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3. Honecker, Hrubesch, Hölderlin

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Giovannis Laden war gut gefüllt. Etwa die Hälfte der Leute kannte ich bereits aus meiner Wohnung oder vom letzten Abend. Der Freak war auch wieder da. Er malte exakt das gleiche Bild wie gestern. Mir wurde schwindelig. Das passierte mir immer, wenn Menschen ständig das Gleiche taten und sich nichts veränderte. Ich hoffte, dass er mich nicht bemerken würde. Giovanni führte uns in den Nebenraum, in dem bereits zwei Pärchen saßen. Insgesamt gab es dort sechs Tische, die Fenster gingen hinaus auf einen gemütlichen Innenhof. Helen und ich nahmen an einem Fenstertisch Platz. Giovanni zündete uns eine Kerze an und trug mündlich die Speisekarte vor.

Wir wählten beide Rigatoni mit Steinpilzen, wobei ich es vorzog, heute fürs Erste auf weitere Alkoholika zu verzichten. Also bestellte ich mir eine Cola; Helen trank ein Glas Wein. Das Kerzenlicht betonte ihre hübschen Wangen, und ihre großen blauen Augen lachten bei jedem Wort. Helens Haare waren immer noch gelockt, aber nicht mehr so lang wie früher. Sie war knapp ein Jahr jünger als ich, 33. Schon im Alter von 15 Jahren war sie nach Berlin gezogen, weil ihr Vater damals einen Job als Chefarzt in einer Klinik angenommen hatte. Helen gehörte zu den Menschen, die relativ viel redeten, aber auch sehr gut zuhören konnten. Dies begründete auch ihren beruflichen Erfolg, falls man eine Karriere bei Freakshows im privaten Internetfernsehen als Erfolg werten wollte. Mir war das egal. Wenn sich die Leute so was ansahen, konnten sie nicht gleichzeitig auf der Straße andere Menschen verprügeln. So gesehen war dieser Auftrag gar nicht so unwichtig und sozusagen präventiv.

»Hast du nicht manchmal Angst in deinem Job?«, fragte ich sie.

Sie lachte. »Nicht mehr als vor dir jetzt. Du siehst ziemlich verwirrt aus, und kennen tu ich dich auch nicht mehr so wirklich.«

Ich grinste zurück und fuhr mir ordnend durch die halbnassen Haare.

»Sag, was machst du jetzt hier in Berlin, außer Privatpartys veranstalten?«

Ich erzählte ihr die Love Land-Geschichte. Helen fand das Ganze etwas merkwürdig.

»Was machst du denn da genau?«, fragte sie.

Beschämt musste ich gestehen, dass ich noch gar nicht so richtig wusste, was ich zu tun hatte. Ich beschloss, mir baldmöglichst die Love Land-Unterlagen zu Gemüte zu führen.

»Wollen wir später noch woanders hingehen?«, fragte ich.

»Würde ich gerne, ich hab aber morgen zwei heftige Sendungen und muss ja auch noch zurück nach Potsdam. Ein andermal, ja?«

»Ein andermal« hieß bei den meisten Frauen: Typ, schwirr ab, reicht, dass ich den einen langweiligen Abend mit dir verbringen musste. Auf der anderen Seite hieß: »Ich muss noch zurück« in Verbindung mit der Bestellung eines weiteren alkoholischen Getränkes: Ich will bei dir bleiben heute Nacht, in deinen männlichen, kräftigen Armen. Analyse Love Land-Agent Ullmann.

»Wie kommst du denn nach Hause?«, fragte ich nach diesen Gedanken fast etwas spöttisch.

»Och du, nach 22 Uhr krieg ich ’n Taxi bezahlt. Ich geb’ dich als potentiellen Gast an. Hihi.«

»Ah so …«, sagte ich gedehnt und musste über mich selbst lachen. Helen war eine wirklich nette Person. Ein guter Freund. Wie konnte ich da ein harmloses Gespräch auf sexuelle Botschaften abklopfen? Wir plauderten noch einige Getränkelängen und hatten viel Spaß. Dabei kramten wir alte Geschichten aus der Schule hervor, und sie erzählte mir von ihren Jahren in Berlin, den Problemen mit ihrem Ex-Mann, den eine Kollegin – ohne zu wissen, wer er war – in die Sendung geschleppt hatte. Thema: »Warum hast du mich verlassen?« Er hatte ihr vor der Sendung schon eine riesige Szene gemacht und dann eine peinliche Ansprache vor Publikum gehalten. Helen war zwei Wochen krank, konnte die Blicke der Kollegen nicht ertragen. Ihr Privatleben in der eigenen Sendung: Das war zu viel. Da hatte sie eigentlich alles hinschmeißen wollen. Aber sie machte weiter. Reichte die Scheidung ein und zog von Zehlendorf nach Potsdam. Sie begann, ehrenamtlich für eine Hilfsorganisation zu arbeiten, die sich um rumänische Straßenkinder kümmerte. Sozusagen als Ausgleich für das geringe karitative Potential des Privatfernsehens. Ein neuer Mann fehlte seitdem in ihrem Leben. Allein sei sie stärker, sagte sie. Keiner, den sie mitziehen oder aus dem Dreck holen müsse. Typen nervten sie nur. Weil sie alles wüssten und könnten. Und das auch noch selbst glaubten.

»Du bist anders«, sagte sie plötzlich. »Bei dir hab ich nicht das Gefühl, dass du mir Pudding mit Blaubeersoße vom Himmel runterredest und nur darauf wartest, dass wir vögeln gehen.« Und fügte hinzu: »Könnt’ ich mir mit uns auch gar nicht vorstellen.«

»Äh, was … nein? N…ein«, stammelte ich, etwas überfordert durch meine Klassifizierung zum asexuellen Hanswurst.

Als Mann sei es eine Ehre, der Freund einer Frau zu sein, hatte mir mal ein Bekannter gesagt. Ich hatte dann zwischenzeitlich so viele Frau-Freunde gehabt, dass ich vor lauter Reden gar nicht mehr zum Onanieren gekommen war. Ich hatte genug davon. Danach suchte ich mir meine Freundinnen nur noch nach stringent sexuellen Gesichtspunkten aus. Das Reden überließ ich anderen. Der kluge Bekannte outete sich schließlich nach zwei Jahren, und ich vermied es jahrelang kategorisch, mir nochmal einen Rat in Beziehungsfragen von einem Schwulen oder potentiell Schwulen erteilen zu lassen. Helen als Frau-Freund fand ich jetzt aber gar nicht so schlecht.

»Da hast du Recht. Ich könnt ’s mir auch nicht vorstellen«, sagte ich entschlossen. Bestimmt arbeitete diese Aussage jetzt auch in ihr. Ein Big-Love-Land-Startup-Relation-Management-Chef weiß Bescheid.

Ich redete mit Giovanni über einen Wertausgleich bezüglich der Speisen. Schließlich hatte ich noch nichts bezahlt, weder das Essen gestern, noch den Wein und das Essen heute. Ich fragte, ob eine Stundung für eine Woche möglich sei, da ich bis dahin vielleicht einen kleinen Vorschuss von Love-Norbert bekommen hätte. Giovanni lachte und klopfte mir auf die Schulter.

»Du siehst aus wie ehrlicher Kerl. Komm, wenn du kannst bezahle, dann machen wir Preis unter Freunde.«

Ich bedankte mich und verließ mit Helen das Lokal. Draußen spürte ich die Blicke des Freaks in meinem Rücken und erwartete, dass mich eine hässlich bemalte Glasscheibe von hinten treffen würde. Als ich durch das Fenster hineinblickte, sah ich ihn jedoch mit Rafaele ins Gespräch vertieft. Rafaele gestikulierte, der Freak redete laut. Ich dachte nur an die italienischen Kirchen mit ihren herrlichen Fresken und Fenstermalereien und litt mit Rafaele für das, was seine Augen zu ertragen hatten. Helen lachte zum Abschied noch einmal herzlich und sagte:

»Wirklich schön, dass du jetzt in Berlin bist.«

Sie dankte mir für das Essen, und ich fand es schön, dass ich nun einen Frau-Freund in Berlin hatte.

Boris schnarchte wie ein Elefant mit Samenstau, und nach der dort herrschenden Verwüstung zu schließen, musste er das Bad mehrmals aufgesucht haben. Es roch nach Wein und verdauten Speisen. Ich riss das Fenster auf und versprühte eine halbe Flasche Jil Sander Man. Auch in der Küche sah es nicht viel besser aus. Ich entledigte mich meiner Klamotten und sank ins Bett.

Ich schritt durch eine Kirche, deren bunte Fenster spärliches Licht einließen. Nichts war zu hören außer meinen Schritten auf dem Steinboden. Plötzlich vernahm ich ein tiefes Gemurmel, welches immer lauter wurde. Der Hall in dem großen Gebäude bauschte die Stimmen zu bedrohlicher Lautstärke auf. Ich hielt mir die Ohren zu und setzte mich auf den Boden. Da erschien Helen in einem gleißenden Licht und versuchte mir etwas zu sagen. Ich verstand nur Pawliczeks Namen, ansonsten wurde alles von den anderen Stimmen aufgesogen. Ich schrie Helen an, sie möge lauter reden, da verschwand sie wieder. Mit einem Mal war wieder alles still, und ich war allein. Ein unangenehmes Gefühl beschlich mich, und ich fing an zu laufen, um das Gebäude zu verlassen, hämmerte an verschlossene Türen, fand aber keinen Ausgang.

Als ich in die Küche ging, war es nach zehn, und trotz des beängstigenden Traumes war ich einigermaßen erholt. Boris beseitigte gerade fluchend die Auswirkungen seiner Saftvergiftung. Schuldbewusst hatte er bereits aufgeräumt und einen netten Frühstückstisch gedeckt. Es roch nach Kaffee, Toast und frisch gekochten Eiern. Sogar eine kleine Kerze hatte er angezündet. Ich setzte mich dankbar und wartete, bis er im Bad fertig war und sich zu mir gesellte.

»Was ist gestern passiert?«, fragte er. »O Gott o Gott, ich weiß gar nix mehr.«

»Kannst du dich nicht an Helen erinnern?« Ich setzte meine unschuldigste Miene auf.

»Wer? Wann war das?« Boris stand wirklich meterlang auf dem Schlauch.

»Na, ihr habt ziemlich heftig rumgeknutscht, und dann seid ihr in mein Zimmer verschwunden. Was ist da passiert, Boris?«, dehnte ich die letzten Worte. Er starrte mich mit weiten Augen an.

»Ogottogottogott, was hab ich getan?«, wimmerte er tonlos und blickte auf seine Hose.

»Was willst du ihr jetzt sagen, wenn ihr euch wiederseht? Ich kenne Helen. Die macht so was nur, wenn sie sich wirklich ganz tief und innig verliebt hat. Hässliche, etwas kräftige Frauen wie sie sind so.«

Es machte mir einen Mordsspaß, zuzusehen, wie Boris zweimal die Gesichtsfarbe wechselte und vor lauter Denkanstrengung die Augen verdrehte.

»Mensch Alter, so besoffen war ich doch noch nie. Warum haste nix unternommen?« Flehend streckte er die Hand nach mir aus.

»Du warst unkontrollierbar, spürtest nur noch des Fleisches Lust.«

Ich fing an zu grinsen und mein Lachen verstärkte sich durch Boris’ ungläubigen Blick, bis er erleichtert zu einem Schlag ausholte. Sein Arm traf jedoch nicht mich, sondern glitt in einem Halbkreis über mich hinweg, um ihn selbst aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er versuchte, sich mit der anderen Hand in der Butter abzustützen, und musste dann auch lachen.

»Ich muss dann mal los, Fuhre machen«, sagte er und rappelte sich auf.

»Mach mal Fuhre!«

»Bis später.«

Ich beschloss, mir nun endlich die Love Land-Papiere anzusehen. Die Unterlagen enthielten unter dem Vermerk »Nur zum internen Gebrauch« dezidierte Informationen zur Agentur inklusive minutiösester Selbstbeweihräucherung hinsichtlich des »einzigartigen Konzepts«. Angeblich hatte jeder zweite Deutsche schon mindestens einmal über die Kanäle Partnerschaftsagentur, Zeitung oder Internet amouröse Kontakte geknüpft. Dies ließ die unerschöpflichen Pfründe erahnen, nach denen Pawliczek seine Netze ausgeworfen hatte.

Es folgten die Tätigkeitsbeschreibungen des Agentur-Personals. Ich blätterte die Seiten durch, bis ich die urban trendy Job-Diskriptschn des Startup-Relation-Managers vor mir hatte. Da war zu lesen:

»Als Startup-Relation-Manager bist du an vorderster Love-Front im Einsatz – unser Love Angel im Außendienst. Du bist ein wahrer Gentleman, gepflegt gekleidet, und bereitest unseren Kundinnen und Kunden einen unvergesslichen Abend. Du flirtest niveauvoll und bist ein aufmerksamer Zuhörer, wahrst aber unter allen Umständen höfliche Distanz. Alkohol ist erlaubt, darf aber niemals deine Urteilsfähigkeit beeinträchtigen. Intimitäten mit den Kunden sind strikt verboten. Du gibst dich niemals, auch nicht Dritten gegenüber, als Mitarbeiter der Agentur zu erkennen. Du wirst den Kunden niemals deine Kontaktdaten überlassen, die Koordination der Treffen erfolgt ausschließlich über uns. Sollte es zu einem zweiten Treffen mit einem Kunden kommen, wirst du ihm danach freundlich, aber unmissverständlich vermitteln, dass es keinen weiteren Kontakt mehr geben wird.

Es wird deine wichtigste Aufgabe sein, diskret so viele Informationen wie möglich über deinen Kunden zu erlangen. Insbesondere Lebensgewohnheiten und -umfeld, Familien-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse, Vorlieben, Hobbys und spezielle Neigungen sind von größtem Interesse, um die Vermittlung an andere Kunden der Agentur zu optimieren. Zu diesem Zweck sollte der Kunde/die Kundin Vertrauen zu dir aufbauen, sich aber nicht nachhaltig in dich verlieben. Du sammelst die Informationen auf einem speziellen Vordruck, den du im Anhang findest und auch separat von uns erhältst …«

Merkwürdig. Sehr merkwürdig. Ausspähen sollte ich die werte Kundschaft. Vertrauen schaffen. Nicht nachhaltig verlieben. Wie verliebt man sich denn nachhaltig?

Ich hatte noch nie ein Date über ein Internetportal vereinbart, und schon gar nicht über eine Partneragentur; darum war ich mit den Gepflogenheiten solcher Happenings nicht vertraut. Ebenso war mir nicht klar, ob auch andere Agenturen so arbeiteten. Etwas seltsam fand ich das Ganze schon, vor allem aber fragte ich mich, ob die Informationen, die ich erhalten würde, den finanziellen Aufwand meiner Anstellung rechtfertigten.

Ich betrachtete das Formblatt »Kundeninformationen«. Hier bot ein übersichtlicher Vordruck in tabellarischer Form reichlich Raum für sachdienliche Hinweise. Es wurde nichts ausgelassen. Die Kladde reichte vom monatlichen Verdienst über Verpflichtungen bis zu äußerst diskreten Lebensgewohnheiten. Je genauer die Angaben, desto gezielter konnte demnach verkuppelt werden. Mir kamen natürlich auch ganz andere Verwendungsmöglichkeiten in den Sinn. Vielleicht verscherbelte die Agentur die Infos an diese ekelhaften Telefon-Marketing-Kaschemmen. Dank derartiger Zweitverwertungen konnte uns Norbert vermutlich auch das entsprechende Geld zahlen.

Ferner gab es einen mehrseitigen Exkurs über Gesprächsführung. Hier erfuhr man, wie den Kunden ganz beiläufig Informationen aus der Nase gezogen werden konnten. Ich las diese Seiten aufmerksam, enthielten sie doch vielleicht wichtiges, unveröffentlichtes Material zur Verbesserung der Balz in alltäglichen Situationen. Ich musste jedoch feststellen, dass ich hier nichts lernen konnte. Nicht, weil ich ein so ausgeschlafener Casanova gewesen wäre, sondern vielmehr, weil sich die Erkenntnisse und Maximen der Love Land-Psychologie-Abteilung nur leicht über dem Level der Sandkastenkommunikation bewegten.

Ein ganz anderes Heft betraf die Allgemeinbildung. Damit wurden dem Agentur-Angestellten sowohl die Ingredienzien des kultivierten Tischgespräches als auch des belanglosen Smalltalks nähergebracht. Ganz im Stil von »Kultur, Finanzen, Wissenschaft, Geschichte und Sport für Dummies« konnte man sich hier geballtes Halbwissen anlesen, um es im passenden Gesprächsmoment eloquent abzusondern: Dax, Dow Jones, Tom Jones, Tom & Jerry, Bruttoinlandsprodukt, Nettostaatsverschuldung, Neo-Liberalismus, Surrealismus, Nationalsozialismus, Altes Rom, Neues Deutschland, Schwarze Löcher, Graue Panther, Blauer Bock, Honecker, Hrubesch, Hölderlin, Reagan, Rummenigge, Rasputin, Bach, Bohlen, Beethoven, Britney Spears, Twix, Tears for Fears, KIA, MIA, CIA, DDR, DDT, DVD, in puncto, in dubio, in medias res, Pippi Langstrumpf … Amen.

Mitten in diese bewusstseinserweiternde Lektüre platzte Paul, Doktor in spe, der an meine Tür klopfte. Er erkundigte sich nach Schraubenschlüsseln und weiterem Feinwerkzeug. Dr. Paul hatte nämlich im Internet ein Skelett erstanden und wollte es nun zusammenbauen. In meinem gerade aufgeputschten Wissensdrang interessierte mich das mächtig, und so folgte ich ihm mit meinem Werkzeugkoffer in seine Wohnung.

Auch ohne Skelett sah es in Pauls Wohnung bereits aus wie in einer Geisterbahn. An den Wänden hingen Fotos oder Detailzeichnungen von menschlichen Körpern, eine Mischung aus FBI-Zentrale und Drei-Zimmer-Serienmörder-Wohnung. Ich sah aufgespießte Insekten und die eine oder andere weiße Maus. Es roch nach Methanol und leichter Verwesung. In seiner Behausung bekamen Pauls Augen einen eigenartigen Glanz.

»Na, gefällts dir hier?«

Er trat bedrohlich nahe an mich heran, und ich sah mich schon, hübsch zerstückelt, abgepackt und eingelagert in rosa Tupperware-Döschen, in seiner Tiefkühltruhe liegen.

»Willst du was trinken?«, fragte er mich freundlich, und ich hoffte, dass er die gereichten Getränke nicht mit irgendwelchen Urinproben im Kühlschrank verwechseln würde. Er brachte mir ein Glas Wein, und ich roch vorsichtig daran.

Wir erreichten das Wohnzimmer, auf dessen Boden verteilt unzählige Knochen lagen. Ob er das wirklich aus dem Internet hatte? Oder war er nicht doch mit Schaufel und Spitzhacke auf dem Friedhof unterwegs gewesen? Oder hatten diese physischen Reste vor ein paar Tagen noch in unserer Badewanne gelegen? Paul stellte klassische Musik an, und wir begannen die Knochen zu sortieren. Er kannte wirklich jeden einzelnen. Das beeindruckte mich sehr. Unter seiner Anleitung sortierte ich die Knochen der oberen Extremitäten auf einen Haufen. Paul nahm sich zunächst die Beine vor. Nach gut einer Stunde begann er, die Knochen mit Draht zu verbinden. Er hatte einen Metallständer für das Skelett besorgt, an dem schon der Kopf baumelte.

»Ist das eine Frau oder ein Mann gewesen?«, fragte ich.

»Eine Frau«, antwortete Paul. »Man kann das gut an den Oberschenkelknochen erkennen.«

Was war das wohl für eine Frau, die hier bald bei Paul in der muffigen Bude hängen würde. Ich selber, wenn ich da mal für meine Gebeine sprechen durfte, mochte nicht nackt bis auf dieselben im Wind baumeln. Lieber schön gemütlich unter der Erde liegen und langsam, genüsslich herummodern und mit Würmern kuscheln.

Paul kannte nicht nur jeden Knochen, er wusste auch, wo jeder einzelne von ihnen hingehörte. Die Wirbelsäule mit ihren Rippen war bereits komplett und wurde mit Draht am Kopf befestigt. Danach reichte ich Paul die einzelnen Arm- und Beinknochen. Nach einiger Zeit hatten wir dann erst einmal genug von der Bastelei und beschlossen, noch etwas trinken zu gehen.

Wir fuhren mit der U-Bahn nach Friedrichshain und suchten eine so genannte Szene-Kneipe auf, in der Paul wohl des Öfteren verkehrte. Für einen Mittwoch war es erstaunlich voll. Die kleinen, roten Tische waren alle besetzt, lediglich an der Bar fand sich noch ein wenig Platz. Dorthin begaben wir uns und bestellten zwei Cocktails. Die Musik drehte eine erschöpfende Runde durch die Achtzigerjahre. Wir nippten an unseren Gläsern und schauten uns um. Mir fiel die gemütliche Atmosphäre auf. Fast alle Besucher waren so gemütlich, dass man meinen konnte, eine Truppe Versicherungsmakler auf einem Exkursionsseminar hätte sich zur Gruppenarbeit zurückgezogen. Die zwei Frauen neben uns an der Bar waren die Einzigen, deren Stimmen gewissen Lautstärkeschwankungen unterlagen: vom lästernden Tuscheln, wenn neue Damen das Lokal betraten, bis zum Geräusch eines getunten Zahnarztbohrers, wenn sie treffsicher einen äußerlichen Makel bei einer Geschlechtsgenossin entdeckt hatten. In einer ihrer seltenen Gesprächspausen fragte ich Paul ein wenig zu laut:

»Hast du nur das eine Skelett in deiner Wohnung?«

Paul, der augenzwinkernd in meine Konversationseröffnung einschwenkte, antwortete: »Eigentlich zwei, an dem anderen ist aber noch etwas Fleisch dran. Das muss erst mal ein wenig abhängen, bevor man es gut vom Knochen bekommt.«

»Und wann können wir’s dann schälen?«

»Na, so drei Tage sollte der Freund noch in der Küche hängen bleiben.«

Die beiden Frauen neben uns hatten kein Wort mehr gesagt, und ich schaute, beschwichtigend mit dem Kopf nickend, zu ihnen hinüber. Ich blickte in zwei fassungslose Augenpaare.

»Keine Angst«, sagte ich, »dies hier ist Paul, Doktor und Extrem-Mediziner. Ich bin Tom, sein persönlicher Assistent und Präparator von Gebeinen und Kadavern. Da bin ich aber entzückt über derart lebendige und liebliche Geschöpfe, wie ihr es seid.«

Wenn das mal nicht astreine Love Land-Konversation war. Sonja und Carmen waren sichtlich erleichtert, obwohl sie uns noch etwas skeptisch musterten. Anscheinend warteten sie darauf, dass uns noch der eine oder andere Daumen aus der Jackentasche fiel.

»Es wäre töricht, wenn ich mein Interesse verhehlen würde, Sie zu – sezieren«, attackierte ich Carmen, die lachend einen Schritt zurücktrat. Sie war recht groß, schlank und um die dreißig, hatte lange blonde Haare. Dr. Paul schien in Gedanken bereits Sonjas Kleidungsstücke mit dem Skalpell zu bearbeiten. Zumindest hatte er bereits zur Sprechstunde gebeten und die beiden redeten angeregt. Carmen wollte von mir wissen, ob ich wirklich mit Leichen zu tun hätte. Ich lächelte kopfschüttelnd.

»Was machst du denn?«, fragte ich sie schnell, um nicht über meinen Job reden zu müssen.

»Ich bin Meteorologin, ich mache das Wetter.«

»Welches denn? Das gute oder das schlechte?«

Ich vertrat die These, dass Wetterberichte schlichtweg überflüssig, weil so gut wie immer falsch seien. Carmen widersprach dem natürlich heftig. Es war ihr Job, und ohne Wetterbericht hätte sie keinen gehabt.

»Und was machst du so?«

Das hatte ich befürchtet.

»Och, bin gerade neu in der Stadt, mal sehen«, sagte ich ausweichend. »Sag mal, hast du schon mal ’n Kerl übers Internet kennen gelernt?«

»Oh mein Gott«, Carmen schlug die Hände vors Gesicht, »erinner’ mich nicht daran!«

»Wieso?«

»Alles Psychopathen.«

»Psychopathen? Hackebeil?«

»So ähnlich, ja.«

Sie lachte albern. Ich wusste nicht recht, ob ich mich diesem Thema weiter nähern sollte, und blickte unschlüssig in die Luft.

»Wie viele verrückte Geschichten kannst du vertragen?«, fragte sie plötzlich.

»Ich stehe auf verrückte Geschichten. Leg mal los!«

»Naja, ich hab mich mal mit ’nem Jungen getroffen. Der war echt sweet. Sah toll aus und hatte was im Kopf. Dachte ich zumindest. Wir waren dann eine Weile zusammen und so. Irgendwann hab ich mich gewundert, dass er manche Sachen einfach vergessen hat. Weißt du, wenn man so sagt, lass uns in dem Café treffen, in dem wir vor zwei Wochen waren, wo mein Essen total scheiße war, und er so, welches Café, wo war das noch mal? Oder einfach Sachen, die ich mochte, verstehst du?«

Ich nickte.

»Ich dachte, der hat Probleme mit dem Gedächtnis oder hat sich’s weggesoffen oder so was. Hab mir da echt schon Gedanken gemacht. So, und dann irgendwann im Bett dachte ich: Hier stimmt doch was nicht. Irgendwas ist anders. Na, was glaubst du, was da los war?«

»Hm, das waren – Zwillinge?«

»Nein.« Sie machte eine Pause und atmete geräuschvoll ein. »Es waren drei

»Nein!«

»Doch, einer hat mich angegraben, und dann haben die schön durchgewechselt. Ich bin so dermaßen ausgerastet.«

Carmen wedelte wild mit den Armen durch die Luft. Sie hatte wirklich gute Geschichten drauf. Glücklicherweise konnte sie auch selbst darüber lachen. Die Musik war zwischenzeitlich um einiges lauter geworden, so dass wir sowohl näher zusammenrücken als auch lauter sprechen mussten. Ich blickte zu Paul hinüber, der den Kopf auf seine Hände stützte und mich breit angrinste. Die medizinischen Getränke wirkten. Sonja war gerade auf der Toilette. Als sie zurückkam, zog sie sich die Jacke an und schien aufbrechen zu wollen. Offenbar war Dr. Pauls Sprechstunde beendet. Meine ebenfalls, da mir Carmen eröffnete, sie müsse Sonja nach Hause fahren. Ich fragte nach ihrer Wetter-Beschwerde-Hotline-Handynummer. Sie lächelte und kritzelte sie mir auf einen Bierdeckel. Sonja hatte es ziemlich eilig, und hastig verabschiedeten wir uns. Ich fragte Paul, womit er die Dame verschreckt hätte. Er grinste nur und trank sein Glas leer.

»Die hatte kein Herz«, kicherte er seltsam.

»Medizinisch oder bildlich gesprochen?«

»Die hatte kein Herz«, wiederholte er nur und stierte über die Theke. Paul hatte sich wirklich gründlich mit Cocktails zugrunde gerichtet.

»Frauen sind merkwürdig«, brabbelte er vor sich hin, während er sich unbeholfen in die Jacke wickelte. »Ich habe ja noch eine zu Haus, die hat auch kein Herz …«

Ich wollte nicht darüber nachdenken, was er damit meinte. Vielleicht tanzte er heute Nacht noch mit seiner Skelettin durch die Wohnung, wie Tom Petty mit der Leiche im Video zu Mary Janes Last Dance. Hatte ihm Sonja zu viel lebende Substanz zu bieten? Das konnte einen aber auch wirklich ganz schön erschrecken, wenn man sonst nur mit ausgestopften Viechern frühstückte. Dr. Paul sollte dringend beobachtet werden.

Schweigend saßen wir in der U-Bahn. Als wir vor unseren Wohnungen ankamen, stammelte er noch: »Tom, du bist ein amtlicher Skelett… Skelettpflücker. Hab Dank für deine Hilfe.«

»Dr. Paul, es war mir eine Ehre«, sagte ich feierlich, und der Doktor torkelte die Treppe hinauf.

Ich wollte noch nicht schlafen gehen, stellte meinen Fernseher ans Bett, kramte in meiner Kabelkiste und suchte die Anschlussbuchse. Die Dose in der Wand war so altersschwach, dass ich mich kaum traute, das Kabel hineinzustecken. Ich legte mich aufs Bett und zappte rauf und runter. Eine »Best-of«-Sendung des Talkshow-Bodensatzes wurde ausgestrahlt. Ich hatte festgestellt, dass es für mich kein geeigneteres Schlafmittel gab als Talkshows und Teleshopsendungen. Allerdings durften keine Sexhotline-Werbespots dazwischenkommen. Die waren zu hektisch und zu blöd. Keine Ahnung, wie man davon geil werden konnte. Bei mir verfehlte die Werbebotschaft eindeutig den erwünschten Effekt. Gerichtsshows waren auch nicht geeignet, da ich mich immer sofort auf Anschlussfehler und die falsche Grammatik innerhalb der Dialoge konzentrieren musste. Am besten waren Talkshows, obwohl es leider kaum mehr welche gab. Das war früher besser gewesen, da hatte man sich fast zu jeder Tages- und Nachtzeit in den Schlaf labern lassen können. Man sollte die letzten Vertreter dieses TV-Genres dringend unter Artenschutz stellen.

Jetzt hatte ich aber noch eine überlebende Sendungs-Spezies aus den Staaten erwischt. Die Stimmung war ausgelassen. Jeder ließ seinen Frust raus und alle gingen unter dem Gejohle der Zuschauer aufeinander los. Großartige Show. Erstklassig. Alles krankes Fleisch. Kranke, ausgesucht und zur Schau gestellt von modernen Schaustellern. Vielleicht hätte auch Dr. Paul eine übersinnliche Psycho-Show im Fernsehen bekommen sollen. Mit toten und lebenden Teilnehmern. Schön ausgewogen. Paritätisch. Ohne Vorurteile und so. Man soll ja Tabus ruhig mal ansprechen.

Vielleicht war ich aber auch der Kränkste von allen und hatte eine gefährliche Vorstelleritis im Kopf, unbehandelt und jederzeit bereit, den gefürchteten groben Unfug ungefiltert hereinzulassen.

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