Читать книгу Die Schneekugel - Luise Göbl - Страница 7

Оглавление

Kapitel 3

Bevor sich die Wolken leergeregnet hatten, passierte etwas Großartiges. Es war die Erleuchtung dieses Tages. Mir flog eine schneeweiße Taube zu, die sich ängstlich auf meine Schulter setzte und so tat, als wäre ich ihre engste Bezugsperson. Dass sie Angst hatte, merkte ich daran, dass sie ganz zart mit ihren kleinen, süßen Pfötchen immer mehr in Richtung meines Kopfes tapste.


Ich hielt meinen ausgestreckten Zeigefinger vor meine Schulter, auf die Höhe der Krallen der Taube, damit sie sich daraufsetzen konnte. Als sie sich daraufgestellt hatte, bewegte ich den Finger langsam vor meinen Körper. Nun konnte ich sie genauer betrachten und wenig später streichelte ich sie vorsichtig. Ich spürte dabei nicht nur ihre samtweichen, flauschigen Federn, sondern auch, dass sie zitterte. Ich hielt sie behutsam wie ein Baby, nahm sie dicht an mich heran und strich ihr zärtlich über ihr Federkleid in der Hoffnung, dass ihr auch wärmer würde.

Langsam kam es mir so vor, als ob sie ausgesetzt worden wäre und jetzt mir gehörte. Ab diesem Zeitpunkt waren wir beide ein Team, denn ich hatte sie tief in mein Herz geschlossen und es schien, als hätte sie das Gleiche mit mir getan. Wir machten uns auf den Weg und man könnte fast meinen, dass die Laute, die sie von sich gab, so viel hießen wie: „Komm, lass uns gemeinsam der Sache mit dem Wetter auf den Grund gehen und das Problem zusammen lösen.“ Ich nickte also und antwortete: „Ja natürlich, mein Täubchen.“ Und ich glaubte, aus ihren Augen lesen zu können, dass sie mich verstanden hatte. Schließlich wanderten wir weiter durch den ständigen Wetterwechsel und immer, wenn es regnete, nahm ich die Taube in die Arme und gab ihr Schutz vor dem Regen.

Ich kam gut mit ihr zurecht, da sie mir treu war, denn Tiere können Menschen auch ohne Sprache verstehen. Sie beobachten Mimik und Gestik einer Person und erkennen wahrscheinlich so ihre Gefühle. Manche Tiere helfen auch, jemanden aufzumuntern. Zum Beispiel schmiegen sich manche Katzen an die Beine des Betroffenen und schauen ihn mit mitfühlenden, erweiterten Pupillen an, wie ich gehört habe. Von Tauben weiß ich es nicht, da mir nie davon erzählt worden war und ich bis jetzt nicht traurig war, seit die Taube mir zugeflogen war. Sie hatte mich schon durch ihr Kommen glücklich gemacht. Aber allein die Tatsache, dass ein Tier zu einem Menschen kommt, macht viele froh, genau wie mich, da es dann gewiss ist, dass man nicht allein gelassen wird und dass sich jemand für die Gefühle der anderen interessiert und sich auch um ihn zu sorgen scheint, aber meistens ohne, dass es dem Tier bewusst ist. Ich glaube, dass das einfach so eine Art Instinkt mancher Tiere ist. Selbstverständlich freut man sich nicht über das Kommen aller Tiere wie zum Beispiel, wenn ein zähnefletschender, wilder, tollwütiger Hund kommt oder in manchen Gewässern ein Hai, wenn man im Wasser blutet.


Was ich aber einmal über Tauben gehört zu haben glaube, ist, dass sie immer zu ihrem Besitzer zurückfliegen können. Zur Sicherheit, damit ich mein Täubchen schon von Weitem erkannte, hatte ich ihm eine rote Schleife locker an den Hals gebunden, an der ich ein Glöckchen befestigt hatte. Und damit es auch mich von Weitem erkannte, hatte ich oft meine Pfeife geblasen, die ich immer bei mir trug und die dazu diente, dass ich gehört werden konnte, wenn ich mich in Schwierigkeiten befand. Einen ähnlichen Zweck sollte das Pfeifen bei meiner Taube erfüllen, nämlich, dass sie sich den Ton einprägte, und dass sie, wenn sie mich aus den Augen verlor, meine Pfeife dann hören konnte. Diesmal diente sie also nicht dazu, um mich aus Schwierigkeiten zu befreien, sondern dazu, dass meine Taube mich wieder fände, wenn sie nicht wusste, wo ich war. Nach einiger Zeit schien es mir, als würde sie den Ton wiedererkennen, falls sie mich verlöre.

Nach einem weiteren Fußmarsch gelangten wir an einem See an, und als es sonnig wurde, wusch ich das Täubchen dort. Dann begannen seine Federn zu glänzen und zu schimmern und ihre Farbe wurde noch leuchtender und strahlender als zuvor. Trocknen musste ich die Taube gar nicht, da die Sonne eine Minute später so herunterstach und alles so aufheizte, dass sie von selber trocknete. Ich wischte meine Stirn ab, denn lauter Schweiß hatte sich auf ihr angesammelt. Zum Glück wurde es dann kühler, denn ansonsten wären meine Wasservorräte bald wieder leer gewesen, weil ich bestimmt die ganze Flasche ausgetrunken hätte, obwohl ich sie beim See, der an dieser Stelle schon hinter uns lag, frisch aufgefüllt hatte.

Somit war es manchmal auch nützlich, dass sich das Wetter nicht die ganze Zeit hielt. Es kam auch darauf an, ob es die ganze Zeit heiß oder kalt war oder ob es regnete oder schneite oder ob es donnerte oder nicht. Es gibt sehr viele Leute, die Kopfweh bekommen, wenn solche Temperatur- und Wetterschwankungen stattfinden. Mir wurde selbst ein bisschen schwindelig. Es wäre natürlich ein Vorteil gewesen, wenn das Wetter aufgehört hätte, so schnell und vor allem so sehr zu wechseln. Kurz gesagt also, wenn es so gewesen wäre wie früher. Doch ob das jemals wieder der Fall sein würde, war fraglich, und selbst die Wettervorhersager oder die besten, erfolgreichsten und bekanntesten Forscher der Welt konnten diese Frage nicht beantworten. Als wieso sollte ich, ein kleines, ziemlich allein gelassenes Mädchen, die Antwort dazu haben? Ich hatte aber auch leider nicht nur keine Antwort, sondern nicht einmal ein Mini-mini-Stückchen Ahnung, was die Suche nach der Ursache der Katastrophe zweifellos „ein bisschen“ erschweren würde. Doch bevor ich mir das jetzt hunderttausende Male vorsagte, dass es quasi unmöglich war, „die Welt zu retten“, dachte ich lieber über das gerade geschehende Ereignis nach, welches sich natürlich von Sekunde zu Sekunde veränderte, von Sekunde zu Sekunde extremer und katastrophaler wurde. Es galt also, keine Zeit zu verlieren.

Aus dieser leicht kühlenden Erfrischung wurde in Nullkommanichts ein eisiger Winter und die Gletscherbrille, die sich bis vorhin in meiner Tasche befunden hatte, da sie mir bis zu diesem Zeitpunkt nichts genutzt hatte, kramte ich heraus und setzte sie auf. Durch sie sah zwar alles dunkler und düsterer aus, aber ohne sie wäre ich schon oftmals erblindet, was ich daran erkannte, dass manche Stellen sehr hell waren und ich sie im Extremfall sogar durch die Brille aufblitzen sah. Es sah wie eine Art violettes Minifeuerwerk aus und ein klein wenig ähnelte es auch den Elektroblitzen, die manchmal aus der Steckdose kommen, wenn man etwas ansteckt. Und genau wie bei der Steckdose spürte ich die „Blitze“ nicht und sie schadeten mir auch nicht. Ich erschreckte mich nur ein klein wenig, da dies für mich sehr ungewohnt war und noch immer ist. Doch ich fand es faszinierend, so etwas sehen zu können und dabei nicht zu erblinden! Schade, dass ich sie nicht fotografieren konnte, doch der Eindruck war mit dem eigenen Auge sicher dreimal so gut.

Manche Momente behält man besser im Kopf als auf Papier oder elektronischen Geräten. Also war es nicht so schlimm, denn sollte ich wieder Blitze erblicken, egal wo und in welcher Form, würde mein Gehirn diese Gedanken sicher wieder aufrufen, was, wenn ich diese Erinnerung nur als Bild auf Papier oder einem elektronischen Gerät aufbewahrt hätte, sicher nicht der Fall wäre. Diese Bilder, die die Faszination der Natur beinhalten und zudem hervorrufen, dass ich das alles schon gewusst habe und wie es mir da gegangen ist, finde ich toll. Man erinnert sich, freut sich und lacht vielleicht auch über diesen Moment, weil man sich über so etwas schon einmal Gedanken gemacht hat und es lustig findet, wie man sich in diesem Moment verhalten hat und wie klein man damals noch war. Und so werde ich mich sicher künftig daran erinnern, dass ich mein Täubchen währenddessen in meinen Armen hielt, da es kühl war und ich nicht wollte, dass es hier in den Gletschern sein Augenlicht verlor.

Und sie, die Taube, hatte noch keinen Namen. Zumindest keinen, den ich kannte, und deshalb gab ich ihr den Namen „Schneeblitzchen“, aus dem Grund, dass diese Gletscherblitze so faszinierend waren wie mein Täubchen. All das ist mir passiert, all das habe ich erlebt, seit Schneeblitzchen mir zugeflogen ist.

Ich befand mich nun in einer ziemlich verlassenen Gegend; es schien, als wäre hier seit Jahren keine Menschenseele mehr gewesen. Und ebenfalls kein Tier.


Wieso ich dort war, ist fraglich, ebenso ist es fraglich, wieso und wie ich mich entschieden hatte, in welche Richtung ich gehen wollte und wieso ich die Richtung nie wechselte. Ich fragte mich auch, wo das Ziel wäre und ob es hier auf Erden überhaupt ein Ziel gab und wie lange ich meine schwere Tasche noch schleppen musste, bis ich ankam oder ob ich überhaupt noch ankommen würde.

Ich glaubte, dass es lange bräuchte, darüber zu philosophieren, aber ich glaubte auch, dass der Weg noch weit war, also hatte ich, meinem Empfinden nach, noch Zeit, während des Gehens nachzudenken, was ich ja eigentlich die ganze Zeit tat. Wieso ich ausgerechnet dort war, lag daran, dass ich dorthin gegangen war, und das lag wiederum daran, dass ich mich für diese Richtung entschieden hatte. Und wieso ich mich für diese Richtung entschieden hatte, lag daran, dass ich immer der Nase nach, also geradeaus gegangen war, ohne mich zu drehen und zu wenden. Ich war von der Position aus losgegangen, die ich eingenommen gehabt hatte, als mir Schneeblitzchen zugeflogen war, denn beim See machte ich keinen Richtungswechsel.

Aber ich wusste, dass ich nicht strikt geradeaus gegangen war, denn der Körper eines Menschen hat einen Drang in eine Richtung, ob man will oder nicht. Deshalb finden auch die wenigsten Menschen aus einer Wüste heraus, weil man immer die gleichen, riesigen Kreise geht. Ich hatte aber eine Taktik entwickelt, mit der man leicht geradeaus gehen kann und somit aus der Wüste findet. Das macht man folgendermaßen: Man bindet eine lange Schnur an einem festen Stab an, den man in den Wüstensand steckt. (Voraussetzung ist natürlich, dass die Konstruktion hält.) Nun kann man vorwärts gehen und sich sicher sein, dass, wenn man genug Essen, Trinken, Schnurlänge, Geduld und Kraft hat, man wieder aus der Wüste herausfindet. Also konnte ich eigentlich unbesorgt in eine Wüste gehen, denn ich hatte, wie ich glaubte, genug Essen und Trinken, ausreichend viel Schnur, Geduld hatte ich ziemlich oft und meistens auch lang, und ich nahm an, dass ich für mein Vorhaben genug Kraft hatte.

Ich glaubte, Schneeblitzchen mochte die Gegend, in der wir uns nach einer Weile befanden, nicht besonders, da sie so grau und verlassen war. Doch ich ging davon aus, dieser Ort schaute so düster aus, weil es schon dämmerte, und das gab mir das Zeichen, dass ich bald ein Nachtlager aufschlagen sollte. Als ich mich dort umschaute, fand ich keinen guten Platz, deshalb ging ich noch weiter, bis irgendwo Wiesen zu sehen waren. Es begann gerade zu regnen, also stellte ich mich schlauerweise unter. Mir kam ein Gedanke. Wenn es in der Nacht auch regnete, was nicht auszuschließen und noch dazu sehr wahrscheinlich war, wäre ich durchnässt, wenn ich zeltete. Dort jedoch, wo ich mich zu diesem Zeitpunkt befand, wurde ich nicht nass, weil ich mich im Türrahmen im Eingang eines Hauses befand. Somit war es viel besser, wenn Schneeblitzchen und ich im Haus übernachteten. In dieser Gegend wohnte sowieso niemand mehr, also konnte es auch niemanden stören, wenn ich mich in dieses Haus begab und dort über Nacht blieb.

Im Haus war es zwar schon etwas staubig, aber das war mir lieber, als wenn Schneeblitzchen und ich von oben bis unten durchnässt in den nächsten Tag starten hätten müssen. Es schien in diesem Haus ein Vogel gewohnt zu haben, denn im Raum befand sich, auf der Seite, an der die Tür angrenzte, ein Ständer, auf dem Vögel immer sitzen.

Es stellte sich heraus, dass ich mit meiner Theorie richtig lag, mit jener nämlich, dass Schneeblitzchen ausgesetzt worden war, denn sie flog direkt auf den Ständer zu und es sah so aus, als ob sie es sich bequem machen würde. Und woher sollte eine wilde Taube wissen, dass dieses Gestell für Vögel gedacht war? Ich fand Schneeblitzchen sehr arm, denn es musste sicher schlimm sein, so im Stich gelassen zu werden, und ich glaubte, dass sie schon viel länger allein gewesen war als die eine Stunde, bevor sie zu mir gekommen war, denn als wir beim See waren und ich sie wusch, war mir aufgefallen, dass sie schon ziemlich mager war. Wer konnte so gemein zu so einer niedlichen, harmlosen Taube sein? Jedenfalls musste der Besitzer Schneeblitzchen am Anfang gern gehabt haben, denn sonst hätte er kein solches Vogelgestell gehabt. Aber meine Gedanken mussten ja auch überhaupt nicht stimmen. Wenn Schneeblitzchen zum Beispiel am Anfang in einer Tierhandlung gewesen war, war es ja vollkommen logisch, dass sie diesen Ständer kannte. Da musste man ja gar nicht erst beginnen, darüber nachzudenken. Aber anscheinend schon. Naja, egal. Ich bin eben anders. Keine Ahnung, ob im positiven oder negativen Sinne, aber das kann ich ja auch nicht wissen.

Das kann niemand wissen. Denn um so etwas zu wissen, müsste man vergleichen, und um zu vergleichen, müsste man bei diesem Versuch alle Menschen auf der Welt kennen, um festzustellen, ob sich ein Mensch von allen anderen unterscheidet. Ich glaubte aber nicht, dass es auch nur einen einzigen Menschen gibt, der alle Menschen auf der Welt kennt. Ich glaube auch nicht, dass, wenn man von Geburt an jeden Tag einen Menschen kennenlernt und ihn sich merkt, man dann bis zum Ende seines Lebens alle Menschen der Welt persönlich kennen würde. Erstens sterben immer wieder, sogar sehr oft Menschen und es kommen ja auch immer wieder neue Menschen auf die Welt.

Wenn man bedenkt, dass man jemanden kennt, der von jemandem gekannt wird, den man kennt, und immer so weiter, müsste man genau genommen nur sechs Menschen kennen und man würde die gesamte Erdbevölkerung kennen. Aber selbst wenn man alle Menschen persönlich kennen würde, bräuchte das Vergleichen so lange, dass es sich in keinem Leben ausgehen würde. Und selbst wenn es sich ausginge, bräuchte es irrsinnig lange, alles zu dokumentieren und aufzuschreiben. Und wenn sich das wiederum ausginge, bräuchte es sehr, sehr lange, alle Menschen zu informieren. Und man wird aber nie alle Menschen informieren können, da immer wieder Leute sterben. Und wenn jeder ein unendliches Leben hätte und keine neuen Menschen mehr auf die Welt kämen, wäre es sich schon von Anfang an ausgegangen – wenn man dann noch davon ausginge, dass sich kein Mensch verändert. Aber es ist eben jeder Mensch anders. Ob das positiv oder negativ ist, ist schwer zu sagen. Aber das interessiert wahrscheinlich ohnehin nur die wenigsten. Die meisten sagen einfach: „Du bist der dümmste Mensch auf Erden.“ Das kann und wird bei einem Menschen auf der Erde zutreffen, aber keiner kann es bestätigen. Die Variante, die logischer und richtiger wäre: „Du bist der dümmste Mensch, den ich kenne.“ Diese zwei Sätze sind nur Beispiele. Sie sind zwar nicht sonderlich freundlich, aber was sie auf jeden Fall sind: ein guter Vergleich.

Langsam begann ich mich zu fragen, wieso es nicht so war, dass man ewig lebte, und wieso ich, ausgerechnet ich, auf die Welt gekommen war. Es waren zwar auch noch viele andere Menschen auf der Welt, aber die waren auch nicht durch Zufall auf die Welt gekommen. Diese Frage konnte ich mir aber leider nicht beantworten. Und Zeit hätte ich auch nicht gehabt, da ich erstens jede Sekunde brauchte und jede einzelne Sekunde wertvoll war und ich zweitens langsam Hunger bekam. Also beschloss ich, mir ein Abendessen zu genehmigen.

Die Schneekugel

Подняться наверх