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Die Missbrauchstragödie

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Missbrauch in Beziehungen betrifft eine unvorstellbar hohe Zahl von Frauen. Selbst wenn wir Fälle von rein verbaler und psychischer Misshandlung beiseitelassen und nur die körperliche Gewalt betrachten, sind die Statistiken schockierend: Laut dem Bundeskriminalamt (BKA) wird jede Stunde eine Frau Opfer einer Körperverletzung durch ihren Partner. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend berichtet, dass jede dritte Frau irgendwann in ihrem Leben Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt durch ihren aktuellen oder früheren Partner wird. Die emotionalen Auswirkungen von Gewalt durch den Partner sind ein wesentlicher Faktor bei Selbstmordversuchen und eine der Hauptursachen für Alkohol- und Drogenmissbrauch bei erwachsenen Frauen. Kriminalstatistiken zeigen, dass fast jeden dritten Tag eine Frau in Deutschland von ihrem Partner oder Ex-Partner ermordet wird und dass diese Morde fast immer eine Vorgeschichte von Gewalt, Drohungen oder Stalking haben.

Die Misshandlungen von Frauen sind schockierende Erlebnisse im Leben von Kindern. Millionen von Kindern werden jedes Jahr Zeuge eines Angriffs auf ihre Mütter – eine Erfahrung, die traumatisierend wirken kann. Kinder, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, zeigen öfter auffälliges Verhalten in der Schule, haben Aufmerksamkeitsprobleme, sind aggressiv, leiden unter Depressionen und flüchten sich in Drogenmissbrauch als Ausdruck ihrer kindlichen Not. Gewalt gegen Frauen ist Studien zufolge die Ursache für etwa ein Viertel der Scheidungen von Paaren mit Kindern und führt in ca. der Hälfte der Fälle dazu, dass das Sorgerecht angefochten wird.

So alarmierend dieses Bild auch ist, wir wissen auch, dass körperliche Übergriffe nur ein Aspekt der Misshandlungen sind, denen Frauen ausgesetzt sein können. Es gibt Millionen weitere Frauen, die nie geschlagen wurden, die aber mit wiederholten verbalen Übergriffen, Demütigungen, sexuellem Zwang und anderen Formen des psychischen Missbrauchs leben, oft begleitet von wirtschaftlicher Ausbeutung. Die Narben von erlittenen seelischen Grausamkeiten können so tief und lang vorhanden sein wie Wunden von Schlägen oder Ohrfeigen, sie sind aber oft nicht so offensichtlich. Tatsächlich berichten mehr als die Hälfte der Frauen, die körperliche Gewalt durch einen Partner erlebt haben, dass die emotionale Misshandlung durch den Mann ihnen den größten Schaden zufügt.

Die Unterschiede zwischen dem verbal misshandelnden Mann und dem körperlichen Angreifer sind nicht so groß, wie viele Menschen glauben. Das Verhalten beider Täterarten hat die gleichen Wurzeln und wird von den gleichen Gedanken getrieben. Männer beider Kategorien folgen ähnlichen Veränderungsprozessen beim Überwinden ihres missbräuchlichen Verhaltens – falls sie sich ändern, was leider nicht der Normalfall ist. Außerdem gibt es nicht immer eindeutige Kategorien. Körperlich angreifende Männer beleidigen ihre Partnerinnen auch verbal. Psychisch grausame und manipulative Männer neigen dazu, nach und nach auch körperliche Einschüchterung einzusetzen. In diesem Buch werden Sie Täter in einem Spektrum antreffen, das von denen, die nie Gewalt anwenden, bis zu denen, die wahrlich Furcht einflößend sind, reicht. Das Ausmaß ihrer Gemeinsamkeiten wird Sie vielleicht erschrecken.

Eine der Schwierigkeiten, chronische Misshandlungen in Beziehungen zu erkennen, ist, dass die meisten misshandelnden Männer einfach nicht wie Missbrauchstäter wirken. Sie haben viele gute Eigenschaften, auch Phasen, in denen sie freundlich, herzlich und humorvoll sind, vor allem in der ersten Zeit einer Beziehung. Die Freunde eines Täters mögen große Stücke auf ihn halten. Er ist vielleicht erfolgreich im Beruf und hat keine Probleme mit Drogen oder Alkohol. Er mag einfach nicht in das Bild eines grausamen oder einschüchternden Mannes passen. Wenn eine Frau also das Gefühl hat, dass ihre Beziehung außer Kontrolle gerät, ist es unwahrscheinlich, dass sie ihren Partner als Misshandelnden wahrnimmt.

Die Symptome der Misshandlung sind da, und die Frau sieht sie in der Regel: eine eskalierende Häufigkeit von Herabsetzungen. Die frühere Großzügigkeit wandelt sich mehr und mehr zu Egoismus. Verbale Ausbrüche, wenn er gereizt ist oder wenn er sich nicht durchsetzen kann. Ihre Beschwerden werden ständig gegen sie selbst gerichtet, als wäre alles ihre eigene Schuld. Seine Einstellung wächst, dass er besser als sie weiß, was gut für sie ist. Und es entsteht in vielen Beziehungen ein wachsendes Gefühl der Angst oder Einschüchterung. Aber die Frau sieht auch, dass ihr Partner ein Mensch ist, der manchmal fürsorglich und liebevoll sein kann, und sie liebt ihn. Sie möchte herausfinden, warum er sich so aufregt, damit sie ihm helfen kann, den ständigen Wechsel von Höhen und Tiefen zu durchbrechen. Sie wird in die Komplexität seiner inneren Welt hineingezogen und versucht, Hinweise aufzudecken, indem sie einzelne Aspekte hin und her bewegt und versucht, ein kompliziertes Puzzle zu lösen.

Besonders verwirrend sind die Stimmungsschwankungen des Täters. Er kann von Tag zu Tag oder sogar von Stunde zu Stunde eine völlig andere Person sein. Manchmal ist er aggressiv und einschüchternd, sein Ton ist hart, seine Worte sind äußerst demütigend und beleidigend, sein beißender Spott und Zynismus ohne Grenzen. Wenn er sich in diesem Modus befindet, scheint nichts, was sie sagt, eine Wirkung auf ihn zu haben, außer dass es ihn noch wütender macht. Ihre Perspektive zählt in seinen Augen nichts, und alles ist ihre Schuld. Er verdreht ihre Worte, sodass sie immer in die Defensive gerät. So viele Partnerinnen meiner Klienten haben mir gegenüber beklagt: „Ich kann einfach nichts richtig machen.“

In anderen Momenten klingt er verwundet und verloren, sehnt sich nach Liebe und nach jemandem, der sich um ihn kümmert. Wenn diese Seite von ihm auftaucht, wirkt er offen und bereit zur Heilung. Seine Wachsamkeit scheint nachzulassen, sein hartes Äußeres wird weicher und er kann die Eigenschaft eines verletzten Kindes annehmen, schwierig und frustrierend, aber liebenswert. Wenn seine Partnerin ihn in diesem entmutigten Zustand erlebt, fällt es ihr schwer, sich vorzustellen, dass er sie jemals wieder misshandeln wird. Die Bestie, die ihn zu anderen Zeiten beherrscht hat, scheint nichts mit der empfindlichen Person zu tun zu haben, die sie jetzt erlebt.

Früher oder später aber legt sich der Schatten wieder über ihn, als hätte dieser ein Eigenleben. Wochen des friedlichen Miteinanders mögen vergehen, aber schließlich findet sie sich wieder unter Beschuss, und sie beginnt sich zu fragen, ob sie vielleicht diejenige ist, die nicht ganz richtig im Kopf ist.

Erschwerend kommt hinzu, dass jeder, mit dem sie spricht, eine andere Meinung über die Art seines Problems hat und darüber, was sie dagegen tun sollte. Ihr Seelsorger rät ihr vielleicht: „Liebe heilt alle Schwierigkeiten. Schenke ihm dein Herz ganz und gar und er wird den Geist Gottes finden.“ Ihr Therapeut spricht eine andere Sprache und sagt: „Er löst in Ihnen starke Reaktionen aus, weil er Sie an Ihren Vater erinnert, und Sie lösen in ihm wegen seiner Beziehung zu seiner Mutter Dinge aus. Jeder von Ihnen muss daran arbeiten, nicht die Trigger-Punkte des anderen zu drücken.“ Ein genesender alkoholkranker Freund äußert: „Er ist ein Wut-Junkie. Er kontrolliert dich, weil er vor seinen eigenen Ängsten Angst hat. Du musst ihn dazu bringen, dass er an einem Zwölf-Schritte-Programm teilnimmt.“ Ihr Bruder sagt vielleicht: „Er ist ein guter Kerl. Ich weiß, dass er manchmal die Beherrschung dir gegenüber verliert – er ist wirklich schnell reizbar –, aber mit deinem Mundwerk ist es auch nicht immer leicht. Ihr beide müsst das zum Wohle der Kinder in Ordnung bringen.“ Und dann, als Krönung ihrer Verwirrung, hört sie vielleicht von ihrer Mutter oder dem Lehrer ihres Kindes oder von ihrer besten Freundin: „Er ist gemein und verrückt, und er wird sich nie ändern. Er will dich nur verletzen. Verlasse ihn jetzt, bevor er etwas noch Schlimmeres tut.“

All diese Menschen versuchen zu helfen, und sie alle reden über denselben Täter. Aber er sieht aus jedem Blickwinkel anders aus.

Die Frau weiß aus dem Zusammenleben mit dem misshandelnden Mann, dass es keine einfachen Antworten gibt. Freunde sagen: „Er ist gemein.“ Aber sie kennt viele Situationen, in denen er gut zu ihr ist. Freunde sagen: „Er behandelt dich so, weil er damit durchkommt. Ich würde nie zulassen, dass mich jemand so behandelt.“ Aber sie weiß, je stärker sie mit der Faust auf den Tisch haut, desto zorniger und einschüchternder reagiert er. Wenn sie sich gegen ihn wehrt, lässt er sie dafür bezahlen – früher oder später. Freunde sagen: „Verlasse ihn.“ Aber sie weiß, dass es nicht so einfach sein wird. Er wird versprechen, sich zu ändern. Er wird Freunde und Familienmitglieder dazu bringen, Mitleid mit ihm zu haben und sie unter Druck zu setzen, ihm eine zweite Chance zu geben. Er wird schwer depressiv werden, sodass sie sich Sorgen machen wird, ob es ihm gut geht. Und je nachdem, was für ein Missbrauchstäter er ist, wird sie wissen, dass er gefährlich wird, wenn sie versucht, ihn zu verlassen. Vielleicht befürchtet sie sogar, dass er versuchen wird, ihr ihre Kinder wegzunehmen, wie es einige Täter tun.

Wie soll sich eine misshandelte Frau bei diesem Durcheinander ein vernünftiges Bild machen? Wie kann sie genug Einblick in die Ursachen seines Problems gewinnen, um zu wissen, welchen Weg sie wählen soll? Die Fragen, vor denen sie steht, sind dringende Fragen.

Warum tut er das?

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