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Mitternacht unterm Christbaum

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Erst war Vitus zu Bett getragen worden, dann Lorenz. Meine Schwägerin verließ die Stube noch während der Lesung des Nussknackers, weil Vitus ohne Busengrapschen noch immer nicht durchschläft. Dann war mein Bruder verschwunden, um seelischen Beistand zu leisten.

„Ich hätte ja noch ein Geschenk für dich“, hatte Luisa geflüstert. „Aber ich bin mir nicht sicher, ob du dich freust.“

„Über den Selfie-Stick hab ich mich sehr gefreut.“ Endlich war die Zeit der gesichtslosen Architekturfotografie vorbei. „Aber die Ruhe vor den beiden Schrazen ist, wenn du mich fragst, das größte Geschenk.“

Gähnend tappte ich auf die Terrasse hinaus und ließ noch eine letzte Halbe aus dem Fass.

Ein Fuchs ist mein Bruder schon. Nur an wenigen Stellen hat er unsere Weihnachtstraditionen nachjustiert – dort aber oho. Ein echter Geniestreich war der Austausch des unsäglichen Glühweins gegen Edelvernatsch und Fassbier.

Der Christbaum brannte noch, Luisa war ins Bett gegangen.

Ich lümmelte im Funkellicht und betrachtete die unzähligen Kugeln, Lamettafäden und glitzernden Süßigkeiten.

Wie viel Arbeit doch in so einem Baum steckt! Und wofür? Für gerade mal zwei Wochen Glanz in der Stube, bis der ganze Hokuspokus überstanden ist.

Und doch muss ich gestehen, dass ich mich lange nicht mehr so … kindlich überwältigt gefühlt habe.

Der türkis-silberne Farbenglanz spiegelt sich auf dem Selfi-Stick, zittert auf ihm. Nein, er wackelt, schaukelt, zappelt auf ihm.

Wie ist das möglich? Der Baum steht doch kerzengerade, die Terrassentür ist geschlossen, kein Lüftchen regt sich.

Aber der Selfi-Stick bewegt sich. Langsam, langsam schiebt er sich vorwärts, schüttelt seine Steifheit wie einen Wadenkrampf ab, sucht schlängelnd das Weite.

„Holla! du treuloses Ungetüm!“, rufe ich aus, will ihn packen, aber er zischt und klappert so bedrohlich, dass ich, jäh in ein türkisschillerndes Schlangengesicht starrend, zurückweiche. Dann eilt er davon, rasch und immer rascher, erreicht den Baumstamm, klettert empor und an den gläsernen Äpfeln vorüber, um von der Mitte des Christbaums aus ein letztes Mal zu mir zurückzublicken, die Zunge frech herauszustrecken und in den Untiefen des grünen Dickichts zu verschwinden.

Da löse ich mich aus meiner Schreckensstarre, stürze hinterher, schiebe die Zweige beiseite, bekomme den Dieb am Schwanz zu fassen – und werde mit jäher, außerordentlicher Kraft ins Geäst gezerrt.

*

Zwischen den Jahren

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