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IRRSEIN IST MENSCHLICH

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Etwas nervös blickte ich in die Runde der Mitpatienten, die sich in einem Stuhlkreis im Dachgeschoss der Klinik für Allgemeine Psychiatrie versammelt hatten, und faltete das Blatt Papier mit der kleinen Geschichte über das Loslassen auseinander. Ich hatte mich mit dem Text auf die Sitzung vorbereitet, weil die Psychologin, welche die zweimal wöchentlich stattfindende Achtsamkeitsgruppe leitete, mich diesmal damit beauftragt hatte, kurzfristig für sie einzuspringen. Vermutlich wollte sie mich durch das Übertragen von etwas Verantwortung allmählich wieder auf den Einstieg ins Berufsleben vorbereiten – nach acht Wochen Aufenthalt.

Nach einigem Räuspern begann ich zu lesen:

Zwei Mönche befanden sich auf dem Weg zurück zu ihrem Kloster. Unterwegs kamen sie an einen Fluss, an dessen Ufer eine wunderschöne Frau in einem edlen seidenen Gewand saß. Es war offensichtlich, dass sie den Fluss nicht zu überqueren vermochte, ohne mitsamt ihrer Kleidung nass zu werden. Ohne lange zu überlegen ging der ältere der beiden Mönche zu ihr, hob sie auf ihre Schultern und watete mir ihr durchs Wasser. Am anderen Ufer angekommen setzte er die Frau behutsam ab. Unversehrt und trocken bedankte sich die Frau für die erhaltene Hilfe und ging ihres Weges. Nachdem sich die Frau verabschiedet hatte, setzten auch die beiden Männer ihren Weg fort. Schweigend liefen sie eine Weile nebeneinander her. Dann wandte sich der jüngere der beiden, den die Gedanken an die zurückliegende Hilfeleistung offenbar immer noch quälten, an seinen hilfsbereiten Bruder: „Warum hast du das getan? Du weißt doch, dass uns der Körperkontakt zu Frauen streng untersagt ist!“

Verwundert schaute der ältere Mönch seinen besorgten Bruder an und antworte ruhig: „ICH habe die Frau bereits vor Stunden am Ufer abgesetzt. DU scheinst sie hingegen immer noch zu tragen.

Nachdem ich meinen Vortrag beendet hatte und meine Stimme verhallt war, breitete sich Schweigen unter den altersgemischten Patienten aus, von denen die meisten unter sogenannten „monopolaren“ oder „bipolaren affektiven Störungen“ litten. Geduldig wartete ich auf einen Meinungsaustausch zum Inhalt der vorgelesenen Geschichte. Dabei fragte ich mich, wann es mir selbst gelingen würde, meine sorgenvollen Gedanken über die Vergangenheit und Zukunft abzustreifen und meine Aufmerksamkeit wieder darauf zu richten, was im Hier und Jetzt geschah. Von morgens bis abends war ich damit beschäftigt, mir den Kopf zu zermartern, was einer glücklichen Beziehung mit Philippe im Wege lag, warum es überhaupt so weit gekommen war und wie die Chancen für eine gemeinsame Zukunft ständen, wenn ich erst einmal herausgefunden hätte, was mich so quälte.

Die Klinik für Allgemeine Psychiatrie war in den vergangenen zwei Monaten zu meinem vorübergehenden Zuhause geworden. Meine Trauzeugin, in deren Wohnung ich nach der Trennung von Philippe kurzfristig untergekommen war, hatte sich nicht mehr anders zu helfen gewusst, als in der Notaufnahme des Universitätsklinikums anzurufen, nachdem ich abermals ihren Küchentisch mit Tränen überflutet und weder ein noch aus gewusst hatte. Es hatte sich zwar bald herausgestellt, dass ich mit den Fragen, auf die ich verzweifelt eine Antwort suchte, am falschen Ort gelandet und das therapeutische Programm des psychiatrischen Zentrums nicht wirklich auf meine Bedürfnisse zugeschnitten war. Dennoch hatte mir die Klinik im Sinne einer Krisenintervention einen sicheren Rahmen gewährt, in dem ich nach dem inneren und äußeren Erdbeben ein wenig Halt gefunden hatte.

„Sie haben keine Depression, Frau Frank. Sie haben nur eine Krise“, hatte mir die Oberärztin im Beisein des aus Psychologen, Therapeuten und Sozialarbeitern bestehenden Stationsteams während einer Wochenvisite erklärt. Diese Kategorisierung half mir in Anbetracht der inneren Leere und immensen Orientierungslosigkeit, die ich empfand, herzlich wenig, und ich fragte mich, ob die gescheite Schulmedizinerin auch noch einen Vorschlag parat hätte, welche Maßnahmen mir denn im Falle einer solch harmlosen Krise Linderung verschaffen könnten. Ich fühlte mich unverstanden, überfordert und auch fehl am Platz, obwohl sich diese Klinik immerhin einem „ganzheitlichen Krankheitskonzept“ verpflichtet sah, nur leider bei mir nicht. Ich wünschte mir einen Ort, an dem man meiner Situation mit Verständnis begegnete und der Ursache für meinen inneren Schmerz auch ganzheitlich auf den Grund ging. Da mich das Ärzteteam offensichtlich auch nicht darin unterstützen wollte, einen Antrag auf Aufnahme in einer psychosomatischen Klinik zu stellen, blieb mir nichts anderes übrig, als meiner sogenannten „Nähe-Distanz-Problematik“ innerhalb der hiesigen Therapieangebote zu begegnen.

Gemäß der Empfehlung der ärztlichen Direktorin, dass nicht jedes Gefühl gleich in eine Entscheidung münden müsste, sondern erst einmal wahrgenommen und betrachtet werden könnte, versuchte ich, so gut es mir möglich war, mich von dem Druck zu befreien, in Bezug auf Philippe zu einem Entschluss zu kommen, und konzentrierte mich auf meine berufliche Wiedereingliederung, meine Wohnungssuche und auf die Themen, die mich innerhalb meiner Herkunftsfamilie beschäftigten. Mit Hilfe einer Sozialarbeiterin plante ich sukzessive meinen beruflichen Wiedereinstieg und erarbeitete ein passendes Modell für meine Rekonvaleszenz, welche mir erlauben sollte, mich später schrittweise meinem ursprünglichen Deputat wieder anzunähern. In den Pausen zwischen den Therapieangeboten durchstöberte ich am internetfähigen Stationscomputer Wohnungsinserate und vereinbarte erste Besichtigungstermine für meine therapiefreien Wochenenden.

Nach nur drei Besichtigungen in der näheren Umgebung hatte ich eine 2,5-Zimmer-Wohnung gefunden, die mir mit einer weitläufigen Terrasse, stimmungsvollen Dachschrägen und einem gemütlichen Kamin im Wohnzimmer ein Gefühl von Geborgenheit vermittelte. Dass sie gerade mal etwa fünfhundert Meter Luftlinie von unserer neuen Doppelhaushälfte entfernt lag, beruhigte mich vor allem vor dem Hintergrund meiner aktuellen Angst vor dem Alleinsein. Mir war wohler bei dem Gedanken, meine eigenen vier Wände zu beziehen und gleichzeitig zu wissen, dass Philippe auch in räumlicher Hinsicht nicht weit entfernt war.

In den darauffolgenden Herbstferien, nach meiner Entlassung, bewältigte ich zusammen mit ein paar hilfsbereiten Familienmitgliedern, Freunden und Mitpatienten meinen Umzug. Philippe hatte mir zu diesem Zweck das Feld geräumt, um nicht mitansehen zu müssen, wie jene Möbelstücke, die ich erst vor gut einem Jahr in unser neu erbautes Zuhause hineingetragen hatte, samt seiner Ex-Verlobten ihn verließen. Als alles geschafft war und ich mich erschöpft zum ersten Mal in meinem neuen, noch spärlich eingerichteten Schlafzimmer in meine Bettdecke kuschelte, wurde mir bewusst, dass ich noch nie zuvor alleine gewohnt hatte. Während des Studiums war ich unmittelbar aus meinem elterlichen Zuhause aus- und mit meinem damaligen Freund zusammengezogen. Nach der Trennung hatte ich aus finanziellen Gründen einen BA-Studenten als WG-Partner in meine Wohnung aufgenommen und kurze Zeit später Philippe kennengelernt, der mich bald überredete, zu ihm zu ziehen, bis unser Haus bezugsbereit wäre. Allerdings hatte ich auch noch nie zuvor auf die Zustimmung und Anerkennung meiner Familie, Freunde und Partner verzichtet und die Freiheit genossen, die nur das Alleinsein hätte mit sich bringen können. In der Hoffnung, die Isolierung des Hauses wäre ausreichend gedämmt, um meine Klagelaute nicht bis zu den benachbarten Mietern neben und unter mir durchdringen zu lassen, weinte ich mich in den Schlaf – einsam, ängstlich und ohne die geringste Ahnung, wie ich meinen Weg durch die Dunkelheit ohne Weggefährten finden sollte.

Vom Angsthasen zum Liebesküken

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