Читать книгу Das Mädchen, das das Christkind suchte - Lukas Wolfgang Börner - Страница 5

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„Ah, Anna und Lydia! Habe die Ehre! Grüß Gott!“, rief Seçkin, der Dönermann. Er war ein lustiger Mann von etwa dreißig Jahren. Bei der Arbeit trug er unter seiner Schürze nur ein weißes Unterhemd, aus dem seine behaarten Arme, seine behaarten Schultern und der obere Teil seines behaarten Rückens herausschauten.

„Ich heiße Silvia“, begann Silvia, doch Seçkin fiel ihr ins Wort.

„Na, wo hast du dein kleine Puppe? Die Popopolly!“, rief er und kratzte sich unter der rechten Achsel.

„Dir geb ich gleich Popopolly, du Gorilla!“, rief eine gedämpfte, grantige Stimme hinter Silvia.

„Die ist im Schulranzen!“, kicherte sie.

„Ah, sehr gut! Popopolly muss auch lernen!“, sagte Seçkin. Er steckte zwei Kebab-Fladenbrote in den Toaster und sagte: „Einmal Börek für Anna und einmal Dürüm für Lydia. Und ein Flasche Efes für Popopolly!“

„Lieber zweimal Kebab für Schüler“, entgegnete Anna und legte fünf Euro in Seçkins Hand.

„Ist zu wenig! Zweimal Kebab ist fuchzehn Euro!“, sagte der Dönermann, ohne eine Miene zu verziehen.

„Heute müssen fünf Euro langen“, gab Anna ebenso trocken zurück. Silvia schaute verdattert von einem zum anderen. Während Seçkin das Geld in seine Kasse warf, jammerte er: „So wenig Geld! Ich habe sieben Kinder! Alle wollen Weihnachtsgeschenke!“ Dann stopfte er das Fleisch in die Fladenbrote.

„Alles Sweinefleisch! Ihr Deutschen lieben Sweinefleisch!“, brabbelte er dabei und schaute die beiden Schwestern strahlend an. Die zwangen ihr Gesicht in ein Lächeln. Anna hielt den Daumen hoch. Als Seçkin den Salat und das Kraut in den Kebab stopfte, wollte ihn Silvia daran hindern. Vor allem Blaukraut konnte sie nicht essen! Doch der Dönermann hörte ihre Einwände nicht. Er hatte damit begonnen, „Alle Jahre wieder“ zu singen. Dann wickelte er die zwei Kebabs ein, steckte sie in eine Tüte und legte noch einen ockerfarbenen Zuckerkringel obendrauf. Als die beiden Mädchen den Imbiss verließen, wiederholte er: „Ist alles Sweinefleisch! Servus! Habe die Ehre! Schönen Gruß an Popopolly!“

„Blödmann!“, fauchte es aus Silvias Ranzen.

Silvia hatte schon lange nicht mehr so etwas Gutes gegessen. Der Kebab war saftig, das Fleisch war zart, ja, sogar das Blaukraut schmeckte! Ganz im Gegensatz zu dem Kringel, der nach Butter roch und auch nur nach Butter schmeckte. Die Schwestern saßen auf der Bank einer Bushaltestelle – der einzige Ort, wo man noch sitzen konnte. Alle anderen Sitzgelegenheiten waren von dickem Schnee bedeckt.

Die Innenstadt leuchtete, obwohl es ja noch hell war. Aber die vielen von Haus zu Haus gespannten Lichterketten hatte irgendwer bereits eingeschaltet. Und weil der Schnee auch auf den Wegen so dick lag, dass der Schneepflug mit Pflügen kaum hinterherkam, bewegten sich auch die Passanten ruhiger durch die Straßen. Es war nicht das hektische, geschäftige Treiben, was sonst beim Einkaufsbummel herrschte. Nein, es wirkte alles sehr friedlich. Vom Christkindlmarkt stahl sich ein Duft nach gebrannten Mandeln und Waffeln herüber. Silvia fühlte sich auf einmal ganz seltsam. Und ganz plötzlich stieg die Vorfreude auf Heiligabend in ihr auf und ihr Ärger über die Stadtkinder und das Getrenntsein von ihren Freundinnen ertrank darin. Am Sonntag war vierter Advent und am Montag würde das Christkindl kommen!

In diesem Moment lief ein Bub in Annas Alter auf der anderen Straßenseite stadtauswärts.

„Luki!“, rief Anna und der Bub schaute herüber. „Wo gehst du hin?“

Silvia vermutete, dass es sich um einen Klassenkameraden ihrer Schwester handelte.

„Zu meinen Großeltern!“, rief der Bub zurück. Er blieb stehen und wusste offensichtlich nicht, ob er weitergehen oder herüberkommen sollte. Doch Anna nahm ihm die Entscheidung ab.

„Warte, ich begleite dich ein Stück! Ich muss sowieso in die Richtung!“, log sie in voller Lautstärke über die Straße hinweg. Der Bub lächelte.

„Was?!“ – Silvia machte ein bitterböses Gesicht. „Wir wollten doch in die Stadt gehen!“

„Wir waren doch jetzt schon in der Stadt“, wisperte Anna, die aufgestanden war. Sie drückte ihrer Schwester zwei Euro in die kleine Hand und fügte hinzu, während sie über die Straße lief: „Kauf dir eine Waffel davon! Bis später!“

Dann war sie drüben und schlenderte mit dem Buben gemeinsam Richtung Vorstadtwald. Silvias Mund war trocken geworden. Sie blickte den beiden hinterher, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Dann steckte sie das Zwei-Euro-Stück in ihre Joppentasche und ging mit gesenktem Kopf allein in die Innenstadt.

*

Das Mädchen, das das Christkind suchte

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