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4. Die Furzferkel

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Donnerstag. Heute war mein erstes Love Land-Meeting. Ich stand relativ früh auf, um den Termin bloß nicht zu verpassen. Boris saß in der Küche. Er hatte eingekauft, drei große, gefüllte Plastiktüten standen auf dem Fußboden. Auf dem Tisch lagen ein Berg Fleisch und ein seltsamer Metallrahmen. Sah aus wie ein Plätzchenausstecher, nur für hundert Plätzchen auf einmal.

»Was machst du da?«, fragte ich irritiert.

»Gulaschpuzzle.«

»Was?«

Boris setzte einen kompetenten »Erklärbar«-Gesichtsausdruck auf.

»Das – ist eine Puzzlestanze«, referierte er und hob den Metallrahmen in die Höhe. »Die hab ich im Flur gefunden. Und das hier – ist ein Gulaschpuzzle. Rinderfilet besorgen, Stanze drauf, zack, fertig.«

»Du bist ja total durcheinander.«

»Na, na«, sagte Boris und hob den rechten Zeigefinger, »die Fleischer-Innung wird ausrasten. Such mal lieber das Eckstück hier!«

Amüsiert nippte ich an meinem Kaffee und beobachtete, wie er akribisch die Fleischstücke zusammensetzte. Unser Flur schien ungeahnte Schätze zu bergen.

Vor dem Haus traf ich Giovanni und seine Frau, die mir einen guten Morgen wünschten. Freundlich winkend rannte ich zur U-Bahn. Es war ziemlich kalt, obwohl die Sonne schon den ganzen Morgen schien. Für die halb melancholischen, halb erwartungsvollen Stimmungen, die das eigentümliche Licht in der fast frostigen Atmosphäre erzeugte, war ich sehr empfänglich. Mir gefiel die Stadt in ihrer Mischung aus laut und leise, alt und neu, freundlich und abstoßend. Für einen Moment blickte ich noch aus dem Fenster ins Sonnig-Helle, dann ratterte die U-Bahn in ihren Schacht. Ich schaute mich um und versuchte die vielen Menschen zu analysieren. Wer von ihnen war wohl ebenfalls neu hier, wie ich? Und ob sie auch irgendwohin fuhren, ohne recht zu wissen, was sie dort erwartete? Die meisten verließen die Bahn fest entschlossen, andere so, als wäre es gleichgültig, ob sie hier oder erst an der nächsten oder übernächsten Station aussteigen würden. Vielleicht sollten wir einfach mal an einer anderen Lebenshaltestelle aussteigen und die Welt von dort aus betrachten, nicht immer von derselben. Vielleicht wartete nur diese eine Station weiter genau das, was wir suchten. Über solchen bahnbrechenden philosophischen Analysen verpasste ich prompt meine Station, beschimpfte mich lauthals selbst und musste wieder zurückfahren. Nun war es schon nach 10 Uhr, und ich hasste Zuspätkommen.

Pawliczek dachte wohl ähnlich, denn er schaute demonstrativ auf seine überdimensionale Uhr am Handgelenk, sagte aber nichts. Das Frollein Hennich hatte mir weitere kostbare Minuten gestohlen. Erst wollte sie mich nicht erkennen, und als sie mich dann mit theatralischer Geste wieder aus dem hintersten Winkel ihres überschaubaren Gedankenlagers hervorgekramt hatte, glaubte sie, mir sofort eine wundersame Anekdote aus ihrem bewegten Leben auftischen zu müssen.

Pawliczek führte mich nach einer knappen, aber lautstarken Begrüßung in ein Besprechungszimmer, in dem bereits neun weitere Personen saßen.

»So, det sind denn jetzt alle!«, rief er in die Runde und baute sich am Kopfende des Besprechungstisches auf. Ich schnappte mir einen Stuhl an der gegenüberliegenden Seite, während er mich den anderen vorstellte. Es waren dies: Aus der Abteilung »Relationship & Statistics« »Love Coordinator« Severin, ein aschfahler Mittvierziger mit angegrauter Betonfrisur, Betongesicht und glupschigen Augen. Er war für die Auswertung der Daten zuständig und trug passend dazu einen Zwei-Bit-Gesichtsausdruck (an – aus) und einen riesigen aufgeklappten Laptop vor sich her. Im Laufe des Meetings hämmerte er immer wieder auf die Tastatur ein, als wolle er sie ein für allemal totschlagen. Dabei verzog er nach wie vor keine Miene. Sein Kollege, Assistent, Praktikant oder sonst was, Manuel, saß direkt neben ihm, sagte kein Wort und versuchte auch, sich so wenig wie möglich zu bewegen. Er war Anfang zwanzig, untersetzt, schwarzhaarig und genauso blass wie sein Vorgesetzter.

Dann kamen die »Love Angels«: vier Frauen, zwei Männer. Drei der Mädels unterschieden sich nur durch ihre Haarfarbe. Bei Aussehen, Styling, Frisur, Klamotten und sogar bei den Stimmen von Mareil (blondiert), Svantje (brünettiert) und Sandra (schwartiert) waren so gut wie keine Unterschiede auszumachen. Sie sahen aus wie eine Versuchsreihe aus dem Genlabor. Ich dachte an Carmen. Die männlichen Kunden der Agentur schienen eine Vorliebe für schulterlanges, leicht gewelltes Haar, Pausbäckchen, Jeans und lasziv aufgeknöpfte, halbwegs gut gefüllte helle Blusen zu haben. Auf ihre einfache Art waren sie hübsch, aber nicht sonderlich spektakulär. Musste vielleicht so sein. Wegen des nachhaltigen Sich-Verliebens und so. Chantalle repräsentierte hingegen eher die Kategorie »Feger«, und vermutlich wurde sie als »Startup-Relation-Manager – schnelle Eingreiftruppe« eingesetzt. Dunkelhaarig, dunkeläugig, dunkelhäutig, dunkelstimmig, das »dunkel-« wahlweise durch »samt-« zu ersetzen, und blendend aussehend. Ihr Styling war sehr edel, ihr perfekter Körper steckte in einem einteiligen schwarzen Anzugkleid. Im Laufe der Zeit musste ich feststellen, dass sie zudem noch schlau, schlagfertig und sympathisch war. Eine Frau mit den drei S. Furchteinflößend.

Gero und Ron bildeten meine Verstärkung auf männlicher Seite. Gero war noch größer als ich, hatte zurückgekämmte, schwarze Haare, und sein entspanntes Lächeln wirkte wie eine Oase der Ruhe in der aufgeregten Menschenrunde.

Ron war ein Kleiner, Kräftiger, mit Backenbart, ein massiger Kerl, Typ »Bärchen«, mit einem großen Kopf. Trotzdem sah er angenehm proportioniert und gewinnend aus. Eine dicke Silberkette umrankte seinen massiven Hals und silberne Kreolen baumelten von seinen Ohrläppchen, die eher schon fast ausgewachsene Ohrlappen waren. Bei uns Jungs hatte sich Pawliczek etwas mehr Individualität gegönnt, wir waren wirklich drei komplett verschiedene Typen.

Komplettiert wurde die Runde durch »Disponentin« Michaela, groß und kräftig, mit kurzen strähnigen Härchen. Sie machte einen kompetenten Eindruck, und von ihr bekamen wir unsere Dates.

Zunächst aber referierte Norbert über die Love Land-Philosophie und schwor uns auf unsere Aufgaben ein. Auftreten und Erscheinung waren für Love Angels von besonderer Wichtigkeit.

»Tom«, wandte er sich unvermittelt an mich, »was hast du da an?«

Ich blickte an meiner Körperlinie hinab und versuchte, mit einer engelsgleichen Mimik den wenig repräsentativen Gesamteindruck meiner Trikotagen zu überspielen. Zwecklos. Die lieblos aufeinander gestapelten Kleidungsstücke zeugten von absoluter Missachtung grundlegender Moderegeln. Das rote T-Shirt, ein blau-weiß gestreiftes Hemd und ein grauer Pullover mit ausgeleiertem V-Ausschnitt verkeilten sich zu einem Denkmal verfehlten Geschmacks.

»Da tut sich aber noch was bis zu deinem ersten Ausritt!?«

Pawliczek sprach mit Nachdruck und nahezu hochdeutsch. Das meinte er wirklich ernst. Bei den Klamotten hörte der Spaß auf. Ich nickte wie ein Schuljunge und zupfte nervös an meinem Ärmel. Glücklicherweise war ich nicht der Einzige, der eine Ansage erhielt. Einige Love Angels hatten sich beim Ausfüllen der Informationsbögen Nachlässigkeiten erlaubt.

»Wat seid ihr denn da für ’n Quark am Reden? Wir brauchen Informationen, keen Gequatsche!« Anscheinend waren die gesammelten Daten zu gehaltsschwach für den Messias. »Det muss besser werden. Ausquetschen, die Leutchen!«

Nach dieser eindringlichen Standpauke erteilte Pawliczek Michaela das Wort. Die Love Angels bekamen ihre »Love Letters«: einen Terminplan, bestehend aus zusammengetackerten Blättern, auf denen Ort und Zeit der Treffen sowie Informationen über die Kunden verzeichnet waren.

»Tom, du bist neu, ich erklär dir das mal«, begann Michaela, in meine Richtung gewandt. »Es kann sein, dass die Kundin dich ausgewählt hat und zu schüchtern ist, mit dir in Kontakt zu treten, und uns das machen lässt. Oder wir tun so, als ob du sie von dir aus ausgewählt hättest. Oder aber du bist unsere Empfehlung für die Kundin. Dann hat euch unsere Abteilung Relationship & Statistics als das perfekte Paar ausgewiesen. Deswegen ist es wichtig, dass du gut vorbereitet bist und von ihren Vorlieben weißt. Ihr passt nämlich perfekt zusammen.«

Sie kratzte beim »perfekt« mit je zwei Fingern ihrer Hand Anführungsstriche in die Luft.

»Alles, was du über die Kundin wissen musst, steht in der Liste.«

Sie hob kurz ein Exemplar des Love Letter in die Höhe.

»Alles, was wir über die Kundin wissen wollen, trägst du nach dem Treffen ein. Und schon kann sie sich das nächste Mal mit ihrem wirklichen Traummann verabreden. Weil wir ihr den mit deinen Angaben suchen können. Samstag ist natürlich Einsatztag, da treffen sich die Menschen gerne zum Flirten. Dafür ist meistens Sonntag und Montag frei. Das wars eigentlich. Wenn du Fragen hast, ruf mich gerne jederzeit an.«

Die Love Angels überflogen ihre Einsatzplanung und gaben vereinzelt missmutige Kommentare ab.

Pawliczek erhob sich. »Wenn keene Einwände bestehen, sehn wir uns Montag wieder. Machtet jut!«

Ich blieb noch eine Weile sitzen und studierte meinen Love Letter. Morgen hatte ich den ersten Termin. Sie hieß Sandra und war 44 Jahre alt. Ich blickte auf Fotos fremder Frauen und las mich durch deren Eigenschaften, Hobbys und sonstige wissenswerte Details. Plötzlich schreckte ich hoch. Ich musste mit Pawliczek noch dringend über einen Vorschuss sprechen, auch und speziell um meine Garderobe etwas aufzuhübschen. Also ging ich zu seinem Büro. Hinter der geschlossenen Tür hörte ich laute Stimmen. Ich klopfte.

Pawliczek brüllte: »Herein!«

Severin und sein Assistent, Praktikant oder sonst was standen im Büro und machten einen erregten Eindruck. Auch Norbert war im Gesicht gerötet und sprach noch lauter als sonst.

»Wat is los?«, schrie er mich etwas entnervt an.

»Ich, äh, also, ich wollte nur fragen, ob ich etwas Vorschuss haben könnte. Ich bin etwas klamm und müsste …«

»Jaja, keen Problem. Geh in die Gehaltsbuchhaltung, Frau Mahn, ick ruf da an. Zimma 759. Noch wat?«

Pawliczek wollte mich loswerden. Irgendwas ging da vor sich. Ich schloss die Tür und blieb noch kurz stehen. Worüber die drei redeten, konnte ich nicht verstehen; ich ahnte jedoch, dass sie sich mächtig in der Wolle hatten.

»Muss ick det ooch noch selber machen?«, brüllte Pawliczek.

Seine Stimme überschlug sich, und ich merkte, dass er sich auf die Tür zubewegte. Erschrocken sprang ich um die nächste Ecke und legte den schnellen Gang ein. Als Pawliczek aus seinem Büro stampfte, erreichte ich Zimmer 759 und schlüpfte schnell hinein.

Mit dem Love Land-Euro-Starterpack ausgestattet, ließ ich mich kurze Zeit später entspannt auf meinem Küchenstuhl nieder und verzehrte ein komplettes Hähnchen, das ich mir unterwegs gekauft hatte. Als die Türklingel Besuch ankündigte, war es bereits nach 19 Uhr.

»Sie ist fertig!«, jubelte mir Dr. Paul entgegen und stürmte in meine Wohnung.

»Wer ist … fertig?«

»Na sie! Meine Knochenfrau!«

Paul führte sich auf, als würde er gerade, massiv pubertierend, am Morgen nach seinem ersten fremdverschuldeten Samenerguss seinen Freunden gegenübertreten.

»Na und, hattet ihr schon Sex?«, fragte ich feixend.

»Blödmann«, nörgelte Dr. Paul und boxte mir in die Rippen.

Ich schlurfte in den vierten Stock und begutachtete Pauls fertiggestellte Mitbewohnerin. Sie schien vollständig zu sein, nach meinem Laienwissen zu urteilen. Wohl oder übel fehlten jedoch die primären bis tertiären Geschlechtsmerkmale. Zumindest für mein Verständnis.

»Schön«, sagte ich. »Gehen wir drei mal gemeinsam weg?«

Ich nahm die knochige Hand der kalten Dame und schüttelte sie.

»Vorsicht«, jammerte Paul, »tu ihr nicht weh!«

Allmählich machte ich mir ernsthaft Sorgen um Dr. Pauls soziale Verträglichkeit. Wenn er sich in diese wahrhaftig totgelaufene Beziehung vertiefte, würden lebendige Kandidatinnen es bei ihm mächtig schwer haben.

»Ich geh runter zu Giovanni. Wenn du Lust hast, kommst du einfach später nach«, sagte ich hastig und verdrückte mich.

In Giovannis kleiner Nudelstube hockten zahlreiche Besucher. Natürlich saß auch der glasmalende Freak an seinem Tisch und versuchte verbissen, sein Lieblingsmotiv zu optimieren. Grüne Wiese und Bäume. Giovanni war an der Theke, und ich ging hinüber, um ihm sein Geld zu geben.

»Trink erst mal eine Grappa«, sagte er und überschlug grob im Kopf meine Verbindlichkeiten. Ich blätterte einige Scheine auf den Tresen und setzte mich dann mit einem Glas Wein an einen Tisch am Fenster. Ich dachte an die merkwürdige Stimmung bei meinem Arbeitgeber und fragte mich, warum die drei in der Agentur so lautstark aneinandergeraten waren. Vielleicht nervten Pawliczek seine beiden Mitarbeiter. Jedenfalls hatte ich das Gefühl, dass es da um mehr ging als nur um Probleme bei der Partnervermittlung.

Rafaele brachte mir ein Viertel Wein mit Brot, und ich widmete mich erst einmal der Flüssigkeitsaufnahme. Was ich kurz darauf sah, ließ mir jedoch fast den Traubenmost aus dem Glas springen. Dr. med. »Death« Paul, Liebhaber des kalten Körpers, stand plötzlich im Raum – mit einer sehr lebendigen, warmen und unglaublich hübschen Begleiterin. Ich war so überrascht, dass ich die beiden mit halboffenem Mund ziemlich dämlich anstarrte.

»Das ist Nadeshda, eine Kommilitonin«, eröffnete Paul das Gespräch.

»Angenehm. Tom«, kaute ich und würgte schnell ein Stück Brot hinunter.

Nadeshda war Russin, musste aber schon sehr lange in Deutschland leben, da sie fast ohne Akzent sprach. Lediglich einige Konsonanten klangen ein klein wenig zu hart, aber das gab ihr neben ihrem Äußeren einen ziemlich erotischen Touch. Nadeshda war für mich als Frau-Freund absolut unbrauchbar. Dazu war sie viel zu sexy. Ihre langen, braunen Haare umhüllten ihr markantes Gesicht mit den stechend grünbraunen Augen. Wir redeten belangloses Zeug, tranken Wein und lachten viel. Mit fortschreitender Alkoholisierung wurden unsere Themen abstruser und wir begannen uns haarsträubende Geschichten auszudenken.

Nadeshda behauptete, sie hätte während einer Studienreise durch Westafrika einen Stamm besucht, dessen Mitglieder jeden Abend kurz vor Sonnenuntergang ihr rechtes Ohr auf die Erde legten und die Erdschwingungen aufnahmen, um diese als Rhythmus für ihre Tänze zu verwenden. Tanzen mussten sie natürlich liegend, da ihr Kopf ja am Boden klebte. Dieser Erd-Groove war somit auch der legitime Vorläufer des Hiphops. Außerdem wurden die Anwohner nicht durch laut aufgedrehte Radiorecorder belästigt.

Derartig seriös vorgetragener Unfug beeindruckte mich, und ich schickte mich an, meinerseits aus dem Füllhorn der Dummschwätzerei zu schöpfen. Ich betrachtete diese Konversation als willkommene Generalprobe für mein morgiges Dienstgespräch. Dr. Paul sagte schon seit geraumer Zeit nichts mehr, er schien seinen Promillezenit einmal mehr hoffnungslos überschritten zu haben.

Mit ernster Miene referierte ich über ein kürzlich erst im australischen Busch entdecktes Lebewesen: das Furzferkel. Es machte sich seine rektalen Gerüche zur Abschreckung natürlicher Feinde zu eigen. Die Tiere waren zwar nur zehn Zentimeter groß, ziemlich fett und träge, hatten aber in ihrer Jahrtausende währenden Evolution ihre Verdauung zur heimtückischen Waffe vervollkommnet. Ein Angreifer von der Größe eines Präriehundes, besprüht mit diesen toxischen Winden, wurde für 30 Minuten kampfunfähig und konnte zudem bei häufigem Kontakt motorische Langzeitschäden davontragen. Die australische Bevölkerung versuchte die Tiere, nachdem sie entdeckt worden waren, zur Biogasgewinnung zu züchten. Forscher rechneten bereits einen benötigten Bestand von 3,5 Millionen Furzferkeln hoch, um die komplette Energieversorgung Sydneys zu gewährleisten. Hier lag jedoch das größte Problem, da sich die Tiere nur äußerst schleppend vermehrten. Ein Furzferkelweibchen brachte in der Regel nur vier Junge pro Jahr zur Welt, die dazu in den ersten Lebensmonaten noch nicht gegen den Kampfstoff der Mutter resistent waren. Dies führte dann oft zu tragischen Unfällen, wenn es die Muttersau nicht rechtzeitig aus dem Bau hinaus schaffte und ihre Höhle kontaminierte.

»So ein Unsinn«, schaltete sich nun Dr. Paul ein. »Die vermehren sich schneller als Fruchtfliegen. Sie sind eine teuflische Bedrohung!«

Er grunzte geheimnisvoll und wankte zur Toilette. Zeit für eine Grübchenattacke.

»Ich wohne hier oben, im dritten Stock«, sagte ich schnell zu Nadeshda und deutete nach oben. »Hast du Lust, meine Furzferkelzucht zu sehen?«

Sie blickte in Richtung Toilette, überlegte kurz, stand auf und ging zur Tür. Ich blieb dicht hinter ihr, führte sie ins Treppenhaus und schließlich in meine Wohnung. Im Flur zog sie mich ruckartig an sich und wir fingen an uns zu küssen. Nadeshda war stürmisch und fordernd, mir wurde leicht schwindelig vom Wein, vom Aufrechtstehen und von ihrem Temperament. Langsam und umschlungen bewegten wir uns den Flur entlang, uns gegenseitig an den Klamotten zerrend. Gerade als meine Hand ihre weiche Haut am Rücken ertastete, klingelte es. Es klingelte! Es klingelte nicht kurz, es klingelte permanent, dazu schrie Paul wie ein Irrer im Treppenhaus:

»Nadeshda? … Tom? Seid ihr hier? Haallooo!?«

Hier war sie: die Mutter aller Situationen, für die Mach sitz! erfunden worden war. Paul hätte ich in fünf Sekunden kampfunfähig gemacht, vermutlich sogar in drei. Wenn er darauf abgerichtet gewesen wäre. Ich musste Mach sitz! unbedingt in Berlin etablieren. Jetzt war es zu spät. Sämtliche Hormonzufuhr wurde abrupt abgeriegelt. Nadeshda, die eben noch mit geschlossenen Augen an mir gehangen hatte, hatte diese jetzt weit aufgerissen und drehte sie genervt nach oben. Ich überlegte kurz, Paul einfach ohne Mach sitz! das Licht auszuknipsen, schritt dann aber langsam zur Tür und öffnete sie.

»Was machst du denn für einen Alarm?«, sagte ich gedehnt. »Nadeshda wollte nur kurz mal mein Bad benutzen.«

Paul war völlig außer Atem, und seine Augen hetzten von mir zu Nadeshda und zurück. Nadeshda tauchte hinter mir auf und zupfte an ihrer Kleidung.

»Ich dachte … ich wollte nur … vielleicht ist was passiert«, stammelte Paul.

»Was soll denn passiert sein?«, kaute Nadeshda und drückte sich an uns vorbei ins Treppenhaus.

Zurück in der Pasteria, zahlte ich die Getränke und verabschiedete mich von Giovanni. Merkwürdigerweise konnte ich Paul oder Nadeshda nirgends entdecken. Ich war nun etwas verwirrt und ging zögernd wieder hinauf. Es war mir nun meinerseits zu dämlich, vor Pauls Wohnung noch mal die gleiche Show abzuziehen und nach Vollendung des Liebesspiels zu heulen wie ein getretenes Furzferkel.

Auch diesen seltsamen Tag wollte ich nicht ohne einen Blick ins deutsche Fernsehen ausklingen lassen. Es lief eine äußerst spektakuläre Teleshop-Folge. Darin wurden Kopfbedeckungen feilgeboten, die gefährliche elektromagnetische Strahlungen vom Kreditkartenzahler fernhalten sollten. Die Hüte sahen aus wie die rot-weiß gestreiften Pylonen auf Autobahnbaustellen, und ich fragte mich, wer sich damit wohl ungestraft durch die Öffentlichkeit bewegen konnte. Der freundliche Verkäufer hatte einen aufschlussreichen Versuchsaufbau im Studio vorbereitet und konnte damit zweifelsfrei nachweisen, dass ein Handy, ein Radiowecker und ein Toaster die messbare Temperatur am Kopf um mindestens 0,1 Grad Celsius zu erhöhen vermochten. Ich vermutete, dass sich der Vorteil, mit so einer Kopfbedeckung unbedenklich mobil telefonieren zu können, dadurch relativierte, dass den derart bekleideten Käufer wohl bald niemand mehr anrufen würde. Der Verkäufer und der Moderator gaben alles. Modisch bekleidet und geschützt gegen 8000 Gigawatt fürchterlichste Strahlung hüpften sie hochmotiviert durchs Bild. Keineswegs vergessen wurden auch die immer wieder problematischen Wasseradern und Erdstrahlungen. Wie verstrahlt da wohl die Erd-Groover aus Afrika sein mussten – tanzend, ständig mit dem Ohr an der Gefahr, den Strahlen oder den Wasseradern schutzlos ausgeliefert. Na ja, wenigstens gab’s dort keine Handys. Ich beschloss, für das Elektro-Ex-Paket keine 149 Euro plus Versand auszugeben und mit meinen Elektrogeräten weiterhin in inniger Harmonie und ohne Argwohn zu koexistieren. Stellvertretend für alle Stromverbraucher dieser Erde schaltete ich umgehend den Fernseher aus und boykottierte die TV-Veranstaltung durch Spontanschlaf.

Ich fiel von meinem Mozzarellabaum. Dort oben saß ich ja oft und sah alles Mögliche, aber runtergefallen war ich noch nie. Ich fiel durch die Wiese in ein seltsames Nichts. Für eine Weile war es totenstill. Dann fand ich mich in einem abgedunkelten Raum wieder. Ein wenig erinnerte er mich an Giovannis Restaurant, es war allerdings kalt und ungemütlich. Überall an den Wänden standen geöffnete Särge, denen nach und nach Skelette entstiegen. Die Gerippe setzten sich an einen großen Tisch, der von einer tiefhängenden Lampe beleuchtet wurde. Sie rauchten und tranken Rotwein. Ich nahm auf dem einzigen freien Stuhl Platz und zündete mir auch eine Zigarette an.

»Mach die Kippe aus, das stört mich!«, blaffte der rauchende Knochenmann neben mir.

»Äh, aber ihr …«

Ich bekam eine kalte Faust in die Rippen gestoßen und spuckte die Zigarette in hohem Bogen aus. Irritiert blickte ich mich um.

»Teil aus!«

Vor mir auf dem Tisch lag ein Kartenspiel. Die Skelette schauten mich erwartungsvoll an und klapperten leise mit ihren Fingerknochen. Wir spielten Strippoker. Keine Ahnung, durch welche unbedachte Äußerung ich da wieder hineingeraten war. Nachdem ich die Karten verteilt hatte, wurde das Klappern lauter. Ich verlor das Spiel und musste meine Jacke ausziehen. Nun teilte mein linker Nachbar aus. Er hatte noch etwas Fleisch an den Armknochen und schwitzte unappetitlich. Auch dieses Spiel verlor ich, wie auch die folgenden, bis ich nackt auf meinem Stuhl saß. Mich beschlich der Verdacht, dass sich meine Mitspieler mit dem Fingergeklapper über den Inhalt ihrer Karten austauschten. Als ich das nächste Spiel ebenfalls verlor, kamen zwei der Knochenmänner mit großen Messern auf mich zu, um mir das Fleisch von den Armen zu schneiden. Ich schrie auf und rief: »Betrug, ihr habt mich beschissen! Das gilt nicht!« Mein Gezeter beeindruckte die Skelette herzlich wenig. Sie hielten mich fest und begannen, mit ihren Messern langsam meine Haut aufzuschlitzen. Ich schrie so laut auf, dass ich von meinem eigenen Gebrüll erwachte. Mir war furchtbar schlecht und ich musste würgen.

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