Читать книгу Die Schneekugel - Luise Göbl - Страница 5
ОглавлениеKapitel 1
Vor Kurzem begann es –heute wendet sich das Interesse jedes einzelnen Menschen dem Wetter zu.
Es ist schrecklich. Man könnte es sogar fast als Naturkatastrophe bezeichnen. Tausende von Menschen erblindeten qualvoll in den Gletschern, was den Grund hat, dass mit einem Mal rund um die Uhr ein plötzlicher Wechsel zwischen Ultraviolett und Infrarot stattfindet. Ich frage mich selbst, wie so etwas bloß passieren kann. Nicht, dass viele Menschen in den Gletschern erblinden, sondern, dass Infrarot und Ultraviolett sich ständig abwechseln! Wie kann das möglich sein? Ich wette, so ein Ereignis hat es in der ganzen Weltgeschichte noch nicht gegeben!
Um ehrlich zu sein, weiß ich selbst nicht genau, ob es stimmt, dass sich Infrarot und Ultraviolett ständig abwechseln, aber viele Wissenschaftler haben Forschungen angestellt, und obwohl sie nicht zusammengearbeitet haben, sind sie alle zum gleichen Ergebnis gekommen! Fast unglaublich! Man könnte natürlich sagen, dass das reiner Zufall ist, so wie es Zufall sein kann, dass jeder Schüler die Matheschularbeit alleine schreibt, trotzdem aber alle zum gleichen – falschen – Ergebnis kommen. Ich vergleiche diese Vorgänge deshalb mit einer Matheschularbeit, weil man auch hier viel rechnen muss, wenn man zum Beispiel wissen will, mit welchem Wetter man zu rechnen hat.
Ich glaube, dass für ein solches Forschungsergebnis aber auch exakte Beobachtung vonnöten ist. Man kann bei der Schularbeit zum Beispiel nie gewissenhaft zum richtigen Ergebnis kommen, wenn man die Angabe falsch liest oder wenn man nicht weiß, was man mit Zahlen anfangen kann oder was Zahlen überhaupt sind. Es ist also ein Muss, zu beobachten, was sich abspielt, um zu einem Ergebnis, und noch dazu dem richtigen Ergebnis, zu kommen. Es gehört eben auch ein bestimmtes Wissen dazu, um mit den Beobachtungen etwas anfangen zu können – genauso, wie ich Rechenzeichen kennen muss, wie ich verstehen muss, wie man mit ihnen umgeht, wenn ich Zahlen vor mir geschrieben sehe. Es ist aber trotzdem einfacher zu begreifen, wie man mit Rechenzeichen umgeht als wie man mit Beobachtungen des Wetters und des Klimas umgeht. Mathe ist eben Allgemeinbildung; das Wetter richtig zu berechnen und daraus Schlüsse zu ziehen, ist eher nicht „allgemein“, sondern bezieht sich auf ein Fachgebiet.
Ohne zu wissen wieso, stehe ich in einer Schicht Schnee, die mir sogar bis zu den Knien reicht, obwohl sich vor einer Sekunde dort gerade noch warme Luft befunden hat! Hört sich für des Menschen Ohr zwar vielleicht komisch und unrealistisch an, ist aber realistisch und anscheinend tatsächlich Realität geworden. Das ist einer der Gründe, wieso zum Beispiel die Wetternachrichten aufgelassen worden sind. Das Wissen der Forscher und Wissenschaftler reicht nicht über solche Naturereignisse hinaus. Logik ist seit Kurzem nicht mehr gefragt, sondern das, was sich hier abspielt, steht nun im Mittelpunkt. Kein anderes Thema konkurriert zurzeit mit diesem. Niemand weiß mehr über das Wetter der nächsten Minute Bescheid. Das Einzige, was jeder weiß, ist, dass der jeweilige Wetterstand nur immer ungefähr eine Minute aktuell bleibt.
Seltsam: Es schien, als ob das Wetter einmal versehentlich seine zeitliche Begrenzung missachtet hätte, denn einmal blieb der Wetterstand eine ganze Stunde über derselbe! Aber dieser war auch nicht besonders schön, da sich unter dem Hauch Schnee, den man erblicken konnte, eine polarisch-eiskalte und noch dazu extra harte und rutschige Eisschicht verbarg. Währenddessen wehte ein starker Wind, der zwar nur halb so eisig war wie die Eisschicht selbst, doch aber die Macht besaß, sämtliche Gegenstände, und ebenso auch Lebewesen, vom Erdboden zu heben und sie an einem anderen Ort wieder abzusetzen. Und trotz dieser wilden Wetterkapriolen schien die Sonne.
Diese Stunde war, was das Wetter betrifft, die ärgste Stunde, die ich bisher erlebt habe. Dieses Datum werde ich nie vergessen! Ich werde zwar auch diese lange Zeitspanne des Geschehens nicht vergessen, aber der 18. Mai ruft ganz besondere Erinnerungen in meinem Kopf wach. Nicht unbedingt wirklich positive, sondern solche, die mich etwas schrecken, aber auch gleichzeitig faszinieren. Vielleicht ist es eine Strafe oder auch ein Geschenk, dass ich zu dieser Zeit lebe beziehungsweise zu dieser Zeit leben darf. Es ist zwar eine Katastrophe, aber auch ein Ereignis – viele Erlebnisse werden in die Geschichte eingehen. Es wird nicht jeder Name in einem Buch genannt werden, aber dadurch, dass diese Phase in die Geschichte eingeht, werden sich viele daran erinnern, und an sie zurückdenken. Sie kennen uns zwar nicht namentlich, aber später wird man vielleicht wissen, was genau es mit diesem Ereignis auf sich hatte, wenn es überhaupt ein Später gibt. Und selbst wenn man sich nicht mehr in diese Lage einfühlen wird können, so kann man doch sagen und so wird auch jeder wissen, wie es uns, den Menschen, die derzeit auf der Welt sind, ergangen ist. Und somit wird jeder wissen, auch wenn keiner eine genaue Zahl nennen kann, dass wir Menschen existiert haben und manche es vielleicht auch noch weiter tun werden.
Als mich meine Gedanken wieder in die damalige Gegenwart zurückführten, erkannte ich sofort den ehemals aktuellen Wetterstand. Dabei handelte es sich, nicht sehr erfreulich anzusehen, um einen Wechsel von Nebel zu… anscheinend zu einem Hagelsturm. Ich ging ins Haus, denn ich wollte nicht ganz mit blauen Flecken übersät sein, wo dieses Grauen doch erst vor Kurzem begonnen hatte. In solchen Fällen hoffte ich, dass das Wetter sofort wieder wechseln würde, aber das war, wie jetzt auch, eindeutig nicht zu erwarten.
Die lange Liste der Nachteilelässt sich noch ein bisschen ergänzen, so hat man absolut keine Ahnung, wie man sich kleiden soll. Zieht man sich zum Beispiel für den kältesten Wintertag mit -50°C an, stirbt man in der nächsten Minute an einem Hitzeschlag, wie er einen sonst nur in der Wüste trifft, und umgekehrt. Die einzig vernünftige Möglichkeit, die auch nicht besonders gut und schlau ist, ist also, ein langärmliges T-Shirt, lange Jeans, Unterhose und Socken zu tragen. Viele weitere Kleidungsstücke bringen es nicht wirklich.
Ich wollte immer schon einmal ein Abenteuer erleben, doch da es nun nach lang ersehnter Zeit da ist, ist es schon fast wieder uninteressant. Meine Schuld. Aber damit ich einst nicht in Traurigkeit versinken muss, weil ich mich nicht ins Abenteuer hineingestürzt habe, werde ich es wohl tun. So eine Möglichkeit kommt sicher nicht so schnell noch einmal.