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VORWORT

Solmaz Khorsand – Journalistin & Autorin

Das Koordinatensystem einer Gesellschaft ist ein starres. Es braucht weltbewegende Ereignisse, um es durchzuschütteln. Eine Pandemie kann da schon das erste Beben verursachen, uns zwingen, einmal genauer hinzusehen, wer in diesem System oben und wer unten steht. Und vor allem weswegen. Ob dieses Oben tatsächlich da oben zu verorten sein müsste, oder doch eher woanders. Denn das Unten ist es definitiv. Das ist ganz plötzlich Elite. Ja, es hat schon eine Pandemie gebraucht, um diese neue Elite auszumachen. Um zu begreifen, auf wen es tatsächlich ankommt, wenn es eng wird. Wer springen muss, wenn alle anderen fallen dürfen. Wer ausrückt, während der Rest zu Hause bleibt. Es sind nicht jene unter uns, die Woche um Woche ihre Perspektive in den Kommentarspalten, Fernsehdiskussionen und Podcasts mit der Welt teilen dürfen. Bequem, sicher, lauschig aus den eigenen vier Wänden. Um gutes Geld, viel mehr, als jene bekommen, denen wir vom Balkon aus gnädig zuklatschen, dafür dass sie unsere Verwandten beatmen, für uns Waren in Regale einschlichten, unsere Pakete zustellen und unsere Kinder betreuen.

„Die Kluft zwischen Gleichheit vor dem Gesetz und Ungleichheit in der Wirklichkeit füllte bislang das unschuldige Wort Leistung“, hat die deutsche Wochenzeitung Die Zeit einmal geschrieben, „dass es ein gerechtes Unten und Oben gibt, wurde mit ‚Leistungsunterschieden‘ begründet.“

Gerne werfen Politiker mit diesem „unschuldigen Wort“ um sich, um dieses gerechte Unten und dieses gerechte Oben einzuzementieren. Es fällt immer dann, wenn es darum geht, alles beim Alten zu lassen, die Last einer Gesellschaft auf den Einzelnen abzuwälzen und jene zu beschämen, die es nicht schaffen, sich am Ende der Nahrungskette anzusiedeln. Wenn sie sich doch nur ein bisschen mehr anstrengen würden, ein bisschen mehr Ehrgeiz, ein bisschen mehr Kampfgeist zeigen würden. So wie die wenigen, die es aus eigener Kraft nach oben geschafft haben. Nur deren Leistung hat sie dahin gebracht, wo sie heute stehen. Nicht die Familie, die Verhältnisse oder das Erbe waren dafür verantwortlich, nein, nur die eigene Leistung. Nicht wahr?

Eisern wird an dieser meritokratischen Selfmade-Illusion festgehalten. Dabei gibt es den Wohlstand, der aus eigener Kraft erarbeitet wurde, nicht mehr, wie die Autorin und Journalistin Julia Friedrichs in ihrem Buch „Working Class“ belegt. Wer heute reich ist, ist Profiteur seiner Verhältnisse. Nichts da mit Leistung. Wer es geschafft hat, hat es nicht alleine geschafft. Andere haben vor ihm und vor ihr geschafft. Alles andere ist Irrglaube. Das sieht selbst eine neue Generation von jungen Erbinnen ein. Sie wollen nicht länger in der goldenen Hängematte liegen, sie wollen wirklich „leisten“, so wie Marlene Engelhorn. Die junge Frau gab im Fernsehen bekannt, dass sie ihr Millionenerbe, das sie von ihrer Großmutter bekommen wird, zu 90 Prozent verschenken werde. „Radikal teilen“ will sie, sich nicht auf ihrem „schieren Geburtenglück“ ausruhen. In einem Statement sagt sie: „Wir brauchen eine Umverteilung von Reichtum, Land und Macht, und wir brauchen einen transparenten und demokratischen Prozess – für mich bedeutet das: Vermögenssteuern.“

Vielleicht ist man dann einem gerechteren Oben eine Spur näher. Und schafft gar ein ganz neues Koordinatensystem, das weniger von „unschuldigen“ Wörtern verzerrt wird.

Klatschen reicht nicht!

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