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Kapitel 1
ОглавлениеDie südwestliche Steppe
Auf der Flucht
Alles verschwamm unter der Flut der Schmerzen. Nur undeutlich nahm Sinan wahr, was seine Kameraden taten, sah den Schein des Feuers, das sie entzündet hatten.
»Nehmt ihm den Verband ab.«
Sinans Kopf zuckte in die Richtung, aus der die Stimme kam. Er erkannte verschwommen Kirals Gesicht über sich, in der Hand hielt er eine kleine Schale.
»Und das hilft?«
Sinan wusste nicht, wem diese Stimme gehörte, sie klang so rau, aber sie kam ihm bekannt vor. Schon spürte er, wie er aufrechter gezogen wurde und gegen jemanden lehnte.
»Ich bin kein Heiler, aber dies verwenden wir bei den Wunden unserer Pferde, damit sie sich nicht entzünden. Los, wickelt den Verband ab!«
Sinan wurde mit festem Griff gepackt, dann spürte er einen scharfen, reißenden Schmerz an seinem rechten Arm. Er schrie auf, stemmte sich gegen den Griff und versank gleich darauf in eine tiefe Bewusstlosigkeit.
»Sieht übel aus.« Ouray entfernte vorsichtig die blutgetränkten Lagen des Verbandes. »Er hat viel Blut verloren.« Currann, der Sinan fest umklammert hielt, schluckte, als er den tiefen Hieb sah und wie Kiral ihn erst auswusch und dann umsichtig eine übel riechende Paste darauf strich.
»Wenigstens blutet es nicht mehr«, sagte Ouray und riss kurzerhand ein Hemd in Streifen. Er verband den Arm neu, dann betteten sie Sinan dicht neben dem Feuer auf ihre Decken.
»Die Pferde sind versorgt.« Tamas und Yemon ließen sich erschöpft neben sie fallen, Tamas sank sofort zurück. Sie waren alle am Ende ihrer Kräfte.
Der Schock und das Entsetzen saßen tief. Darüber, was sie getan hatten, und wie dumm und naiv sie gewesen waren. Ihr Überleben verdankten sie dem Zufall, Glück, Bajans Voraussicht .. noch war es zu früh, dies begreifen zu können.
Die Wirklichkeit hatte sie eingeholt, mit voller Wucht und brutaler Gewalt. Ob sich wohl alle Soldaten so nach ihrem ersten Kampf fühlten, fragte sich Currann und barg den Kopf in seinen Händen, die nur so starrten vor Schweiß, Staub und Blut. Ein ganz eigentümlicher Geruch ging von ihnen aus, der Geruch des Krieges. Angeekelt ließ er sie sinken, es war wohl auch Ekel vor sich selbst, vor dem, wozu sie in ihrer Not fähig gewesen waren. Stattdessen ließ er sich wie Tamas auf den blanken Boden der Höhle fallen, in der sie für die Nacht Unterschlupf gefunden hatten. Er versuchte, ein wenig zur Ruhe zu kommen, aber vergebens. Die Bilder in seinem Kopf drehten sich unaufhörlich, immer und immer wieder. Schließlich fiel er in einen unruhigen Schlaf der Erschöpfung.
Altheas Name hallte in seinem Kopf. Er spannte den Bogen und schoss auf die undeutlichen Schatten, die sich inmitten der Staubwolke auf sie zu bewegten. Neben sich hörte er das Sirren eines zweiten Bogens, Sinan schoss ebenfalls. Die Überraschung war verheerend. Die vordersten Pferde stiegen erschrocken, die nachfolgenden rasten in sie hinein .. ihr Feind ging unter in einem Knäuel aus stürzenden Leibern von Pferden und Menschen, das rasch von einer dichten Staubwolke verdeckt wurde. Er hörte Triumphschreie aus mehreren Kehlen, es waren Sinans und sein eigener und die der Kameraden auf den Felsen. Schnell legten sie nach und schossen erneut, immer wieder hinein in die Staubwolke, obwohl sie nichts mehr erkennen konnten.
Doch plötzlich hallten von oben Alarmschreie. Er versuchte etwas zu erkennen, vergebens. Also schoss er weiter, aber es war zu spät, die Angreifer kamen von der Seite. Sie nutzten die Deckung der Staubwolke, um sie zu überraschen. Er ließ sofort seinen Bogen fallen, zog sein Schwert und griff nach dem Schild, da waren sie auch schon heran. Pfeile flogen über sie hinweg in die Menge der Angreifer, er hörte noch undeutlich die Schreie der drei Reiter, die ihnen zu Hilfe eilten. Da flog schon der erste Speer in ihre Richtung. Er riss reflexartig seinen Schild hoch, spürte die volle Wucht des Speeres, der ihn nach hinten riss. Fast verlor er seinen Schild, aber er hielt stand, trat den darin steckenden Speer heraus und hatte ihn augenblicklich wieder an seiner Seite. Da spürte er Sinan hinter sich. Sein Freund nutzte ihn als Deckung, schoss den ersten Reiter vom Pferd, dann warf auch er den Bogen fort und zog sein Schwert.
Jetzt kamen zwei Reiter zugleich, mit erhobenen Speeren, bereit, sie niederzumachen. Er brüllte Sinan eine Warnung zu, sie stellten sich Rücken an Rücken, gaben sich mit ihren Schilden Deckung, und dann sah er Sinan zur Seite wegtauchen, ausholen und seinen Gegner vom Pferd hieben. Es gab ein ganz eigentümliches Geräusch, er hatte den flüchtigen Eindruck, sein Schwert ginge in die Rüstung wie in einfachen Stoff, dann fiel der Mann gurgelnd herunter.
Currann hatte keine Zeit, weiter auf ihn zu achten. Er fing den Speer des zweiten Reiters mit seinem Schild ab, drehte sich und schlug zu. Blut spritzte ihm in die Augen. Für einen Augenblick konnte er nichts sehen, er wischte es fort und sah das Pferd seines Gegners ohne Reiter davon galoppieren.
»Currann!« Sinans Schrei holte ihn aus seiner Starre. Er drehte sich um, keinen Moment zu früh, dann ließ er sich fallen, rollte im Dreck und Blut seines Gegners herum, unter dem Pferd eines neuen Angreifers hindurch, dessen Speer neben ihm in den Boden fuhr. Currann schlug zu, der Gegner fiel, dann kamen neue Angreifer, es waren so viele. Doch diesmal kam Hilfe. Endlich waren die Reiter heran. Kiral ritt mitten in die Gegner hinein, durchbohrte den ersten mit einem Speer, legte sich zur Seite, um einem anderen zu entgehen .. und war auch schon im Staub verschwunden. Der Hauptmann und Tamas kamen von der Seite, sie sprengten die Gegner auseinander. Dann waren auch Ouray und Yemon von ihrem Felsen heruntergekommen, mit gezückten Schwertern kamen sie ihnen zu Hilfe. Currann rappelte sich auf, half Sinan hoch, sah, dass der Gegner zu einer neuen Strategie über ging. Sie galoppierten heran und preschten mitten unter sie, trennten sich und sprangen von den Pferden, nur um dann von zwei Seiten auf sie einzudringen. Currann konnte zwar ausweichen, aber dann zogen die Soldaten ihre Schwerter. Currann sah das Gleißen trotz des vielen Staubes und wusste sofort, dass sie nun in großen Schwierigkeiten steckten. Es waren saranische Schwerter.
»Denkt an Bryn!«, brüllte er noch, dann hatte er keine Zeit mehr, auf die anderen zu achten. Alles, was galt, war, die Hiebe seines Gegners abzufangen. Doch jetzt zeigte sich, dass er mehr Erfahrung im Umgang mit den Schwertern besaß als die Verfolger. Mit grimmiger Genugtuung bemerkte er, dass die feindlichen Kämpfer ihre Schwerter immer noch in der alten Kampfesweise benutzten, damit nicht von Weitem zuschlugen, sondern verhalten kämpften und versuchten, nahe genug zum Zustechen an ihn heranzukommen. Das verschaffte Currann die Gelegenheit, mehr als einen tödlichen Hieb auszuteilen, bevor die Feinde überhaupt realisierten, welche Möglichkeiten die neue Waffe bot. Er streckte seinen letzten Gegner zu Boden, dann sah er auf. Zu seinem Schrecken erkannte er, dass Sinan vom Hauptmann der Truppe angegriffen wurde. Seinem Freund gelang es zwar, sich zu verteidigen, er trieb den Hauptmann sogar zurück, aber plötzlich drang ein anderer Soldat mit einem Speer auf ihn ein. Currann brüllte eine Warnung, packte sein Schwert fester und rannte los. Es war zu spät. Sinan wurde von einem Hieb am Arm getroffen, er verlor sein Schwert und ging zu Boden. Currann rannte mit hoch erhobenem Schwert auf den Hauptmann zu, der zu einem tödlichen Stoß ansetzte, aber da tauchte Kiral wie ein Schatten aus dem Staub auf, rammte den Hauptmann einen Speer in den Hals, tauchte unter seinem Pferd weg, entging so dem Speer des anderen Kämpfers und war wieder verschwunden.
Currann keuchte vor Anstrengung. Er rannte so schnell er konnte. Schon zog der Soldat sein Schwert, Sinan hob seinen Arm zur Verteidigung, es erinnerte Currann in einem wahnsinnigen Moment an Jeldrik. »Nein!«, brüllte er und warf sich mit seinem ganzen Körper auf den Gegner. Sie verloren beide das Gleichgewicht und stürzten aufeinander. Ihre Schwerter fielen zu Boden, der Soldat packte ihn an der Kehle, das Gesicht des Mannes wurde zu einem anderen, einem wahnsinnigen Gesicht .. mit letzter Kraft zog Currann sein Messer hervor und rammte es dem Soldaten in die Kehle. Gurgelnd brach der Mann auf ihm zusammen. Currann schob ihn mühsam von sich herunter und versuchte, zu Atem zu kommen. Da wurde er gewahr, dass es eigentümlich still war, lediglich ein leises Aufstöhnen hier und da, und in der Ferne waren das Wiehern der Pferde und galoppierende Hufe zu hören.
Stöhnend richtete er sich auf und kroch zu Sinan hinüber. Sein Freund war merkwürdig blass, er hielt sich den Arm, aus dem das Blut herauspulste. »Warte, ich helfe dir..« War dies seine Stimme, die da so krächzte? Currann wusste es nicht, es musste wohl so sein. Er suchte in seinen Taschen nach einem Tuch, fand eines und band es stramm um die Wunde. Sinan schrie auf und wurde gleich darauf bewusstlos.
Ein Stöhnen ließ ihn herumfahren. Einer der Soldaten richtete sich auf. Er war zwar verwundet, aber noch in der Lage, nach seinen Waffen zu greifen. Currann fühlte, wie in ihm eine ungeheure Wut hochkam, all die Angst, der Schmerz über die Trennung seiner Familie, ihre Flucht, sein verwundeter Freund .. all dies ließ ihn nun rot sehen angesichts des Feindes, der sie erneut bedrohte. Mit einem wütenden Schrei stürzte er zu seinem letzten Gegner, riss das Messer aus dessen Hals und warf sich damit auf den verwundeten Soldaten. Als er ihn getötet hatte, lief er zum nächsten, dann zum nächsten, egal, ob tot oder lebendig .. ihre Gesichter verschwammen, das Stöhnen verstummte..
Currann warf sich im Schlaf herum, aber noch ließ der Traum ihn nicht los.
Am Rande der Felsen sah er Kiral mit gezücktem Schwert durch die zuerst von ihnen gefällten Gegner schreiten. Auch er kannte keine Gnade und vollendete, was noch nicht vollendet war. Als er fertig war, kniete er neben einem der Männer nieder, legte die Hand in dessen frische Wunde und führte sie anschließend an seine Lippen. Currann hörte, wie er mit weit in den Nacken gebogenem Kopf einige Worte in seiner Sprache rief. Ihm wurde übel. Da entdeckte Kiral ihn. Über die toten Männer hinweg bohrten sich ihre Blicke ineinander.
Hätte Kiral jetzt noch das Herz seines Gegners herausgerissen, Currann hätte es nicht gewundert, so wild sah er aus, blutbefleckt und mit geweiteten Augen. Currann sah an sich herunter, und da ging ihm auf, dass auch er nicht anders aussah. Er ging in die Knie, bekam kaum noch Luft. Kiral lief zu ihm, sie umarmten sich, froh, sich lebend wiedergefunden zu haben.
»Wo sind die anderen?« Currann konnte nur flüstern, sein Hals wurde immer enger.
»Tamas geht es gut, er fängt die Pferde ein.« Kirals Gildaisch war kaum zu verstehen, so stark war sein Akzent. »Ich habe Ouray und Yemon noch nicht gesehen..« Doch da kamen sie auch schon auf sie zu. Sie fielen sich in die Arme.
»Sinan ist verwundet«, krächzte Currann. Rasch liefen sie zu ihm, aber er war immer noch bewusstlos. Kiral überprüfte den Verband, ob er das Blut zurückhielt.
Da ertönten hinter ihnen Hufschläge. Die Kameraden fuhren herum, aber es war nur Tamas. Erleichtert ließ er sich von dem Rücken seines Pferdes gleiten. »Ich habe sie eingefangen, alle, die noch übrig waren.«
»Unser Hauptmann ist tot«, sagte Ouray tonlos. »Er liegt dort hinten, mit seinem alten Schwert war es aussichtslos für ihn. Es ist so beschädigt, wie ich es noch nie zuvor gesehen habe.« Sie schwiegen bedrückt.
»Was machen wir nun?« Yemon stützte sich schwer auf sein Schwert.
Currann tauschte einen Blick mit Kiral. »Wir müssen so schnell wie möglich von hier fort, vielleicht kommen noch mehr Reiter«, sagte er.
Kiral sah prüfend in den Himmel, der nun wieder zu sehen war. Der Staub hatte sich gelegt. »Wir müssen unsere Spuren verwischen, so gründlich, wie es nur irgendwie geht. Lasst uns alles mitnehmen, was uns nützen kann, Pferde, Proviant, Waffen, Rüstungen, auch die Kleidung .. heute Abend gibt es Regen, der wäscht das Blut und unsere Spuren fort.«
Ouray holte tief Luft. »Dort hinten ist eine tiefe Felsspalte, es liegt viel Geröll herum. Wir legen die Toten hinein und rollen die Steine auf sie. Dann sieht man sie nicht mehr.« Auf einmal mochten sie sich nicht mehr in die Augen sehen. Sie wandten sich alle in verschiedene Richtungen und begannen, ihre Flucht zu tarnen.
Das Bild verschwamm .. er sah das Gesicht eines toten Soldaten, sah seine Hände, wie sie ihn auszogen .. mit jedem Kleidungsstück weniger wurde sein Gegner mehr zu einem Menschen, einem Mann, einst lebendig, vielleicht mit einer Familie, irgendwo .. Er fühlte keine Regung, noch nicht .. Er nahm sich alles, was sie noch gebrauchen konnten. Dann schleifte er den Soldaten zu der Felsspalte, ließ ihn hinabgleiten .. das Bild verschwamm erneut, er hörte die Steine poltern..
Mit einem lauten Keuchen setzte Currann sich auf. Das Poltern waren keine Steine gewesen. Es donnerte. Blitze zuckten über den Himmel, dann begann der Regen herabzuprasseln. Seine Kameraden lagen um das Feuer herum und schliefen, die Gesichter unruhig, auch sie kämpften mit ihren Träumen. Vorsichtig beugte sich Currann über Sinan und fühlte seine Stirn. Sie war heiß. Er bekam Fieber!
Currann hörte ein Geräusch. Da sah er in einem Blitz, dass Kiral nicht schlief, sondern mit überkreuzten Beinen im Eingang der Höhle saß. Vor ihm, am Rande der Höhle, waren mehrere Stücke aus Leder aufgespannt, darunter standen alle möglichen Gefäße. Currann erhob sich und ging zu ihm. »Was machst du da?«, fragte er leise, um die anderen nicht zu wecken.
Kiral blickte auf. Auch er hatte tiefe Ringe unter den Augen und war sichtlich erschöpft. Aber er gönnte sich keine Ruhe. »Wir brauchen Wasser, viel Wasser, für uns und die Pferde.« Er deutete auf die Trinkschläuche, die sie von den Soldaten erbeutet hatten.
Currann war beschämt. »Du denkst viel weiter als wir alle zusammen«, sagte er und ließ sich neben Kiral nieder.
Der Cerinn schnaubte. »Noch nie allein in der Steppe gewesen, was? Dies ist eine der Möglichkeiten, in der Steppe an Wasser zu kommen, wenn man die Wasserstellen nicht kennt. Wir haben Glück. Dieses Gewitter kam ungewöhnlich spät, es ist gewiss das letzte Mal in diesem Sommer, dass es regnet.« Er beobachtete, wie das Wasser in die Schalen lief, dann füllte er auch schon die nächste in die Schläuche ab.
Currann half ihm. »Was denkst du, wie weit werden wir mit dem Proviant kommen?« Sie hatten zwar in der Heerschule gelernt, wie man bewegliche Heere verpflegte, aber dies hier .. Kiral wusste entschieden besser über das Leben in der Steppe bescheid als jede Theorie.
Kiral lehnte sich erschöpft zurück. »Wir haben die Rationen von fünfzehn Mann erbeutet, es ist nur eine Tagesration. Sie haben wohl nicht damit gerechnet, lange fortzubleiben. Das reicht für drei, höchstens vier Tage. Zusammen mit dem von unseren Packpferden kommen wir eine Woche weit. Wir werden jagen müssen..« Er brach ab.
Currann schloss seufzend die Augen. »Ich hoffe nur, dass Fürst Bajan irgendwo Unterschlupf findet.«
»Er kennt eine Menge Leute, da wird er gewiss jemanden finden, der ihn versorgt. Mach dir keine Vorwürfe! Es ging alles so schnell, wie solltest du daran denken, ihnen eines der Packpferde mitzugeben?« Kiral wusste genau, wie es in seinem Freund aussah.
Currann nickte, aber dennoch .. der Gedanke, dass die vier ohne Proviant in der Steppe umherirrten, schnürte ihm die Kehle zu. Und sie selbst waren weit fort von jeder Siedlung. Und nun? Wo sollten sie hin? Sie waren vogelfrei, Geächtete, und wurden mit Sicherheit schon gesucht. »Denkst du, dass sie unsere Spuren finden werden?«
Kiral drehte den Kopf in seine Richtung. »Nach dem Regen? Nein. Wir sind mindestens fünf Stunden schnellen Rittes von den Felsen weg. Nein, das werden sie nicht.«
Currann wollte sich mit den Händen über das Gesicht reiben, roch wieder den üblen Geruch von Blut und Kampf und ließ es bleiben. Doch dann sah er auf den Regen. Wie konnte er sich besser reinigen als damit? Er stand auf, schnürte seine Rüstung ab und stand schließlich nur noch in der Tunika da. Selbst die Stiefel und Lendenschutz zog er aus. Als Letztes nahm er den Lederbeutel mit Siris Brief ab, den er immer noch um den Hals trug. Er strich sorgsam darüber und sah erleichtert, dass er keinen Schaden genommen hatte. Er hätte es kaum ertragen, ihn von Blut befleckt zu sehen. Vorsichtig legte er ihn zu den anderen Sachen.
Kiral richtete sich erstaunt auf. »Was hast du vor?«
»Ich nehme ein Bad«, sagte Currann und trat hinaus in den Regen. Er ging nicht weit, nur so weit, dass der Regen von allen Seiten in voller Stärke auf ihn niederprasseln konnte.
Currann streckte die Arme aus, legte den Kopf in den Nacken und überließ sich dem Gefühl des reinigenden Regens auf seiner Haut. Alles wusch er herunter, Schweiß, Staub und Blut, aber auch seiner Seele tat es gut. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er keine Verpflichtungen, kein Ziel, er war völlig frei zu tun und zu lassen, was er wollte. Alles, was er jetzt entschied, entschied er für sich selbst. Er war niemandem mehr verantwortlich..
Ein Blitz zuckte über den Himmel, gleich darauf ertönte ein Donnerschlag, es war nahe, sehr nahe.
Currann ließ die Arme sinken. Natürlich war er jemandem verantwortlich, seinen Kameraden, die ihr Leben für ihn und seine Familie aufs Spiel setzten, besonders Sinan, der dort drinnen fiebernd neben dem Feuer lag. ›Hör auf zu träumen!‹, rief er sich zur Ordnung.
Sie mussten überleben, schon allein deswegen, weil andere für sie soviel gewagt und teilweise verloren hatte. Sie durften sie nicht enttäuschen! Voller Trauer dachte er an den Hauptmann, dem sie nicht einmal eine anständige Ruhestätte hatten geben können.
Currann wusch sich energisch die Reste des Schmutzes herunter. Sie brauchten eine Zufluchtstätte. Bajan zu folgen und nach Temora zu gelangen, schloss er sofort aus, diese Wege würden mit Sicherheit überwacht werden, und sie kannten sich nicht aus. Der Fürst hatte bessere Aussichten, ungesehen zu entkommen, wenn sie nicht bei ihm waren oder andere auf seine Spur lenkten. Nein, es musste so fern wie möglich von Gilda sein, aber noch im Lande Morann, damit sie nicht ganz abgeschnitten waren. Ein Außenposten vielleicht..
Currann hielt inne. Eine Erinnerung drängte sich in sein Gedächtnis. Eine Möglichkeit .. Er legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Der kalte Regen half ihm, sich trotz seiner Erschöpfung zu konzentrieren.
Rasch verglich er die Landkarte mit ihrem jetzigen Standort und rechnete nach. Es war weit, aber sie konnten es schaffen, wenn Sinan .. energisch verbat er sich jeden Gedanken in eine andere Richtung. Er kehrte entschlossen zu Kiral zurück. »Versuchs auch mal, es tut gut. Ich mache solange weiter.«
Kiral zögerte nicht, aber im Gegensatz zu Currann zog er sich ganz aus. Er legte seine Kleider auf das Steppengras, ließ sie dort durchweichen und stellte sich selbst in den trommelnden Regen.
Currann blickte von seiner Tätigkeit auf, als Kiral zurückkam. Es blitzte. Trotz der Dunkelheit sah Currann die vielen Prellungen, die sein Freund davongetragen hatte. »Oh Mann, dich haben sie ja ganz schön erwischt.« Seine vielen Tätowierungen verschwanden fast darunter.
»Du siehst auch nicht besser aus«, schnaubte Kiral und wrang seine Kleider durch. »Hast es nur noch nicht bemerkt.«
»Kann schon sein.« Currann hatte fast alle Schläuche gefüllt. Er wartete, bis Kiral sich angezogen und wieder neben ihm niedergelassen hatte. »Das tat gut, nicht wahr?«
Kiral brummte nur, zog seinen Beutel zu sich heran und steckte sich seine Pfeife an. »Viel Tabak habe ich nicht mehr«, meinte er und bot Currann einen Zug an. Currann lehnte dankend ab. Stattdessen holte er sein Schwert, zog es aus der Scheide und fuhr prüfend über die Klinge. Es waren einige ziemliche Unebenheiten daran, erkannte er, also hatte der saranische Schmied Bryn damals vor dem Rat die Wahrheit gesagt. Offensichtlich waren die neuen Schwerter doch nicht so haltbar, wenn sie gegeneinander eingesetzt wurden. Es waren zwar keine regelrechten Scharten, aber er würde es schleifen müssen, später, wenn sie angekommen waren. Jetzt begnügte er sich damit, es von Blut und Dreck zu reinigen und mit Bryns Öl zu behandeln. Als er fertig war, griff er sich das Nächste.
»Ich habe mir überlegt, wo wir hingehen könnten«, sagte er nach einer Weile zu Kiral. »Da gibt es leider auch keinen Tabak.«
Kiral hielt mit dem Wasser schöpfen inne und wandte überrascht den Kopf. »Wohin?«
»Nach Branndar.«
»Branndar .. Moment mal, da komm doch Siri her!« Kiral zog die Augenbrauen hoch. »Und du meinst, sie nimmt uns auf, hallo Currann, schön dich wiederzusehen..« Ihm waren die Zweifel deutlich anzuhören. Bei den Cerinn war das etwas anderes, dort hätten sie jederzeit Unterschlupf gefunden, schon allein wegen der Ehre des Stammes. Aber ein gildaisches Mädchen? Das würde Siri niemals tun, im Gegenteil, sie würde den Schreck ihres Lebens bekommen und ihre Familie vor eine unhaltbare Situation gestellt.
Currann ahnte, was er dachte. Er war sich ja selbst der Risiken seines Planes vollauf bewusst. »Nein, hör mir zu, sie hat mir erzählt, dass es dort ein verlassenes Fort gibt und dass der Fürst von Nador sie nicht gegen die Überfälle der Goi verteidigt .. aber das hast du ja selbst mitbekommen. Wenn es in meinem Land Menschen gibt, die bereit sind, uns ohne allzu viele Fragen zu stellen aufzunehmen, dann diese. Sie brauchen dringend Leute, die sie verteidigen, und dass wir das können, haben wir heute bewiesen.«
Kiral schwieg verblüfft und tat ein paar Züge an seiner Pfeife. »Wie weit ist es von hier?«
»Wir können es schaffen, wenn Sinan..« Currann brach ab und steckte mit einem Ruck das eben gereinigte Schwert in die Scheide zurück.
Kiral schüttelte den Kopf. »Selbst wenn es Sinan schlechter geht, ist er dort besser aufgehoben als hier draußen. Vielleicht haben sie sogar eine Heilerin. Du hast recht, wir müssen irgendwo Unterschlupf finden.« Er schloss erschöpft die Augen.
Currann erkannte, dass er sich nur noch mit Mühe wachhalten konnte. »Leg dich ans Feuer, ich mache hier solange weiter.« Kiral nickte dankbar und verließ ihn. Die restliche Nacht sah Currann dem Gewitter zu, schöpfte Wasser und reinigte Schwerter für ihr Überleben und plante ihre Zukunft.
Als der Morgen dämmerte, schrak Currann hoch. Er war eingeschlafen, mit dem Kopf auf den Knien, und ihm war kalt, seine nasse Tunika klebte an seinem Körper. Es regnete immer noch, nicht so stark wie noch in der Nacht, aber beständig. Currann erhob sich, trank durstig eine Schale voll Wasser, ließ sie wieder volllaufen, trank noch einmal. Es schmeckte gut.
Während er trank, streifte sein Blick die Schwerter, die aufgereiht an der Höhlenwand standen. Er zählte, rechnete nach, schüttelte den Kopf. Konnte das sein? Fünfundzwanzig Schwerter hatten die Saraner an das Heer geliefert. Sechs Schwerter waren gestohlen worden, fünf an seine Kameraden gegangen. Blieben vierzehn übrig. Hier aber standen fünfzehn, seines nicht mitgerechnet. Er stützte sich mit der Hand schwer an die Höhlenwand. War der Dieb etwa unter ihren Angreifern gewesen? Er musste es gewesen sein, denn hier war definitiv eines zu viel. Nun, dann hatte er seine gerechte Strafe erhalten!
In grimmiger Genugtuung sammelte Currann die vollen Schalen ein und trug sie hinüber ans Feuer, das nur noch glimmte. Er fühlte Sinans Stirn und war erleichtert. Das Fieber war gesunken. Rasch legte er ein paar Zweige nach, es waren die letzten. Ein weiteres Problem, das sich ihnen stellte: Es gab kaum Brennbares hier draußen in der Steppe. Wo sollten sie es hernehmen? Kiral wusste bestimmt Rat.
Im selben Moment begann Ouray sich zu rühren. Mühsam richtete er sich auf. Sein erster Blick galt Sinan, aber nach Curranns erleichterter Miene war er beruhigt. Da wurde er gewahr, dass Currann sauber war, was ihn erst verwunderte, doch dann hörte er den Regen. »Ein guter Einfall..« Mit einem leisen Stöhnen machte er sich daran, seine Rüstung abzuschnüren. Ein Blick auf Kiral werfend, beließ er es nicht dabei, sondern zog sich ganz aus und lief hinaus.
Currann weckte unterdessen vorsichtig Sinan auf. »Hier, trink.« Er stützte seinen Kopf und hielt ihm eine der Schalen an die aufgesprungenen Lippen. Sinan war noch völlig benommen, trank aber durstig Schluck für Schluck. Da begann er zu husten, er zuckte vor Schmerz zusammen. Es weckte ihn vollends auf, sein Blick wurde klar. Currann bettete seinen Kopf zurück. »Geht es?« Seine Stimme krächzte nicht einmal mehr, sie war nur noch ein heiseres Flüstern.
Sinan nickte, er blickte sich um, sah die Kameraden. Currann wusste, dass er zählte, er sah es an seinem vorsichtigen Blick, in dem die Angst stand, es könnte jemand fehlen. »Wo ist Ouray?«, ächzte er denn auch sogleich.
Currann drückte ihm beruhigend die Schulter. »Er ist draußen und wäscht sich, keine Sorge. Wir sind alle unverletzt.«
»Das ist gut.« Sinan schloss erschöpft die Augen, trank aber weiter. Bei ihrer geflüsterten Unterhaltung wachten auch die anderen drei Kameraden auf. Ouray kam zurück, unbekleidet, die Tunika wrang er gerade aus. Er ließ sich neben Sinan nieder und hielt seine Tunika zum Trocknen ans Feuer.
»Regnet es noch?« Tamas rieb sich über das müde Gesicht und warf einen angeekelten Blick auf seine Hände.
»Ja, aber es wird bald aufhören. Wenn ihr euch noch waschen wollt, müsst ihr euch beeilen«, sagte Currann. Er wusste, dass das Wasser trotz des starken Regens nicht lange an der Oberfläche bleiben würde. Es würde im kargen Boden versickern und der Rest in der heißen Sonne verdunsten. Zur Mittagsstunde würde alles wieder trocken sein. Im Stillen dankte er Kiral für seine weise Voraussicht.
Currann folgte seinen Kameraden mit den leeren Schalen nach draußen, füllte sie erneut, brachte sie zurück zu Sinan, der immer noch trank. Im Gegensatz zu ihnen allen hatte er den gestrigen Tag nichts getrunken und kam beinahe um vor Durst. Aber auch Ouray nahm dankend eine Schale von ihm entgegen. Als sein Durst gestillt war, versuchte sich Sinan aufzurichten. Sie halfen ihm und lehnten ihn an die Höhlenwand. Er sah auf seinen Arm. »Wie schlimm ist es?«
Currann und Ouray wechselten einen schnellen Blick. »Wir müssen die Wunde auswaschen und verbinden. Fühlst du dich gut genug dafür?«, fragte Ouray.
Sinan entging ihr Blick bei diesen recht harmlosen Worten nicht. Er wurde blass. »So schlimm?« Er fühlte kaum einen Schmerz, sein Arm war wie betäubt.
Die beiden nickten vorsichtig. »Du könntest aber auch etwas Wasser vertragen«, versuchte Currann, seine Besorgnis zu mildern.
»Ihr müsst mir helfen.« Sinan konnte seinen Arm nicht bewegen, aber er versuchte tapfer aufzustehen. Sie halfen ihm zum Eingang der Höhle und entkleideten ihn.
Es war ungewohnt für Sinan, sich von seinen Kameraden waschen zu lassen, aber er spürte, dass sie dieser Dienst nach all dem Töten und Schrecken irgendwie aufrichtete. Doch dann ließ ihn ein scharfer Schmerz zusammenzucken.
»Passt auf, es läuft Schmutz in die Wunde!«, rief Kiral, der nach den Pferden gesehen hatte und nun mit etwas Proviant zurückkam. Da sahen auch die anderen, dass der Verband völlig durchweicht war.
»Wir waschen sie besser gleich aus«, sagte Currann. Er stützte Sinan, während Ouray den Verband abnahm. Sinan wagte einen Blick auf seinen Arm und schrak zurück.
»Das war ein Schwert, aber du hattest Glück, es hat dich nicht richtig erwischt.« Kiral begann, die Wunde zu reinigen. Es schmerzte so sehr, dass dem geschwächten Sinan die Beine wegknickten.
»Tragt ihn ins Trockne, macht schon.« Sie wuschen die Wunde fertig aus, Kiral strich etwas von der Paste hinein, und Ouray fertigte den neuen Verband.
»Ich wünschte, Althea wäre hier«, sagte Currann leise, während er Sinan festhielt. »Verdammt! Warum lehren sie die Versorgung von Wunden nicht gleich im ersten Jahr?«
»Thea..« Sinan begann sich zu rühren. War es erst gestern gewesen, dass sie von zu Hause geflohen waren, zu Hause .. in seiner Verwirrung versuchte er zu begreifen, was geschehen war. Plötzlich stürzten alle Ereignisse wieder auf ihn ein, die Erinnerungen kamen zurück. An seine Schwester .. »Oh Gott, Nel!« Er versuchte sich aufzurichten, aber die anderen hielten ihn nieder.
Sie hatten mehr Zeit gehabt, sich in dieser Lage zurechtzufinden, Currann wusste es wohl. Er drückte beruhigend Sinans Schulter. »Es wird ihr gut gehen, sie ist stark.« Selbst in seinen Ohren klang es mehr als lahm. Er fragte sich doch selbst, wo seine Geschwister und seine Cousine jetzt waren, und flehte inständig, dass es ihnen gut ging.
Mit all seiner verbliebenen Kraft stemmte sich Sinan gegen seinen Griff. »Mein Bruder wird sie sich vorknöpfen, ich muss zu ihr..« Es war deutlich, dass er noch nicht ganz bei Sinnen war, daher hielten sie ihn erst einmal nur fest.
»Hör zu, du kannst nicht zurück!«, versuchte Currann ihn zu beruhigen, und als es nicht half, noch einmal: »Du – kannst – nicht – zurück!« Currann tat es in der Seele weh zu sehen, wie sein Freund sich quälte, aber sie mussten den Tatsachen ins Auge sehen. »Selbst wenn du jetzt zurückgingest, was würdest du erreichen? Sie würden dich einsperren, und dann wäre Nel trotzdem deinem Bruder ausgeliefert!«
Sinan schloss mit einem Laut des Schmerzes die Augen, stumme Tränen liefen ihm herunter. Currann lockerte seinen Griff und ließ ihn wieder auf die Decken sinken. Er wusste, was in seinem Freund vorging, er selbst hatte es heute Nacht durchgemacht. Bald würde er sich beruhigt haben.
»Hier, esst erst einmal was«, sagte Kiral und reichte einen Beutel herum. Stumm griffen sie zu und verzehrten ihr Frühmahl. Schließlich waren sie alle soweit gestärkt, dass sie klar denken konnten.
Kiral ergriff als Erster das Wort. »Currann hat einen Vorschlag, wo wir hingehen können.« Die anderen hörten alle gleichzeitig auf zu kauen.
Sogar Sinan wandte den Kopf. »Willst du denn nicht hinter Fürst Bajan her, nach Temora?«, fragte er schwach.
»Nein, sie sind zu weit fort«, flüsterte Currann. Er räusperte sich. »Wenn wir sie suchen, bringen wir sie nur in Gefahr, denn unsere Gegner werden gewiss die Grenze überwachen. Nein, ich denke an etwas anderes. Tamas, was weißt du über Branndar?«
»Branndar?« Tamas verschluckte sich. »Das ist ja im hinterletzten..«
Currann hob die Hand. »Ich weiß, aber was weißt du über die Leute dort? Was wird am Hof deines Vaters über sie erzählt?«
Tamas runzelte die Stirn und versuchte das Wenige in seinem Gedächtnis zusammenzukramen, was er über diese Siedlung wusste: »Nun, es gibt dort eine Kupfer- und Zinnmine, aber sie ist schon lange stillgelegt. Auch das Fort ist seitdem nicht mehr besetzt. Ich habe mitbekommen, dass Vaters Steuereintreiber sehr erbost über die Leute dort ist. Er verdächtigt sie, ihre wahren Einnahmen zu verbergen, um nichts an ihn zahlen zu müssen. Jahr für Jahr kommt er mit leeren Schatullen von der weiten Reise dorthin zurück. Er hat Vater dazu gebracht, das Hilfeersuchen abzulehnen, als die Goi Überfälle begannen.«
»Ist dem so?«, fragte Currann gefährlich ruhig. Siri war dort, sie musste darunter leiden.
Tamas hob die Hände. Er war sich selbst des Fehlverhaltens seines Vaters bewusst. »Ich weiß, dass es seine Pflicht wäre, diese Menschen zu verteidigen. Stattdessen hat er sie aufgefordert, sich woanders in Nador niederzulassen, wo es Schutz und Arbeit gibt, aber sie weigern sich. Er nannte sie stur.«
Currann wollte zu einer scharfen Erwiderung ansetzten, aber Ouray legte ihm eine Hand auf den Arm. »Was denkst du über diese Menschen?«, fragte er. Es war nicht recht, wenn Currann Tamas für das Fehlverhalten seines Vaters anging.
»Ich vermute, dass die Menschen dort wirklich so arm sind, dass sie keine Steuern entrichten können. Aber um das zu beurteilen, werde ich mir selbst ein Bild machen müssen. Wenn ich recht habe, werden sie alle Hilfe brauchen, die wir ihnen geben können.«
»Verzeih«, bat Currann.
Tamas winkte ab. »Ich weiß, dass mein Vater sich nicht so verhält, wie es sein Lehnseid erfordert.«
»Glaubst du, dass sie uns aufnehmen werden, ohne allzu viele Fragen zu stellen? Wird dich dort jemand erkennen?«, fragte Kiral.
Tamas schüttelte den Kopf. »Nein, ich kenne niemanden aus Branndar, bis auf«, ein schiefes Lächeln huschte über sein erschöpftes Gesicht, »bis auf Siri.« Currann wurde rot, und sie begannen zu glucksen.
»Da wird sie aber schön schauen!«, grinste Yemon. Sie brachen in Gelächter aus, selbst Sinan, obwohl es ihm Schmerzen bereitete. Sie hatten ein Ziel, endlich. Es tat gut, so gut, wieder zu lachen.
Doch Kiral dachte wieder einmal schon weiter. »Wenn die Menschen dort wirklich so arm sind, können sie uns gewiss nicht durchfüttern, schon gar nicht mit den vielen Tieren. Wir müssen selbst für uns sorgen, auch über den langen Winter.«
Ratlos sahen sie ihn an. »Was können wir denn tun?«, sprach Yemon schließlich aus, was sie sich alle fragten.
»Wir nehmen mit, was wir unterwegs finden«, sagte Kiral. Die anderen sahen ihn immer noch verständnislos an.
»Ja, aber was willst du denn unterwegs finden?«, fragte Yemon mit einem ratlosen Blick hinter sich in die weite, kahle Steppe.
Kiral rollte die Augen zur Decke der Höhle. »Ihr seid wirklich die verwöhnten Söhne reicher Städter! Na was schon, Vorräte natürlich. Wir jagen, trocknen das Fleisch..«
»Moment mal, du willst unsere wenigen, kostbaren Pfeile dafür nehmen? Was, wenn sie kaputt gehen und wir angegriffen werden? Was ist dann?«, rief Tamas.
Der Cerinn schnaubte. »Doch nicht mit Pfeil und Bogen! Habt ihr keine Schleuder dabei? Damit kann man manch Getier viel besser erlegen.«
Die anderen starrten sich ungläubig an. »Aber, das ist doch etwas für kleine Jungen!«, brach es aus Yemon hervor, der nun, ganz der verwöhnte Fürstensohn, ehrlich entrüstet schien.
»Ach?« Kirals Augen wurden schmal, als er nach seinem Bündel angelte und eine einfache Schleuder daraus hervorzog.
Sinan begann zu lächeln. »Die haben sie dir offensichtlich nicht abgenommen«, sagte er, als er die fremdartigen Verzierungen sah.
»Nein, haben sie nicht. Es ist ja keine Waffe in dem Sinne für einen Mann, da gebe ich euch recht, aber sie hat mir auf dem Weg nach Gilda so manches Nachtmahl beschert.« Kiral zuckte mit den Schultern und steckte sie wieder fort.
»Na ja, ich will ja nichts sagen, aber..« Ouray holte halb verlegen ebenfalls eine Schleuder aus seinem Bündel. »Lieb gewonnene Dinge lässt man nicht so einfach zurück.« Er reichte sie an Tamas weiter, der ihn mit offenem Mund anstarrte. »Hast du denn keine besessen?«
Tamas schüttelte sich verwundert. »Doch, aber die habe ich schon seit Jahren nicht mehr benutzt. Wir jagen wirklich nur mit dem Bogen.«
»Nun, wir benutzen sie häufig, zum Erlegen der vielen Erdbewohner, die unsere Weiden unterhöhlen. Damit geht es am besten. Was ist mit dir, Currann?«
Currann hob die Hände. »Ich habe nie eine besessen. Es war uns nicht erlaubt zu jagen, ihr wisst doch, mein Onkel ist dabei ums Leben gekommen..« Sie erinnerten sich und nickten verständnisvoll. »Dann wird es ja Zeit, dass ich es lerne«, sagte er, nahm Tamas die Schleuder ab und drehte sie interessiert in den Händen.
»Du wirst ausreichend Gelegenheit dazu haben, wenn wir satt werden wollen«, sagte Kiral und sprang auf, »aber das wird nicht reichen. Wir werden mehr brauchen. Es gibt Beeren, Kräuter, Wurzeln und, wenn wir Glück haben, wildes Getreide in ein paar Wochen .. ich werde es euch schon noch beibringen, auch wie ihr das alles haltbar macht. Los, hoch mit euch, ihr faulen Söhne! Lasst uns sehen, dass wir hier wegkommen.«
»Also seid ihr einverstanden..« Currann konnte es noch gar nicht fassen.
»Haben wir einen besseren Vorschlag?«, fragte Tamas. Für ihn war es fast wie die Rückkehr nach zu Hause. Es war sein Land. »Wenn wir dort sind, sehen wir weiter.« Damit war es beschlossene Sache. Sie begannen, ihre Sachen zusammenzupacken. Ihre Tatkraft kam mit Macht zurück, sie spürten es und waren heilfroh darüber.
Currann griff nach seinem Bündel, und dabei fiel ihm der Inhalt eines ganz bestimmten Beutels ein. Rasch öffnete er ihn und zog ein längliches, in Wachstuch verpacktes Paket. »Das habe ich ganz vergessen«, flüsterte er.
Sinan richtete sich halb auf. »Was ist das?« Doch er erkannte es sofort, als Currann es auswickelte. »Das hast du mitgenommen?« Es war Altheas Schriftrolle.
Currann nickte und untersuchte sie vorsichtig. Sie war unbeschädigt. Erleichtert wickelte er sie wieder ein. »Ich wollte sie nicht zurücklassen. Dumm, nicht wahr?«
Doch Sinan verstand ihn. »Sie bedeutet dir sehr viel, nicht nur dir, uns allen. So kannst du die Erinnerung an sie wachhalten.«
Currann dankte ihm mit einem Nicken. Er steckte die Rolle wieder fort. »Es wird Zeit. Du reitest mit mir. Wir wechseln uns ab, bis es dir wieder besser geht.«
Bald darauf beluden sie die Pferde. Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen. Hier zeigte sich, dass Kiral wieder einmal am weitesten von ihnen gedacht hatte. Gleich nach dem Kampf hatte er aus den erbeuteten Schwertgurten und Gürteln ihrer Gegner Gurte für die Pferde gefertigt, sodass sie in der Lage waren, ihre Beute sicher zu transportieren.
Da sie nur die zwei Packpferde mit den üblichen Packgestellen hatten, beluden sie diese mit den sperrigen Dingen wie den Waffen und Rüstungen. An allen anderen Pferden befestigten sie große Bündel aus den Decken und der Kleidung, die sie erbeutet hatten.
Sie banden jeder ein paar der derart beladenen Pferde an ihre eigenen, sodass die Lasten möglichst gleichmäßig verteilt waren. »Eines ist sicher«, sagte Yemon und verpasste dem aufmüpfigen Wallach des Hauptmannes einen Klaps auf die empfindliche Nase, »Packpferde haben wir genug.«
»Wir werden sie noch schwer genug durchbringen«, sagte Kiral. Er half Sinan aufzusteigen.
Currann schwang sich hinter ihn und griff ihn fest um die Mitte. »Wird es gehen?« Er ließ seinen Hengst ein paar Schritte machen. Jede Erschütterung spürte Sinan in seinem Arm.
»Es wird schon«, antwortete er mit zusammengebissenen Zähnen. Currann nickte den Kameraden zu. Sie brachen auf.
Die Steppe dehnte sich. In der flirrenden Hitze des Tages konnte Currann nicht einmal sagen, wo das Land aufhörte und der Horizont begann. Bei ihrer gestrigen Flucht waren sie viel zu verstört gewesen, als dies zu bemerken, aber nun nahm er es zum ersten Mal bewusst wahr. Es war kein Vergleich zu der Expedition mit Fürst Bajan, wo sie auf einer Straße geritten waren, mitten unter vielen Männern, noch dazu im Herbst. Nein, hier hatten sie nur die unendliche Weite vor sich, nichts unterbrach den Anblick. Freiheit durchpulste seine Adern, die Weite war wie ein Rausch. Dies war sein Land. Nun konnte er Kiral verstehen, dass er abends stets auf der Stadtmauer gesessen hatte, den Blick fest auf die Steppe gerichtet.
Er ritt mit dem Cerinn voraus, sie wechselten sich ab, Sinan zu halten. Es war anstrengend, denn ihr verwundeter Freund schlief immer wieder ein, fieberte zwischendurch, war manchmal auch nicht bei Sinnen und drohte, vom Pferd zu rutschen.
Wie groß Kirals Kenntnis um die Dinge in der Steppe war, zeigte sich im Laufe des Tages immer mehr. Er sah, hörte, roch und spürte einfach mehr als sie. Currann bemerkte sogar, dass er ein sensibles Gespür für die Wahrnehmungen seines Wallachs besaß.
Wie wenig sie selbst über das Leben hier draußen wussten, merkten sie, als Kiral am ersten Abend die Wachen für die Nacht einteilte. Unbewusst hatte er die Führung der Truppe übernommen, sie verließen sich vollends auf ihn.
»Glaubst du denn, wir werden immer noch verfolgt?« Tamas sah sich um, aber er sah nichts außer Steppe und nochmals Steppe.
»Doch nicht wegen der Menschen, wegen der Raubtiere.« Kiral brummte ungeduldig.
»Raubtiere?« Yemon schluckte.
Nun drehte Kiral die Augen zum Himmel. »Ja, Raubtiere. Wir führen blutige Kleidung mit uns, das wird sie anlocken. Bisher habe ich keine Spuren entdeckt, aber man weiß nie..«
»Was für Raubtiere?«, fragte Yemon unbehaglich.
»Nun, Wölfe mit Sicherheit, vielleicht die eine oder andere Raubkatze .. das sind die Gefährlichsten«, entgegnete Kiral.
»Die gibt es hier?« Yemon blickte sich unbehaglich um.
Kiral schnaubte nur. »Natürlich. Um Gilda herum ist das Land zu dicht besiedelt, aber hier draußen? Mit Sicherheit.« Sie hatten ihr Lager zwischen einigen Felsen aufgeschlagen. Bei Dunkelheit entzündeten sie ein Feuer aus den wenigen Zweigen, die sie unterwegs eingesammelt hatten.
Kiral verteilte gerecht Teile ihrer erbeuteten Rationen, doch bevor sie sich hungrig darüber hermachen konnten, tat er etwas ganz und gar Ungewöhnliches: Er trat ein wenig von ihnen weg und verharrte einen Augenblick mit geschlossenen Augen. Dann murmelte er ein paar Worte in seiner Sprache und warf in hohem Bogen einen Brocken seines Essens in die Steppe.
»He, was machst..« Tamas verstummte, weil Ouray ihn anstieß und warnend den Kopf schüttelte. Kiral spritzte ein paar Tropfen aus seinem Trinkschlauch hinterher, dann kehrte er ungerührt zu ihnen zurück und begann sein Essen zu verzehren.
»Erklärst du uns das?« Currann hatte noch nichts angerührt, sondern auf ein paar Worte gewartet.
Kiral blickte auf und hörte auf zu kauen. Alle Augen waren fragend auf ihn gerichtet. Er zuckte mit den Schultern. »Es ist ein Brauch meines Volkes. Jedes Mal, wenn wir ein neues Lager aufschlagen, werden die ersten und letzten Speisen den Geistern dieses Ortes geopfert. Das stimmt sie milde, und sie halten schützend ihre Hand über diesen Platz.«
»Na, dann können wir ja beruhigt schlafen«, meinte Currann und gab damit für sie alle zu verstehen, dass er sich nicht an dem heidnischen Brauch störte.
Nachdem sie gegessen hatten, brachte Kiral ihnen die Grundregeln für die Nachtwache bei. »Achtet auf die Pferde, sie spüren zuerst, wenn sich etwas nähert. Wovor Raubtiere am meisten Angst haben, ist das Feuer. Sie werden nicht bis hier herankommen, aber versuchen, eines der Pferde zu reißen. Wir legen die Fackeln bereit. Wenn ihr merkt, dass sich etwas nähert, entzündet ihr sie und weckt die anderen. Wir bilden einen Ring um das Lager.« Kiral sah in die Runde. Alle blickten ihn aufmerksam an. »Und noch etwas: Wenn ihr mit einer Fackel in der Hand hier draußen entlang geht, bräuchte ich nur paar Schritte neben euch stehen, und ihr würdet mich nicht sehen.«
»Warum das denn nicht?«, fragte Tamas.
»Das liegt daran, dass hier jedes andere Licht fehlt. Eure Augen sehen nur die helle Fackel, aber nichts darum herum, keine Konturen, keine Schatten. Steckt sie in einiger Entfernung von euch in den Boden, sonst werdet ihr angreifende Tiere zu spät erkennen. Passt also auf.«
Die ersten Nächte verliefen ereignislos, genauso wie die Tage. Sie jagten, sammelten, aßen und schliefen und drangen dabei immer weiter in die unendliche Steppe vor.
»Ich wusste gar nicht, dass Sterne so viel Licht machen können«, sagte Ouray nach einigen Nächten. Er war aufgewacht, und obwohl er keinen Wachdienst hatte, war er weit hinaus in die Steppe gelaufen, ohne Licht, und hatte sich irgendeinen Felsen gesucht. Stundenlang hatte er dort gelegen und den endlosen Sternenhimmel betrachtet, seine Erhabenheit genossen und die tiefe Stille um sich herum, lediglich unterbrochen von dem leisen Rauschen des Windes im Gras.
»Es ist großartig, nicht wahr?« Currann erinnerte sich an seine eigenen Erfahrungen auf der Expedition. Er ließ seinen Blick über die Kameraden schweifen. Sinan schlief bereits, er war immer noch sehr schwach. Langsam machte sich Currann ernsthaft Sorgen um ihn, denn er sprach so gut wie nie. Die anderen schwiegen ebenfalls viel, aber anders. Er wusste, warum, konnte es aber kaum in Worte fassen. Es war, als fand mit jedem Tag mehr eine Reinigung ihrer selbst statt. Es half ihnen, den vergangenen Schrecken zu verarbeiten, Kraft zu schöpfen und sich zu festigen.
Es kam ihm so vor, als schliff die Einsamkeit hier draußen allen überflüssigen Ballast von ihnen herunter und ließ nur den Kern ihres Wesens übrig. Alle Eigenschaften, die ihren Charakter ausmachten, traten nun deutlich hervor, die guten zumeist, aber auch die schlechten. Er sah vieles an seinen Kameraden, was ihm vorher noch nie in dieser Deutlichkeit aufgefallen war, und er war sich sicher, sie auch an ihm. Sie würden sich alle neu kennenlernen müssen und ihre Kameradschaft neu gründen. Currann hoffte inständig, dass es dafür ausreichte, um ihm die Treue zu halten, was auch immer kommen mochte.
Currann wurde in seinen Betrachtungen unterbrochen, als Kiral sich neben ihnen am Feuer niederließ und begann, seine Pfeife zu stopfen. »Reicht immer noch«, brummte er zufrieden.
»Ich glaube, heute gehe ich wieder hinaus«, sagte Ouray und rollte sich in seine Decke ein. Trotz der Hitze des Tages wurde es nachts empfindlich kalt.
»Könnt ihr jetzt verstehen, warum ich mich in der Stadt wie eingesperrt vorkam?«, fragte Kiral nach einem langen Zug.
»Oh ja«, antworteten Currann und Ouray wie aus einem Mund.
»Warum willst du hinausgehen?«, fragte Yemon, der nach den Pferden gesehen hatte.
»Ich wecke dich und zeige es dir«, bot Ouray an, obwohl er lieber alleine gegangen wäre.
Doch Yemon winkte ab. »Danke, nein, ich schlafe lieber.«
Als Kiral ausgeraucht hatte, erhob er sich. »Ich übernehme die erste Wache. Currann, ich wecke dich nach Mitternacht.« Sie begaben sich zur Ruhe.
Currann fuhr hoch, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. »Ist es schon so spät?«
»Irgendetwas schleicht um unser Lager herum«, flüsterte Kiral und griff nach einer der Fackeln. Da hörte Currann es auch. Die Pferde waren unruhig. Augenblicklich war er hellwach. Er stieß Yemon und Tamas an. Kiral lief in die Richtung, in der Ouray bereits mit einer Fackel wartete. Er steckte seine Fackel etwas weiter fort in den Boden, und die anderen taten es ihm gleich. Rasch bildeten sie einen Ring um das Lager und lauschten angestrengt in die Dunkelheit, hielten Pfeil und Bogen bereit.
Plötzlich ertönte ein lang gezogenes Heulen, das aus vielen Kehlen beantwortet wurde. Es war überraschend laut, so laut, dass auch Sinan wach wurde. Verschreckt sah er sich um und versuchte, etwas zu erkennen. Da sah er in der Dunkelheit mehrere gelbliche Punkte aufleuchten. Sie waren sehr nahe. Auch die anderen hatten sie gesehen. Schon flog der erste Pfeil in die Richtung und traf. Ein Tier brach jaulend zusammen. Augenblicklich waren die anderen Punkte verschwunden. Sie lauschten in die Dunkelheit, Menschen wie Pferde. Eine unheimliche Stille breitete sich aus.
»Hört ihr noch etwas?«, rief Kiral irgendwann.
»Nein!«, antworteten die Kameraden. Nun kamen wieder Geräusche auf, die der normalen Nacht. Sie warteten noch geraume Zeit, aber die Pferde blieben ruhig. Die Gefahr war vorüber.
Schließlich ließen sie sich wieder am Feuer nieder und wälzten ihre Fackeln aus. »Glück gehabt«, sagte Yemon und gähnte.
»Trotzdem solltest du die restliche Nacht nicht alleine wachen«, sagte Kiral zu Currann.
»Ich bleibe mit dir auf«, bot sich Ouray an. Currann dankte ihm mit einem Nicken. Die beiden ließen sich in einiger Entfernung zum Feuer nieder, während sich die anderen wieder schlafen legten.
Ouray sah schon wieder zu den Sternen auf, er konnte nicht genug davon bekommen. »Denkst du noch an sie?«, fragte er nach einer Weile leise.
Currann schloss die Augen. »Ständig. Du nicht?«
Eine lange Pause entstand. Schließlich lehnte Ouray sich seufzend zurück. »Doch. Ich weiß nicht einmal, ob ich noch ein Geschwisterchen bekommen habe. Vater hat mir einen Tag vor unserer Flucht geschrieben, dass es wieder einmal soweit ist.«
»Ja, wie viele hast du denn schon?« Currann ging auf, dass Ouray so gut wie nie mit ihnen über seine Familie gesprochen hatte. Bei dem einzigen, kurzen Besuch, den sie einmal gemeinsam dort gemacht hatten, konnte er sich nur an dessen Vater und an eine unendliche Menge von Leuten erinnern.
Von Ouray kam ein ganz untypisches Schnauben, das mehr an Kiral erinnerte. »Ein halbes Dutzend oder vielleicht eins mehr. Sie sind alles Halbgeschwister, von Vaters zweiter Frau. Ich mag sie nicht besonders, meine Stiefmutter meine ich, denn sie bevorzugt ihre Kinder über alles. Es ist, als gehörte ich gar nicht dazu. Wenn Vater und meine Großmutter nicht wären..« Er verstummte nach dieser für ihn sehr langen Rede.
»Ich verstehe. Vermutlich ist sie froh, dass du fort bist?«, fragte Currann behutsam. Eigentlich wollte er nicht, aber es hatte bestimmt einen Grund, dass Ouray sich ihm ausgerechnet jetzt mitteilte.
»Bestimmt. Sie hofft vermutlich, dass ich tot bin«, brummte Ouray verächtlich. Currann wartete, ob er weitersprach, doch er schwieg in finsteren Gedanken.
Currann wollte nicht weiter in ihn dringen. »Es tut mir leid«, sagte er leise. »Dein Vater..«
»Braucht es dir nicht. Du bist bestimmt ständig in Gedanken bei den deinen..«
»Ja .. nein .. ach, ich weiß nicht..« Currann wusste nicht, wie er das ausdrücken sollte. »Es fühlt sich irgendwie anders an. Ich mache mir kaum noch Sorgen um sie, irgendwie .. spüre ich, dass sie in Sicherheit sind.«
»Ja, es geht mir auch so. Ich glaube, dass hier in der Steppe unsere Sinne geschärft werden. Verrückt, nicht wahr? Vorhin habe ich die Wölfe schon bemerkt, da habe ich die Pferde noch gar nicht gehört, so weit war ich weg.«
Currann wandte überrascht den Kopf. »Du warst allein da draußen? Was, wenn sie auf dich losgegangen wären?«
»Ich weiß, ich weiß, das passiert mir nicht ein zweites Mal.« Ouray hob abwehrend die Hände.
Currann tat sein Ausbruch sofort leid. »Entschuldige. Aber du hast recht, ich habe es auch bemerkt. Kiral hat nicht mehr so viel Vorsprung wie noch vor einigen Tagen.«
»Aus weniger wird mehr.« Mit diesen Worten Ourays überließen sie sich ihren Gedanken, bis der Morgen graute.
Kiral war als Erster wieder auf den Beinen. Er sah nach dem erlegten Wolf. Currann folgte ihm. »Was für ein Tier!«, entfuhr es ihm.
Kiral zückte bereits sein Messer. »Ein Weibchen. Das gibt ein schönes Fell. Schade, im Winter wäre es noch prächtiger gewesen.« Er begann das Tier fachmännisch zu häuten.
»Uäh!« Yemon kam gar nicht erst näher heran, dergleichen überließ er immer den anderen, weil ihm schlecht dabei wurde.
Currann dagegen sah interessiert zu. Er reichte Kiral sein saranisches Messer. »Versuchs mal damit.«
Kiral probierte es sogleich aus. »Viel besser. Willst du auch mal?«, fragte er mit einem spöttischen Grinsen.
Currann lehnte dankend ab. »Später einmal.« Kiral zuckte mit den Schultern und vollendete sein Werk. »Wo hast du das alles gelernt?«
»Nun, es ist Brauch, dass die Väter mit ihren Söhnen jedes Jahr für einige Zeit in die Steppe ziehen, allein, getrennt vom Stamm. Bei mir war es der Schamane, der mich mitgenommen hat, da mein Onkel nicht wollte. Obwohl es als mein nächster männlicher Verwandter seine Pflicht gewesen wäre.«
»Er hat dir Steine in den Weg gelegt, wo er nur konnte, nicht wahr?«, fragte Currann mitfühlend und half Kiral, das Fell zum Trocknen in der Morgensonne zurechtzuziehen.
»Ja, aber die Männer meines Stammes haben mir geholfen. So habe ich vielleicht noch mehr gelernt als manch anderer. Dies hier zum Beispiel ist eigentlich Frauenarbeit.«
Currann lachte auf. »Zeig mir eine Frau im Umkreis von zehn Tagen!«, spottete er. Er deutete auf die Wölfin. »Was ist mit dem Fleisch?«
Kiral verzog das Gesicht. »Du musst schon sehr hungrig sein, um dies anzurühren. Ich finde, es schmeckt nicht besonders gut. Halten wir uns lieber an den Inhalt unseres Feuers.«
Wie auf Kommando begann Curranns Magen zu knurren. »Guter Einfall«, sagte er und sprang auf.
Ouray schob bereits neugierig die Asche auseinander und holte mit einem Stock drei Lehmpäckchen heraus. Er stieß sie auseinander. »Riecht gut.« Begierig zogen sie den Duft ein. Sie hatten gestern durch Zufall eine kleine Wasserstelle gefunden, die genug Wasser führte, dass sie ihre Vorräte auffüllen konnten, und in ihrer Nähe ein wenig Lehm. Currann hatte die Vögel erlegt, das erste Mal, dass er auf Anhieb mit der Schleuder getroffen hatte, und Kiral hatte ihnen gezeigt, wie man die Vögel in dem Lehm zubereitete. Sogar Kräuter hatten sie dafür ausfindig gemacht und gleich einen Vorrat mitgenommen.
»Es hat tatsächlich geklappt«, staunte Tamas, als er den trockenen, hart gebackenen Lehm entfernte. Die Federn blieben darin hängen und ließen das saftig gegarte Fleisch zurück.
»Natürlich hat es das.« Kiral stieß Tamas an. Genussvoll verzehrten sie ihr Frühmahl.
»Wir müssten bald an den Rand der Hochebene gelangen«, sagte Currann nach einiger Zeit in die gefräßige Stille ihres Frühmahls hinein.
»Meinst du, der Abstieg wird schwierig?«, fragte Ouray.
Currann erinnerte sich an die Expedition, und auch Tamas dachte an seine Reise nach Gilda. »Es sind wohl einige hundert Schritte hinunter. Auf der Straße ist es schon schwierig genug, aber ohne .. wir werden uns sehr genau aussuchen müssen, wo wir absteigen.«
»Was wird uns unten erwarten?«, fragte Ouray.
»Es wird etwas mehr Wasser geben, mehr Pflanzen. Aber es wird dort unwegsamer sein als hier oben. Wir werden sehr viel langsamer vorankommen«, sagte Tamas.
»Wie kommst du darauf?« Das leuchtete Ouray nicht ein.
Aber Currann wusste genau, was Tamas meinte: »Nun, es ist Sumpfland. Wäre es leicht zugänglich und besiedelbar, gäbe es hier längst eine Siedlung und eine Straße. Es gilt als Niemandsland.« Currann stand entschlossen auf. »Es nützt nichts, sich darüber jetzt schon Sorgen zu machen. Sehen wir es uns erst einmal an«, gab er das Zeichen zum Aufbruch.
Gegen Mittag war es dann soweit, früher als erwartet. Kiral kniff als Erster die Augen zusammen, vermeinte er doch im Dunst des Horizonts etwas zu erkennen. »Dort!«, rief er und zeigte in die Richtung.
»Das sind die Berge von Nador«, schrie Tamas kurz darauf von weiter hinten gegen den Lärm der Tiere an.
Sie ritten noch einige Stunden weiter. Das Gebirgsmassiv war nun immer deutlicher zu sehen. Dann, wie auf Kommando, hielten sie alle wie gebannt an. Die Kameraden staunten über den Anblick, der sich ihnen bot. Es ging steil bergab. Weit unter ihnen öffnete sich das sanfte Hügelland Nadors. Dahinter, in dunstiger Ferne, erhob sich bis in zerklüftete Höhen das Nador Gebirge mit seinen schneebedeckten Gipfeln.
Tamas konnte sich an diesem Anblick nicht sattsehen. Dies war seine Heimat. Rasch suchte er das Gebirge nach ihm bekannten Gipfeln ab. Da hatte er ihn auch schon ausgemacht, ganz im Norden und kaum noch zu erkennen. »Seht ihr dort hinten den höchsten Berg? Wir nennen ihn den Berg des Donners, da die Unwetter meistens aus seiner Richtung kommen. Nur wenig nördlich davon liegt die Stadt Nador und die Grenze zu Temora.« Er versuchte ihren ungefähren Standort abzuschätzen. »Ich glaube, dass Branndar ein wenig weiter südlich von hier liegt, es liegt am Fuße des Ramors..« Er suchte das Gebirge weiter ab und versuchte, den Gipfeln Namen zuzuordnen. Hier war er zwar noch nie gewesen, aber wie alle Kinder Nadors hatte er die Namen ihrer Gipfel anhand von Zeichnungen auswendig gelernt. »Dort, dort drüben, der ist es.« Er zeigte auf eine besonders steilen und zerklüfteten Gipfel weiter südwestlich von ihnen.
»Das ist noch ein gutes Stück«, meinte Currann.
»Ja, aber nun wissen wir die Richtung. Lasst uns dort entlang nach einem Abstieg suchen«, meinte Kiral. Er wollte noch vor dem Dunkelwerden sicher unten ankommen. Spähend kniff er die Augen zusammen. Noch konnte man von dem Gelände unten nicht viel erkennen, aber er meinte, hier und dort ein Glitzern zu sehen. »Es ist wirklich sumpfig«, sagte er zu Tamas.
Dieser nickte. »Ja, das ist es. Hier sammelt sich das Wasser nach der Schneeschmelze und versickert langsam. Es kann nicht fortfließen, weil die Sümpfe eine eigene Senke bilden. Wir müssen aufpassen, wo wir absteigen.«
Stundenlang ritten sie am Abgrund entlang. Sie kamen nur sehr langsam voran, denn sie mussten immer wieder Felsspalten ausweichen, die sie zu großen Umwegen zwangen. Doch irgendwann entdeckte Kiral eine Stelle, die ihm für den Abstieg geeignet schien. »Seht, dort hat es einmal einen Erdrutsch gegeben.« Nun sahen es auch die anderen. Es war eine Geröllhalde, sie fiel im Vergleich zu den restlichen Felsen relativ flach bis in die Ebene ab.
»Wenn wir in Serpentinen hinuntergehen, können wir es schaffen«, rief Kiral, der probeweise einige Schritte abgestiegen war. Immer wieder rutschten die Steine unter ihm weg, aber er hatte trotzdem einen einigermaßen sicheren Halt.
»Wir sollten lieber einzeln gehen«, gab Ouray zu bedenken, als er die Steine nach unten rutschen sah.
Currann gab ihm recht. »Wir haben genug Zeit. Gehen wir kein Wagnis ein.« Er weckte Sinan auf, der mit dem Kopf an seiner Schulter eingeschlafen war. »Meinst du, du kannst selbst laufen?«
Sinan brauchte ein wenig, um richtig wach zu werden, nickte aber schließlich. »Es wird schon gehen«, meinte er und ließ sich vom Pferd herunterhelfen.
Kiral kam wieder zu ihnen hinaufgeklettert. »Ich gehe mit Wind und drei Packpferden voraus. Wenn einer den sicheren Weg findet, dann er.«
Besorgt beobachteten die Kameraden, wie Kiral mit dem wackeligen Abstieg begann. Immer wieder gerieten die Steine unter ihm und den Pferden ins Rutschen, aber nur wenige Schritte. Da er Wind mit Worten und Pfiffen dirigierte, blieben auch die hinter ihm herlaufenden Packpferde erstaunlich ruhig.
»Eigentlich könnte man einfach hinunterrutschen«, meinte Tamas, als Kiral langsam aus ihrem Blickfeld verschwand.
»Genau, sag deinem Pferd, es soll sich auf sein Hinterteil setzen«, spottete Yemon.
»Gar kein so schlechter Einfall«, meinte Currann mit einem nachdenklichen Blick auf Sinan, der sich auf dem Boden niedergelassen hatte. Würde sein Freund den Abstieg bewältigen? Currann hatte so seine Zweifel.
Ouray wandte ein: »Es ist gefährlich, du kannst nicht bis unten sehen. Vielleicht gibt es zwischendurch Spalten oder Felsstürze. Lasst es lieber bleiben.«
Currann nickte abwesend. »Seht, da ist Kiral. Er ist sicher angekommen.« Currann half Sinan auf. Sie würden als Nächstes gehen. »Wenn dir schwindelig wird, setzt du dich sofort hin, verstanden?«
»Verstanden.« Sinan schaute die Halde hinunter. Es kam ihm endlos weit vor. Er holte tief Luft und machte einen ersten, vorsichtigen Schritt hinab.
Es war für ihn nicht einfach, derart geschwächt und zudem mit nur einem Arm das Gleichgewicht zu halten. Currann konnte ihn nicht stützen, denn er hatte mit den Pferden alle Hände voll zu tun.
Jedes Mal, wenn Sinan abrutschte, kostete es ihn unendlich viel Kraft, sich wieder aufzurichten. Nach etwa der Hälfte der Strecke lief ihm der Schweiß in Strömen herunter.
Currann erschrak, als er das fahle Gesicht seines Freundes sah. »Wir machen einen Moment Halt«, bestimmte er.
Sinan ließ sich sogleich nieder. Jetzt merkte er, dass sich alles um ihn drehte »Verdammt!«, haderte er leise mit sich selbst.
»Lass dir Zeit.« Currann legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. Er winkte den anderen zu, dass alles in Ordnung war, dann holte er einen Wasserschlauch hervor und hielt ihn Sinan an die Lippen. »Hier, trink. Du hast heute noch viel zu wenig getrunken. Hast du Schmerzen?«, fragte er besorgt. Sinan schüttelte leicht den Kopf. Als keine weitere Antwort kam, beließ es Currann dabei, machte sich aber Sorgen.
Nachdem sich Sinan etwas erholt hatte, machten sie sich an den weiteren Abstieg, aber Sinan spürte gleich, wie sehr seine Beine zitterten. Er mühte sich krampfhaft ab, auf den Beinen zu bleiben, nicht schon wieder zusammenzubrechen und so seine Schwäche zu zeigen. Mit zusammengebissenen Zähnen bewältigte er die Strecke, aber dann kamen sie an ein besonders steiles Stück, an dem sie mehrere Schritte auf einmal abrutschten. Die Pferde wieherten angstvoll, Currann konnte sie kaum noch halten. Sinan verlor das Gleichgewicht und kam halb auf der Seite zum Liegen, die Beine bis zu den Waden im Geröll versunken. Er versuchte mühsam, wieder hochzukommen, aber ihm fehlte die Kraft.
»Sinan!« Currann konnte ihm nicht helfen, er hatte Mühe, die Pferde am Durchgehen zu hindern. Der Blick verschwamm vor Sinans Augen, aber irgendwie gelang es ihm, sich aufzurichten. »Bleib, wo du bist!«, rief Currann. Er sah keine andere Möglichkeit. So schnell er konnte, legte er die letzten Schritte nach unten zurück.
Auf halbem Weg kam ihm schon Kiral entgegen. »Hilf ihm, er schafft es nicht!«, rief Currann.
Kiral hastete nach oben. »Setz dich hin, ich komme!«, brüllte er, als er sah, dass Sinan aufzustehen versuchte. Doch Sinan hörte ihn nicht mehr. Ein Brausen erfüllte seine Ohren, die Landschaft kippte vor seinen Augen. Kiral hatte ihn fast erreicht, als er kopfüber den Abhang hinunterstürzte. Im letzten Moment konnte Kiral sich noch zur Seite werfen, bevor Sinan in einer großen Lawine aus Geröll und Staub an ihm vorbeistürzte. Immer mächtiger wurde sie, es schien, als wollte der ganze Hang ins Rutschen geraten.
»Currann, pass auf!«, brüllte Kiral über den Lärm hinweg in der Hoffnung, dass dieser ihn unten hören konnte. Er selbst hastete so schnell er konnte rückwärts, weg von dem rutschenden Geröll. Es schien ihm eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis wieder Stille einkehrte und das letzte Poltern verklungen war. Kiral hustete und versuchte, etwas zu erkennen. »Currann?!«, schrie er und erhielt zu seiner großen Erleichterung von unten Antwort. »Siehst du ihn?«, schrie er hinunter.
»Nein!«, schallte es ihm entgegen. Kiral wagte einen vorsichtigen Schritt auf die abgerutschten Geröllmassen, doch sie fühlten sich nicht anders an als vorher. Rasch machte er sich an den Abstieg. Der Staub legte sich langsam. Fieberhaft suchte er die Halde nach seinem Freund ab, doch er sah nichts. »Verdammt, wo bist du?«, murmelte er.
Da sah er, dass Currann sich hastig von unten hochzuarbeiten begann. Er deutete auf einen Punkt unter ihm. Kiral flog fast schon hinunter und kam kurz vor Currann an der Stelle an. Eine einsame Hand ragte aus dem Schutt empor. »Verdammt .. verdammt!« Kiral grub mit bloßen Händen, versuchte, ihn zu befreien, doch die Geröllmassen rutschten immer wieder nach.
Gleich darauf kam Currann keuchend zu ihm hochgeklettert und half ihm. »Schnell, schnell, er bekommt darunter keine Luft!« Er hinderte das Geröll am Nachrutschen, sodass Kiral nun schneller vorankam.
»Zuerst den Kopf!«, rief Currann, als sie die Umrisse seines Oberkörpers erkennen konnten. Currann stemmte sich gegen das Geröll, während Kiral den Kopf befreite. Doch Sinan atmete nicht. Kiral packte seinen Kopf, bog ihn nach hinten und blies ihm Luft in die Lungen.
»Atme, nun mach schon!«, flehte Currann. Doch sie hörten nichts. »Noch einmal!« Kaum hatte Kiral angefangen, begann Sinan zu husten und schlug gleich darauf die Augen auf. Currann war so erleichtert, dass er erst einmal den Kopf senkte und dankbar die Augen schloss. Kiral zog unterdessen Sinan aus dem Geröll heraus. Ein Schmerzensschrei ließ Currann alarmiert aufblicken. »Was ist .. oh nein, dein Arm, er blutet wieder!«
»Los, bringen wir ihn hier herunter, bevor der ganze Berg auf uns rutscht!«, rief Kiral. Er zog Sinan auf ein sicheres Stück, während Currann sich weiterhin gegen das lose Geröll stemmte.
»Jetzt!!« Currann warf sich mit einem Ruck zur Seite. Keinen Augenblick später war die Stelle, an der sie gegraben hatten, wieder verschüttet. Gemeinsam trugen sie Sinan die letzte Strecke hinunter und in sichere Entfernung zu dem Abhang, wo auch die Pferde angebunden waren. Kiral winkte den anderen hinauf, dass der Nächste mit dem Abstieg beginnen konnte.
»Hätten wir ihn doch gleich getragen .. oder eine Trage gebaut!« Sich heftige Vorwürfe machend, untersuchte Currann den Arm. Als er Sinan aus seiner Kleidung geschält und den Verband abgewickelt hatte, entfuhr ihm ein leiser Fluch. Sinan hörte es nicht, er hatte die Augen geschlossen und konzentrierte sich ganz darauf, nicht wieder das Bewusstsein zu verlieren.
Aber Kiral sah es sofort: Der Arm war dick geschwollen, und eitriges Blut sickerte aus der Wunde hervor. »Sie hat sich entzündet. Verdammt, Sinan, warum hast du nichts gesagt?«, rief er. »Das muss doch schmerzen!«
Sinan öffnete mühsam die Augen. »Ich spüre den Arm nicht mehr«, flüsterte er. »Schon seit ein paar Tagen..«
Kiral sprang auf. »Wir brauchen heißes Wasser, neue saubere Verbände .. warum ist Ouray noch nicht hier?« Derartige Ausrufe passten gar nicht zu dem sonst so beherrschten Cerinn. Alle Überlegenheit war verflogen. »Wenn die Entzündung weiter fortschreitet, wird er seinen Arm verlieren oder am Fieber sterben!«
Es war für Currann wie ein Schlag ins Gesicht. Er wusste, was dies bedeutete. »Das können wir hier in der Wildnis nicht schaffen. Wir müssen so schnell wie möglich nach Branndar.« Er presste entschlossen die Lippen zusammen.
Doch Kiral schüttelte nur den Kopf. »Wir können ihn in diesem Zustand nicht nach Branndar bringen. Wir müssen ihn selbst versorgen!«
Sie betteten Sinan möglichst bequem auf ein paar Decken. Currann betrachtete besorgt seinen Freund, wie er mit blassem Gesicht dort lag. Er fühlte ihm die Stirn, sie war wieder heiß. Currann machte sich immer heftigere Vorwürfe. Warum hatte er nichts bemerkt, ihm nicht beim Abstieg geholfen .. warum war Althea ..?
»Hör auf zu grübeln, das ändert auch nichts!«, fuhr Kiral ihn an. Er ließ einen Armvoll trockener Zweige neben ihm fallen und begann, in seinem Bündel zu wühlen. »Es ist nicht mehr genug da«, sagte er besorgt, als er einen Lederbeutel öffnete.
Currann roch es sofort, dies war das Zeug, das er schon beim ersten Mal auf die Wunde getan hatte. »Was können wir nur tun? Verdammt, ich wünschte, Althea wäre hier!« Er ballte seine Hände zu Fäusten.
»Das steht wohl nicht zur Wahl. Wir müssen die Wunde ausbrennen, das hätten wir gleich am Anfang machen sollen!« Kiral zerbrach eilig die Zweige und schichtete sie auf.
»Oh nein.« Currann wurde blass. Er erinnerte sich an Jeldrik, an den Geruch und die gequälten Schreie seines Freundes. »Haben wir etwas Starkes gegen die Schmerzen?« Warum kannte er sich nicht mit Heilkräutern aus? Warum ..?
»Du meinst so etwas wie Mohnsaft? Nein, viel zu wertvoll, so was trägt man nicht so eben mit sich herum. Aber hier wächst viel mehr als oben in der Steppe, vielleicht finde ich irgendein anderes Kraut. Heilkräuter sind nicht gerade meine Stärke«, gab Kiral schuldbewusst zu. Er blickte nach oben, auf den Hang, und sah Ouray mit den Pferden herabsteigen. »Ich laufe los und sehe, was ich finden kann. Mach du schon mal Feuer und bring Wasser zum Kochen.«, wies er Currann an.
Als endlich alle unten waren, machten sie sich gemeinsam ans Werk. Selbst Yemon blieb dabei, auch wenn er zu kämpfen hatte. Sie rechneten es ihm hoch an.
Diesmal gingen sie kein Risiko mehr ein. Sie öffneten nicht nur die Wunde und brannten sie aus, sie spülten sie sogar vorher mit kochendem Wasser. Unmengen an Eiter strömten daraus hervor, durchsetzt von zahlreichen Knochensplittern. Da wussten sie, dass sie es mit richtigem Wundbrand zu tun hatten. Der Arm war zertrümmert worden, und sie hegten ernste Befürchtungen, dass Sinan, wenn er den Arm nicht ganz verlieren, ihn doch niemals wieder gebrauchen könnte. Die Tatsache, dass er keine Schmerzen verspürt hatte und den Arm während der ganzen Behandlung nicht einmal bewegte, sprach ganz dafür.
Hinterher hielten sie erschöpft inne. Sinan lag am Feuer, er war bewusstlos. Sein Gesicht wirkte wächsern, mehr tot als lebendig.
»Wenn er aufwacht, wird er etwas gegen die Schmerzen brauchen«, murmelte Currann und stemmte sich mühsam hoch. »Hast du auf deinem Streifzug etwas gefunden?«, fragte er Kiral.
»Hmm, ich habe etwas Weidenrinde gefunden, aber ob die stark genug ist? Wir müssen es probieren. Überhaupt«, er wartete, bis die anderen wieder halbwegs bei sich waren, »wächst hier viel mehr als in der Steppe.« Er öffnete einen der Beutel.
Die Augen der Kameraden wurden groß. Schlagartig wurden sie wieder lebendig. »Erdbeeren!« Gierig griffen sie zu. So etwas Leckeres hatten sie seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gegessen, wenigstens kam es ihnen so vor. In Wahrheit waren ein Dutzend Tage seit ihrer Flucht vergangen.
Hinterher sahen sie erschöpft an. »Oh Mann, wir sehen aus, als hätten wir ein Blutbad angerichtet«, schnaubte Tamas. Sie lachten auf, aber es klang bitter.
»Haben wir ja auch«, sagte da eine leise Stimme hinter ihnen. Sinan war wieder wach geworden.
»Wie fühlst du dich?« Currann war sofort bei ihm. Er griff eine Schale mit Tee.
»Ich .. mein Arm pocht, aber mehr nicht«, sagte Sinan unsicher.
Currann konnte sehen, dass er immer noch Fieber hatte und offensichtlich auch Schmerzen. »Hier, trink das.« Er setzte ihm die Schale an die Lippen, die dieser gehorsam austrank. Die Anstrengung, seinen Kopf zu heben, war schon fast zu viel für ihn.
Die anderen Kameraden ließen sich neugierig um das Feuer nieder. Kiral packte seine Funde aus. »Diese Wurzeln kann man trocknen und im Winter in Wasser wieder aufkochen. Und seht, was es hier noch gibt.« Er hielt etwas Haariges hoch.
»Wolle!« Ouray war nun in seinem Element, denn Schafe gehörten zum festen Bestandteil seiner Siedlung. Er roch daran. »Hmm, das waren aber keine Schafe, sie ist zu lang dafür. Sie hängt sicherlich schon länger hier draußen herum«, stellte er fest.
»Natürlich, es ist ja kein Frühling mehr. Dort hinten muss eine ganze Herde durchgezogen sein, jedenfalls hängen die Büsche voll davon. Wir können alles einsammeln und uns daraus Wolle spinnen und Stoffe machen.«
»Weißt du denn, wie das geht?« Currann sah von Sinan auf, der sich unruhig zu bewegen begann.
Kiral schüttelte den Kopf. »Nein, aber vielleicht wissen es die Leute in Branndar.«
»Aber ich weiß es«, sagte Ouray schlicht.
Die anderen sahen ihn erstaunt an. »Das ist doch Frauenarbeit, oder?«, fragte Tamas.
»Kiral verarbeitet doch auch Felle, also warum soll ich nicht wissen, wie man Wolle verarbeitet? Davon lebt meine Familie schließlich«, entgegnete Ouray schärfer als beabsichtigt. Tamas hob entschuldigend die Hände.
Yemon sprang plötzlich auf. »Ich fange schon mal an zu sammeln, es ist noch lange hell.« Er war froh, etwas Abstand von ihrem Lager zu bekommen. Die anderen folgten ihm, nur Currann nicht. Er blieb dicht bei Sinan und bereitete ihm eine neue Schale Weidenrindentee.
»Currann.« Sinan schlug die Augen auf, sie waren ganz glasig vor Fieber. Furcht und Schmerz standen in ihnen.
»Keine Angst, dein Arm ist noch dran.« Er setzte Sinan die Schale an die Lippen und stützte seinen Kopf. Sinan begann gierig zu trinken, verzog aber das Gesicht wegen des bitteren Geschmacks. »Trink, es wird dir helfen.« Gehorsam trank Sinan alles aus.
»Es tut mir leid«, flüsterte er schwach.
Currann hielt mitten in seinen Bewegungen inne. »Was tut dir leid?«
»Ohne mich wäret ihr viel schneller vorangekommen und müsstet nicht .. ich wünschte, ich wäre..«
»Sag so etwas nicht, hörst du!« Er packte Sinans Schulter und sah ihn fest an. »Wir haben alle gekämpft, und jeder hätte verwundet werden können. Ich will solch einen Unsinn von dir nicht hören, verstanden?« Currann war absichtlich grob zu ihm.
Doch Sinan hörte ihn schon nicht mehr. »Es wird nie wieder gut werden«, murmelte er und schlief ein. Currann blieb bedrückt neben ihm sitzen.
Sinans Fieber stieg im Laufe der Nacht immer höher. Am folgenden Morgen ging es ihm so schlecht, dass er nicht mehr ansprechbar war. Sie beschlossen, einen weiteren Tag zu bleiben. Während abwechselnd einer von ihnen bei Sinan blieb, gingen die anderen auf Beutezug. Wie nützlich das erbeutete Gut ihrer Gegner war, zeigte sich spätestens jetzt. Kiral nähte die Umhänge der Soldaten zu großen Säcken zusammen, um die gesammelte Wolle transportieren zu können. Sie sammelten allerlei Beeren, die sie in der Gegend fanden, pressten den Saft heraus und das Fruchtfleisch zu Fladen und legten es zum Trocknen auf die heißen Felsen. Gegen Abend war es fast trocken. »Noch ein, zwei Tage und man kann es über Monate lagern.« Kiral streckte Currann ein Stück zum Probieren hin.
»Gar nicht schlecht.« Currann kaute vorsichtig darauf herum. »Meinst du, der Saft fängt an zu gären?«
»Entweder er wird schlecht oder er gärt tatsächlich. Probieren wir es einfach aus. Zuviel sollten wir jedenfalls nicht davon trinken, sonst bekommen wir Durchfall.«
»Vielleicht hilft kochen.« Ouray kam mit einem großen Sack auf der Schulter zurück. »So machen es die Frauen bei uns und füllen den Saft in Schläuche oder Krüge.« Er ließ den Sack zu ihren Füßen fallen.
»Reiche Beute.« Kiral zog die Enden auseinander, es kam eine große Menge Wolle zum Vorschein.
»Oh ja, es ist zwar noch schmutzig, aber ausgewaschen und gekämmt gibt es eine hervorragende Wolle ab. Ich habe übrigens Hufspuren gefunden. Es waren Wisente«, sagte Ouray.
»Deshalb die großen Mengen«, begriff Kiral.
Ouray nickte. »Und dabei habe ich nur ganz in der Nähe gesammelt. Da ist noch viel mehr.«
»Wir können eh nicht fort, dafür geht es Sinan zu schlecht. Es bleibt genug Zeit.« Currann warf einen besorgten Blick hinüber zum Lager, wo Tamas neben ihrem Freund wachte. Sie konnten sehen, dass er ihm mit Wasser die Stirn kühlte.
»Es ist immer noch nicht gesunken?«, fragte Ouray besorgt.
»Nein.« Currann klang bedrückt.
»Hat er etwas getrunken?« Stummes Kopfschütteln. »Er muss etwas trinken, sonst verdurstet er. Haben wir noch Weidenrindentee?«
»Es steht alles bereit.« Kiral stand mit einem Seufzer auf. Die Sorge um ihren Freund lastete schwer auf ihnen. »Da kommt Yemon.« Kiral wandte den Kopf. Er hatte ihn erkannt, bevor er in Sichtweite war. Currann staunte über diese Fähigkeit immer wieder. »Noch einmal reiche Beute«, sagte Kiral zufrieden, als er die Kaninchen und Vögel in der Hand ihres Kameraden erblickte.
Doch Currann fiel etwas ganz anderes auf: »He, warum bist du denn so sauber?«
Yemon grinste. »Ich habe eine Quelle entdeckt mit einem kleinen Teich dabei. Man kann darin baden«, sagte er, als sie zum Lager hinübergingen.
»Baden??« Die Augen der Kameraden wurden groß.
»Wie weit ist es von hier?«, fragte Ouray.
»Keine hundert Schritte, durch das Gebüsch dort hinten durch. Ich habe einen Pfad geschlagen und will gleich die Wasserschläuche füllen.« Er drückte Kiral die erbeuteten Tiere in die Hand. Das Ausnehmen überließ er lieber dem Cerinn.
»Na dann..« Froh, der drückenden Stimmung entkommen zu können, machten sich Kiral und Ouray auf den Weg.
Currann dagegen ließ sich neben Sinan nieder. »Trinkt er?«, fragte er Tamas. Sein Freund schüttelte den Kopf. »Warte..« Currann nahm ihm die Schale aus der Hand. »Ich habe eine Idee. Geh doch mit den anderen mit, ich versuche etwas.«
Currann drückte ein Tuch in den Tee und ließ die Tropfen einzeln auf Sinans Lippen herabrinnen. Sie waren schon ganz rissig vor Trockenheit. Reflexartig begann Sinan, die Tropfen abzulecken. »Ja, gut so, mach weiter!«, ermunterte er seinen Freund, obwohl er nicht sicher war, dass dieser ihn hören konnte. Geduldig fuhr er fort, bis die Schale leer war.
Gegen Abend stieg Sinans Fieber immer höher. Sie zogen ihn aus und begannen, ihn zu kühlen, bis es zu kalt wurde und sie ihn fest in die Decken wickelten. Currann war die ganze Zeit nicht von seiner Seite fortzubringen, obwohl sich die Kameraden anboten, ihn abzulösen. Schließlich ließen sie ihm seinen Willen und legten sich schlafen.
Tief in der Nacht brach Sinan in wilde Fieberfantasien aus. Er rief nach Nel, immer und immer wieder. Doch plötzlich fuhr er mit einem lauten Keuchen hoch. »Mutter?!« Er streckte die Hand aus, die Augen waren weit aufgerissen. Currann sträubten sich die Haare, so unheimlich sah er aus. »Mutter, nein, geh nicht ..!« Sinan wollte nach etwas greifen, aber er war zu schwach. Er sackte in sich zusammen und wäre auf dem Boden aufgeschlagen, hätte Currann ihn nicht aufgefangen. Unverständliche Worte murmelnd, versank er wieder in den Tiefen seines Fiebers. Unruhig warf er sich hin und her. Currann blieb nicht viel anderes übrig, als ihn zu halten, ihn immer wieder zu kühlen, tröstende Worte zu murmeln..
Als es dämmerte, wachte Kiral wie üblich als Erster auf. Er fand Currann schlafend an einem Baumstamm gelehnt, Sinans Kopf lag auf seinem Schoß. Dessen Augen standen starr offen.
»Oh nein, bitte nicht ..!« Das Schlimmste befürchtend, kniete Kiral neben ihnen nieder. »Bitte nicht..« Doch da sah er, dass sich Sinans Brust hob und senkte. »Sinan?«
Sinans Augen rollten zu ihm herum. Er sah zwar in seine Richtung, nahm ihn aber gar nicht wahr. Bei dieser Bewegung schrak Currann hoch. »Sinan, wach auf!«, rief Kiral eindringlich. Der Blick seines Freundes machte ihm Angst.
»Mutter ist tot«, flüsterte Sinan. Es klang, als sei er weit, weit fort.
»Himmel, er spricht wirr!«, entfuhr es Currann.
»Sinan, wach auf!« Kiral rüttelte ihn an der Schulter, aber nur sanft, denn er wollte ihm keine Schmerzen bereiten. Doch Sinan hörte sie nicht. Er schloss die Augen und war gleich darauf eingeschlafen.
Es schien, als hätte Sinan allen Lebenswillen verloren. Hilflos sahen die Kameraden zu, wie er blass und apathisch da lag und seine Atemzüge immer flacher wurden. Sie untersuchten die Wunde, aber zu ihrer Überraschung war keine neue Flüssigkeit entstanden, ja, der Arm war sogar abgeschwollen, es schien abzuheilen. »Er gibt einfach auf«, sagte Currann bedrückt, während er geduldig Tropfen für Tropfen auf seine Lippen herabfallen ließ.
Kiral sah ihm eine Zeit lang zu. »Komm, ich löse dich ab. Du musst etwas essen und«, er wollte Currann nicht beleidigen, »ein Bad wäre auch nicht schlecht.«
»Ich will bei ihm sein, falls .. falls er..« Currann verstummte. Er rang mit seiner Fassung.
»Das wird er nicht, hörst du?« Kiral sah ihn eindringlich an. »Du nützt ihm nichts, wenn du dich selbst zugrunde richtest!« Er setzte sich an Curranns Seite, ohne eine Antwort abzuwarten, und zog Sinan zu sich herüber. Dieser stöhnte leicht auf, aber das war auch schon alles.
Currann rieb sich über das müde Gesicht. Dabei fiel ihm die merkwürdige Stille auf. »Wo sind denn die anderen?« Erst jetzt merkte er, dass sie ganz alleine waren.
»Sie sind fortgeritten, auf Beutezug. Ich habe ihnen gesagt, dass ich sie holen werde, wenn es .. nun geh schon!« Grob schob er Currann fort.
»Also gut.« Currann machte sich auf zur Quelle. Deutlich erkannte er den Pfad, den die anderen hinterlassen hatten. Er wurde belohnt. Klares, plätscherndes Wasser begrüßte ihn. Er spürte, dass er wirklich eine Erfrischung gebrauchen konnte.
Der Teich lag an einem flachen, breiten Felsen, auf dem die anderen bereits ihre Sachen gewaschen und zum Trocknen ausgebreitet hatten. Daneben fand Currann eine Vertiefung vor, in der flaches Wasser stand und an deren Rand ein Haufen Pflanzen lag. Er hatte so eine Ahnung, worum es sich dabei handelte, und richtig, als er sie mit etwas Wasser zwischen den Fingern rieb, bildete sich ein feiner Schaum. »Seifenkraut!« Schon zog er seine Kleidung aus.
Er griff sich eine Handvoll Sand, mischte sie mit dem Kraut und begann, den Dreck von sich herunterzuscheuern. Er fühlte sich wie neugeboren, als er schließlich seine Kleidung durchspülte. Bei den dunklen Dreckbächen, die daraus hervor rannen, rümpfte er innerlich die Nase. Sie waren ganz schön verkommen, aber sie lebten – noch.
Currann schloss die Augen und sandte ein Gebet in Richtung Himmel. Er war nicht gerade gläubig, aber wer immer dort oben etwas zu sagen hatte, möge Gnade mit Sinan walten lassen und ihm helfen.
Bedrückt setzte er sich an den Rand des Wassers und wartete darauf, dass seine Kleidung trocken wurde. Seine Hand spielte gedankenverloren mit der Wasseroberfläche, als er etwas im Sonnenlicht aufblitzen sah. Neugierig beugte er sich vor und sah, dass es in den Tiefen des Teiches nur so vor Leben wimmelte. Je ruhiger das Wasser wurde, desto mehr konnte er erkennen. Fische flitzten hin und her, ihre kleinen Leiber blinkten im Sonnenlicht, Pflanzen bogen sich mit der Strömung..
Currann war fasziniert. So etwas bekam ein Gildaer so gut wie nie zu sehen. Mit einem Mal legte sich der Wind, der die Oberfläche noch hier und da gekräuselt hatte, und sie wurde ganz glatt. Die Tiefen des Teiches verschwammen, vor seine Augen drängte sich ein anderes Bild..
Currann sträubten sich die Haare. Mit einem Aufschrei fuhr er zurück. Er musste sich sehr zusammennehmen, um nicht rückwärts vor dem Wasser zurückzuweichen. Aus den Tiefen des Wassers hatte ihn sein Vater angestarrt. Er versuchte, sich zu beruhigen, aber es half nichts – er musste einfach nachsehen. Vorsichtig beugte er sich wieder über die Oberfläche. Da war er wieder..
Currann stutzte. »Du Idiot!« Erleichtert ließ er sich zurückfallen. Er musste wirklich völlig übermüdet sein, dass er es nicht sofort begriffen hatte. Nun beugte er sich neugierig über sein eigenes Spiegelbild. Die Ähnlichkeit war wirklich verblüffend, vor allem – Currann drehte den Kopf hin und her – da ihm ein dunkler Bart gewachsen war. Nur dünner war er, geradezu hager. »Gar nicht so schlecht!«, sagte er und grinste sich zu. Um die Augen entstanden tiefe Falten der Müdigkeit, welche ihn erheblich älter aussehen ließen.
»Na, zufrieden mit deinem Aussehen?« Ouray stand grinsend am Ende des Pfades und hatte ihn geraume Zeit beobachtet.
Currann wurde rot. »Ich war nur..«
Ouray hob die Hand. »Wir haben uns heute Morgen alle über unser Spiegelbild gewundert. Bei den anderen fällt es einem nicht so auf, aber uns selbst haben wir lange nicht gesehen. Da ist der Unterschied zu früher sehr groß.« Er zog sich aus und sprang mit einem großen Satz ins Wasser.
»He, ist das nicht zu tief?«, rief Currann erschrocken. Wie alle Gildaer konnte er nicht schwimmen. Wo hätte er es auch lernen sollen?
Ouray kam prustend wieder hoch. »Nein, du kannst darin stehen. Komm doch rein. Ich zeige dir, wie man schwimmt.«
Das ließ Currann sich nicht zweimal sagen. Erstaunt genoss er das Gefühl, ganz von Wasser umgeben zu sein. »Man kann sich so schwer bewegen«, rief er, als er eine Runde durch den Teich schritt. Seine Füße stießen an Geröll, Pflanzen, ab und zu streifte ihn ein Fisch – ein merkwürdiges Gefühl.
»Lege dich auf den Rücken, du schwimmst von selbst oben.« Ouray zeigte es ihm.
Currann machte noch eine neue Erfahrung, die der Schwerelosigkeit. »So muss Fliegen sein«, sagte er und starrte in den weiten Sommerhimmel. Er begann von selbst ein wenig zu paddeln und stieß prompt mit dem Kopf an einen Felsen. »Au!« Prustend ging er unter.
Ouray lachte aus vollem Hals, als Currann Wasser spuckend wieder auftauchte, und bekam zum Dank einen Schwall Wasser ins Gesicht. Doch sie wurden schnell wieder ernst.
»Wie geht es Sinan?«, fragte Ouray zögernd, als sie sich zum Trocknen auf die Felsen setzten.
»Nicht gut«, antwortete Currann bedrückt. Mit einem Mal wollte er so schnell wie möglich zu ihm zurück. »Die Wunde heilt zwar, aber er selbst scheint aufgegeben zu haben. Er hat geträumt, dass seine Mutter gestorben ist.« Obwohl sie noch nicht trocken waren, streifte er sich eilig seine feuchten Kleidungsstücke über.
»Wir überlegen alle, wie es wohl unseren Familien ergeht. Sie wissen schließlich nicht, weshalb wir dies hier getan haben, und wer weiß, was ihnen das Heer erzählt. Kiral und du, ihr seid davon nicht betroffen. Kiral, weil er keine Bindung mehr hat, und du, weil deine Familie bescheid weiß.« Ouray zog mit einem Ruck seinen Gürtel zu.
Currann starrte ihn an. So deutlich war es ihm noch nicht bewusst gewesen. »Ihr habt Angst, dass sie leiden könnten?«
»Currann, sie leiden mit Sicherheit. Entweder sie denken, ihre Söhne seien Verräter, oder sie trauern um uns, weil man ihnen gesagt hat, wir seien tot!« Ouray drehte sich abrupt um und ging ohne ein weiteres Wort zurück zum Lager.
Currann sah ihm bestürzt hinterher. Mit einem Mal überkam ihn Angst, Angst davor, dass seine Kameraden bedauern könnten, ihm gefolgt zu sein. Er musste mit ihnen darüber sprechen, aber wie? Darauf wusste er keine Antwort.
Sinans Zustand hielt die ganze Nacht an, aber zumindest verschlechterte er sich nicht weiter. Currann hielt die Nacht über bei ihm Wache. Er hatte den ganzen Nachmittag völlig erschöpft geschlafen, aber jetzt hatte er Zeit, über sein Gespräch mit Ouray nachzudenken.
Geduldig flößte er Sinan die Flüssigkeit ein, während er seine Gedanken schweifen ließ. Es war fast wie meditative Übung. Er hatte zwar keine Erfahrung in diesen Dingen, aber sein Onkel Thorald hatte ihm berichtet, dass man Körper und Geist voneinander lösen konnte. Wie es ihm wohl ergangen war? Hatten sie ihn eingesperrt? Oder gar ..? Nein, das konnten sie nicht, dafür war er zu wertvoll, aber quälen konnten sie ihn, besonders, wenn er an jenen geriet, der mit dem Bösen paktierte. Doch Currann zweifelte nicht daran, dass Thorald dem gewachsen sein würde, stark in dem Wissen, dass seine Tochter entkommen war.
Althea .. wäre sie jetzt hier, sie hätte Sinan im Handumdrehen geheilt. Ob sie wohl etwas ahnte, als sie sich vor dem Kampf trennten? Currann war sich fast sicher, dass dem so war.
Sinan begann sich unruhig zu bewegen. »Nel .. Nel..« Es war kaum zu verstehen.
Currann zog ihn dichter an sich, packte seine Hand. »Es geht ihr gut, hörst du? Hab keine Angst. Denk doch an Althea, sie hat alles für dich getan, hat deine Mutter geheilt, obwohl die Gefahr groß war, dass man sie entdeckt. Willst du sie enttäuschen und einfach aufgeben? Willst du das, he? Tu das nicht!«
Die ganze Nacht flüsterte Currann auf ihn ein, erzählte ihm, was er gesehen hatte, von Altheas Licht, seiner schrecklichen Schönheit.
Kiral lag mit geschlossenen Augen dabei und lauschte seinen Worten. Etwas rückte in ihm ins Lot, etwas, von dem er bisher noch nicht gewusst hatte, dass es in einer Schieflage gewesen war. Jetzt begriff er, was ihm nach seiner Kletterpartie widerfahren war. Er wusste nun, dass es keine Wahnvorstellungen gewesen waren und dass ihre Flucht noch einen größeren Sinn hatte als zuvor. Merkwürdig – über ihre Flucht hatten sie noch nicht gesprochen, die ganze Zeit über nicht, aber es wurde dringend Zeit. Mit diesem Entschluss schlief er ein.
Am anderen Morgen schlief Currann tief und fest, als Kiral erwachte. Sinan jedoch war wach und überraschend kühl, wie Kiral mit einem prüfenden Griff an seine Stirn feststellte. Er konnte nicht sprechen, so ausgedörrt war er, trank aber gierig das frische Wasser, das Kiral ihm brachte.
Davon erwachte auch Currann. Er seufzte dankbar auf, als er ihren kranken Kameraden trinken sah. »Hast dich entschlossen, bei uns zu bleiben, was?«, flüsterte er.
Sinan drückte seine Hand. »Ich muss doch Nel wiedersehen«, sagte er schwach. »Danke.« Currann lächelte auf ihn herab, aber das sah Sinan nicht mehr, ihm fielen schon wieder die Augen zu.
»Hilf mir mal«, sagte Currann zu Kiral. Seine Beine waren fast taub von Sinans Gewicht. Gemeinsam betteten sie ihn um. Es bereitete ihnen keine Mühe, so leicht war er, ja, völlig abgemagert. Doch nun war Besserung in Sicht. Froh machten sie sich daran, das Frühmahl vorzubereiten.
Eine Zeit lang schwiegen sie, aber dann hielt es Kiral nicht mehr aus. »Erzählst du uns, was bei eurer Flucht geschehen ist? Ich habe heute Nacht einen Teil gehört, verzeih..«
Currann sah erstaunt auf. »Ja, weiß du das denn nicht?«
»Nein, woher denn? Keiner hat mit uns darüber gesprochen«, erklärte Kiral.
Ein verwuschelter Kopf tauchte aus einem Haufen Decken auf. »Das würde mich auch interessieren«, sagte Ouray und streckte sich ausgiebig.
»Du hast ihr Licht gesehen, nicht wahr?« Kiral sah Currann unverwandt an, hatte alle Tätigkeit vergessen.
Currann nickte zögernd. »Ja, das habe ich. Aber .. sollten wir nicht warten, bis alle wach sind und wir gegessen haben?«
»Ein guter Einfall«, kam es von Tamas, und auch Yemon drehte sich brummend in ihre Richtung. Die Neugier machte sie richtig wach, und so beeilten sie sich mit dem Frühmahl.
Currann wusste nicht, wo er beginnen sollte. »Fang doch einfach damit an, wie ihr uns in den Gängen verlassen habt«, schlug Ouray vor.
»Also gut.« Currann überlegte. »Diese Gänge ziehen sich unheimlich weit in den Berg hinein, praktisch der gesamte Palast ist von ihnen durchzogen und auch das Haus des Wissens und die Häuser der Heilerinnen. Die Kammer meines Bruders hat auch einen Zugang.«
»Oho, so konnte er also entwischen!«, rief Tamas.
Currann lachte. »Ja, ich dachte, ich werde noch verrückt, weil ich es nicht herausfand. Phelan und Althea müssen sich den ganzen Winter über getroffen haben. Selbst Fürst Bajans Männer haben nicht herausgefunden, wie sie in die Stadt und zurückgelangten.« Er wurde wieder ernst, als er ihnen nun berichtete, wie sie bei ihrer Suche unter dem Palast auf Leanna und Althea gestoßen waren.
»Sie haben die Mädchen geschlagen?«, fragte Kiral wütend.
»Du hättest Althea sehen sollen, als sie sie ins Heilerhaus brachten«, sagte Ouray. Bei der Erinnerung überlief es ihn kalt.
Currann nickte. »Sie wollte nicht, dass ihr sie so seht. Geheilt hat sie sich selbst, aber .. das viele Blut konnte sie nicht fortwischen.«
Kiral packte Currann am Arm. »Bei den Göttern, was haben sie ihr getan!?«
Currann musste bei der Erinnerung daran schlucken. »Der Hauptmann hat sie bewusstlos geschlagen und dem König vor die Füße geworfen. Sie wollte die Soldaten von Noemi ablenken, damit sie uns alarmieren konnte.«
Die Kameraden starrten ihn ungläubig an. »Aber..«
»Sie ist doch noch ein kleines..«
„..und was war mit deiner Schwester?«
»Sie hat sich zwischen den König und Althea geworfen. Er hat sie so hart getroffen, dass sie fast bewusstlos war, als wir sie fanden«, sagte Currann grimmig. »Althea hat sie geheilt.«
Kirals Griff wurde fast schmerzhaft. »Wie sieht es aus?« Er starrte Currann mit weiten Augen an.
Currann erkannte, dass es für ihn noch vor allen anderen am wichtigsten war, alles darüber zu erfahren. Er versuchte, seine Erinnerungen zusammeln, und legte den Kopf in den Nacken. »Es .. es ist ein warmes Licht, es strömt aus ihren Händen. Wenn ich daran denke..« Currann brach verwirrt ab und runzelte die Stirn.
»Was?«, drängte Kiral.
Curranns Augen weiteten sich. »Sie muss es bei mir angewendet haben, damals, nach meinem Geburtstag, als es uns so schlecht ging. Ich war kurz mit ihr allein und wir .. wir umarmten uns, weil wir uns wieder vertragen hatten, und da .. mir wurde auf einmal ganz wohl. Irgendwie warm. Ich kann es nicht beschreiben..« Er brach ab. Jetzt wusste er auch, dass in ihren Augen ein Abglanz ihres Lichtes gestanden hatte. Er war tief erschüttert.
»Kiral, du weißt, wie es sich anfühlt«, sagte Ouray. Er klang hörbar fasziniert.
»Oh ja«, Kiral stieß die unwillkürlich angehaltene Luft aus, »und ich habe an meinem Verstand gezweifelt, die ganze Zeit über.« Er machte eine hilflose Handbewegung. Ihm fehlten die Worte.
»Aber .. noch schöner sind ihre Augen«, fuhr Currann fort. »Sie leuchten golden, es ist .. so schön, dass man es nicht begreifen kann. Ich kann verstehen, warum sie und Phelan es verschwiegen haben. Es würde den meisten Menschen große Furcht einjagen. Und es lässt einem wirklich an seinem Verstand zweifeln«, fügte er in Kirals Richtung hinzu.
»Wir konnten es wohl alle nicht glauben, als Phelan es uns erzählt hat, aber es zu sehen..«, sagte Ouray und starrte auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne.
»Hat sie dir gesagt, seit wann ..?«, fragte Kiral.
Currann schüttelte den Kopf. »Nein, dafür blieb keine Zeit. Zu gerne hätte ich sie noch so viele Dinge gefragt, aber..« Er brach traurig ab.
»Ich bin froh, dass wir ihr zur Flucht verholfen haben«, sagte Ouray und entschuldigte sich damit auch bei Currann für seinen gestrigen Ausbruch. Die anderen nickten einhellig.
»Du wirst sie bestimmt wiedersehen«, sagte Tamas. Wie auf Kommando erhoben sie sich. Sie brauchten Abstand voneinander, um dies alles zu verarbeiten.
Ouray blieb am Vormittag bei Sinan, während Currann und Kiral ihre Pferde nahmen und die Gegend erkundigten. Sie wichen vielen sumpfigen Stellen und Wasserläufen aus, da aber die Geröllhalde weithin sichtbar war, verloren sie nie die Orientierung. Schnell wurden sie fündig. Sie fanden wilden Hafer, aber er war noch nicht reif.
»Wir müssten in einigen Wochen noch einmal herkommen«, meinte Kiral mit einem bedauernden Blick auf das weite Feld.
»Merkwürdig, dass es hier zwischendrin immer wieder so große, einigermaßen trockene Flecken gibt. In Gilda wäre das eine Kostbarkeit gewesen«, sagte Currann in dem Wissen, dass viele Getreidesorten dort nur unter großen Mühen zu ziehen waren. Es war einfach zu trocken, und sie vertrugen die späten Fröste nicht. Deshalb war Hirse das einzige Getreide, das dort in guten Erträgen gedieh.
»Das brauchst du mir nicht zu sagen«, brummte Kiral. Schließlich war es in seinem Land noch trockener als in Morann. Er gab Wind einen Klaps, als dieser neugierig an dem grünen Hafer herumschnüffelte. »Vielleicht finden wir noch mehr davon. Der Boden ist günstig dafür.« Sie schwangen sich unverrichteter Dinge wieder auf ihre Pferde, wurden aber schnell anderweitig fündig und kehrten mit prall gefüllten Säcken zurück.
Die folgenden Tage wurde Sinan wieder kräftiger und fieberte nur noch ein wenig, jedoch sein Arm blieb unbeweglich, und dies bereitete Currann tiefe Sorge. Doch er sagte nichts, sondern versuchte seinen Freund aufzumuntern, wo es nur ging. Im Übrigen tat ihnen allen diese Rast gut, die Flucht hatte doch mehr an ihren Kräften gezehrt, als ihnen bewusst gewesen war. Sie schliefen viel und lang, aßen und tranken ausgiebig und legten so viele Vorräte an, dass ihnen schließlich die Behältnisse ausgingen.
Dies war dann irgendwie das Signal zum Aufbruch. Doch der Weg erwies sich als beschwerlich. Das Gelände wurde stetig sumpfiger, immer wieder versperrten ihnen kleine Wasserläufe, Teiche oder ganze Seen den Weg. Manche konnten sie durchreiten, aber bei anderen blieb ihnen nur übrig, große Umwege zu machen. Und noch ein anderes Ungemach bereiteten ihnen die Sümpfe: Sie waren Brutstätten von Mücken. Zu Tausenden stürzten sie sich auf Menschen wie Tiere, sodass sie am Abend des ersten Tages völlig zerstochen waren. Sinan bekam zudem wieder Fieber.
Doch dann fand Kiral eine Stelle, die merkwürdigerweise völlig frei von Mücken war. Hier beschlossen sie, ihr Lager aufzubauen. Der Cerinn nahm die Gegend sofort genauer in Augenschein und kam zu dem Schluss, dass es wohl an dieser merkwürdig riechenden Pflanze liegen musste, die er sonst nirgends gesehen hatte. Da sie ihm gänzlich unbekannt war und er nicht wusste, ob sie giftig war oder nicht, banden sie große Büschel in Stoff verpackt an ihre Pferde. Es half, von dort an wurden sie von den Mücken verschont, aber der Weg blieb weiterhin beschwerlich.
Nach Tagen fruchtlosen Umherirrens hörten die Sümpfe so unvermittelt auf, wie sie begonnen hatten. Das Gelände stieg leicht an, und Steppengras breitete sich vor ihnen aus.
Doch freudige Stimmung wollte nicht aufkommen, dafür machten sie sich zu viele Sorgen um Sinan. Der beschwerliche Ritt durch den Sumpf hatte ihm geschadet, er fieberte immer noch und schien sich kaum noch aufrecht halten zu können. Für Currann stand fest, dass sie so schnell wie möglich Branndar erreichen mussten, nur dort konnte Sinan wirklich genesen. Also ritten sie stramm von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, die steilen Flanken des Ramors immer fest im Blick.
Am späten Nachmittag des nächsten Tages, die Sonne verschwand bereits hinter den Bergen, war es endlich soweit. Sie ritten über eine Kuppe, und da lag es vor ihnen.
»Wir sind da.« Kiral ließ Wind anhalten und rüttelte Sinan vor sich wach.
Currann schloss zu ihnen auf. »Branndar.« Er versuchte, etwas gegen die Sonne zu erkennen, und hob schließlich die Hand, um seine Augen abzuschirmen.
Die Berge, obwohl sie diese unterwegs immer im Blick gehabt hatten, ragten beeindruckend steil und schroff vor ihnen aus der Steppe auf. Während die Nordseite des Ramors nahtlos in die Flanken des nächsten Berges überging, mündete die Südseite in ein weites Tal, das erst in einiger Entfernung von den jäh ansteigenden Felsen des nächsten Berges begrenzt wurde. Currann konnte erkennen, dass das Tal relativ flach nach hinten hinaus anstieg und in so etwas wie einen Pass mündete. Von dort stürzte sich tosend ein Gebirgsbach hinab ins Tal. Deutlich war zu erkennen, dass der Wasserstand im Frühjahr wesentlich höher sein musste – dieser Teil des Tales war tief eingeschnitten und ausgeschwemmt. An den Rändern blieben jedoch zahlreiche Terrassen übrig, überragt von einer trutzig wirkenden, rechteckigen Anlage auf einem Felssporn. »Seht, da ist das Fort«, rief Currann. Obwohl es bereits im Schatten lag, konnte er gut die beiden mit Zinnen bewehrten Türme erkennen.
»Und da vorne ist die Straße.« Tamas deutete auf das schmale Band, das sich durch die Steppe wand und jäh in Branndar endete. Nun sahen auch die anderen, dass die oberen Terrassen von verstreut liegenden Gebäuden bebaut waren. Die Gebäude hatten dieselbe Farbe wie die Felsen und schienen fast mit ihnen zu verschmelzen. Die unteren Terrassen waren als Felder angelegt.
»Oh, und sie haben sogar einen Tempel«, sagte Tamas, als er ein etwas größeres, massives Gebäude mit einem Turm entdeckte.
»Und dort hinten sind die Minen«, rief Yemon. Er hatte die dunklen Öffnungen im südlich gelegenen Berg entdeckt.
»Es ist .. beeindruckend«, sprach Ouray ihrer aller Empfindungen aus. Dem Ort haftete etwas Erhabenes an, besonders jetzt, im Licht der fast untergegangenen Sonne.
Kiral kniff die Augen zusammen. »Seht ihr das auch? Einige Gebäude scheinen zerstört zu sein.« Er zeigte auf die oberen Teile der Siedlung. Da sahen es auch die Kameraden.
»Oh ja, ganz schön viele sogar«, sagte Currann mit zusammengebissenen Zähnen. Er mochte nicht daran denken, wie es Siri ergangen war, nicht jetzt. »Los, reiten wir, sonst ist es dunkel, bevor wir ankommen. Wir wollen ihnen doch keine Angst machen.«
»Wartet!« Ouray zügelte sein Pferd. Die anderen sahen sich zu ihm um. »Wie wollen wir uns vorstellen? Wir können uns doch schlecht unter unseren wirklichen Namen bekannt machen, oder?«
Currann schlug sich innerlich an die Stirn. »Natürlich, du hast recht. Wir brauchen Decknamen und eine Geschichte, vor allem eine Geschichte. Kiral, du kannst dich nicht verbergen, also bleibst du am besten, wer du bist. Sinan .. meinst du, Tamas, dass man seinen Namen hier kennt?«
»Nein, das glaube ich nicht, und Ourays und Yemons auch nicht. Aber uns beide schon.«
»Wie sollen wir uns nennen? Oh, ich weiß etwas.« Currann grinste schief. »Ich nenne mich Althan, das ist Altheas Jungenname. Sie hat ihn oft benutzt.« Die anderen begannen zu lachen.
»Ich weiß auch einen. Ich nenne mich Tajaeh, nach meinem Onkel. Er ist ein rechter Trunkenbold und Schürzenjäger, und man sagt, dass er viele Bastarde hat, die alle seinen Namen tragen.« Tamas grinste. »Es ist ein alter Witz in meiner Familie. Lassen wir sie ruhig glauben, ich sei einer von ihnen.«
»Und die Geschichte?«, fragte Ouray.
»Sagt ihnen doch die Wahrheit, zumindest einen Teil davon«, meinte Kiral schulterzuckend. »Wir sind Deserteure, haben uns mit der neuen Heeresführung angelegt, weil sie mich zu eurem Glauben zwingen wollten. Als wir protestiert haben, hat es mächtig Ärger gegeben. Wir sahen keinen anderen Ausweg. Nun, was haltet ihr davon?«
»Das klingt gut«, meinte Tamas. »Heldenhafte Kameraden gehen füreinander durchs Feuer. Ja, so machen wir es. Currann?«
»In Ordnung, es ist eine gute Geschichte. Jetzt sollten wir aber sehen, dass wir heute noch dort ankommen.« Er trieb ungeduldig seinen Hengst an, ohne eine Antwort abzuwarten.
Bald konnten sie mehr erkennen. Der Gebirgsbach mündete in einen großen See am Ende des Tales, bevor er sich in einen reißenden Fluss verwandelte, der parallel zur Straße nach Norden floss. Um den See herum waren ausgedehnte Felder angelegt, auch Weiden konnten sie erkennen, aber: »Wie merkwürdig, ich sehe gar keine Tiere«, sagte Ouray.
Immer näher kamen sie dem Ort, und jetzt sahen sie auch, dass Menschen dort waren, sie liefen zwischen den Gebäuden hin und her und arbeiteten auf den Feldern. Doch plötzlich entstand hastige Bewegung. Sie deuteten in ihre Richtung, Rufe erschallten, eine Glocke wurde geschlagen.
»Seht doch, sie fliehen vor uns!«, rief Tamas und wollte sein Pferd antreiben.
Currann hob die Hand. »Halt. Natürlich tun sie das, wir kommen nicht von der Straße, sondern aus Richtung der Sümpfe. Wir sollten alles tun, um ihnen zu zeigen, dass wir in friedlicher Absicht kommen. Reiten wir weiter, aber langsam. Am See halten wir an.«
Als sie dort ankamen, lag eine unheimliche Stille über dem Ort. Nichts war zu hören außer dem Rauschen des Wassers. Je näher sie kamen, desto ärmlicher sah die Siedlung aus. Die Felder waren zwar bestellt, aber sie wirkten irgendwie vernachlässigt – ›Nein, nicht vernachlässigt‹, dachte Currann mit einem Blick darauf. Sie sahen aus, als fehlte etwas zu ihrer Bestellung. Sie wirkten karg. Auch die Gebäude waren alt, soweit sie das von hier unten erkennen konnten, klein und sehr einfach. Dennoch wirkte die Siedlung sauber, aufgeräumt, es war also jemand dort, der sich darum kümmerte, wenn auch mit unzureichenden Mitteln.
Nun waren auch deutlich die oberen, zerstörten Gebäude zu erkennen. Sie waren ausgebrannt, die Dächer eingestürzt. Niemand schien sie wieder instand gesetzt zu haben. Das Fort jedoch wirkte völlig unberührt, das mächtige Tor war fest verschlossen.
»Was für ein merkwürdiger Ort«, murmelte Kiral und sah sich angespannt um. Er spürte, dass sie aus vielen Augen beobachtet wurden, sah aber niemanden.
Currann ließ sie anhalten. »Tamas, wir beide gehen hinauf. Lassen wir unsere Waffen hier.« Tamas wollte sie schnell ablegen, aber Currann bedeutete ihm, vor die Gruppe zu treten. Deutlich sichtbar für ihre unsichtbaren Beobachter legten sie die Schwerter und alle anderen Waffen ab. Sogar die Rüstungen ließen sie zurück, sodass sie schutzlos auf die Siedlung zuliefen.
»Wo mögen sie hin sein?«, fragte Tamas.
Currann war sich nicht schlüssig. »Ins Fort können sie nicht gelaufen sein, dafür war nicht genug Zeit, außerdem hätten wir das gesehen. Also bleibt nur der Tempel übrig.«
Sie schritten den deutlich sichtbaren Pfad hinauf in die Siedlung. Alles war aus Stein geschichtet, Mauern, Dächer, Zäune und Verschläge. Die Türen der Häuser bestanden aus einfachem, mit Fell bespanntem Flechtwerk.
»Fällt dir etwas auf?«, flüsterte Tamas.
Currann sah sich unbehaglich um. »Was meinst du?«
»Es sind keine Tiere hier, Hühner, Kühe, Ziegen oder Schafe. In jeder Siedlung in Nador gibt es sie zuhauf, aber hier fehlen sie.« Tamas war sichtlich unwohl. Es war, als betraten sie einen toten Ort, zwar sauber und aufgeräumt, aber ohne Leben. Mit vorsichtigen Schritten näherten sie sich einem kleinen Platz, an dessen Stirnseite sich der Tempel erhob. Das geschlossene Tor starrte sie schweigend an.
Currann hatte das untrügliche Gefühl, dass sie aus dieser Richtung beobachtet wurden, also wandte er sich dem Tempel zu. »Ist hier jemand?«, rief er laut. Er streckte die Arme vom Körper weg. »Wir sind unbewaffnet und kommen in friedlicher Absicht.« Laut schallte seine Stimme über den kleinen Platz und brach sich an den Mauern wieder.
Stille. Doch plötzlich wurde sie von einem Laut unterbrochen, es klang wie ein Aufschrei, der von einer Hand hastig erstickt wurde. »Hast du das gehört?«, flüsterte Tamas.
Currann warf einen unbehaglichen Blick auf das Tor des Tempels. »Ja.«
»Kommt heraus, Ihr habt nichts von uns zu befürchten«, rief Tamas. »Wie denn auch, wir sind ja nur zu zweit«, schnaubte er halblaut.
Currann zog eine Augenbraue hoch, ließ den Blick jedoch nicht von dem Tor. Allmählich kam er sich etwas lächerlich vor. »Weiß du was, wir warten besser am See«, sagte er laut vernehmbar. »Irgendwann werden sie schon rauskommen.« Er wandte sich demonstrativ ab, aber da wurde mit einem Knirschen ein Riegel fortgezogen. Das Tor des Tempels öffnete sich.
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