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WER IST HIER DER LEHRER?

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Ein klarer, hoher Ton erschallte vom Klangstab auf dem Lehrerpult, der das Stimmengewirr der nahezu dreißig Sechst- und Siebtklässler kaum zu überstimmen vermochte. Das Signal, das ursprünglich dazu eingeführt worden war, das Ende einer Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeitsphase einzuläuten und für eine lerndienliche Lautstärke im Klassenzimmer zu sorgen, war zum wiederholten Mal auf taube Ohren gestoßen und schien nur ein paar wenige Schüler zu interessieren. Mit strengem Blick zählte ich für alle sichtbar mit meinen Fingern bis zehn. Als noch immer keine Ruhe einkehrte, zeichnete ich mit einem Stück Kreide ein Minuszeichen in die linke Spalte der Belobingungstabelle an der Seitentafel. Sinn und Zweck dieses Systems war es, die Schüler durch positive und negative Verstärker dazu zu motivieren, sich an die Klassenregeln zu halten. Als Anreiz diente die Erfüllung eines Wunsches, auf den wir uns beim Erreichen einer festgelegten Anzahl von Pluszeichen im wöchentlichen Klassenrat geeinigt hatten. Das gegenwärtig angestrebte Klassenziel war ein Ausflug in einen Kletter- und Abenteuerpark östlich des Neckars. An diesem Morgen allerdings schien die entwicklungsbedingte Hormonausschüttung der pubertierenden Jugendlichen stärker zu sein als das ausgeklügelte Belobigungssystem und die Aussicht auf den Kletterpark. Wut stieg in mir auf, und mein Herz schlug immer schneller mit jedem weiteren erfolglosen Versuch, die ungeteilte Aufmerksamkeit meiner Sprösslinge zu gewinnen.

„Ach Leute, kommt schon …, jetzt seid halt still!“, rief Luca in die Runde, nachdem ich gerade das zweite Minuszeichen an der Tafel dokumentiert hatte, und bemerkte gar nicht, dass er mit seinem wohlwollenden Zwischenruf die Unruhe nun wieder verstärkte.

„Ich habe eh keinen Bock, klettern zu gehen“, schaltete sich Lassad ein, als wäre seine Ablehnung gegenüber sportlichen Aktivitäten eine Legitimation dafür, sich über die vereinbarten Klassenregeln hinwegzusetzen.

Jetzt gesellten sich auch noch Ohnmacht und Hilflosigkeit zu der Wut. Um Aufmerksamkeit ringend stand ich vor den frontal ausgerichteten Schulbänken, aber weder Einzelermahnungen noch Kollektivsanktionen führten zu dem von mir intendierten Ergebnis. Schließlich musste ich sogar krampfhaft versuchen, die Tränen zurückzuhalten, die sich in meinen Augen sammelten. Also konzentrierte ich mich verstärkt auf meinen Atem und das Wahrnehmen meiner Umgebung.

„Du bist in Sicherheit, kleine Annie. Es kann dir nichts passieren“, sprach ich in Gedanken meinem inneren Kind zu, welches offensichtlich in Panik geraten war, während ich mich abermals der Belobigungstabelle zuwandte, um das dritte Minuszeichen seit Stundenbeginn zu notieren.

Auf einmal platzte mir der Kragen. Mit einem lauten Knall schlug ich die Tafel zu und erhob meine vor Wut bebende Stimme gegen die erschrocken aufsehende Meute: „Es reicht! Ihr hattet die Wahl. So kann und werde ich nicht mit euch arbeiten!“

Ich drehte mich um und schrieb mit zitternden Händen eine Seitenzahl als Verweis auf das Lesebuch auf die karierte Außentafel und erteilte mit strenger Stimme den dazugehörigen Schreibauftrag: „Dieser Text wird abgeschrieben. Wer ab jetzt noch einmal reinruft, ohne sich zu melden, kriegt einen grünen Eintrag im Klassenbuch, und wer meint, jetzt die Zeit nicht nutzen zu müssen, bleibt die Pause über bei mir und bringt zu Ende, was die anderen jetzt schaffen.“ Um eventuellen Diskussionen über vergessene Schulmaterialien vorzubeugen, fügte ich hinzu: „Blätter liegen hier vorne für diejenigen, die keinen Schreibblock haben. Am Ende der Stunde sammle ich die Texte ein.“

Widerwillig, aber immerhin leise, öffneten die Schüler ihre Lesebücher und begannen die Kurzgeschichte, die ich willkürlich ausgesucht hatte, auf ihre Blätter zu übertragen, während ich mich auf den gepolsterten Lehrerstuhl fallen ließ und innerlich um die Fassung rang, die ich gerade kurzfristig verloren hatte. Dabei hoffte ich inbrünstig, dass sich niemand meinen militärähnlichen Erziehungsmassnahmen widersetzen würde, denn ich hatte bei Leibe keine Lust, meine dringend benötigte Pause noch eine Sekunde länger in diesem Klassenzimmer zu verbringen. Wenigstens diesbezüglich konnte ich mich glücklich schätzen: Selbst Linus, mit dem ich öfter aneinandergeriet, verkniff sich, sichtlich schweren Herzens, einen weiteren Kommentar, nachdem ich ihn mit hochgezogenen Augenbrauen scharf angeblickt und meinen grünen Stift bereits drohend Richtung Klassenbuch bewegt hatte. Die grünen Einträge, die bei Regelverstößen im Klassenbuch vermerkt wurden, hatten wenigstens eine gewisse Wirkung, denn auf Mehrfacheinträge folgte eine entsprechende Elternbenachrichtigung und eine sogenannte „Nachholzeit“ am Nachmittag.

Während die Schüler mit gesenkten Köpfen ihrer Abschreibaufgabe nachgingen, verbrachte ich die verbleibende Zeit damit, das Klassenbuch auf den neuesten Stand zu bringen. Um nach außen hin beschäftigt zu wirken, trug ich vorsorglich Datum, Stundenfächer und Ferienzeiten in die dafür vorgesehenen Felder für das noch verbleibende Schuljahr ein. Dabei beobachtete ich heimlich den Aufruhr, der in meinem Innern herrschte, um mein Ausflippen besser verstehen zu können. Immerhin war mein ganzer Körper innerhalb weniger Minuten in Panik versetzt worden, und die wahre Ursache lag ganz bestimmt nicht allein in der Widerspenstigkeit meiner Schüler, sondern wahrscheinlich unter der Oberfläche des Geschehens. Mein Atem ging jetzt flach und stoßweise, und meine Hände zitterten, als befände ich mich in einer lebensbedrohlichen Situation. Selbst wenn ich es noch nicht durchschaute, war mir durchaus bewusst, dass meine körperlichen Reaktionen in keinem Verhältnis zu der Situation standen, die mir eben widerfahren war. Vielmehr hatte ich den Eindruck, dass die unbewusst aktivierte Erinnerung an irgendeine alte Geschichte die eigentliche Ursache für die massive Stressreaktion gewesen sein musste. Warum sonst hätte ich mich dazu hinreißen lassen, mit meinen Schülern einen Kampf auszufechten, den ich letztendlich nur verlieren konnte?

Ich schielte auf die Uhr und zählte die Minuten bis zum erlösenden Pausenklingeln. Jede Zelle meines Körpers sehnte sich danach, die Bühne dieses Spektakels endlich verlassen zu dürfen. Es erinnerte mich irgendwie an die Heimatfilmreihe Die Lümmel von der ersten Bank aus den 60er- und 70er-Jahren, denn aus unerfindlichen Gründen hatte ich die Rolle des wenig ernst genommenen Oberstudiendirektors Dr. Gottlieb Taft eingenommen. Zumindest fühlte ich mich so.

Endlich, als der große Zeiger eine unendlich lange Viertelstunde zurückgelegt hatte und kurz davor war, den Beginn der zweiten großen Pause anzukündigen, wandte ich mich noch einmal an die Schüler: „Verseht euren Text bitte mit eurem Namen. Wer ihn bei mir abgegeben hat, kann in die Große Pause gehen.“ Mit dem Entgegennehmen der Schreibarbeiten beendete ich meinen Unterricht, sofern von „Unterricht“ an diesem Vormittag überhaupt die Rede sein konnte.

Geistesabwesend und immer noch zittrig, aber notdürftig beherrscht, machte ich mich auf den Weg zum Lehrerzimmer, wo ich in die Arme unserer Schulsozialarbeiterin sank und meinen zurückgehaltenen Emotionen endlich Ausdruck verlieh. Einige Augenblicke später kümmerte sich meine Rektorin um eine Vertretung für mich, während ich draußen einige Runden an der frischen Luft drehte und versuchte, die Tipps der Sozialarbeiterin umzusetzen, um mich zu erden und mein inneres Gleichgewicht wieder zurückzuerlangen.

Als ich mich am Nachmittag der Korrektur der Englischtests widmete, merkte ich, dass meine Arbeit deutlich schleppender als sonst voranging. Weder ein zwanzigminütiges Nickerchen noch ein anschließender Spaziergang im Wald konnten merklich dazu beitragen, meine Batterien wieder aufzuladen. Ich merkte deutlich, dass der morgendliche Vorfall im Klassenzimmer mich noch immer plagte, und ein Gefühl der Überforderung ließ erneut Tränen in mir aufsteigen. Ein effizientes Arbeiten schien mir schließlich nahezu unmöglich, sodass ich schluchzend meinen Plan änderte und den Papierstapel beiseiteschob, bereit, mich dem Schmerz zuzuwenden, der sich so vehement meldete. Ich setzte mich auf meinem Esszimmerstuhl in den Schneidersitz und schloss die Augen, dann erinnerte ich mich an eine Übung, die ich kürzlich in einem Ratgeber gelesen hatte. Während der letzten zwei Wochen hatte ich mich systematisch durch eine Methode gearbeitet, von der ich mir mehr Gesundheit, Wohlstand und das Glück einer erfüllenden Beziehung erhoffte. Dabei hatte ich immer wieder die im Buch vorgeschlagenen Handpositionen angewendet, um seelische Themen oder Glaubenssätze positiv zu beeinflussen.

Ich stand noch einmal auf und kramte das Buch zur besagten Heilmethode unter meinem Couchtisch hervor, um mir die Übung nochmals zu vergegenwärtigen. Mithilfe der bunten Klebestreifen, welche die wichtigsten Textpassagen markierten, fand ich schnell die gewünschte Seite. Wieder sitzend legte ich meine beiden Hände auf mein Herz und schloss meine Lider. Vor meinem geistigen Auge stellte ich mir eine Kinoleinwand vor. Ich ließ in Gedanken den Vorhang aufgehen, bis ich die riesige weiße Projektionswand vor mir sah, auf der laut Aussage des Buchautors in Kürze der Film aus meiner Vergangenheit ablaufen sollte, der ursächlich mit meiner gegenwärtigen Gemütsverfassung in Zusammenhang stand.

Ich atmete mit geschlossenen Augen ein paar Mal tief in meinen Bauch und bat anschließend darum, die Ursache für meinen Schmerz sehen zu dürfen. Während ich meinen inneren Blick unentwegt auf die Kinoleinwand gerichtet hielt, tauchte die Frage in mir auf, ob das wirklich funktionieren könnte. Doch dann schob ich meine Zweifel beiseite und konzentrierte mich weiter auf meine Bauchatmung und die imaginäre Leinwand.

„Ich bitte darum, die Ursache für meinen Schmerz sehen zu können“, wiederholte ich in Gedanken. Und plötzlich geschah es: Wie aus dem Nichts tauchte ich als etwa dreijähriges Kind auf, ich sah mich auf dem Geh- und Radweg unweit meines Elternhauses stehen. Ich blickte mit gesenktem Kopf auf den asphaltierten Weg, während sich meine Arme um das Bein meiner Mutter schlangen, die den überbreiten Drillingskinderwagen mit beiden Händen hielt. Wir hatten unseren Spaziergang wegen einer entgegenkommenden Passantin unterbrochen, die sich schaulustig über den Kinderwagen beugte und ihrem Entzücken über meine gut eingepackten, nebeneinanderliegenden Mehrlingsgeschwister lautstark Ausdruck verlieh. Traurig krallten sich meine kleinen Finger in den Oberschenkel meiner Mutter, die bereitwillig all die neugierigen Fragen der Frau beantwortete und in diesem Moment genauso wenig Notiz von mir nahm wie die fremde Dame.

Auch wenn ich meinen zweieinhalb Jahre jüngeren Geschwistern laut Aussage meiner Mutter vom ersten Tag an mit Liebe, Verständnis und Einfühlungsvermögen begegnet war, so hatte die Attraktion, die nicht nur durch die Medien, sondern auch durch aller Munde ging, neben der Freude auch einen bitteren Beigeschmack hinterlassen, der meine kleine Seele traurig gestimmt hatte. Die ungeteilte Aufmerksamkeit, die ich von meinen Eltern bis zu meinem zweiten Lebensjahr erhalten hatte, war mit der Geburt der „ersten Vierlinge, die in der Frauenklinik geboren wurden“ und dem kurz darauffolgenden Tod eines der Neugeborenen dem Gefühl gewichen, mit meinen Bedürfnissen nicht mehr gesehen und gehört zu werden – so sehr ich mich auch angestrengt hatte, ein besonders braves und anständiges Kind zu sein. Selbst wenn meine Mutter nach ihren Möglichkeiten stets darum bemüht gewesen war, in ihrem gut gefüllten Alltag und neben ihrer Trauer auch Zeit einzig mit mir zu verbringen, so hatte die vierfache „Entthronung“ anscheinend tiefere Wunden hinterlassen, als ich es mir bis dahin eingestanden hatte.

Endlich kamen die Tränen ins Rollen, die ich am Vormittag im Klassenzimmer aufgrund meiner „Vorbildfunktion“ als Lehrerin krampfhaft zurückgehalten hatte, und begleiteten die lauten Klagelaute, die ich in dem Bestreben, meine Eltern mit Stolz zu erfüllen und ihnen nicht noch mehr Arbeit zu machen, all die Jahre meiner Kindheit hinuntergeschluckt hatte. Dabei kümmerte ich mich nicht darum, dass die übrigen Hausbewohner aufgrund der hellhörigen Bauweise vermutlich regen Anteil an meiner Traurigkeit nahmen.

Mit dem Fühlen des Schmerzes und der Erkenntnis über die tieferen Zusammenhänge meiner morgendlichen Panikattacke wurde allmählich eine Erleichterung in mir spürbar. Als das innere Beben an Heftigkeit verloren hatte und der emotionale Sturm abgeklungen war, erinnerte ich mich schließlich an den Fortgang der Übung: Ich visualisierte einen hellen Lichtstrahl, der vom Himmel auf die dreijährige Annie hinableuchtete, bis diese vollständig in glitzerndes goldgelbes Licht eingehüllt war. Dann stellte ich mir vor, wie ich als kleines Mädchen in der goldenen Lichtsäule langsam nach oben schwebte. Oben angekommen setzte ich mich an die Seite von Jesus, der mich sanft in seine Arme schloss und liebevoll auf die Stirn küsste. In der Geborgenheit und Liebe des aufgestiegenen Meisters ließ ich die kleine Annie noch eine Weile verweilen, bis sich ihr Herzschlag wieder vollständig normalisiert hatte. Als ich meiner Umgebung wieder gewahr wurde und meine Augen öffnete, breitete sich zum ersten Mal an diesem Tag ein Gefühl von Frieden in mir aus.

Lächelnd wanderten meine Gedanken noch einmal zu Luca, Lassad und Linus zurück – jenen Schülern, die die Ohnmachtsgefühle am Vormittag in mir ausgelöst hatten, weil ich von ihnen nicht „erhört“ worden war. Es war offenbar kein Zufall, dass es genau drei Schüler gewesen waren, die mich so aus der Fassung gebracht hatten – ebenso wenig wie die Tatsache, dass ihre Namen den gleichen Anfangsbuchstaben aufwiesen. Auch die Vornamen meiner drei überlebenden Mehrlingsgeschwister, welche mit einem Schlag die gesamte Aufmerksamkeit von mir abgezogen hatten, begannen alle mit dem gleichen Buchstaben.

„Heute ward IHR meine Lehrer“, sagte ich innerlich zu Luca, Lassad und Linus. „Ihr habt mich auf meine alte, unverheilte und verdrängte Wunde aufmerksam gemacht, die jetzt erst heilen kann. Dafür danke ich euch von ganzem Herzen.“

Vom Angsthasen zum Liebesküken

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