Читать книгу Das Mädchen, das das Christkind suchte - Lukas Wolfgang Börner - Страница 4

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Die Schulglocke läutete. Die sechste Stunde war endlich vorbei.

„Ferien!“, rief Silvia und Basti nickte.

„Gehen wir jetzt zusammen heim?“, fragte er zögernd. Er wohnte nur ein paar Straßen von Silvias Familie entfernt. Trotzdem waren die beiden bisher nie zusammen gegangen.

„Ach, wie süß,“ lästerte Polly vom Schulranzen herauf, „ich glaube, da ist jemand verknallt.“

„Psst!“, zischte Silvia mit unterdrücktem Kichern und zog den Reißverschluss ihres Ranzens zu. Dann wandte sie sich an Basti und schüttelte den Kopf.

„Geht nicht. Heute ist Freitag und da holt mich meine Schwester immer ab, weißt du. Da gehen wir shopping!“

In Wirklichkeit gingen Anna und sie gewöhnlich nur etwas zu Mittag essen und danach Kleider und Schaufenster anschauen. Nur ein einziges Mal hatte sich ihre große Schwester einen Jeansrock gekauft. Aber Silvia liebte es trotzdem, vom Shopping-Tag statt vom Freitag zu reden. Erstens, weil sie gerne durch die Innenstadt mit all ihren Geschäften schlenderte, was sie als einzigen Vorteil der Stadt gegenüber dem Dorf betrachtete. Zweitens verbrachte sie gern Zeit mit ihrer Schwester. Die Tage, an denen sie etwas gemeinsam unternahmen, waren nämlich rar geworden. Anna war dreizehn und hatte sich hier viel besser eingelebt als Silvia. Sie besuchte die siebte Klasse des benachbarten Gymnasiums und war die letzten zwei Jahre jeden Tag zwischen Tupfing und ihrer Heimat hin- und hergependelt, weil es auf dem Dorf kein Gymnasium gab. Und sie war fast jeden Tag mit ihrer Freundin Marie zusammen, die in einem großen Haus am Waldrand wohnte. Silvia mochte auch Marie und wäre schon manches Mal gerne mit den beiden herumgezogen oder hätte ihnen in ihrer geheimen Waldhütte Gesellschaft geleistet. Doch Anna ließ sie nur ganz selten dabei sein. Doch der gemeinsame Shopping-Freitag war auch ihr immer heilig gewesen. Das war ein halber Tag, der nur den beiden Schwestern gehörte.

„Oh“, sagte Basti und zog sich seine orangene Straßenverkehrsmütze über die Ohren. „Sagst du’s der Frau Amsler auch wirklich nicht?“, fügte er mit gesenkter Stimme hinzu.

Silvia, die sich gerade den Schal um den Hals wickelte, schüttelte den Kopf und Basti bedankte sich. Dann verließen die beiden das Schulgebäude.

Anna wartete wie immer an der Kreuzung. Die Autos mussten langsam fahren, weil der Schnee in dicken Flocken auf die Erde fiel. Silvia kam ihr entgegen gelaufen. Sie hatte ein so dickes Daunen-Jopperl an, dass sie fast wie eine Kugel aussah. Auf dem Kopf trug sie ihre grüne Lieblingsmütze. Anna hingegen war vom Kopf bis zu den Stiefeln in Creme, Beige, Greige und Braun gekleidet. Silvia fand, dass ihre Schwester von weitem ein bisschen wie der Latte Macchiato aussah, den ihre Mama so gerne trank.

„Und? Was essen wir heute?“, fragte Silvia. Ein wenig flehend fügte sie hinzu: „Aber bitte nicht schon wieder Germknödel!“

Die letzten fünf Wochen hatten sie immer Germknödel oder Dampfnudeln essen müssen. Anna hatte darauf bestanden. Das machte Silvia eigentlich nichts aus, gerade Dampfnudeln mit warmer Vanille-Soße aß sie gern. Aber sechs Wochen in Folge? Nein! Das ging nicht. Sie würde den Germknödel genauso, wie er wäre, wieder hinausspeiben.

„Können wir nicht lieber eine Leberkässemmel essen?“, fragte sie.

Anna verzog das Gesicht: „Auf keinen Fall! Ich kann das Zeug nimmer sehen!“

Ihr Papa liebte Leberkäs. Und weil er auch seine zwei Töchter über alles liebte und es gut meinte, machte er den beiden jeden Morgen insgesamt drei Leberkässemmeln für die Schule. Zwei mit süßem Senf für Anna und eine mit Ketchup für Silvia. Und weil er es gar so gut meinte, schnitt er Tag für Tag auch noch eine Essiggurke in Scheiben, mit denen er die Semmeln behutsam belegte. Dass seine Töchter jeden Schultag in der Pause als erstes diese Gurkenscheiben wieder entfernten, wusste er nicht. Und keine der beiden wagte es, den Papa, der es immer so gut meinte, aufzuklären. Auch die Tatsache, dass die Leberkässcheiben immer dicker waren als die gesamte Semmel und Silvia oft Probleme hatte, dies alles überhaupt in den Mund zu kriegen, sprachen die Schwestern nicht an.

„Wir gehen zu unserem Türken und holen uns einen Kebab!“, beschloss Anna und lenkte ihre Schritte Richtung Innenstadt.

„Aber Anna,“ erwiderte Silvia neben ihrer Schwester hergehend, „Papa will doch nicht, dass wir diesen türkischen Fraß essen!“

„Dann soll er erstmal aufhören, dieses türkische G’wasch zu trinken!“, entgegnete Anna. „Kaffee kommt nämlich auch von den Türken!“

„Ja, aber ...“, begann Silvia keuchend, weil Anna einen Zahn zugelegt hatte. Im Schnee tat man sich viel schwerer, wenn man kleiner war. „Mama und Papa wollen bestimmt nicht, dass wir mitten im Advent so’n Zeug essen!“

In Wirklichkeit grauste es Silvia nur vor dem vielen Gemüse auf dem Kebab. Sie hatte noch nie einen gegessen, obwohl der Dönermann nett war und im selben Haus eine Wohnung unter ihnen lebte.

„Der Advent ist der schlechteste Grund, den du dir ausdenken konntest!“, antwortete ihre Schwester. „Weißt du, wo der Nikolaus geboren wurde?“

Silvia, die immer noch Mühe hatte, mit Anna Schritt zu halten, schüttelte den Kopf. „Na, in der Türkei!“

Da verstummte Silvia und Anna, die merkte, dass sie ihre Schwester überzeugt hatte, ging etwas langsamer. Als sie schließlich vor dem eingeschneiten türkischen Imbiss standen, fragte sich Silvia, ob Sankt Nikolaus wohl auch am liebsten Kebab aß.

*

Das Mädchen, das das Christkind suchte

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