Читать книгу Vom Angsthasen zum Liebesküken - Luna Lavesis - Страница 9
ERWACHEN AUF SCHOTTLANDS COUCH
ОглавлениеDen kommenden Jahreswechsel sollte es mich nach Schottland verschlagen. Schon lange hatte ich den Wunsch gehegt, die in den Schulbüchern abgedruckten Highlights wie Edinburgh, die Highlands und Loch Ness, welche ich als Englischlehrerin meinen Schülern vermittelte, selbst zu besuchen. Diesen Traum kombinierte ich mit meiner stetig wachsenden Neugier, Land und Leute mit Unterstützung eines virtuellen Gastfreundschaftsnetzwerks kennenzulernen. Ich fühlte mich angesprochen von der Idee, über eine Website Menschen ausfindig zu machen, die bereit wären, ihr Heim zu öffnen, indem sie Reisenden kostenlos eine Unterkunft zur Verfügung stellten und dadurch interkulturelle Begegnungen ermöglichten.
Ich musste nur eine einzige Anfrage stellen, um die positive Antwort einer jungen Schottin zu erhalten, die wiederum in einer Dachgeschoss-WG einer jungen Familie in Edinburgh wohnte. Scarlett war etwas jünger als ich und verfügte noch über keinerlei Referenzen auf ihrem Profil, da sie offenbar wie ich das Portal zum ersten Mal nutzte. Dennoch erschien mir das freundliche Lächeln auf dem Foto vertrauenswürdig, und auch die Beschreibung auf ihrem Nutzerprofil machte einen seriösen Eindruck. Und so kam es, dass ich mich wenige Tage vor Heiligabend mit einem Rucksack auf dem Rücken und einem großen Rollkoffer im Schlepptau meinem vorübergehenden Schlafplatz im Stadtteil Bruntsfield näherte.
Scarlett entpuppte sich als eine liebenswürdige, schüchterne und eher introvertierte Person, die ihre freien Abende am liebsten in ihrem Zimmer verbrachte, um in der Bibel zu lesen. Mir kam diese Art von Abendgestaltung sehr gelegen, insbesondere weil ich seit geraumer Zeit das Lesen spiritueller Lebensratgeber mit philosophischem Hintergrund neu für mich entdeckt hatte. Auf meinem E-Book-Reader verschlang ich zu dieser Zeit bereits das zweite Buch von Robert Betz, dessen Worte auf ungewohnte Weise etwas in mir zum Schwingen brachten und mir darüber hinaus Hoffnung machten auf eine Möglichkeit, meine akuten Leidenszustände zu „transformieren“.
Froh um etwas Ablenkung und dankbar für Scarletts Gastfreundschaft begleitete ich meine Wohngenossin am folgenden Sonntagmorgen zum Gottesdienst der Freikirche, der sie angehörte, und genoss die Offenheit der Gemeindemitglieder beim anschließenden Brunch. Wenngleich die Gespräche an der Oberfläche blieben und mir die allgemeine Freundlichkeit etwas überschwänglich vorkam, fand ich Gefallen an den Begegnungen an der Seite von Scarlett, die mich von den Turbulenzen der vergangenen Monate etwas ablenkten und mich seltsamerweise sogar etwas zur Ruhe kommen ließen.
Am Abend des 24. Dezember liefen wir zu einer Kirche am unteren Ende der Bruntsfield Links, um am Weihnachtsgottesdienst teilzunehmen. Ich betrachtete den Schein der Kerze in meinen Händen, die als ein Zeichen des Friedens von meinem Sitznachbarn entzündet und an mich weitergegeben worden war. Ich schloss meine Augen und stellte mir für einen kurzen Moment vor, wie dieses Licht meine Freunde, Bekannten und Verwandten in Deutschland in ihrem schönsten und hellsten Glanz erstrahlen ließ. Allen voran dachte ich an Philippe, der womöglich gerade die Geschenke öffnete, die ich ihm vor meiner Abreise überreicht hatte: ein Kochbuch als Grundlage für ein Candle-Light-Dinner, eine Kerze in Form einer kleinen Badewanne für die nötige Romantik während eines gemeinsamen Bades und eine neue Glühbirne für seine Edelstein-Lampe, welche uns während der gemeinsamen Ruhezeit nach dem Bad in warmes Licht einhüllen sollte. Tränen kullerten über meine Wangen bei dem Gedanken an den Schmerz, den ich in ihm verursacht hatte, und das emotionale Chaos, das ich noch immer in mir trug. Seit der radikal ausgesprochenen Trennung nach meiner Rückkehr aus Berlin war unsere Beziehung innerhalb der letzten Monate in eine neue Form übergegangen, die von dem Wunsch getragen war, dass eine Partnerschaft mit getrennten Wohnungen eine erfolgversprechende Alternative des Zusammenlebens für uns darstellen könnte. Immerhin war auch Robert Betz, dessen Meditationen mir während der ersten einsamen Nächte in meiner neuen Wohnung Trost gespendet hatten, der Meinung, dass man die Doppelbetten „zersägen“ müsste, wenn man eine erfüllte Partnerschaft leben wollte. Ich fragte mich, ob meine Reise nach Schottland mir dabei behilflich sein würde, mein eigenes Licht wieder leuchten zu lassen und zögerte – in der Hoffnung, die Flamme der Liebe in meiner Hand würde mich auf meinem Weg durch die Dunkelheit führen – den Moment des Auslöschens so lange wie möglich hinaus.
Am ersten Weihnachtsfeiertag begleitete ich Scarlett zu ihrer Glaubensschwester Amber, in deren Wohnung ich mit einem köstlichen und traditionellen Christmas-Dinner in die Weihnachtstradition Großbritanniens eingeführt wurde: Truthahn und Süßkartoffeln dampften auf dem liebevoll dekorierten Tisch in der Küche, während der Plumpudding noch im Kühlschrank wartete. Dazu wurde ein Glas Wein gereicht, und selbst Scarlett, die, wie ich herausgefunden hatte, alkoholische Getränke normalerweise ablehnte, ließ ihn sich schmecken. Nach dem reichhaltigen Schmaus saßen wir mit vollgefressenen Bäuchen zum sogenannten Christmas Tea vor dem Fernseher und lauschten den Worten der Queen. Wir sprachen über die Höhe-, Tief- und Wendepunkte in unserem Leben und tauschten anschließend Buchempfehlungen aus, die unser Leben positiv beeinflusst hatten. Ich empfand die Gesellschaft der beiden Schottinnen und die Wärme, die nicht nur von meiner dampfenden Tasse Schwarztee ausging, sondern auch von Herz zu Herz spürbar war, als äußerst wohltuend. Es fühlte sich stimmig an, Weihnachten einmal auf völlig neue Art und Weise zu feiern, jenseits der Traditionen meiner Herkunftsfamilie und in räumlicher Distanz zu meiner Heimat.
Da ich beabsichtigte, Schottland und seine Bewohner auch über die Grenzen von Bruntsfield hinaus kennenzulernen, hatte ich von meiner Homebase bei Scarlett aus schon für den zweiten Weihnachtsfeiertag eine weitere Unterkunft organisiert und surfte mit einem kleinen Tagesgepäck zu meinem nächsten Gastgeber am Nordrand der Stadt. Luigi bot mir nicht nur eine Couch an, sondern ein äußerst komfortables, wohnlich eingerichtetes Gästezimmer seines luxuriösen Appartements. Dieses wiederum war Teil eines stattlichen Schlosshotels, welches von Gästen vor allem für geschäftliche Anlässe und private Feierlichkeiten wie Hochzeiten heimgesucht wurde. Staunend betrachtete ich das von einem großen Waldgebiet umgebene Anwesen, als ich aus Luigis grauem Sportwagen stieg. Er hatte mich in seinem Zweisitzer von der nächstgelegenen Bushaltestelle abgeholt und erwies sich auch im Laufe des Abends als wahrer Gentleman. Der sympathische Mann Mitte vierzig stammte ursprünglich aus Italien, wie er mir erzählte. Er hätte zwischenzeitlich einige Jahre in England gelebt, bevor er sich in Schottland niedergelassen hätte, und verdiente seinen Lebensunterhalt nun damit, Hotels, die in finanziellen Schwierigkeiten waren, zu verwalten oder neu zu eröffnen und Hoteleigentümer zu beraten und zu unterstützen. So hätte er auch dieses Anwesen zum Laufen gebracht und sich damit gleichzeitig seinen Kindheitstraum erfüllt, in einem Schloss zu wohnen.
Mit weit aufgerissenem Mund betrat ich mein gemütlich eingerichtetes Doppelzimmer und ließ mich auf eines der beiden Einzelbetten plumpsen, welches mit glänzender Satinbettwäsche bezogen und mit zahlreichen Kissen für mich hergerichtet war. Nachdem ich mich in dem königlichen Badezimmer mit goldfarbenen Armaturen etwas frisch gemacht hatte, setzte ich mich nebenan zu Luigi auf die Couch im Wohnzimmer, der mir sogleich einen Teller mit rohem Staudensellerie und Minikarotten anbot.
Luigis achtsames und ausgewogenes Ernährungsverhalten hatte ihm, zusammen mit seiner Vorliebe für regelmäßige körperliche Betätigung, einen von Fitness strotzenden Körper beschert, der für sein Alter ausgesprochen ansehnlich war. Trotz seiner gesunden Ernährungsweise schien er aber dem Alkohol zumindest an diesem Abend nicht abgeneigt. Während wir uns über die Kraft der Gedanken und die Kunst des Manifestierens austauschten und das am Ziel vorbeischießende staatliche Schulsystem kritisch unter die Lupe nahmen, befeuchtete eine gute Flasche Rotwein unsere redseligen Kehlen. Ich genoss unsere intensive Unterhaltung, die mit den Inhalten, die ich kürzlich bei Robert Betz gelesen hatte, auf überraschende Weise in Einklang zu stehen schien. Amüsiert dachte ich an den Ehemann meiner Cousine, von dem ich vor vielen Jahren schon Ähnliches gehört hatte wie von Luigi und der mir damals schon zu erklären versucht hatte, dass alles ein Gedanke wäre, bevor es materielle Wirklichkeit würde. Während ich ihn damals mit großen Augen angestarrt und an seinem Verstand gezweifelt hatte, verspürte ich nun eine seltsame Resonanz zu dem, was Luigi sagte, was mit wachsender Sympathie für meinen neuen Gastgeber einherging. Freudig teilte ich mit ihm meine Vision einer Schule, die frei von Notendruck und Leistungsgedanken das Wohl und die Interessen der Schüler in den Mittelpunkt stellte. Angetan lauschte ich Luigi, der mir zunächst erklärte, dass wir unsere Wirklichkeit selbst erschaffen würden, und dann bekräftigend schilderte, wie er selbst seine Träume in der Vergangenheit verwirklicht hätte. Dass er nun tatsächlich in einem Schloss lebte, so, wie er es sich als kleiner Junge gewünscht hatte, konnte ich mit meinen eigenen Augen sehen. Ich fühlte mich verstanden und fand unser Gespräch ermutigend und inspirierend. Ich gestand mir innerlich mit einer gewissen Traurigkeit ein, dass ich einen solchen Austausch mit Philippe zunehmend vermisst hatte. „Können wir denn gar keine ‚normalen‘ Gespräche mehr führen und uns einfach mal darüber unterhalten, wie unser Tag so war, Annie“, hatte er mich eines Tages gereizt angefahren, als ich wieder einmal damit anfing, die Unordnung im Außen, sprich die immer größer werdenden Papierhäufchen auf unserer gläsernen Bar in der Küche für ein Spiegelbild der Unordnung in seinem Inneren zu halten.
„Hast du schon mal von den Gesprächen mit Gott gehört?“, fragte mich Luigi und holte mich zurück ins Hier und Jetzt. „Die könnten dich interessieren. Es sind drei Bände. Der Autor heißt Neale Donald Walsch.“
Ohne zu zögern griff ich nach meinem Handy, um Luigis Information als Notiz darin abzuspeichern. „Neale Donald wie?“, fragte ich nach. Ich hatte stark den Eindruck, dass diese Information wichtig für mich wäre, ohne erklären zu können warum.
„Neale Donald Walsch. Walsch mit s-c-h. Er ist Amerikaner.“ Luigi schmunzelte, und nachdem ich mein Handy wieder beiseitegelegt hatte, fragte er plötzlich: „Hast du Lust auf eine Schlossführung? In einer der Bars müsste noch eine zweite Flasche Wein zu finden sein.“
Aufgeregt nickte ich ihm zu und konnte kaum glauben, dass ich um kurz nach Mitternacht eine private nächtliche Führung durch das spektakuläre Hotel, welches vor über achthundert Jahren von einer edlen schottischen Familie erbaut worden war, angeboten bekam. Augenblicke später liefen wir die riesige, mit einem Teppich überzogene Treppe hinab, vorbei an altertümlichen Gemälden, vor denen wir hin und wieder Halt machten, weil Luigi mir eine Geschichte dazu erzählte. In einem der Festsäle verschwand Luigi für einen kurzen Moment hinter der Bar und tauchte dann freudestrahlend mit einer Flasche Rotwein in der Hand wieder auf.
„Manchmal ist es von Vorteil, sein eigener Chef zu sein.“ Lächelnd präsentierte er mir den guten Tropfen und wies mir den Weg zurück in sein Appartement, wo wir unsere Konversation auf seinem Bett fortführten. Von dort aus würde er, so machte er mich zumindest glauben, die ankommenden Besucher, die noch außer Haus waren, am besten bemerken. Der Portier wäre krankheitsbedingt ausgefallen und nun wäre er selbst, ausnahmsweise, für das Öffnen der Tür verantwortlich.
Der unvermittelte Ortswechsel in Luigis Schlafzimmer löste plötzliches Unbehagen in mir aus, und ich spürte, wie die Gelassenheit in mir einer Anspannung wich, die mich dazu bewog, den Abend abrupt zu beenden und mich in mein fürstliches Gästezimmer zurückzuziehen. Schlaflos lauschte ich dem Sturm, der an den Fensterläden sein Unwesen trieb, und spürte mit einem Mal eine auftauchende dunkle Furcht, die sich über den lichtvollen Abend legte. Mutterseelenallein lag ich an einem Ort, der von nichts weiter umgeben war als weitreichendem Wald, endlosen Grünflächen und einer Flusswiese. Niemand würde mich hören oder mir zu Hilfe eilen, würde der charmante Italiener in seiner Residenz nur wenige Kilometer südlich von Edinburgh auf die Idee kommen, mir in seinem Gästezimmer, welches sich nicht einmal abschließen ließ, einen Besuch abzustatten. Ängstlich verkroch ich mich unter der Bettdecke und zuckte bei jedem noch so kleinen Geräusch zusammen, bis die Müdigkeit, verstärkt durch den konsumierten Alkohol, schließlich über die Angst siegte und meine Lider schwer werden ließ …
Als ich am nächsten Morgen mit heftigen Kopfschmerzen und einem flauen Gefühl im Magen erwachte, war Luigi bereits bei der Arbeit. Ich schnappte mein Handy, welches neben meinem Bett auf dem antiken Nachtisch lag, und öffnete die Textnachricht, die ich erhalten hatte:
„Guten Morgen, Annie. Ich hoffe, du hast gut geschlafen. Melde dich, wenn du wach bist und zum Bus gefahren werden möchtest. Dann komme ich dich holen. Natürlich kannst du auch noch eine weitere Nacht bleiben, wenn du möchtest. Luigi.“
Auch wenn ich Luigis Gesellschaft genossen hatte und mir meine nächtliche Angst plötzlich lächerlich vorkam, war mir doch wohler, meine Reise an diesem Vormittag fortzusetzen. Da meine körperliche Leistungsfähigkeit wegen des vielen Weins noch zu wünschen übrigließ, entschied ich mich gegen einen Ausdauerlauf über das zwanzig Hektar große Gelände und überbrückte die Zeit bis zu Luigis Eintreffen mit der Fortsetzung der Lektüre von Robert Betz.
„Heute wäre ich zugegebenermaßen auch noch gerne etwas liegengeblieben“, gestand er mir mit müden Augen, bevor er mich in seinem silbergrauen Cabriolet zur nächsten Buslinie fuhr, die mich in das Zentrum der Stadt zurückbringen würde. Dort wartete zwischen Slateford und Balgreen bereits meine nächste Couchsurf-Begegnung auf mich: Evan.
Da ich mich mit Evan erst für den Abend verabredet hatte, überbrückte ich den Nachmittag ohne Gesellschaft, dafür aber mit einem mittelschweren Kater in mehreren Cafés in Edinburgh und fragte mich, warum noch nie jemand auf die Geschäftsidee gekommen war, neben gewöhnlichen Cafés und Restaurants auch eine Art Wohlfühloase anzubieten, welche übermüdeten Touristen wie mir die Möglichkeit bot, sich tagsüber niederzulegen und zu entspannen. Umso glücklicher war ich, als mir auf dem Parkplatz eines nicht zu übersehenden Fastfood-Restaurants zwischen Slateford und Balgreen am frühen Abend ein dunkelhäutiger, gutaussehender junger Mann entgegenkam, der sich sogleich als Evan vorstellte und mich in sein bescheidenes Zuhause führte. Meine Freude, nach einem langen öden Tag endlich wieder ein Dach über dem Kopf zu haben, ließ mich über den drastischen Schwund an Wohnkomfort hinwegsehen, der zwischen Luigis Schlossresidenz und Evans Studentenbude zu verzeichnen war. Anstelle einer Goldarmatur zierten nun Schimmelspuren die Wanne in einem Badezimmer, das schon seit geraumer Zeit keinen Putzlappen mehr gesehen hatte. Dieses war lediglich durch eine Glastür, durch welche man ungehindert hindurchblicken konnte, vom Rest der Wohnung abgetrennt, sodass ich mich von der Hoffnung, hier mein Geschäft verrichten zu können, erst einmal verabschiedete. Der Geruch und die Spuren auf der Bettwäsche zeugten davon, dass diese bereits von anderen Besuchern vor mir benutzt worden war. Dennoch dankbar lenkte ich meine Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass ich wenigstens ein eigenes Zimmer angeboten bekam und folgte Evan, nachdem ich mein Gepäck abgestellt hatte, ins Wohnzimmer.
Evan reichte mir ein Glas seines Lieblingsgetränks, Gin Tonic, welches er in der Küche für mich zubereitet hatte, und nahm dann neben mir auf der durchgesessenen Couch Platz. Als einer der wenigen Einwohner Haitis hatte er das große Glück, einen Studienplatz in Schottland finanziert zu bekommen, was in Anbetracht der verbreiteten Armut seines Heimatlandes eine große Ausnahme darstellte. Dass Evan aus bildungsnahen Kreisen stammen musste, verriet unsere tief greifende Konversation an diesem Abend, die ich als sehr bereichernd empfand. Was mich jedoch am Allermeisten beeindruckte, war die Weisheit, die aus dem Sechsundzwanzigjährigen sprach. Mir gefiel die positive Lebenseinstellung, die er sich gemäß seines Lebensmottos „Carpe Diem“ angeeignet hatte, und die selbst durch die einfachen, von offensichtlicher Geldknappheit geprägten Lebensumstände nicht getrübt werden konnte.
„Eines Tages, Annie, glaube ich, wird es keine Ländergrenzen mehr zwischen den Kulturvölkern geben. Es wird keine Haitianer, Jamaikaner oder Amerikaner geben. Genauso wenig wird man zwischen Deutschen, Briten oder Schotten unterscheiden. Wir werden lediglich eine einzige Menschheit sein“, erklärte er mir mit ruhiger Stimme. Ich stutzte. „Allerdings …“, fügte er milde lächelnd hinzu, „dürfen die Erdbewohner erst noch ein wenig mehr erwachen, um dies zu begreifen, fürchte ich.“
Ich war fasziniert von dem dunkelhäutigen jungen Mann, der die Menschen scheinbar vorurteilsfrei so liebte und akzeptierte, wie sie waren, und der mir trotz der wenigen Mittel, die sein Studentenjob abwarf, seine Junggesellenbude zur Verfügung stellte.
Auch in dieser Nacht hatte ich Mühe, in den Schlaf zu finden. Ob dafür unsere bewegende Konversation, der modrige Duft der leicht schimmligen Wände oder auch der Sturm verantwortlich war, der durch die undichten Fenster pfiff, vermochte ich nicht zu sagen. Erst als ich meine Aufmerksamkeit auf den Besuch des National Museum of Scotland lenkte, der mir mit Evan am nächsten Tag bevorstand, gelang es mir, das Muffeln der Bettwäsche auszublenden und endlich wegzudämmern.
Offenbar wusste Evan um jene Sehenswürdigkeiten, die man besuchen konnte, ohne Eintritt bezahlen zu müssen, und so schlenderten wir den größten Teil des Vor- und Nachmittags durch die Ausstellungsebenen des Nationalmuseums und informierten uns neben der Entwicklung des Königreichs Schottland vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit unter anderem auch über die politische und sozioökonomische Transformation Schottlands im Zeitalter der Industrialisierung.
Nachdem wir unser Wissen über schottische Geschichte und Kultur ausgiebig aufgefrischt hatten, pilgerten wir anschließend über den Weihnachtsmarkt in den Princes Street Gradens, wo wir die gewonnenen Eindrücke neben dem charmanten Karussell mit einem Glühwein in der Hand sacken ließen. Offenbar weckte das schmackhafte Wintergetränk unsere Ausgehlaune, daher beschlossen wir, den Abend in einer der zahlreichen Bars ausklingen zu lassen. Dabei ließen wir es uns nicht nehmen, mit einem kurzen Auftritt auf der ansonsten menschenleeren Tanzfläche die Blicke der übrigen Gäste auf uns zu ziehen. Ich genoss Evans ungezwungene Gesellschaft, konnte jedoch nicht leugnen, dass ich auch froh war, die kommende Nacht wieder in Scarletts Wohngemeinschaft übernachten zu dürfen, wo ich zwar nicht ganz so königlich untergebracht war wie bei Luigi, mich jedoch, zumindest was den Sauberkeitsstandard betraf, wohler fühlte als bei Evan.
Die Erinnerung an Scarlett, die regelmäßig um 22 Uhr ins Bett ging, ließ mich einen kurzen Blick auf die Uhr werfen und drängte mich zum Aufbruch. Wir tranken unser Bier aus und Evan begleitete mich zur Bushaltestelle Princess Street, direkt am Übergang von der Altstadt zur Neustadt. Von dort aus führte eine Linie direkt nach Bruntsfield. Wartend und schweigend standen wir da. Ich schielte mehrmals auf die Zeitanzeige meines Mobiltelefons und ließ dann wieder meine Augen nervös über die Princess Street Gardens schweifen. Statt jedoch die herrliche Aussicht auf die Burg und die Altstadt zu genießen, kreisten meine Gedanken unentwegt um den Umstand, dass ich keinen Schlüssel zu Scarletts Wohnung besaß und die Zeit bereits derart fortgeschritten war, dass ich es nie und nimmer pünktlich dorthin schaffen würde. Die Vorstellung, Scarlett letztlich wecken zu müssen, um in die Wohnung zu kommen, war mir unangenehm und ich hoffte inständig, dass sie mir meine Verspätung nicht übelnehmen würde. Als der Bus endlich eintraf, schnappte ich erleichtert mein Gepäck, bedankte mich zum Abschied bei Evan für seine Gastfreundschaft und den schönen Tag in Edinburgh und stieg ein.
Gedankenversunken ließ ich die interkulturellen Erfahrungen der vergangenen Tage revuepassieren, durch die ich mich reich beschenkt fühlte. Kein Tourismusmanager der Welt hätte mir diese Stadt auf authentischere Weise nahebringen können als meine drei reizenden Gastgeber, die trotz aller Unterschiede ihre vorbehaltslose Weltoffenheit Fremden gegenüber gemeinsam hatten. Ich schaute leichten Herzens aus dem Busfenster auf die vorbeirauschende Landschaft, die mir überraschenderweise viel zu wenig beleuchtet vorkam. Augenblick mal, Landschaft?! Herrje, das durfte doch nicht wahr sein! Hatte ich etwa allen Ernstes meinen Ausstieg verpasst?! Erschrocken sprang ich von meinem Sitz auf und wandte mich an die ältere Dame, die mir schräg gegenübersaß.
„Ja, da hätten Sie bereits vor zwei Stationen aussteigen müssen“, klärte sie mich freundlich auf.
Entsetzt riss ich meinen Arm hoch und signalisierte dem Busfahrer meinen Haltewunsch. Der zeigte sich nun seinerseits überrascht und stoppte. Ich sprang gestresst auf den Gehsteig und musste mich erstmal sammeln. Als ich mich der Vollständigkeit meiner Gepäckstücke versichert hatte, begann ich mit meinem kleinen Reiserollkoffer in den Händen und der Zeit im Nacken unweigerlich zu rennen, als könnte ich dadurch meine Verspätung wieder aufholen. Schnaufend wie eine Dampfwalze kam mir plötzlich eine Passage aus dem Buch von Robert Betz in den Sinn, die ich erst kürzlich gelesen hatte. In der Tat hasste ich es, zu spät zu kommen, und die Vorstellung, Scarlett dadurch möglicherweise Unannehmlichkeiten zu bescheren, passte so gar nicht zu dem Pflichtbewusstsein, zu dem ich von meinen Eltern erzogen worden war. Doch, war ich nicht gerade im Begriff, dem bekanntesten Mantra anheimzufallen, unter dem nahezu die gesamte westliche Bevölkerung litt? Pünktlichkeit! Hatte ich wirklich keine Zeit zu verlieren, oder war das lediglich ein Glaubenssatz, ein „alter Schuh“ sozusagen, den ich in genau dieser Situation abstreifen konnte, um möglichweise zum ersten Mal in meinem Leben bewusst anders zu reagieren? Erst gestern hatte ich nach der Buchlektüre auf Luigis Couch die Entscheidung getroffen, mein Leben grundlegend zu ändern, und jetzt barg genau dieser Moment das Potenzial, einen neuen Gedanken zu denken, wenigstens über Zeit. Augenblicklich entschied ich, genau das Gegenteil von dem zu tun, was mir mein Verstand einzureden versuchte: Ich blieb stehen. Ich nahm meine innere Unruhe wahr, spürte meinen schnellen Herzschlag und hörte, wie mein Atem von dem kurzen Sprint hastig und deutlich vernehmbar aus meinem Mund ein- und ausströmte. Dann versuchte ich zur Ruhe zu kommen und hörte alsbald, wie ein neuer Vorsatz flüsternd und gleichzeitig voller Entschlossenheit den Weg über meine Lippen nahm:
„Heute entscheide ich mich neu. Ich entscheide mich, neu zu denken über die Zeit, die ich habe. Es ist genug Zeit da. Von heute an will ich mich nicht mehr abhetzen, sondern mir Zeit nehmen für das Wichtigste in meinem Leben: für mich selbst. Ich entscheide mich für die Langsamkeit.“
Während ich noch eine weitere Minute mit geschlossenen Augen auf dem Gehsteig verweilte, kam mir die Idee, Scarlett einfach anzurufen, um ihr Bescheid zu geben, dass ich mich verspäten würde. In aller Seelenruhe griff ich nach meinem Handy und wählte Scarletts Nummer, um ihr die Situation zu erklären und mir Zeit zu verschaffen. Erleichtert über ihre verständnisvolle Reaktion setzte ich mich wieder in Gang, diesmal aber mit der größtmöglichen Achtsamkeit: einen Fuß vor den anderen. So langsam und bewusst wie schon lange nicht mehr ging ich die Straße entlang, bis ich schließlich eine halbe Stunde später mein Nachtquartier erreichte. Stolz hielt ich an der Straßenecke kurz vor Scarletts Wohnung inne und klopfte mir in Gedanken auf die Schultern. Scarlett war nicht wegen Schlafentzug gestorben. Unser Verhältnis war nach wie vor ungetrübt. Obendrein war es mir gelungen, zum ersten Mal in meinem Leben aus der Masse der Gehetzten auszusteigen und bewusst Nein zur Rastlosigkeit zu sagen.
Ein Gefühl von Freiheit durchströmte mich, als ich mich wenig später in die wohlriechende Bettwäsche kuschelte. Ruhig und friedlich schlief ich auf meinem Gästebett in Scarletts Zimmer ein.
Silvester stand vor der Tür und ganz Edinburgh befand sich unübersehbar in den Vorbereitungen für Hogmanay, jenem schottischen Festtag, an dem sich Hunderttausende von Menschen zum Jahreswechsel in der Hauptstadt treffen. Ich freute mich auf das gigantische Feuerwerk vor der spektakulären Kulisse des Edinburgh Castles und setzte große Erwartungen in die legendäre Party, die laut Aussage diverser Veranstalter in keinem anderen Land der Welt mit vergleichbarer Leidenschaft gefeiert wird. Doch statt einem unvergesslichen Silvesterrausch begleitete mich ein zunehmender Schmerz in der Nierengegend beim abendlichen Übergang in das neue Jahr, sodass ich mein Partyvorhaben revidierte und mich für einen kurzen Besuch in der Notaufnahme des nächsten Krankenhauses entschied. Den Rest der Nacht verbrachte ich mit Scarlett und Jesus von Nazareth zu Hause. Während draußen Tausende von Feiernden entlang der Princess Street zu Livemusik tanzten, verfolgten Scarlett und ich die von Mel Gibson verfilmte Verurteilung und Kreuzigung Jesu durch die Römer und seine Auferstehung.
Wenngleich dieses Silvester abrupt eine ganz andere Richtung nahm, als ich es geplant hatte, musste ich mir eingestehen, dass mir die Filmauswahl durchaus sympathisch war. Bereits als Kind hatte die Figur Jesus großes Interesse in mir hervorgerufen, und die Geschichten über ihn hatten den ansonsten eher langweiligen Konfirmandenunterricht für mich lohnenswert gemacht. Später hatte ich den Messias zu meinem Thema der mündlichen Abitur-Prüfung erkoren und mein Wissen über ihn vertieft. Ganz besonders faszinierten mich die Wunder, die ihm zugeschrieben wurden und die Versuche, diese wissenschaftlich zu erklären. Auch während meines Studiums als Grund- und Hauptschullehrerin begleitete mich evangelische Theologie als Grundlagenwahlfach, und ich besuchte mit Vorliebe Vorlesungen zu den Themen „Jesus“ und „Engel“. Was ich bei aller Bewunderung für den weisen Mann aus Nazareth allerdings nie so recht verstanden hatte, war die Bedeutung der Aussage, Jesus wäre „für unsere Sünden“ gestorben und demzufolge wäre das ewige Leben ausschließlich von ihm und seinem ultimativen Opfer abhängig. Ich empfand einen Widerspruch zwischen den Botschaften des Mannes, der aufgrund seiner ausgeprägten Nächstenliebe verständlicherweise eine große Anziehung auf die Menschen der damaligen Zeit ausgeübt hatte, und dem, was die Kirche daraus gemacht hatte. Wie konnte beispielsweise Jesus, und zwar nur er allein, der Sohn Gottes gewesen sein, wenn er, derselbe Mann, auch verkündet haben sollte: „Was ich bin, seid ihr ebenso. Was ich tun kann, könnt ihr ebenfalls tun. Diese Dinge und mehr werdet ihr auch tun.“ Offenbar hatte der Klerus ihm diesen alleinigen Status zugeschrieben. Außerdem sagte man den großen Meistern anderer Religionen doch ähnliche Positionen nach.
Ich war noch tief berührt von den haarsträubenden Ereignissen, die wir über den letzten Abschnitt im Leben Jesu auf Scarletts Fernseher verfolgt hatten, da stoppte Scarlett den Abspann und fragte mich, ob ich Lust hätte, in die nahegelegenen Bruntsfield Links zu laufen, um das Silvesterfeuerwerk zu bestaunen. Ich nickte – froh darüber, dass die verordneten Schmerzmittel bereits Wirkung zeigten – und folgte Scarlett in den Flur, um die Schuhe anzuziehen.
Eine halbe Stunde später fand ich mich inmitten mehrerer Hundert feierfreudiger Menschen wieder, die kurz vor Mitternacht wie Bienen aus ihren Häusern geschwärmt waren und sich nun auf der Rasenfläche im Park südlich des Edinburgh Castles tummelten. Ich griff in die Tasche meines grauen Wintermantels, um die zwei Piccolo hervorzuzaubern, die ich in einem kleinen Lebensmittelladen um die Ecke am Vormittag besorgt hatte. Mit den Worten „Happy New Year!“ hielt ich Scarlett freudestrahlend eine der beiden Fläschchen unter die Nase, überzeugt davon, dass sie heute ebenso eine Ausnahme bezüglich ihrer Grundsätze machen würde wie am ersten Weihnachtsfeiertag bei Amber.
„Nein danke“, lehnte sie meine Einladung lächelnd ab. Kopfschüttelnd fügte sie hinzu: „Trinken in der Öffentlichkeit ist illegal.“
Ich sah mich um und blickte über die größtenteils stark alkoholisierte Menschenmasse, die wie ein bunter Teppich die Rasenfläche überlagerte. Scarletts Antwort erschien mir vor diesem Hintergrund und in Anbetracht der unzähligen Bierflaschen und Plastikbecher, die rundherum auf dem Rasen verstreut lagen, wenig plausibel. Nach einem kurzen Gefühl der Enttäuschung darüber, dass meine Überraschung nicht wirklich gelungen war und ich keine andere Wahl hatte, als mir selbst zuzuprosten, entschied ich mich, Scarletts Entscheidung zu akzeptieren und hieß das neue Jahr willkommen – in der Hoffnung, dass dieses weniger schmerzhaft und turbulent für mich ausfallen würde als die zurückliegenden zwölf Monate.
Am Neujahrstag saß ich zusammen mit etwa vier Dutzend silvestergeschädigten Touristen in einem Reisebus und war auf dem Weg in die Highlands. Ich ließ meinen Blick über die Menschen schweifen, die größtenteils schliefen oder mit offenen Augen vor sich hin dösten. Manche machten regen Gebrauch von den an den Sitzen im Mittelgang befestigten weißen Müllbeuteln, um ihren Mageninhalt darin zu entleeren. In Anbetracht des Bildes, das sich mir bot, erschien mir der unerwartet atypisch verlaufene Silvesterabend, den ich und Scarlett der Passion Christi gewidmet hatte, in einem völlig anderen Licht. Ich war dankbar, dass es mir körperlich besser und auch seelisch recht gut ging, und freute mich auf meine nächste und letzte Couchsurf-Begegnung: Milena.
Die großgewachsene junge Polin mit rotem Kurzhaarschnitt und hellem Teint empfing mich am Busbahnhof der Hauptstadt des schottischen Verwaltungsbezirks Highland mit quirligem Geplapper und Regenschirm. Zu Fuß liefen wir durch das verregnete Inverness und überquerten den Ness über eine kleine bunt beleuchtete Fußgängerbrücke, um zu ihrem mehrstöckigen Zuhause am anderen Ufer zu gelangen. Zusammen mit vier weiteren WG-Mitgliedern bewohnte Milena ein gemütliches Steinhaus direkt am Fluss, der von dort zu seiner Mündung in den Moray Firth fließt. Ein Wall aus Sandsäcken zierte das Ufer und versuchte die Anwohner vor dem Hochwasser zu schützen, das das Resultat starker Regenfälle an den vergangenen Tage war. Milena führte mich in ihr Zimmer im zweiten Stock, welches sie für mich hergerichtet hatte. Sie selbst würde bei ihrem Freund übernachten, der nur ein paar Häuser weiter in derselben Straße wohnte, wie sie mir erklärte. Das Zimmer war sauber und aufgeräumt und besaß sogar einen Kamin, der aber scheinbar schon längere Zeit nicht mehr benutzt worden war.
„Ich dachte, wir könnten heute Abend Pizza bestellen“, schlug Milena vor. „Ich warte unten in der Küche auf dich. Dann kannst du erstmal ankommen und dich frisch machen.“ Dann verließ sie das Zimmer.
Später saßen wir mit einem Teil der übrigen Mitbewohner um die dampfenden Pappschachteln versammelt und unterhielten uns über unsere waghalsigsten Reiseabenteuer. Einer der jungen Männer hatte sogar schon die Pyrenäen auf dem Mountainbike erkundet. Ich lauschte vergnügt den Stories der anderen, hielt mich selbst aber zurück, glücklich, einfach nur Publikum sein zu dürfen. Nach dem Essen folgte ich Milena in den Flur, wo sie für uns beide je einen ziemlich großen Regenschirm hervorkramte. Wir hatten uns darauf verständigt, einen kleinen Verdauungsspaziergang zu machen. Mit etwas zu viel Pizza im Bauch liefen wir bei strömendem Regen über die romantischen Ness Inseln, die wir über eine Hängebrücke erreichten. Geduldig lauschte meine Gastgeberin meiner gerafften, wohl nicht ganz alltäglichen biografischen Erzählung und blieb auch dann noch aufmerksam, als ich zu den Erkenntnissen überging, die ich bis zu diesem Zeitpunkt daraus gewonnen hatte. Ihr Schweigen deutete ich gelegentlich auch als Zeichen, dass sie mir nur begrenzt folgen beziehungsweise zustimmen konnte, daher hielt ich es für angebracht, immer wieder das Thema zu wechseln und mich auf Bereiche zu konzentrieren, die vermutlich mehr ihrem Erfahrungshorizont entsprachen. Als wir uns schließlich wieder Milenas Haus näherten, erklärte sie mir, es gäbe um die Ecke einen Supermarkt, falls ich mir am nächsten Morgen etwas zum Frühstück holen mochte. Dann verabschiedete sich von mir, um sich auf den Weg zu ihrem Freund zu machen.
Als ich über die Außentreppe zum Eingang hinaufstieg, staunte ich wieder einmal mehr über die Vielseitigkeit all der Couchsurferfahrungen, die ich in so kurzer Zeit hatte sammeln dürfen, und auch darüber, welches Bedeutungsspektrum sich hinter dem Wort „Gastfreundschaft“ verbarg. Und wenngleich ich zugegebenermaßen gerne mit einem gemeinsamen Frühstück in den nächsten Tag hätte starten wollen, sollte meine Enttäuschung nur vorrübergehend anhalten, denn zwölf Stunden später erwiesen sich Milena und ihr Partner als meine perfekten Reiseführer …
Selten zuvor hatte mich eine Landschaft derart in Entzücken versetzt wie die von kleinen Bächen und Tümpeln durchzogenen Heidelbeerwälder, die wir auf dem ausgeschilderten Fußweg zum Fyrish Monument, acht Kilometer westlich von Alness, durchquerten. Nach dem einstündigen Anstieg erwartete uns nicht nur ein beeindruckender Blick auf das Denkmal, sondern auch eine atemberaubende Rundumschau und eine fabelhafte Aussicht auf die Cromarty Firth. Diese fesselte mich noch mehr als die Geschichte des hochrangigen Soldaten Sir Hector Munro, der in Indien gedient und das Denkmal 1783 aufgestellt hatte, welches nun an die Einnahme des indischen Nagapattinam erinnern sollte.
Nach vergeblichen Versuchen, das Monster Nessie bei einem nächsten Halt an der Burgruine Urquhart Castle und einem weiteren Abstecher in den beschaulichen Ort Drumnadrochit am Westufer des Loch Ness zu sichten, blieb bezüglich meiner Reise in das nördlichste Land Großbritanniens nur noch ein Wunsch offen: die Verkostung eines edlen schottischen Whiskys. Dafür wollten Milena und ihr Lebensgefährte im Verlauf unseres Abendprogramms sorgen.
Einige Stunden später, nach einer warmen Dusche, saß ich am Tisch eines Restaurants und betrachtete hungrig den dampfenden Kloß namens Haggis, der in einer cremigen, köstlich riechenden Whiskysoße vor mir auf dem Teller lag. Die Neugier auf das traditionelle Nationalgericht ließ mich an diesem Abend sogar von meiner ansonsten überwiegend vegetarischen und nahezu veganen Ernährungsweise Abstand nehmen, und ich konnte nicht leugnen, dass ich Milenas Essensempfehlung bis zum letzten Bissen genoss – sogar so sehr, dass ich mir nach einem kurzen Blick in meinen Geldbeutel eine zweite Portion bestellte. Meine Bargeldvorräte gingen zwar allmählich zur Neige, aber sie würden allenfalls noch ausreichen, um an diesem Abend die Rechnung für uns zu bezahlen.
Obwohl ich überraschenderweise von meinen Gastgebern zum Essen eingeladen wurde, bat ich Milena vorsorglich auf dem Weg in die nächste Bar, bei einer Bank Halt zu machen. Während die junge Frau mir den Schirm hielt, stand ich gut gelaunt vor dem Geldautomaten und steckte meine EC-Karte in den Schlitz. Ich realisierte nur in Zeitlupe das kurze ratschende Geräusch, dann riss ich erschrocken die Augen auf. Zu meinem Entsetzen kam weder Geld zum Vorschein, noch spuckte das Gerät meine Karte wieder aus. Stattdessen las ich auf dem Display, die Karte würde einbehalten. In diesem Moment fiel mir ein, dass meine Giro-Karte abgelaufen war und die neue vermutlich bereits in meinem Briefkasten in über 1500 Kilometern Entfernung auf ihre Freischaltung wartete. Nervös zückte ich meine Kreditkarte und versuchte mich an meinen PIN-Code zu erinnern, den ich so gut wie noch nie benutzt hatte, da bei Einkäufen im Geschäft meist die Unterschrift genügte. Nach zwei Fehlversuchen brach ich die Transaktion vorsorglich ab und blickte bekümmert zu Milena.
„Ich kann dir aushelfen“, bot sie ohne zu zögern an.
„Vielleicht kann ich meine Mutter kontaktieren und sie bitten, sich in meinem Büro auf die Suche nach der PIN zu machen …?“, überlegte ich laut, wenngleich mir diese Idee ein wenig umständlich vorkam und zudem sofort peinlich war – ein gefundenes Fressen, mir Vorhaltungen zu machen, wie leichtsinnig und wenig vorausschauend ich wieder einmal verreist wäre.
„Denk darüber nach, Annie.“ Milena zuckte mit den Schultern.
Für heute Abend reichte mein Bargeld vielleicht noch. Aber ich hatte noch zwei Tage zu überbrücken bis zur Heimreise. Es war mir unangenehm, Milenas Angebot anzunehmen, aber nicht ganz so unangenehm, wie meine Mutter um Hilfe bitten zu müssen. Also fragte ich nach ihrer Bankverbindung, damit ich ihr das geliehene Geld zurücküberweisen könnte.
„Du machst wohl Witze”, lachte Milena und hielt mir einen Schein entgegen. „Nimm, es ist okay.”
„Na gut, für alle Fälle.“ Dankbar und berührt von der Hilfsbereitschaft der Frau, die ich erst einen Tag kannte, griff ich nach den zwanzig Pfund und freute mich nach dem unerwarteten Missgeschick nun noch mehr auf den angekündigten Whisky im nächsten Pub, der noch auf dem Programm stand.
Nach einem geselligen Abend unter Schotten war es am nächsten Tag Zeit, nach Edinburgh zurückzukehren. Dort würde ich noch einmal eine letzte Nacht bei Scarlett verbringen und anschließend meinen Heimflug nach Deutschland antreten. Auf dem Weg von Inverness nach Edinburgh – diesmal teilte ich den Bus mit wesentlich ausgeschlafeneren Insassen – fasste ich den Entschluss, die letzten vierundzwanzig Stunden meiner Reise so sparsam wie möglich zu leben. Zugegebenermaßen fiel es mir immer noch schwer, Milenas finanzielle Hilfe anzunehmen, und ich fragte mich, ob es mir gelingen könnte, meine letzten Pence so einzuteilen, dass ich ihr die zwanzig Pfund vor meinem Abflug noch mit der Post zurückschicken könnte.
Um mir die Zeit während der dreieinhalbstündigen Fahrt zu vertreiben, nahm ich meinen Reader aus dem Rucksack und widmete mich meiner gegenwärtigen Lektüre über ein Leben in Liebe. Als ich das Buch zu Ende gelesen hatte, überflog ich die Literaturhinweise im Anschluss an die Informationen über den Autor und hielt bei einem Namen plötzlich inne: Walsch, Neale Donald. Ach nein! War das nicht der Autor, den mir Luigi so ans Herz gelegt hatte? Ich suchte nach der Notiz in meinem Handy. Bingo! Die Gespräche mit Gott schienen also auch den Autor meines Buches nachhaltig beeinflusst zu haben, zumindest führte er Mister Walsch gleich fünfmal hintereinander auf. Kein Wunder, dass Luigis Weltanschauung und die gelesenen Inhalte in dieselbe Richtung gingen. Das erklärte nun auch die auffallende Übereinstimmung in unseren Intensiv-Gesprächen.
In Vorfreude auf die neue Lektüre stieg ich am Busbahnhof in Edinburgh aus und kaufte mir auf dem Weg zu Scarletts Appartement ein trockenes Weißmehlbrötchen und eine Banane. Mit diesem kostengünstigen Frühstück und ein bisschen weiterer Verpflegungsunterstützung von Seiten Scarlett würde mein Geld auch ohne Milenas Spende noch ziemlich genau für den Bustransfer zum Flughafen reichen …
Mein Plan ging auf: Als vorbildliche Gastgeberin sorgte Scarlett auch am letzten Tag für mein leibliches Wohl. Mit den letzten Pence in meinem Geldbeutel kaufte ich am nächsten Morgen am Flughafen eine Briefmarke, die ich auf einen an Milena adressierten Umschlag klebte, und schickte die zwanzig Pfund Sterling zusammen mit einem Dankesschreiben nach Inverness.
Ein Gefühl unendlicher Fülle und Dankbarkeit durchströmte mich, als ich dem Boardingaufruf folgte und in den Flieger stieg. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich dem Ruf meiner Seele bewusst gefolgt. Ich hatte mir mit meiner Reise nach Schottland einen lang gehegten Herzenswunsch erfüllt. Die interkulturellen Erfahrungen der vergangenen zwei Wochen hatten mein Leben auf vielfältige Art und Weise bereichert und damit jeden Hotelurlaub, den ich bis dahin erlebt hatte, bei Weitem übertroffen. Ohne Vorbehalte und voller Offenheit war ich mutiger denn je dem Unbekannten begegnet und hatte im Gegenzug Gastfreundschaft, Inspiration und Hilfe erfahren. Dadurch waren mir neue wertvolle Erfahrungen ermöglicht worden, die meinen Horizont erweitert hatten.
Als wir durch die Wolkendecke flogen und über mir die Bläue des Himmels erstrahlte, beschlich mich das Gefühl, dass meine Reise nach Schottland den Beginn einer folgenschweren Reise zu mir selbst markieren könnte, auf der sich mir ein Leben voller Freude, Frieden, Freiheit und Erfüllung enthüllen würde, und dieses Leben wartete womöglich nur darauf, von mir entdeckt zu werden.