hält mich in Wien? Meine Eltern sind tot, und die Männer, du weißt. Und Österreich? Du kennst die Wahlergebnisse.“

„Und ich und Katharina?“

„Euch werde ich immer bei mir haben, egal, wo ich sein werde.“

„Was heißt, wo du sein wirst?“

„Genau weiß ich es nicht, aber seit einigen Wochen wird mein Wunsch wegzufahren immer stärker. Ich will diese Wohnung nicht mehr, alles erinnert mich an Albert und noch mehr an Fabian, allein sein Zimmer. Ich könnte die Wohnung vermieten. Mit den Mieteinnahmen und den Ersparnissen könnte ich einige Zeit lang herumfahren. Wenn ich es wirklich will, soll ich es auch tun, sagt meine Therapeutin. Dein Buch und diese Klytia haben mich erst auf den Gedanken gebracht, mich in anderen Teilen Europas als interessierte Reisende einzumischen, das kommt in einigen Szenen sogar schon im sechzehnten Jahrhundert vor. Du hast zu mir gesagt, dass ich wieder lachen, verzücken und mitreißen können soll. Das kann ich von Lydia und Klytia lernen, ich nehme sie in deinem Buch mit. Vielleicht kann ich dort oder da etwas zu einem gerechten und menschenwürdigen Europa beitragen. Wegfahren wird mir auch helfen, die Schule zu vergessen und die Sache mit Fabian einmal ruhen zu lassen.“

„Meine Liebe, so einen Blödsinn habe ich schon lange nicht mehr gehört. Du willst ein gerechteres Europa schaffen? Wenn schon, dann würdest du das einfacher über die Schule in Österreich erreichen“, unterbrach Martina sie.

„Ha, die Schule. Ich verabscheue dieses Schulsystem inzwischen. Wir geben vor, demokratisch zu sein, in Wahrheit erziehen wir angepasste Konsumidioten. Ich will die Pädagogik der Verdummung nicht länger mittragen. Du kennst meine Liebe zu Spanien und den Menschen dort, und ich will sie und ihre Hoffnungen erleben. Außerdem habe ich mich in den letzten Jahren kaum mit der Geschichte meiner Eltern befasst. Mein Vater und Barcelona fallen mir seit einigen Tagen ständig ein. Es gibt zwar keine Verwandten mehr, die wurden alle Opfer der Franquisten, aber Papas Erzählungen über Barcelona interessieren mich. Damit werde ich beginnen.“

„Was? Dein Vater, Europa und Gerechtigkeit? Klytia als Vorbild? Das mit der Spurensuche in Spanien verstehe ich, aber herumfahren und in Europa Veränderungen anstoßen, geht’s dir noch gut?“

„Keine Sorge, meine Liebe. Du hast mir ja Klytia mitgebracht, das Leben von Lydia und ihr Lieben kamen mir zuerst kitschig vor, am Ende hat mich ihr Wirken durch ihre Ausstrahlung immer mehr begeistert. Und wolltest du nicht mein Lachen zurückhaben? Ich werde jeden Tag sicherer, mich und meinen Optimismus in Europas unterschiedlichen Kulturen und deren neuen Aufbruchsbewegungen wiederzufinden.“

„Ich versteh kein Wort.“ Martina runzelte die Stirn.

„Für dich mag es verwirrend klingen. Für mich wird es immer klarer. Klytia hat in der griechischen Mythologie nur ihren Kopf nach Helios gedreht, und auch wenn sie mit ihrer bedingungslosen Liebe ihren Sonnengott nicht als Liebenden gewinnen konnte, verwirrt hat sie ihn. Sie hat Veränderungen bewirkt. Das Gleiche trifft auf Lydia zu. Hast du das Buch überhaupt zur Gänze gelesen?“

„Na sicher, schon vor einigen Jahren.“

„Gut, dann solltest du mich auch verstehen. Es muss doch auch in unserer Zeit möglich sein, Menschen zu verändern und die Gesellschaft aufzurütteln. Und ich denke, dafür muss ich aus meinem Umfeld ausbrechen. Ich will es versuchen, will Teil der neuen Bewegungen sein, ich will nicht länger zuschauen, wie wir die Welt ökologisch ruinieren und in der Gesellschaft neue Diktaturen entstehen.“

Lucía zog Bilder von kranken Kindern aus einem Stoß Zeitschriften auf dem Schreibtisch.

„Hier“, sagte sie und zeigte auf ein Kind mit vielen Pickeln im Gesicht, „das ist eine Schädigung durch Pestizide. Und ich muss lesen, dass die europäischen Vasallen der Konzerne der weiteren Verwendung von Glyphosat zugestimmt haben. Wir tun so, als wären die Politiker und die Konzerne neue Götter, wir lassen uns das gefallen. Ich will etwas gegen diese Unkultur der neuen Götterverehrung tun. Wie, das weiß ich noch nicht genau. Irgendwie werde ich mit kreativen Kräften aus unterschiedlichen Ländern einen Ausweg aus dem europäischen Dilemma finden. Und Klytia wird mich dabei anregen.“

„Machst du Witze? Mein Mitbringsel war wohl ein Blödsinn, vielleicht sollte ich es wieder mitnehmen. Was ist mit Fabian, willst du ihn allein lassen?“

„Fabian? Es ist wie ein Albtraum. Er will nach wie vor nicht mit mir reden und andererseits wäre es für mich auch unerträglich, einen Identitären in meiner Wohnung zu haben. So muss sich eine Lähmung anfühlen, ja gelähmt, das beschreibt mich recht gut, und in diesem Zustand kann ich weder ihm noch mir helfen. Eines habe ich dir, glaube ich, noch nicht erzählt: In unserem Streit damals meinte er, nicht in seinem Bett schlafen zu können, nur weil ich drauf gesessen bin und es nach mir riechen könnte. Gegen diese Ablehnung bin ich machtlos. Ich muss für einige Zeit auf Abstand zu Fabian gehen. Vielleicht finden wir irgendwann wieder zueinander.“ Lucía war inzwischen aufgestanden und ging im Zimmer hin und her. „Das ist mir alles zu viel“, sagte sie, nahm Klytia, Martinas Buch, in die Hand, ging auf ihre Freundin zu und küsste sie.

„Meine Welt ist gerade am Zerfallen. Vielleicht laufe ich vor mir selbst davon, vielleicht hat mich dieses Buch auf blöde Gedanken gebracht, vielleicht drehe ich bald durch, ich weiß nur eines: Ich muss weg!“

„Machst du dich über mich lustig?“, fragte Martina. Lucía küsste ihre Freundin nochmals, dann schüttelte sie langsam den Kopf. „Ich muss“, wiederholte sie.

„Ich kann es nicht glauben, aber wenn es dir wirklich ernst ist, wann ist es so weit?“, fragte Martina.

„Die Wohnungsvermietung sollte in Wien kein Problem sein. Vielleicht August oder Anfang September, du erfährst es als Erste, versprochen. Kann ich bei dir im Waldviertel etwas unterstellen?“

„Natürlich, aber lass uns noch einmal drüber reden, bevor du dich endgültig entscheidest, bitte. Ich muss jetzt auf die Uni.“

Martina bewegte sich Richtung Wohnungstür und schüttelte den Kopf.

*

Nachmittags am 5. Juni läutete die Sprechanlage. Die werden doch nicht … Lucía dachte an den Stadtschulrat und meldete sich förmlich mit „Gruber“.

„Hallo Mama, ich bin’s.“

„Oh, bitte sehr.“ Sie drückte den Türöffner.

„Ich brauche meinen Anzug für die Matura.“

„Komm rauf, ich lass die Tür offen.“ – Nicht weinen, nicht streiten, nicht betteln, sagte sie leise zu sich.

„Mama, Mam?, Mama!?“

„Ja, bin in der Küche.“

„Ah, da bist du. Was ist mit diesen Schachteln? Zieht jemand in mein Zimmer ein?“

„Nein. Wer sollte auch bei mir einziehen?“

„Ziehst du um?“

„Nicht schlecht geraten, wobei: umziehen stimmt auch nicht wirklich.“

„Fährst du nach Madrid? Warum warst du nicht mehr in der Schule? Sag schon, was ist mit den vielen Schachteln?“

„Du willst reden, das freut mich. Komm, setzen wir uns ins Wohnzimmer und erklär mir bitte, warum du bei dieser Gruppe bist. Ich sage dir dann, was es mit den Schachteln auf sich hat.“

„Mama, was soll ich sagen, was läuft bei dir? Mama? Ich habe morgen Schriftliche.“

„Willst du reden?“

„Mam, wir verteidigen nur das Eigene und einige aus der Gruppe kennen dich. Du bist als Lehrerin eine Gefahr. Was glaubst du, warum dein Twitter-Account wieder gesperrt ist? Die wissen alles über dich. Ich glaube, du wirst beobachtet.“

„Was? Aber warum bist du dabei? Und was ist mit dir? Kannst du mich immer noch nicht riechen? Twitter? Die sozialen Medien sind nicht mein Leben, ich habe keine Angst.“

„Unmöglich, es geht nicht.“

„Was geht nicht?“

„Mit dir weiter zu reden, ich hab eh schon zu viel gesagt.“

„Denk nicht an die anderen. Erinnere dich an die vielen, vielen gemeinsamen Stunden. An unser Lachen. Reden wir darüber.“

„Nein, nein! Ich muss meiner Gruppe treu bleiben.“

„Wie du meinst. Du lässt mir keine andere Wahl. Nimm mit, was dir gehört, und alles Gute für die Matura. Das, was ihr euer Eigenes nennt, ist für mich Menschenverachtung. Die Schachteln bringe ich weg, die Wohnung wird vermietet. Die Möbel werde ich gegen ein Wohnmobil eintauschen. Ich fahre für einige Zeit weg. Ich muss es tun. Für mich. Vielleicht wirst du es eines Tages verstehen. Du kannst dich jederzeit über WhatsApp melden, ich werde dir regelmäßig schreiben. Vielleicht kannst du mich eines Tages wieder riechen.“

Lange starrte Lucía beim Fenster hinaus, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war. Dann setzte sie sich an den Schreibtisch, suchte ihre Notizen heraus, die sie nach den Therapiegesprächen gemacht hatte, und fuhr den Laptop hoch.

5. Juni 2018, Wien

Scheiße, warum hab ich ihn gehen lassen? Ist seine Sturheit nicht auch meine? Ich liebe ihn doch. Und er? War das ein Versuch, sich mir wieder anzunähern?

Manchmal schreckte sie in den Nächten auf und meinte Fabian gehört zu haben. Er meldete sich auch nach der Matura nicht. Noch einmal nahm sie zwei Therapiestunden, sie brachten keine neuen Antworten.

Auf ihre Wohnungsanzeige hin meldeten sich fünfundzwanzig Interessenten innerhalb eines Tages. Sie konnte sich die Mieter aussuchen und entschied sich für eine deutsche Familie, die ab September in ihre Wohnung einziehen wollte. Lucía überließ ihnen nur die Einbauküche. Sie vereinbarten eine viermonatige Kündigungsfrist. Bis Mitte August hatte sie auch alle Möbel verkauft. Mit dem Erlös kaufte sie sich ein Wohnmobil, ihr neues Zuhause. Den Großteil ihrer persönlichen Gegenstände brachte sie Ende August zu Martina ins Waldviertel. Alles, was sie meinte für eine längere Reise durch Europa zu brauchen, verstaute sie im Wohnmobil.

Am 31. August machte Lucía schon am frühen Morgen die Abschlussreinigung in ihrer Wohnung. Die neuen Mieter wollten um 11 Uhr zur Wohnungsübernahme kommen. Obwohl sie einen Ersatzschlüssel behielt, musste sie bei der Schlüsselübergabe weinen.

„Machen Sie sich keine Sorgen“, sagte die Frau aus Hamburg, „wir passen gut auf Ihre Wohnung auf.“

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