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FLUCHT UND RÜCKBLICK

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Als die Unruhen in Polen zu groß werden, muss die Familie die geliebte Heimat verlassen. Opa führt sie so sicher durch die Kriegswirren in die neue Heimat, dass Mutti gar nicht das Gefühl hat, auf der Flucht zu sein. Sie flüchten auf einem Pferdewagen. In dicken Federbetten eingemummelt können sie die Sterne am Nachthimmel bewundern. Es kommt meiner Mutter eher wie ein Abenteuer vor. Ihr Vater bewahrt sie vor allen Gefahren.

In Gladow finden sie ein neues Zuhause. Hier lernt sie die Schwestern ihres zukünftigen Mannes kennen. Die durchlebten die Flucht nicht ganz so unbeschadet wie meine Mutter. Schon in Polen, als die Russen eingezogen sind, tat man den Frauen Gewalt an. „Auf der einen Seite der Ostsee, auf Usedom, wollte man meine Familie gar nicht erst haben“, sagt Vati. „Da wären sie fast verhungert.“ So sind sie die Ostsee entlang gewandert und in Gladow gelandet. „Ich befand mich zu dieser Zeit gerade in Italien in Gefangenschaft“, erzählt er weiter. Ob es eine gute Zeit für ihn war? – Wahrscheinlich ja, denn er berichtet von hübschen Mädchen, Bratkartoffelverhältnissen und dass sie ihn statt Heinz, wie er richtig heißt, Enco nannten. Ich glaube nicht, dass nur die anderen Soldaten Frauenbekanntschaften gemacht haben, so wie er es behauptet, sondern dass auch er hinter so manchem Rock her war. So würde es jedenfalls meine Mutti ausdrücken. Wahrscheinlich kann er es gegenüber Mutti nur nicht zugeben.

Mutti lernt ihre erste große Liebe in Polen kennen. Da ist sie noch ganz jung. „Der junge Mann ist aus dem Krieg nicht wieder nach Hause gekommen und ich habe ihn so gemocht“, sagt Mutti. „Auf seinem letzten Urlaub schenkte er mir das hier“, sagt sie traurig und zeigt mir eine Kette. Für mich sieht sie aus wie die Kette von einem Badewannenstöpsel mit einem Anhänger, aber für Mutti ist sie ein ganz besonderer Schatz. „Er muss wohl gewusst haben, dass er nicht mehr zurückkommt“, sagt sie mit Tränen in den Augen. Dann wischt sie sich die Tränen wieder aus dem Gesicht und erzählt weiter. Ihr zweiter Freund war Paul. Mit dem verlobte sie sich sogar. „Das war ein Schürzenjäger. Der sah nicht nur mich verliebt an, sondern auch alle anderen Weiber.“ Bei diesen Worten scheint sie ziemlich ärgerlich zu sein. „Ich habe ihm daraufhin seinen Ring wieder zurückgegeben.“

In Gladow sollen die jungen Mädchen den Soldaten in der Gefangenschaft schreiben. Da kommen Vatis Schwestern auf die Idee: „Lydia, du kannst doch unserem Heinz schreiben.“ So lernen sich meine Eltern erst schriftlich und später „in natura“ kennen, denn Vati kommt nicht lange danach aus der Gefangenschaft zurück. Sie genießen noch eine Zeit lang ihre Jugend in Gladow, bevor sie heiraten.

Mutti schwärmt von der Dorfjugend und ihren Zusammenkünften, Vati von den Auftritten im Laientheater. „Einmal musste ich eine Frau spielen, und als ich in den Weiberklamotten nach Hause gelaufen bin, haben die anderen aus dem Dorf sich halb kaputtgelacht“, sagt er amüsiert.

Mutti erzählt vom blutjungen Dorflehrer, der ebenfalls immer bei ihren Treffen dabei war. „Dann hat er sein Akkordeon mitgenommen und wir konnten im Pavillon vom Schlosspark kräftig nach seiner Musik singen und tanzen. Das hat mir sehr gefallen.“ Sie sangen all die Lieder, die sie auch heute noch gerne singt.

Ansonsten besteht ihr Leben aus harter Arbeit. Bei der Bodenreform bekommt jede Familie ein Stück Land zur Verfügung gestellt und die Kinder müssen auf den Feldern ihrer Eltern mitarbeiten. Deshalb erlernen sie auch keinen Beruf.

Meine Eltern sind schon eine Weile verheiratet, da bekommt meine Mutter auf dem Feld beim Arbeiten Bauchschmerzen. „Au verdammt, mir tut der Bauch so weh!“, jammert sie leise und sie merkt, wie ihr das Blut die Beine hinunterläuft.

„Du blutest ja! Und wie siehst du denn aus? Ganz blass um die Nase! Ist dir nicht gut?“, fragen die anderen.

„Kommt, Lydia muss nach Hause!“, ruft eine Frau aus dem Dorf, die sich mit Frauenangelegenheiten auskennt. Sie bringen Mutti nach Hause.

Die alte Frau aus dem Dorf hilft ihr durch die schwere Stunde, denn meine Mutter verliert ihr erstes Kind. „Lydia, du hättest einen Jungen bekommen“, behauptet die Frau.

„Viel Zeit zum Ausruhen blieb mir damals nicht“, meint meine Mutter. „Die Ernte musste eingebracht werden. Außerdem arbeiteten wir nicht nur auf den Feldern meiner Eltern. Auch die Felder von Vatis Familie mussten bestellt werden.“

Am Erstaunlichsten finde ich, wie Mutti mir erzählt, dass sich viele Familienangehörige ein Doppelbett teilen müssen. Da schlafen Jungverheiratete mit ihren Eltern oder ihren anderen Geschwistern im selben Bett. Unglaublich, denke ich. Ich will weder bei Vati noch bei Mutti unter der Decke schlafen. Denn Vati riecht unangenehm nach Schweiß und Medikamenten und Mutti entwickelt unter ihrer Decke eine solche Hitze, dass man es nicht aushält.

Meine Mutter erzählt auch, Tante Maria behauptete in jungen Jahren: „Alle meine Schwestern werden mal für mich arbeiten.“ Ich finde diese Behauptung sehr arrogant und vermessen. Meine Mutter hingegen sieht beim Erzählen dieser Begebenheit mal wieder rot vor Wut. „Opa meinte damals auch, die spinnt. Die anderen Mädels glaubten ihr vielleicht, aber ich würde doch niemals für Maria arbeiten. Wie kommt die auf so eine Idee? Alles, nur das nicht!“, äußert sie sich wütend.

Dann gab es erneut eine Bodenreform und den Eltern wurden die Äcker wieder weggenommen. Jetzt zog es die Jüngeren der Familien in die Stadt, um ihr täglich Brot zu verdienen. Marias Mann bildete die Vorhut für seine Frau, Vati, Mutti und ihre Schwestern. Er zieht zuerst weg. Maria, Vati und Mutti haben Glück, sie bekommen die Zuzugsgenehmigung für die Stadt. Die anderen Schwestern werden erst wieder aufs Land geschickt. Mit viel Mühe und List dürfen Tante Lena und Tante Inga doch noch zu ihren Verwandten in die Stadt ziehen. Tante Elsa und Tante Sonja müssen auf dem Dorf bleiben.

In der Zeit, als meine Eltern sich trennten, lebt meine Mutti bei Tante Maria. Sie kann es auf den Tod nicht ausstehen, dass Tante Maria erst die Kinder billig abspeist und dann zu ihrem eigenen Abendbrot die schönsten Sachen aus dem Schrank holt, um sich selber dick und rund zu essen. „Das ist ja das Letzte, seinen Kindern die guten Sachen vorzuenthalten. Das würde ich niemals tun“, sagt sie.

Die Ratte kommt

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