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Kapitel 2
ОглавлениеDie westliche Steppe
Auf der Flucht
Althea träumte.
Sie sah den Felsen vor sich aus der Steppe aufragen, umhüllt von einer dichten Staubwolke, die das gleißende Sonnenlicht nicht zu durchdringen vermochte. Langsam schritt sie über das Gras in angstvoller Erwartung dessen, was sie dort erblicken mochte. Konturen schälten sich aus dem Staub, es waren längliche Konturen, sie lagen am Boden – Althea schrie auf, sie rannte zu ihnen. Es waren Soldaten, ihre offenen Augen starrten sie leblos an. Ängstlich wich sie zurück, als sie sah, dass ihnen jemand die Kehle durchgeschnitten hatte. Es waren frische Wunden, das Blut pulste hervor und besudelte das Gras zu ihren Füßen. Doch so schrecklich der Anblick war, Althea zwang sich, genau hinzusehen. Sie musste wissen, ob einer der Jungen darunter war. So schritt sie die Toten ab, langsam und ängstlich bemüht, ja kein Geräusch zu machen, denn es war hier eigentümlich still.
Erleichterung wollte sie nicht überkommen, als sie kein bekanntes Gesicht darunter entdeckte. Aber ihr war bewusst, dass dies nur ein Teil der Kämpfer war. So lief sie weiter, durch die Engstelle hindurch. Der Staub legte sich langsam, und es schälten sich Gestalten heraus, stehende Gestalten. Eine davon war sehr groß und schlank. Ein Stein fiel ihr vom Herzen, sie wollte rufen: ›Kiral!‹, aber ihre Lippen blieben stumm. Sie begann zu zählen, eins, zwei, drei, vier, fünf .. Der Staub gab den Blick frei auf eine sechste Gestalt, die sich auf dem Boden wand. ›Einer ist verletzt!‹ Sie begann zu laufen, sie brauchten ihre Hilfe, aber sie kam nicht näher, etwas hielt sie fest.
Sie spürte Kälte hinter sich. Sie wurde gesucht.
Wenn ER sie fand, würde ER auch die Jungen finden, also ließ Althea los, obwohl ihr das Herz wehtat, nicht zu wissen, was mit ihnen war. Sie stieß die Bilder von sich .. schwer atmend wachte sie auf.
Sie konnte nichts sehen, es war dunkel, sie lag .. ihre Hände tasteten, fühlten unbekannten Stoff, dann eine kleine Gestalt vor sich, sie roch einen vertrauten Geruch und spürte einen Arm um ihre Taille. Phelan murmelte etwas im Schlaf und zog sie dichter an sich. Althea war so erleichtert, dass sie erst einmal die Augen schloss, um sich zu beruhigen.
Sie war in Sicherheit, hier konnte ihr nichts geschehen. Dankbar kuschelte sie sich an Phelan und zog ihrerseits Noemi dichter an sich. In diesem Moment der Stille kamen die Bilder zurück, die Bilder ihrer Flucht. Es war furchtbar gewesen. Althea versuchte, sie zu ordnen und nicht überhandnehmen zu lassen, um sie verarbeiten zu können.
Sie waren scharf geritten, Bajan und Phelan hatten die Pferde bis zur völligen Erschöpfung angetrieben. Bajan hatte sie fest umklammert gehalten, so fest, dass es beinahe wehgetan hatte. Doch Althea hatte nichts gesagt, nicht protestiert, denn sie hatte gespürt, dass er voller Sorge und Selbstvorwürfe war, die Kameraden allein gelassen zu haben. Und sie hatte gespürt, wie es in ihm arbeitete, wie er plante, und sich in sicheren Händen gefühlt. Sie hatte nicht gewusst, warum, nur, dass es so war. Am späten Nachmittag war er dann plötzlich nach Nordwesten abgebogen – direkt auf eine dunkle Gewitterwand zu, die sich drohend dort auftürmte. Es war fast finster gewesen und Sturmböen waren in Ankündigung des Unwetters über die Steppe gepeitscht, als sie schließlich die schwachen Lichter eines Gehöftes erblickt hatten.
»Was ist das für ein Ort?« Phelan sprach das erste Mal, seit sie die anderen verlassen hatten. Seine Stimme klang rau.
»Das ist das Gehöft meines alten Freundes Leviad. Er wird uns aufnehmen.«
Die folgenden Stunden waren wie im Nebel vergangen. Althea erinnerte sich nur noch undeutlich daran.
Das überraschte Gesicht eines älteren Mannes. »Wir haben deinen Brief erst gestern erhalten!« Die aufgeregten Stimmen vieler Frauen, die sich um die Kinder kümmerten, ja sie geradezu bemutterten. Phelans Proteste, als sie die ängstliche Noemi von ihm fortbringen wollten. Dann etwas zu essen, zu trinken..
Bajans besorgtes Gesicht, wie es sich über sie beugte. »Wir müssen aus dir einen Jungen machen..«
Jemand schnitt ihr die Haare, wo war nur Phelan, er war nicht mehr bei ihr .. schließlich war ihr alles zu viel geworden. Sie war zusammengebrochen, zu einem wimmernden Bündel. Nur noch undeutlich wusste sie, dass Bajan sie hochgehoben und in eine Kammer getragen hatte. Umso deutlicher erinnerte sie sich an ihr Alleinsein, sie hatte geweint und geweint und geweint, hatte nicht mehr aufhören können, bis die Tür aufging, zwei Gestalten erschienen und zu ihr unter die Decken gekrochen waren. Erst da hatte sie zu schlafen vermocht, die tröstende Wärme von Phelan und Noemi neben sich.
Althea lauschte in die Nacht, lauschte dem ruhigen Atem der beiden und dachte darüber nach, was ihr widerfahren war. Sie hob die Hand, strich sich über die Haare – sie waren kurz, noch kürzer als Phelans, und schwarz gefärbt mit irgendeiner wasserfesten Paste, wie sie sich nun erinnerte. Und alles nur, damit man sie unterwegs nicht erkannte. Es war ihr, als hätte sie damit die letzte Bindung an ihr altes Leben verloren. Traurig schloss sie die Augen und versuchte wieder einzuschlafen, aber es gelang ihr nicht.
Vorsichtig, damit sie die beiden nicht weckte, erhob sie sich und verließ die Kammer. Sie war durstig, irgendwo musste es etwas zu trinken geben. Doch im Gang vor ihrer Tür wusste sie erst einmal nicht mehr weiter. Sie hatte keine Erinnerungen daran, wie der Weg hierher gewesen war, also wandte sie sich in die Richtung mit den meisten Türen. Sie war kaum ein paar Schritte weit gekommen, als sie von weiter vorne einen leisen, gequälten Aufschrei vernahm.
Althea erstarrte. Es war eine Frau gewesen, dessen war sie sich sicher, und es war aus der hintersten Tür gekommen. Mit leisen Schritten näherte sie sich ihr. Sie stand weit offen und gab den Blick auf ein großes Bett frei. Darin, auf vielen Kissen und begraben unter einem Berg Decken, wand sich eine Frau. Althea sah abgemagerte Hände durch die Luft fahren, sie verkrampften sich in die Decken, der Mund rang nach Luft. Das Gesicht war spitz, die Augen starrten einem Totenschädel gleich zur Decke.
Die Frau war krank, todkrank, Althea erkannte es sofort am Geruch. Es war dieser süßliche Geruch, der ihr schon so oft im Hospiz begegnet war. Etwas stieß sie an .. war es Instinkt oder Vorhersehung? Sie wusste es nicht, fand sich aber am Bett der Frau wieder, die Tür fest hinter sich geschlossen.
Der Blick der Frau richtete sich auf sie. »Bitte .. gib mir etwas .. hol Leviad..« Die Worte waren kaum zu verstehen.
Althea kniete sich zu ihr. »Was wollt Ihr?«, fragte sie ruhig.
»Ich will Frieden .. keine Schmerzen«, stöhnte die Frau.
Althea strich ihr sanft über die Stirn. »Ich kann Euch die Schmerzen nehmen. Aber wollt Ihr leben oder sterben?« Warum sagte sie so etwas Schreckliches? Althea wusste es nicht, aber ohne dass sie es bewusst herbeigerufen hatte, breitete sich die Wärme in ihr aus. Nicht zum ersten Mal kam ihr der Verdacht, dass noch etwas anderes in ihr wohnte, etwas, das ihr Handeln bestimmte.
Die Augen der Frau weiteten sich. In den Augen ihres Besuchers begann ein Licht zu leuchten. »Barmherziger Urian, sendest du mir deinen Todesengel?«, keuchte sie und presste sich in die Kissen.
»Willst du leben oder sterben?«, wiederholte Althea ihre Frage und hob die Hände an das Gesicht der Frau.
»Ich will bei Leviad bleiben. Bitte..«, flehte die Frau schwach.
»Dann hab keine Angst. Schlaf!« Althea griff den Kopf der Frau, spürte die trockene, pergamentene Haut, sie war dünn, so dünn, dann die spitzen Knochen, darunter jedoch .. Sie konzentrierte sich und sandte ihr Licht in sie hinein. Sie ließ die Frau einschlafen, dann reiste sie tiefer in sie hinein. Im Innern ihres Körpers spürte sie Stellen, viele kranke Stellen, von denen eine saugende Schwärze ausging. Noch nie hatte sie eine solche Zerstörung gespürt, es war, als wäre alles davon befallen.
Althea hielt inne, wandte sich einer befallenen Stelle zu, es war ein Organ, wie sie erkannte, ein sehr kleines, und versuchte zu retten, was noch zu retten war. Sie vermochte zwar das befallene Gewebe zu lösen und die gesunden Stellen zusammenzufügen, aber anders als bei einer Wunde konnte das kranke Gewebe nirgends hin.
Althea hielt erstaunt inne und machte die Augen wieder auf. Die Frau atmete tief und ruhig. Hatte sie zuvor Gewebe oder Flüssigkeit austreten lassen? Sie wusste es nicht, aber .. doch, es musste so sein, bei Meda, bei sich selbst, sogar bei Kiral hatte sie unbewusst das Schlechte hinausgedrängt.
Nur, hier brauchte es mehr, das befallene Gewebe musste auf jeden Fall hinaus. Aber wie? Althea überlegte nicht lange, sondern zog ihr Messer. Dies hatte sie noch nie, niemals getan. Noch nie hatte sie wissentlich jemanden damit verletzt, sah man einmal von der Notwehr im Hurenviertel ab.
Sie zog die Decken zurück und schob das Hemd der Frau hoch. Wie mager sie war, fast ein Skelett! Althea spürte mit ihrem Licht, wo die schwarzen Stellen am stärksten waren. Sie holte tief Luft und setzte gleich unterhalb der Rippen einen schmalen Schnitt, ließ ihr Licht hineinfließen und begann ihr Werk.
Stück für Stück wandte sie sich den einzelnen Gebilden zu, den vielen Organen, für die sie keine Namen hatte. Sie löste das tote Gewebe heraus, heilte, was noch zu retten war und verdrängte die Schwärze. Tief drang sie dabei in den Körper der Frau ein, sie sah zum ersten Mal bewusst die Strukturen, aus denen ein Mensch bestand, verstand jedoch nicht die Funktionen der einzelnen Organe. Sie erkannte, dass sie noch viel würde lernen müssen, bis sie soweit war, also entschied sie nach dem, was sie bereits wusste: tot- hinaus; verletzt – heilen; gesund – bleiben. Kein Körperteil ließ sie aus, es dauerte lange, sehr lange.
Schwer atmend löste sie schließlich ihre Hände von der Kranken. Ihr Blick wurde klar, und mit ihm kehrte auch ihr Geruchssinn zurück. Althea musste sich rasch Mund und Nase zuhalten, sonst hätte sie sich auf der Stelle übergeben. Auf dem Bettlaken breitete sich eine dunkle, übel riechende Lache aus. Althea griff nach einem Tuch, das mit einer Schüssel Wasser am Bett bereitstand, und reinigte erst den Körper ihrer Patientin und dann sich selbst. Das Laken zog sie ab und beseitigte die Nässe, so gut es ging. Abschließend deckte sie die Frau fest zu.
Erschöpft hielt sie dann inne und atmete tief durch. Am liebsten hätte sie sich an Ort und Stelle zusammengerollt und geschlafen, aber dann würde man sie entdecken. Nein, sie musste zurück in ihre Kammer. Benommen stolperte sie in den Flur. Die lange Reihe der Türen verschwamm vor ihren Augen. Welche war es nur gewesen? Warum war es so still?
Althea lief ein Stück, lauschte, dann meinte sie, hinter der vordersten Tür murmelnde Stimmen zu vernehmen. Sie legte ihre Hand auf den Riegel, aber sie war nicht verschlossen, sondern schwang unter dem Druck ihrer Hand ein Stückchen auf. Die beiden Männer, die in dem Raum vor dem Feuer saßen, bemerkten es nicht.
Althea hielt die Luft an. Es waren Bajan und sein Freund, Leviad. Von ihrem Beobachtungsposten konnte sie nur die Rücken der beiden Männer sehen. Sie hielten je einen Becher in der Hand und unterhielten sich leise. Doch etwas machte sie stutzig. Leviad hatte eine Waffe, es war ein Schwert. Er hatte es hinter seinem Stuhl liegen und so, wie er es versteckt hielt, war es ausgeschlossen, dass Bajan es bemerkt haben konnte. Althea erschrak. Was ging hier vor? Gerade fingerte Leviad wieder daran herum.
»Und es besteht keinerlei Hoffnung mehr für sie?«, fragte Bajan leise. Viel hatte er nicht preisgegeben über die Gründe ihrer Flucht, nur über die Entwicklung in Gilda hatten sie lange und ausgiebig gesprochen. Vielmehr spürte er, dass sein Freund jemanden brauchte, mit dem er reden konnte. Der Grund war die schwere Krankheit seiner Frau, wie er soeben erfahren hatte.
»Nein, die Mönche geben ihr nur noch wenige Wochen. Alles, was ich brauche..« Leviad brach ab. Althea hielt die Luft an, als sie sah, als er sein Schwert packte. „..ist etwas, um ihre Schmerzen zu lindern.« Mit einem Ruck zog er das Schwert hervor und richtete es auf Bajan. Althea unterdrückte einen Aufschrei. »Es tut mir leid, mein Freund. Steh auf!«
»Leviad, was hat das zu bedeuten?!« Althea konnte sehen, dass Bajan völlig überrumpelt war. Er hatte tiefe Ringe der Erschöpfung unter den Augen und starrte ungläubig auf das Schwert, das sich auf seine Brust richtete.
»Steh auf!« Leviad unterstrich den Befehl mit einem Ruck, der Bajan ein Stück zurückweichen ließ. Langsam erhoben sich beide Männer.
»Und jetzt leg deinen Dolch ab. Aber langsam!«
Althea presste sich ängstlich in die Türöffnung, als Bajan tat, wie ihm geheißen. Er bewegte sich ganz langsam, war auf der Hut. »Willst du mir nicht sagen, was dies alles zu bedeuten hat?«, fragte er nicht wütend, sondern voller Bedauern.
Leviad packte den Dolch und steckte ihn ein. »Sie kamen heute Nachmittag. Alles, was sie wollten, war, dass ich euch ausliefere, solltet ihr hier unvermutet erscheinen. Nicht, dass ich damit gerechnet habe. Aber nun..« Er ruckte mit dem Schwert nach rechts, fort von der Feuerstelle. Bajan bewegte sich langsam in die geforderte Richtung. Althea konnte sehen, wie seine Augen wütend zu funkeln begannen, und sie vermutete, dass er fieberhaft nach einem Ausweg suchte.
Aber dies war auch Leviad klar. »Dreh dich um! Stell dich an die Wand, die Hände nach hinten! Nun mach schon!« Bajan drehte sich um, hob die Hände, und schon wurden sie ihm auf den Rücken gebunden. »Setz dich hin.«
Bajan sank an der Wand zu Boden und sah zu ihm auf. »Was haben sie dir geboten? Nun sag schon, was ist so wertvoll, dass du unsere Freundschaft verrätst?«, fragte er bitter. Jetzt sah Althea erst vollends, wie erschöpft er war. Sie musste ihm helfen! Alles in ihr spannte sich an.
Leviad setzte sich wieder auf seinen Stuhl, das Schwert griffbereit auf den Knien. »Sie haben mir Mohnsaft geboten, Mohnsaft für meine Frau. Es .. es tut mir leid«, presste er hervor.
Althea spürte, dass etwas sie anstieß. Langsam setzte sie sich in Bewegung. Bajan sah die Bewegung in der Tür und erstarrte. Was wollte sie hier? Um Leviad abzulenken, fragte er: »Hast du schon einen Boten geschickt?«
Leviad schnaubte. »Bei einem solchen Sturm würde ich nicht einmal einen Hund hinausjagen. Nein, das hat Zeit bis morgen früh. Sie haben mir gesagt, dass du ein Verräter bist, dass du Hexerei gedeckt und das Leben der Königskinder aufs Spiel gesetzt hast und..«
Bajan unterbrach ihn wütend: »Glaubst du, so etwas würde ich tun? Die Kinder von Aietan? Warum habe ich sie wohl bei mir?«
Leviad zuckte zusammen. »Dann sind es wirklich seine Kinder? Der Junge, das kann aber nicht Currann sein..«
»Nein, Currann hat sich unseren Verfolgern in den Weg gestellt, er hat für das Leben seiner Geschwister gekämpft. Ich weiß nicht, ob er noch am Leben ist.« Bajan hielt Leviads Blick fest und sah aus den Augenwinkeln, dass Althea fast heran war.
Doch sie tat etwas völlig anderes, als er erwartete. Sie ging einfach um den Stuhl herum und stellte sich mit ruhigen, eigentümlich schimmernden Augen vor Leviad. Dieser zuckte zusammen und griff nach seinem Schwert.
»Nein!« Bajan wollte sich auf ihn werfen, aber seine gefesselten Hände behinderten ihn. Althea rührte sich nicht, sondern sah Leviad fest in die Augen. Der Mann hielt das Schwert abwehrend in Bajans Richtung, während er ungläubig das Mädchen vor sich anstarrte. Bajan spannte sich an, während er sich langsam wieder aufrichtete. Was hatte Althea vor?
»Eure Frau, sie braucht den Mohnsaft nicht mehr«, sagte Althea leise.
»Was sagst du da?« Leviad wurde bleich. Seine Hand begann zu zittern, die Schwertspitze sank zu Boden, und sie klammerte sich derart um den Griff des Schwertes, dass die Knöchel weiß hervorstanden.
Da ertönten aus dem Gang aufgeregte Rufe: »Herr Leviad, Herr Leviad, kommt schnell!« Eine der Mägde tauchte völlig aufgelöst in der Tür auf.
Leviad sprang ächzend auf. Er stieß Althea beiseite, sodass sie hart zu Boden stürzte, lief hinaus und verriegelte die Tür.
Althea rappelte sich mühsam auf und kroch hinüber zu Bajan. Die Seile hatte sie mit ihrem Messer schnell durchtrennt. Bajan zog sie in seine Arme. »Was hast du getan?«, flüsterte er.
»Sie wird wieder gesund.« Althea lehnte sich völlig erschöpft an ihn und schloss die Augen.
Bajans Gedanken rasten, aber erst einmal tröstete er sie: »Hab keine Angst, jetzt braucht er uns nicht mehr ausliefern.«
Althea spürte, dass er dies auch zu seiner Beruhigung sagte. Sie war müde, so unendlich müde, aber eines musste er noch erfahren. »Einer der Jungen ist schwer verwundet. Kiral ist es nicht«, murmelte sie noch und war gleich darauf eingeschlafen.
Bajan blieb betroffen sitzen, Althea fest in seinen Armen. Er rührte sich auch nicht, als Leviad nach einer Weile die Tür wieder entriegelte und sich kraftlos auf den Stuhl fallen ließ. Die Waffe hatte er nicht wieder mitgebracht. Der Mann war derart erschüttert, dass Bajan augenblicklich ruhig wurde. Stumm sah er zu ihm auf, Althea fest an sich gedrückt.
»Bajan, was hat das zu bedeuten?«, fragte Leviad tonlos.
»Ich muss sie in Sicherheit bringen«, sagte Bajan leise und drückte Althea fester an sich.
»Wer ist sie?«, fragte Leviad ehrfürchtig.
Bajan sah ihn zwingend an. »Sie ist die Tochter von Meister Thorald, dem temorischen Lehrer der Königssöhne, und gleichzeitig ist sie die Nichte der Königin. Sie besitzt eine Gabe, es ist die Gabe der heiligen Asklepia. Die Mönche dürfen ihrer nicht habhaft werden, verstehst du? Es ist so wichtig, dass wir alle, einschließlich des Thronfolgers, unser Leben für sie aufs Spiel setzen.«
»Es tut mir leid«, sagte Leviad. Er mochte ihm nicht in die Augen sehen.
Doch Bajan war nicht gewillt, dies gelten zu lassen. Wortlos stemmte er sich mit Althea auf dem Arm hoch und brachte so schnell wie möglich die Tür zwischen sich und denjenigen, den er bis eben noch als guten Freund betrachtet hatte. Den Rest der Nacht verbrachte er bewaffnet in der Kammer der Kinder und wachte über ihren Schlaf.
Am folgenden Morgen erwachten die drei bei Sonnenaufgang. Phelan stutzte zunächst, als er die kurzen schwarzen Locken vor seinem Gesicht erblickte, aber dann fiel ihm alles wieder ein. Er hatte geschlafen wie ein Stein und fühlte sich erholt. »Thea?« Althea drehte sich verschlafen zu ihm um und weckte dabei Noemi auf. »Ist alles wieder in Ordnung?«, fragte er behutsam.
Althea lächelte. »Ja, alles, und noch viel mehr!« Sie setzte sich auf.
Phelan fuhr mit einem Ruck hoch. »Was ist passiert?« Noemi schaute zu spät in ihre Richtung und hatte nichts mitbekommen. Dies änderte sich jedoch, als Althea mit Worten und Zeichen von der vergangenen Nacht berichtete.
»Er wollte uns verraten?« Phelan sprang entsetzt auf und verriegelte sofort die Tür.
Doch Althea beruhigte ihn wieder: »Jetzt nicht mehr. Ich möchte gerne nach der Frau schauen.« Sie drängte Phelan beiseite und hörte nicht auf seine Proteste, als sie den Riegel wieder zurückzog. Sie winkte die beiden mit sich. An der Tür zur Krankenkammer hielt sie inne und lugte vorsichtig hinein. Leviad saß am Bett seiner Frau, stützte ihren Kopf und flößte ihr vorsichtig Flüssigkeit ein. Unendlich zärtlich und behutsam ging er dabei zu Werke, er nahm die Augen nicht einen Augenblick von ihr.
Althea sog diesen Anblick in sich auf, wollte aber nicht stören. Sie zog Phelan und Noemi mit sich. »Ich habe Hunger«, sagte sie bestimmt. »Wo ist die Küche?«
»Hier entlang.« Phelan wies auf einen schmalen Durchgang, der ihr in der Nacht nicht aufgefallen war. Althea atmete auf, als sie dort das übliche geschäftige Treiben erblickten. Es war in jedem Haus gleich, dies war der lebendigste Raum.
»Hallo, ihr drei! Habt ihr Hunger?«, riefen die Frauen.
Stummes Nicken wurde mit frisch gebackenen Fladen und Butter, Hirsebrei mit Honig und frischer Milch belohnt. Althea spürte, wie ausgehungert sie war, und ließ es sich schmecken.
Die Außentür ging auf und Bajan erschien darin. Die Kinder hörten wie auf Kommando auf zu kauen. Althea erkannte froh, dass er etwas erholter aussah. Durch die offene Tür konnte sie einen Blick auf den Hof erhaschen. Pferde standen dort angebunden und wurden von den Dienern bepackt. Fragend blickte sie ihn an, und er antwortete ihr mit einem Nicken. Erleichtert schloss sie kurz die Augen. Bajan setzte sich zu ihnen an den Tisch und nahm dankend einen Becher von der Köchin entgegen.
»Wann werden wir reiten?«, fragte Phelan.
Bajan sah auf. »Wenn ihr fertig seid. Althea, fühlst du dich in der Lage, selbst zu reiten?«
Sie nickte stumm. Rasch beendeten sie ihr Frühmahl und gingen nach draußen in den Hof. Dort standen fünf Pferde angebunden, Phelans Stute und ihr altes Ersatzpferd vom gestrigen Tage, noch ein Packpferd sowie ein großer Hengst und eine kleinere, zierliche Stute. Sie wandte sich sofort Althea zu und begann an ihr zu schnüffeln. Mit einem Grinsen holte Althea eine Mohrrübe hervor, die sie in der Küche eingesteckt hatte.
»Sie ist ein Geschenk an dich.« Bajan griff die Zügel des Hengstes und saß auf.
Altheas Kopf fuhr hoch. »Für mich??« Sprachlos strich sie der Stute über die Blesse und wurde mit einem sanften Schnauben belohnt.
Phelan nickte anerkennend. »Sie ist ein schönes Tier.« Die Bewunderung war ihm deutlich anzuhören.
»Ja, aber warum ..?« Althea konnte es nicht glauben.
»Sie gehört meiner Frau.« Leviad stand plötzlich in der Küchentür und beobachtete sie. »Sie will, dass du sie bekommst. Das hat sie mir heute gesagt.« Er ging zu ihr hinüber und hielt die Zügel fest, damit Althea aufspringen konnte.
Bajan beobachtete die Szene aufmerksam, bereit, jederzeit einzugreifen. Es war jedoch nicht nötig. Deutlich war zu sehen, dass Leviad vor Althea große Ehrfurcht hatte. »Wir schulden dir allen Dank, den wir dir geben können. Dies Geschenk ist das geringste«, sagte Leviad. Er wagte nicht, sie anzublicken.
Althea sah traurig auf ihn herab. Auch er hatte Angst vor ihr. Sie wagte ein vorsichtiges Lächeln. »Verratet einfach nicht, dass wir hier waren, das ist Dank genug. Sagt Eurer Frau, dass ich mich sehr über ihr Geschenk freue. Sie hat sich für das Leben entschieden, weil sie bei Euch bleiben wollte.«
Getroffen ließ Leviad die Hand sinken. Er wich ein wenig zurück. »Sie hatte die Wahl?«, fragte er mit bleichem Gesicht.
Bajan, der sich schon lange nicht mehr über Altheas Aussprüche wunderte, beschloss einzugreifen, bevor Leviad völlig die Fassung verlor. »Leviad, wir müssen uns beeilen«, brach er den Bann zwischen den beiden.
Ihr Gastgeber nahm sich sichtlich zusammen. »Meidet die Straßen, sie werden mit Sicherheit überwacht.« Er ging zu Bajan hinüber und klopfte die Kruppe des Hengstes. »Pass gut auf ihn auf.«
Bajan nahm die Zügel auf. »Ich werde ihn zurückschicken, wenn ich es kann«, erwiderte er kühl.
Leviad trat zurück. »Damit rechne ich nicht. Wer weiß, wo dich der Weg noch hinführt, du wirst ihn gewiss brauchen. Nimm ihn und behalte ihn, das ist mein Dank dafür, dass du Althea hierher geführt hast.« Zum ersten Mal blickte er ihn wieder direkt an.
Bajan sah das Bedauern in seinen Augen und wusste, dass er sich damit auch entschuldigen wollte. »Ich hätte auch alles dafür getan, meiner Frau die Schmerzen zu ersparen«, sagte er knapp, nickte ihm zum Abschied zu und trabte an.
Eingedenk ihrer Erfahrungen bei ihrem ersten Halt mied Bajan von nun an menschliche Siedlungen und Straßen auf dem Weg nach Westen völlig. Zunächst ritt er langsam, um Althea die Gelegenheit zu geben, sich an die Stute zu gewöhnen, aber sie hatte von Anfang an keine Schwierigkeiten mit ihr. Er selbst freute sich an den kräftigen, geschmeidigen Bewegungen des Hengstes, ein prächtiges Tier, das er nur mit Bedauern an Leviad zurückgeschickt hätte. Sein Freund - er bezeichnete ihn in Gedanken immer noch so - war ein begnadeter Pferdezüchter. Er hatte einige erlesene Tiere in seinen Ställen stehen, aber dies war sein persönliches gewesen. Deswegen wusste Bajan dieses Geschenk umso mehr zu schätzen.
Dank Leviads Bemühen, seinen Verrat wieder gutzumachen, waren sie nun ausreichend versorgt. Er hatte ihnen Ersatzkleidung und Karten zur Verfügung gestellt, auf denen selbst die verstecktesten Wasserstellen verzeichnet waren, und auch an Hinweise zur Durchquerung von Nador gedacht, wo Bajan sich nicht gut auskannte. Auch mit Waffen hatte Leviad sie alle versorgt, Phelan und Althea bekamen sogar ein Kurzschwert und alle drei Kinder Pfeile, Köcher, einen kleinen Bogen und eine Schleuder geschenkt. Als Bajan sah, dass Althea problemlos mit ihrer Stute umgehen konnte, erhöhte er das Tempo. So kamen sie gut voran.
Die ersten Tage schwiegen sie die meiste Zeit. Zum einen lag es daran, dass die Kinder mit zusammengebissenen Zähnen ihre schmerzenden Muskeln ertrugen, sie waren das viele Reiten nicht gewohnt. Zum anderen überkam sie eine gewisse Befangenheit. Die Kinder waren bedrückt, ja, Bajan selbst war es auch. Sie alle hingen noch an den Ereignissen, die sie gerade erst hinter sich gelassen hatten. Bajan wusste einfach nicht, wie er sie trösten oder auch nur mit ihnen reden sollte. Stets war er daran gewöhnt gewesen, Currann um sich zu haben. Mit dem jüngeren Sohn der Königin tat er sich wesentlich schwerer. Und mit dem stummen Mädchen wusste er gar nichts anzufangen, er konnte sich nicht einmal mit ihm verständigen. Dennoch beobachtete er es aufmerksam, denn es war etwas Besonderes an der Kleinen.
Er dachte an den Abend zurück, als Leviads Frauen die Mädchen fortführten, um sie zu entkleiden und zu baden. Wie verbissen sich die Kleine gewehrt hatte, von ihnen angefasst zu werden, und er erinnerte sich an Phelans vehementes Einschreiten. Er hatte die Frauen geradezu hinausgescheucht, wütend und mit blitzenden Augen.
Althea hatte sich schließlich um das Mädchen gekümmert, obwohl sie sich selbst vor Erschöpfung kaum auf den Beinen halten konnte, während Phelan aufpasste, dass sich ihnen niemand näherte. Dennoch hatte Bajan einen Blick auf Noemis Rücken erhascht und die vielen, hässlichen Narben gesehen. Seitdem war ihm bewusst, dass die drei wesentlich mehr verband als bloße Freundschaft. Die Kleine hatte etwas, das sämtliche Beschützerinstinkte in einem wachrief, nur war es ihm noch nie aufgefallen, weil er sie bisher kaum zu Gesicht bekommen hatte. Er wusste nur, dass sie aus dem Dienstgefolge des Palastes stammte, mehr jedoch nicht. Phelan jedenfalls ließ sie nicht aus den Augen, und sie selbst klammerte sich geradezu an ihn. Dennoch musste sie beträchtlichen Mut besitzen, denn sie hatte es geschafft, Currann und seine Kameraden zu alarmieren, als die Wachen Althea geholt hatten.
Nachts schliefen die Kinder stets dicht aneinandergedrängt. Wären sie ein paar Jahre älter gewesen, Bajan hätte sich ernsthaft Gedanken gemacht, aber so hatte es etwas Rührendes. Oft genug erwachte Althea schreiend aus einem furchtbaren Traum, und Bajan war dankbar, dass Phelan es stets schaffte, sie zu beruhigen. Er selbst hätte nicht gewusst, wie.
Trotz ihres offensichtlichen Bedürfnisses nach Nähe und in dem Bewusstsein, dass sie mit Sicherheit unter Schock standen, war Bajan klar, dass er auf Dauer die anfallenden Aufgaben nicht allein bewältigen konnte. Sie mussten mit anfassen, schon allein für die Nachtwache brauchte er Hilfe.
Bajan hatte schon immer gern unterrichtet, war mehr in der Heerschule zugegen gewesen, als es für einen Heerführer üblich war. Lohn war ein besonders starker Rückhalt unter den jüngeren Soldaten. Fast alle der Vereidigten waren seine ehemaligen Schüler oder Kameraden. Also beschloss er das zu tun, was er am besten konnte: Er teilte den Kindern feste Aufgaben zu. Seine Anweisungen waren etwas barsch und wortkarg, so wie es seine Art war. Hätte er eigene Kinder gehabt, sein Verhalten wäre vielleicht etwas sanfter gewesen, aber so behandelte er sie eben wie seine Schüler. Phelan und Althea störte es nicht, sie kannten ihn nicht anders. Als er jedoch auch Noemi nicht ausließ, hob Phelan zum Protest an. Aber die Kleine schien ihm irgendwie mitzuteilen, dass sie einverstanden war, denn Phelan verstummte augenblicklich.
Bajan runzelte innerlich die Stirn. Wie verständigten sie sich nur? Etwas nagte an seinen Erinnerungen, aber es entglitt ihm wieder. Also sah er genauer hin. Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Currann selbst hatte es ihm erzählt, damals, in der Rüstkammer, als sie die Schwerter begutachtet hatten. Die Hände der Kinder bewegten sich ständig, schnell und unauffällig. Sie schwiegen gar nicht, sie redeten, sogar sehr viel.
Bajan wusste nicht, ob er erstaunt oder verärgert sein sollte. Wenn er etwas nicht leiden konnte, dann, dass etwas hinter seinem Rücken vorging. Aber dies war derart faszinierend, dass er ihnen nicht ernstlich böse sein konnte. Er beschloss, behutsam vorzugehen, schließlich hatten die Kinder Schlimmes erlebt, und er wollte ihr Vertrauen gewinnen. Denn er war sich über eines im Klaren: Nur wenn sie zusammenhielten und einander vollkommen vertrauten, konnten sie diese Reise überstehen.
Also sah Bajan in den folgenden Tagen genauer hin. Nach und nach vermeinte er eine Struktur zu erkennen, aber ganz begriff er das Prinzip nicht – es fehlte ihm der Schlüssel, ein Beginn, wo er einhaken konnte.
Eines Abends wagte er den nächsten, entscheidenden Schritt, sich der Kleinen anzunähern. Er schickte Phelan mit einer Aufgabe fort, da der Junge so aufmerksam über Noemi wachte, dass es ohne ihn einfacher war. Dann setzte er sich ans Feuer, Noemi gegenüber, und sah sie fest an. Noemi spürte, dass sie beobachtet wurde, und hob den Kopf.
›Ich möchte mich gerne mit dir unterhalten können.‹ Bajan bewegte nur die Lippen, kein Laut drang aus seinem Mund. Für Noemi war es gleich, sie hörte ja nicht. Er sah den abschätzenden Blick der Kleinen auf sich gerichtet. Er merkte, dass sie abwägte, ob sie ihm vertrauen konnte, kein Wunder bei dem, was sie erlebt hatte. Also wartete er einfach ab.
Althea, die bei den Pferden beschäftig war, spürte, dass etwas zwischen den beiden vorging, und sah herüber.
Noemi wandte den Kopf. ›Thea, was denkst du? Soll der Fürst unsere Sprache lernen?‹
Da war er, der Schlüssel. Bajan war sich sicher, dass das erste Wort ›Thea‹ geheißen hatte.
Althea überlegte nicht lange. Sie vertraute Bajan bedingungslos, ja, diese merkwürdige Spannung zwischen ihm und Phelan tat ihr sogar sehr weh. Es war nicht recht, wenn sie Bajan ausschlossen, denn schließlich hatte er alles für sie aufgegeben, seine Stellung, sein Zuhause und Meda und das Kind, das sie erwartete. Wusste er davon? Sie glaubte es nicht, und selbst wenn, er würde es ihnen gewiss nicht sagen, dachte Althea, ließ von den Pferden ab und setzte sich zu den beiden ans Feuer. »Ich finde, Ihr solltet sie lernen, damit Ihr Noemi versteht«, sagte sie laut und zeigte gleichzeitig die Worte.
»Thea, was machst du da?!« Phelan musste wohl etwas geahnt haben, denn er war überraschend schnell wieder zurück.
»Fürst Bajan muss unsere Sprache lernen, es ist wichtig!«, erwiderte Althea den unausgesprochenen Vorwurf.
Phelans Augen begannen wütend zu blitzen. Er hatte selbst schon über dieses Problem nachgedacht, aber nun fühlte er sich übergangen. Gekränkt drehte er sich um und lief davon.
Bajan sah ihm hinterher und seufzte lautlos. Althea lächelte ihm beruhigend zu. »Keine Angst, er kommt zurück. Er ist nur wütend, weil er nicht selbst entscheiden konnte.« Noemi nickte dazu bekräftigend, stand auf und ging ihn suchen. Sie fand ihn nicht weit entfernt. Stumm und forschend sah sie ihn an.
Phelan merkte, wie unter ihrem Blick seine Wut verrauchte. Sie hatten ja recht. Er seufzte, worauf Noemi zu lächeln begann. Phelan antwortete mit einem schiefen Grinsen: »Ihr seid wirklich eine Plage!« Noemi griff seine Hand und zog ihn zum Feuer zurück, und sie bewegte ihn auch dazu, sich beim Fürsten zu entschuldigen, was dieser mit einem Nicken akzeptierte.
Von da an war das Eis gebrochen. Die Mädchen vertrauten sich Bajan auf nur jede erdenkliche Art und Weise an, und selbst Phelan öffnete sich ihm, wenn auch zögerlich.
Bajan lohnte es ihnen, indem er ihnen alles über das Leben in der Steppe beibrachte, was er wusste. Sie begannen morgens, wenn er ihnen erläuterte, wo sie sich gerade befanden – die Karten halfen dabei. Nachts, in den wenigen Stunden, wenn es richtig dunkel war, zeigte er ihnen die Sterne, erklärte Sternbilder und wie man anhand ihrer den Weg fand. Noemi lag dicht bei ihnen und staunte, dass das Licht der Sterne ausreichte, um sie Phelans übersetzende Hände erkennen zu lassen. Das hätte sie nie für möglich gehalten.
Er zeigte ihnen, wie man Feuer machte, ohne dass der Rauch weithin sichtbar war oder in der Nacht der Feuerschein. Althea führte stolz ihren Feuerring vor, der Bajan ehrlich faszinierte und den er sogleich ausprobierte. Tagsüber erklärte er ihnen Tiere und Pflanzen, doch es waren Althea und Noemi, die einen wahren Sammlerinstinkt bewiesen, angeleitet durch das Wissen, das sie bei den Heilerinnen erworben hatten. Was sie an essbaren Pflanzen und Heilkräutern aus der kargen Steppe anschleppten, erstaunte selbst Bajan.
Phelan bestand darauf, dass Noemi reiten lernte, das geduldige Ersatzpferd wurde ihres. Dafür brachte ihnen Bajan das Jagen bei, Phelan wie den Mädchen. Althea und Phelan konnten zwar mit Pfeil und Bogen umgehen, aber ein sich bewegendes Ziel zu treffen, auch mit der Schleuder, war etwas völlig anderes. Pflege und Ersatz der Pfeile und des Bogens gehörten ebenso dazu wie das Fallenstellen und Ausnehmen der Tiere. Hier hatten wiederum die Mädchen kaum Probleme, kannten sie doch den Anblick von Blut aus ihrer Zeit bei den Heilerinnen. Phelan dagegen tat sich damit erheblich schwerer.
Überhaupt stellte Bajan mit der Zeit immer mehr Unterschiede zwischen Phelan und seinem älteren Bruder fest. Er erkannte, dass der jüngere Sohn der Königin ebenso zuverlässig wie Currann war, aber in allen anderen Eigenschaften unterschieden sie sich doch erheblich.
Phelan war auf seine Art klüger als sein Bruder, beweglicher im Geist und schneller im Erfinden von neuen Ideen und Wegen. Dort, wo Curranns Instinkt häufig Entscheidungen beeinflusste, und zwar völlig richtig beeinflusste, ließ Phelan seine Klugheit entscheiden. Er war ein Logiker reinsten Wassers und richtete daran all seine Entscheidungen aus.
Der Instinkt jedoch schien ihm völlig zu fehlen, das Gefühl für die Stimmungen seines Gegenübers – es sei denn, er war so eng mit ihm verbunden wie mit Althea oder Noemi. Bajan konnte es noch nicht ganz greifen, aber er spürte, dass Phelan Schwierigkeiten beim Einschätzen von Menschen hatte. Dafür konnte er sich trotz seiner Jugend geradezu perfekt beherrschen – etwas, das er von seiner Mutter geerbt hatte.
Da er die Menschen nicht einschätzen konnte, ging er offener, aber auch oberflächlicher auf sie zu als Currann und kam leichter mit ihnen in Verbindung. Er konnte sich damit auch besser vor Enttäuschungen schützen. Currann dagegen war erheblich verletzlicher, wenn er erst einmal mit jemandem Freundschaft geschlossen hatte. Bajan mochte nicht entscheiden, welche Variante besser war – er selbst glich eher Currann und hielt sich dementsprechend zurück. Eines jedoch war völlig sicher: Beherrschung konnte man lernen, und er wusste mit absoluter Gewissheit, dass Currann auf dem besten Wege dahin war. Instinkt, seine Mitmenschen einzuschätzen, jedoch nicht. Deswegen würde Currann einen besseren Herrscher abgeben als Phelan.
Für Bajan selbst war es eine völlig neue Erfahrung, sich derart intensiv um Kinder zu kümmern. Nun, diese waren bereits sehr selbstständig, aber trotzdem war es etwas völlig anderes als der Unterricht in der Heerschule, wo die Schüler nach dem Unterricht wieder ihrer Wege gingen. Besonders Althea litt immer wieder unter Albträumen, sie rief nach ihrem Vater, nach Currann und wachte nachts verstört auf. Auch Phelan hatte zu kämpfen, obwohl er es meisterhaft verbarg. Aber Bajan kannte ihn inzwischen gut genug, um zu bemerken, dass ihn etwas belastete. Er machte sich Sorgen um den Jungen. Während Althea sich von ihm beruhigen und trösten ließ, verschloss sich Phelan jeglicher Anteilnahme. Bajan wünschte, er würde sich ihm anvertrauen, wusste aber nicht, wie er sich ihm zuwenden sollte. Nun rächte sich, dass er sich fast nur um Currann gekümmert hatte. Also wartete er ab und war einfach nur für den Jungen da.
Nur Noemi schien die Dinge zu nehmen, wie sie kamen. Bajan wuchs die Kleine bald ebenso ans Herz wie Althea und Phelan. Er erfuhr ihre Geschichte – sie selbst erzählte sie ihm eines Abends, so gut beherrschte er inzwischen ihre Zeichen. Etwas rückte ins rechte Licht. Sie war kein Dienstmädchen, sondern Kind von bürgerlicher Abstammung, das ein schweres Schicksal erlitten hatte. Er verstand nun, dass sie trotz ihrer Aufnahme bei den Heilerinnen nur ein Zuhause hatte, und das war ihre Freundschaft zu Phelan und Althea. Die Bindung war tiefer, als er es geahnt hatte. Sie war der Mittelpunkt ihres Lebens. Nun wunderte er sich nicht mehr, dass die drei so vehement darauf bestanden hatten, zusammenzubleiben.
Abends jedoch, wenn die drei schliefen und er keine Beschäftigung mehr hatte, kehrten seine Gedanken unweigerlich zu der Frau zurück, die er zurückgelassen hatte. Das Herz wurde ihm schwer, wenn er daran dachte, was er gewonnen und nach so kurzer Zeit wieder verloren hatte. Er war außer sich vor Sorge um sie und um Phelans Schwester, die unter Noemis Namen bei ihr geblieben war. Gleichzeitig wusste er, dass dies vermutlich der beste Schutz war, den das Mädchen haben konnte. Trotzdem fragte er sich ständig, ob sie in Sicherheit oder entdeckt worden waren. Die Folgen für Meda mochte er sich nicht ausmalen.
Die Sorge um Currann und seine Kameraden kam noch hinzu, denn er war sicher, dass Althea die Wahrheit gesagt hatte. Wieder und wieder wälzte er diese Fragen im Kopf herum, fand darauf aber keine Antwort.
Doch selbst in den Stunden, in denen Phelan Wache hielt und ihm etwas Schlaf vergönnt war, fand er keine Ruhe. Anders als früher träumte er, schwere, traurige Träume, die ihn selbst beim Erwachen noch in ihrem Bann hielten. Die Kinder spürten, dass ihn etwas bedrückte. Sie versuchten, es ihm so leicht wie möglich zu machen, widersprachen seinen Anordnungen nie und halfen ihm, wo sie nur konnten.
So drangen sie immer weiter nach Westen vor, fernab jeder Siedlung. Die Kinder waren bald braun gebrannt, bei Althea konnte man die Sommersprossen fast nicht mehr erkennen, so dunkel war sie. Nur die blaugrünen Augen und der ungewöhnliche Schnitt ihres Gesichtes verrieten, dass sie nicht nur gildaischer Abstammung war.
Nachdem ihr Problem mit ihrer Versorgung gelöst war, würde das nächste erst weit im Westen auftauchen: ihr Abstieg von der Hochebene Moranns. Die Straße konnten sie nicht benutzen, Bajan war sicher, dass sie überwacht wurde, außerdem war sie so stark bereist, dass sie unweigerlich auffallen mussten. Also musste eine andere Lösung her. Er hoffte, etwas weiter südlich einen von Wildtieren oder Hirten begangenen Pfad zu finden. Die nördliche Route entlang des Lir-Deltas schloss er von vorneherein aus. Ihm behagte der Gedanke an das nicht, was dort lauern mochte. Dieser Gefahr wollte er die Kinder, besonders Althea, nicht aussetzen.
Ebenfalls wusste er noch nicht, wie er Nador und die Grenze nach Temora überqueren sollte. Es gab nur einen offiziellen Weg, und der führte direkt an der Stadt Nador vorbei. Er wusste noch um einen Pfad – es war eine Legende. Die Legende war nur unter den Kundschaftern bekannt, eines ihrer alten gehüteten Geheimnisse. Als junger Mann hatte er zu ihnen gehört, bevor der König ihn zum Heerführer machte. Er rechnete fest damit, dass sie ihn niemals verraten würden, war er doch einer der Ihrigen gewesen. Ohne ihre Hilfe würde er Nador kaum unentdeckt durchqueren können. Nador war nicht sein Territorium, er war in der Gegend um Gilda zuhause. In Nador kannte er sich allenfalls grob aus. Und so überlegte er schon lange, bevor sie das Ende der Hochebene erreichten, wen er um Hilfe bitten konnte.
Das Gute an den Kundschaftern war, dass es verschiedene gab. Jene, die offen ihrer Tätigkeit nachgingen, waren die Führer der Karawanen, Fährtenleser und Boten des Heeres. Jene aber, die im Verborgenen operierten, wurden als solche nicht erkannt. Ein abfälliges Wort für sie lautete: Spione.
Nur der Heerführer und seine engsten Vertrauten, in seinem Fall Waffenmeister Jorman, wussten um sie. Bei seiner Entlassung hatte er tunlichst alle Unterlagen über sie vernichtet. Nicht, dass sein Nachfolger bisher auf die Idee gekommen war, ihn zu fragen – was seinen Verdacht erhärtete, dass die Mönche über ein eigenes Kundschafternetz verfügten. Aber so konnten seine Feinde die Kundschafter nicht aufspüren, wie sie es mit Leviad getan hatten. Ihre Freundschaft war allgemein bekannt gewesen.
An wen also konnte er sich wenden? Wer kannte sich gut genug aus, lebte aber gleichzeitig so weit außerhalb, dass er mit den Kindern nicht in die Nähe einer Siedlung und ganz besonders nicht in die Nähe der Stadt Nador kam? Diese Frage galt es, sorgfältig abzuwägen. Wenn feststand, wo sie absteigen würden, dann würde er eine Entscheidung fällen, aber er tendierte schon jetzt zu einer ganz bestimmten Person. Eigentlich war er der Einzige, dem er hinreichend traute. Wenn es ihm gelänge, diesen Mann zu finden, wären sie einen großen Schritt weiter.
An einem heißen Morgen erreichten sie das Ende der Hochebene Moranns. Die Kinder staunten über den Anblick, der sich ihnen bot. Noch nie hatten sie so hohe Berge gesehen und schon gar nicht mit schneebedeckten Gipfeln. Doch Bajan ließ ihnen kaum Zeit, den Anblick zu genießen. Sich sorgfältig umsehend, versuchte er, einen gangbaren Abstieg zu finden, denn es war ihm bewusst, dass sie weithin sichtbar waren. Die Straße war nicht zu sehen, aber er wusste, dass sie kaum ein paar Stunden entfernt sein musste, vielleicht sogar erheblich näher.
Bald hatte er einen Pfad gefunden. Es war noch früher Vormittag, als sie sich an den Abstieg machten. Der Pfad musste von Hirten benutzt worden sein, jedenfalls fand er am oberen und unteren Ende des Abstiegs verlassene Feuerstellen vor, aber er hütete sich, diese zu benutzen. Obwohl er weit und breit keine Menschenseele sah, trieb er die Kinder zur Eile an. Diese Stelle war einfach zu gut einsehbar. Ihm war klar, dass sie ihr Nachtlager weit entfernt aufgeschlagen mussten, damit man den Feuerschein nicht von hier sehen konnte. Vielleicht würde er auch ganz und gar auf ein Feuer verzichten.
Dies stellte sich als weise Entscheidung heraus, denn als die Nacht heraufzog, flackerte am Horizont der Widerschein eines Feuers. Phelan war es, der es entdeckte. Bajan selbst hatte auf dem Weg niemanden bemerkt, zu dicht war die Vegetation hier unten.
Durch das dichte, wuchernde Buschwerk waren sie gezwungen, die vorgegebenen Pfade zu benutzen, aber es schützte sie auch vor Entdeckung. Bajan beschloss, lieber kein Feuer zu machen, sondern sich und den Kindern einen Unterschlupf unter ein paar Felsen zu suchen.
In den folgenden Tagen ritten sie mit erhöhter Aufmerksamkeit. Mehr als einmal vernahmen sie von Weitem den Lärm umherziehender Herden, das Gebell der Hütehunde und die Pfiffe der Hirten. Sie mussten erhebliche Umwege in Kauf nehmen. Hoffentlich war er in der Lage, seinen Gewährsmann in diesem Gewirr aus Pfaden und Gestrüpp zu finden. Immer wieder verglich er die Karte und suchte nach Orientierungspunkten. Spätestens jetzt wurde sein Verhältnis zu Phelan spürbar vertrauter. Der Junge achtete selbst auf kleinste Details, daher war er beim Auffinden der Landschaftsmerkmale eine große Hilfe. Bajan übertrug ihm in ihrem Unternehmen mehr und mehr Verantwortung, sodass sie sich bald vollkommen aufeinander verließen. Phelan wuchs mit der Verantwortung, die er übertragen bekam, und die Mädchen überließen ihm bereitwillig diese Stellung in ihrer Gruppe.
Irgendwann war Bajan sich sicher, auf dem richtigen Weg zu sein. Einen Tag später erreichten sie am Nachmittag ein kleines Gehöft, einsam gelegen inmitten des Busches. Bajan ließ die Kinder absitzen und führte sie tief in das Buschwerk hinein. Sie sollten in Deckung bleiben. Dies war ein kritischer Moment, die Kinder spürten es und blieben völlig still, während sich Bajan vorsichtig dem Gehöft näherte.
›Gehöft ist allerdings eine übertriebene Bezeichnung‹, dachte er, als er sich der einfachen Hütte aus Stein und den beiden windschiefen Ställen aus Flechtwerk näherte. Ein Hund kam aus dem Schatten einer der Ställe geschossen und blieb knurrend vor ihm stehen. Doch damit hatte Bajan noch nie Schwierigkeiten gehabt. Er konnte sehen, dass das Tier Angst hatte und nicht wirklich gefährlich war. Also kniete er sich hin und hielt ihm seine Hand zum Beschnüffeln entgegen. Umgehend wurde er mit einem Schwanzwedeln und einem feuchten Schlecker über die Hand begrüßt. Bajan lachte leise und klopfte das Tier auf den Rücken, worauf dieses sich begeistert an ihn warf und ihm gewiss ein paar Flöhe vermachte.
»Na, und wo ist Nadim?«, fragte er mehr sich selbst als den Hund. Der kläffte kurz, als er den Namen seines Herrn hörte, sprang auf, lief ein Stück voraus und drehte sich abwartend nach ihm um.
Bajan begriff, dass er ihm folgen sollte. »Schlaues Kerlchen«, brummte er und folgte dem Hund um die Hütte herum. Noch bevor er die Rückseite erreichte, vernahm er ein lautes Schnarchen. Der Hund hatte sich auf der Veranda niedergelassen und sah Bajan entgegen. Bajans Blick fiel auf die Gestalt, die dort selig vor sich hinschnarchend auf einer Bank lag, den breitkrempigen Hut tief ins Gesicht gezogen und die Hände gemütlich über ein stattliches Bäuchlein gefaltet. Bajan zögerte. Sollte dies wirklich der Nadim sein, den er kannte? Doch dann fiel sein Blick auf den Ring am mittleren Finger der rechten Hand.
»Hast es dir gut gehen lassen in den letzten Jahren, was?«, brummte er, während er sich gegen einen Verandapfosten lehnte.
Die Gestalt fuhr zusammen und richtete sich mit einem verwirrten »Waas ..?« auf. Der Hut segelte zu Boden. Leuchtend braune Augen blickten ihn wachsam an, und die Hand lag so schnell an seinem versteckten Dolch, dass Bajan die Bewegung kaum sah. Oh ja, das war er, wenn auch etwas fülliger um die Mitte und mit einer vollständigen Glatze. Bajan verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln.
Der Mann stutzte, aber dann erkannte er, wer da im Sonnenlicht vor ihm lehnte. »Ja, ist es denn zu fassen? Wer taucht da so unvermittelt in meiner bescheidenen Hütte auf? Der große Fürst!« Er sprang behänder auf, als es seine Leibesfülle vermuten ließ, und mit einem breiten Grinsen im Gesicht. »Lass dich anschauen, Mann! Oder muss ich dich jetzt mit Titel anreden?« Sie lachten und umarmten sich.
»Es ist verdammt lange her, mein Freund«, sagte Bajan mit etwas belegter Stimme.
Nadim maß ihn mit einem ernsten, forschenden Blick. »Du siehst aus, als hättest du eine anstrengende Reise hinter dir.«
Bajan rang mit sich, entschied sich dann aber zur Offenheit. »Ich bin auf der Flucht, Nadim.«
Dessen braune Augen weiteten sich überrascht. »Was? Du hast dich mit dem König überworfen? Erzähl, was ist geschehen?«
»Das ist zu lang und zu kompliziert, um es hier und jetzt zu erklären«, winkte Bajan ab. »Lass es uns auf später verschieben. Aber sag, sind irgendwelche Soldaten in der Nähe? Oder Mönche?«
»Deswegen also..« Nadim wurde plötzlich einiges klar. »Uns ist die verstärkte Anwesenheit der Soldaten aufgefallen, aber über die Kundschafter kamen keine Neuigkeiten zu uns. Es herrscht völlige Stille, und jetzt weiß ich auch, warum. Allerdings erreichte mich heute Morgen eine Botschaft, dass wir uns alle heute Abend an unserem Versammlungsort treffen sollen. Es gibt also Neuigkeiten.«
Bajan merkte alarmiert auf. »Vorsicht, es könnte eine Falle sein. Ich nehme nicht an, dass Jorman euch Botschaften sendet. Wo ist dieser Ort?«
»Ganz hier in der Nähe, tief im Busch. Du willst sicherlich teilnehmen, habe ich recht?« Sie wechselten einen ernsten Blick, doch dann besann sich Nadim auf seine Gastgeberpflichten. »Aber komm doch herein, du musst durstig sein. Wo ist dein Pferd?« Er blickte suchend hinter Bajan.
»Versteckt. Nadim, ich muss dich bitten, mit mir zu kommen. Das, was dich dort erwartet, darf unter keinen Umständen an andere weitergegeben werden, verstanden?« Bajan wandte sich um und lief voraus.
»Wenn du es wünschst..« Nadim kam verwundert hinter ihm her. »Was willst du mir zeigen?«
»Komm.« Ohne einen weiteren Kommentar führte Bajan ihn in die Büsche hinein.
Alles hätte Nadim erwartet, Soldaten, Waffen, sogar Schmuggelgut, aber nicht die drei Kinder, die dort ängstlich warteten. Obwohl .. ängstlich wirkten sie bei näherem Hinsehen nicht. Vielmehr waren sie wachsam, forschend, er fühlte sich unter ihren Blicken fast durchbohrt. Besonders der Junge mit dem merkwürdigen Gesicht schien ihm bis ins Innerste zu blicken.
Bajan beobachtete das gegenseitige Abschätzen wachsam. Nadims Erstaunen war echt, das bemerkte er sofort. Erleichterung machte sich in ihm breit. Die Mönche waren noch nicht hier gewesen. Was ihm jedoch wesentlich mehr Sorgen bereitete, war das Treffen heute Abend. Gab es wirklich Neuigkeiten aus Gilda, oder war es vielmehr eine geschickt arrangierte Falle, sein Kundschafternetz zu zerschlagen? Er würde sehr vorsichtig sein müssen, oder sie verlegten den Treffpunkt.
»Du wirst mir einiges erklären müssen, mein Freund«, brachte Nadim schließlich hervor. Er befreite sich mit einem Kopfschütteln aus dem Bann von Altheas Blick.
»Nadim, das sind Phelan, Althan und Leanna.« Wenn die Kinder erstaunt waren, dass Bajan diese Namen wählte, zeigten sie es jedenfalls nicht. »Kinder, das ist Nadim. Wir sind heute bei ihm zu Gast.« Bajan wollte die Zügel seines Pferdes greifen, aber Nadim starrte Phelan begreifend an.
»Der Sohn des Königs?!«
Phelans Gesicht war ausdruckslos. »Nein!« Bajan wandte den Kopf, und die Mädchen zuckten zusammen. »Ich bin der Sohn der Königin. Ich habe keinen Vater mehr!«, presste Phelan hervor. Die ganze Zeit hatte es in ihm gegärt, aber nun war es heraus.
»Bajan, was hat das zu bedeuten?!«, rief Nadim verwirrt.
Bajan packte Phelan beim Arm. »Wir gehen in die Hütte. Kommt!« Er winkte den Mädchen, ihnen zu folgen.
So erstaunt Nadim war, die Versorgung seiner Gäste hatte Vorrang. Hastig beseitigte er einen Teil der beträchtlichen Unordnung, die in der Hütte herrschte, sodass sie sich setzen konnten.
Bajan musterte seinen Freund, der verlegen herumkramte. »Was ist mit deiner Frau geschehen?«, fragte er. Es war deutlich zu sehen, dass hier keine war.
»Oh, die ist in Nador. Ich verbringe die Winter bei ihr und meiner Tochter, aber nach ein paar Monaten wird es mir dort immer zu eng.« Er verzog die Mundwinkel zu einem leichten Lächeln, als er den Kindern etwas zu essen und zu trinken hinstellte.
»Ihr ist es wohl eher zu eng mit dir«, schmunzelte Bajan. Er kannte Nadims Frau, ihn aber auch.
»Das kommt wohl auf dasselbe raus, meinst du nicht?« Er reichte Bajan einen Becher und nahm endlich selbst Platz. Dies war alles Geplänkel, sie wussten es beide. Nadim brannte darauf zu erfahren, was geschehen war.
Anders als vorher überließ es Bajan Phelan, Details über die Vorgänge in der Festung preiszugeben. Er spürte, dass es dem Jungen helfen würde, mit seinem inneren Konflikt fertig zu werden, wenn er selbst entscheiden konnte, inwieweit er Nadim einweihte. Bajan selbst steuerte lediglich die allgemeine Entwicklung im Staat und bei Hofe bei. So blieb denn Nadim in Unkenntnis über Altheas wahre Fähigkeiten und Herkunft, und Bajan erkannte, wie überzeugend die Kinder ihre Umgebung über diese Dinge täuschen konnten. Sie waren Meister der Verstellung geworden, wen wunderte es. Sie trauten niemandem mehr, nach dem Erlebnis mit Leviad schon gar nicht.
Aber Nadim war nicht umsonst Kundschafter. Auch er spürte, dass etwas nicht ganz so war, wie es sein sollte. »Ihr glaubt, ihr werdet verraten? Von uns?«, fragte er misstrauisch.
Bajan hob die Hand. »Ich halte es für ausgeschlossen, dass Jorman in der Lage ist, jetzt schon Botschaften über die Kundschafter auszusenden. Er wird warten, bis die Lage sich beruhigt hat und er etwas von mir hört. Nein, ich glaube, es ist eine Falle. Irgendwo gibt es jemanden, der uns verraten hat, wenn auch unabsichtlich. Nur kennen sie die Mitglieder nicht, sonst hätten sie dich längst geholt.« Er sah, dass Phelan Noemi dichter an sich zog, denn die Kleine hatte zu zittern begonnen. Er lächelte ihr beruhigend zu. »Keine Angst, wir denken uns etwas aus. So einfach machen wir es ihnen nicht!«
Nadim stand entschlossen auf. »Ganz recht! Bajan, ich bin eine Weile weg und sehe mich mal um. Wartet so lange hier. Und keine Angst.« Er zwinkerte Noemi zu, die sich etwas entspannte.
Nach zwei Stunden war Nadim wieder da. Die Kinder schliefen im Innern des Hauses, während Bajan brütend Nadims Platz auf der Veranda eingenommen hatte, die Waffen griffbereit neben sich. An Nadims besorgtem Gesichtsausdruck erkannte Bajan sofort, dass er keine guten Neuigkeiten hatte.
»Es sind Fremde in der Nähe, etwa ein halbes Dutzend«, berichtete er, als er sich dankbar im Schatten niedergelassen hatte. Er wischte sich aufatmend den Schweiß aus der Stirn.
»Woher weißt du das?«, fragte Bajan alarmiert.
»Die Hirten haben es uns berichtet. Niemand entgeht ihnen, bis auf .. nun, euch haben sie nicht entdeckt. Ihr wart schlau, das muss ich schon sagen!«
Erst da wurde Bajan bewusst, wie knapp sie einer Entdeckung entronnen waren. »Wir hatten nur Glück.« Bei diesem Gedanken war ihm gar nicht wohl. »Was habt ihr jetzt vor?«
»Wir warten am vereinbarten Treffpunkt. Aber anstatt in ihre Falle zu tappen, lassen wir sie in unsere laufen. Können wir auf dich zählen? Wir sind nur zu viert.«
Bajan nickte. »Natürlich. Aber was machen wir mit den Kindern?«
»Ich kann auch kämpfen«, sagte da Phelan und stieß die Tür auf.
Die Männer fuhren herum. »Das glaube ich gerne!«, rief Nadim. Er lachte. Phelan presste die Lippen zusammen. Es tat weh, nicht für voll genommen zu werden, aber er ließ sich nicht beirren.
Bajan bedeutete Nadim mit einem Kopfschütteln, von dem Jungen abzulassen. Er hatte eine andere Aufgabe für ihn. »Phelan, gegen einen voll bewaffneten Soldaten bist du machtlos. Nein, das ist zu gefährlich. Du musst dich um die beiden .. anderen kümmern. Du bleibst mit ihnen außer Sichtweite bei den Pferden. Wenn es gefährlich wird, führst du sie in den Busch und versteckst dich mit ihnen, verstanden?« Bajans Ton erlaubte keinen Widerspruch. Phelan nickte.
Nadim war Bajans Zögern nicht entgangen. Was hatte er sagen wollen? Und warum sollte der Prinz sich um einen scheinbar gleichaltrigen, wenn auch sehr merkwürdigen Jungen kümmern? Er wusste sich keinen Reim darauf zu machen.
Die Anordnung des Fürsten wurde widerspruchslos befolgt. Als es dunkel wurde, warteten die Kinder in einer geschützten Stelle des Busches, während sich die beiden Männer an den Versammlungsort heranpirschten.
Phelan war nervös. Er hatte sich weit vorgewagt und prompt eine Aufgabe übertragen bekommen, der er sich kaum gewachsen fühlte. Was, wenn die Männer scheiterten? Er spürte Altheas beruhigenden Händedruck. Wie immer merkte sie, dass ihn etwas bedrückte. Phelan atmete tief durch, umklammerte seinen Bogen fester und lauschte in die Nacht.
Sie hörten nichts. Selbst die nachtaktiven Tiere schwiegen, eine unheimliche Stille senkte sich über den Busch. Unruhig drehten sich die Ohren der Pferde. Noemi drängte sich dicht an Phelan und Althea. Sie konnte die Spannung spüren, die in der Luft lag.
Plötzlich ertönte ein lauter Schrei. Kampfgeräusche drangen zu ihnen. Altheas Hand zitterte, als sie Noemi im schwachen Licht des Mondes übersetzte, was sie hörte.
Phelan spähte aufmerksam in die Dunkelheit, alle Sinne auf die weit entfernten Geräusche gerichtet. Da packte er plötzlich Altheas Hand. Sein Arm schnellte nach vorne. Er hatte eine Bewegung zwischen den Büschen ausgemacht. Die Kinder standen wie erstarrt und versuchten, etwas zu erkennen.
Phelan ging ganz langsam in die Hocke und die beiden Mädchen mit ihm. Da war sie wieder, eine dunkle Gestalt, die sich durch die Büsche auf die Kampfgeräusche zu bewegte. Mit angehaltenem Atem sahen die Kinder zu, wie sie sich langsam von ihnen entfernte. Althea fühlte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Kroch da unsichtbare Kälte auf sie zu? Dies war keiner der Männer Bajans! Die Gestalt winkelte den Arm an und zog ganz langsam ein Schwert heraus. Es war sehr lang, und ein eigentümliches Gleißen ging von ihm aus.
Althea zuckte zusammen. ›Ein saranisches Schwert!‹ Die Worte verkamen zu einer fast fließenden Bewegung, so schnell zeigte sie sie.
Aber Phelan hatte es auch gesehen. ›Hol deinen Bogen, Thea, schnell! Noemi, du bleibst hier. Versteck dich!‹ Er drängte das Mädchen zwischen zwei Felsen. Es sah ihnen ängstlich nach, als sie hinter der Gestalt herpirschten.
Phelan blieb in Deckung, als er mit Althea an den Rand des Pfades trat. Keinen Moment zu früh, denn Althea packte ihn ruckartig und zog ihn zurück. Kaum ein Dutzend Schritte entfernt schlich eine zweite Gestalt auf die Lichtung zu.
›Das ist eine Falle!‹, zeigte Phelan. Diesmal zerrte er Althea zurück in die Büsche, ängstlich darauf bedacht, ja kein Geräusch zu machen. In einem weiten Bogen schlichen sie hinter den Gestalten her, entdeckten eine dritte und eine vierte.
›Wir müssen sie warnen!‹, zeigte Althea, doch Phelan schüttelte energisch den Kopf.
›Dann haben sie uns! Das hilft ihnen nicht. Los, hinterher!‹ Sie schlichen weiter vorwärts, und allmählich erhellte ein Feuerschein die Büsche. Phelan blieb ruckartig stehen. Ein Felsen, kaum auszumachen in dem Dickicht, versperrte ihnen die Sicht.
›Da hinauf!‹, bedeutete er Althea. Sie verstand augenblicklich. So leise, wie sie konnten, kletterten sie den Felsen empor. Oben angekommen entdeckten sie, dass sie nur auf dem ersten Teilstück standen und er noch wesentlich höher war. Doch es genügte. Ein breiter Sims ragte über die Bäume hinaus und lief nach vorne auf den Feuerschein zu. Phelan zog seinen Umhang fester um sich, damit der helle Schein ihrer Kleidung sie nicht verriet. Langsam tasteten sie sich vorwärts.
Ganz vorne angekommen, hatten sie einen guten Blick auf die Lichtung. Sie konnten sehen, wie sich Nadim und drei andere Männer mit gezückten Schwertern über einige am Boden liegende Gestalten beugten. Bajan stand in einen langen Umhang gehüllt und mit seinem Schwert in der Hand bei ihnen. Die Waffe glänzte dunkel wie auch die der anderen Männer. Althea erschrak. Das war Blut. Sie hatten getötet.
Doch Phelan hielt sich nicht bei diesem Anblick auf. Er stieß sie an und deutete auf das Buschwerk. Althea holte erschrocken Luft. Sie konnte die Umrisse von mehreren dunklen Gestalten erkennen. Sie wich unwillkürlich ein wenig zurück, aber Phelan hielt sie fest. ›Sie können uns nicht sehen, keine Angst. Das Feuer ist zu hell.‹ Er ließ den Köcher von seiner Schulter gleiten und machte seinen Bogen bereit. Althea tat es ihm nach. Sie wagte kaum zu atmen vor Furcht.
»Lasst die Waffen fallen!«, schallte laut eine Stimme über die Lichtung. Die Männer fuhren herum, die Schwerter griffbreit, es ging alles rasend schnell. »Gebt auf, es sind ein Dutzend Bogen auf Euch gerichtet. Senkt die Schwerter, ganz langsam!«
»Das ist gelogen!«, zischte Althea. So viele waren es nicht. Phelan legte einen Pfeil ein und beugte sich langsam vor.
Die Männer ließen zögernd die Schwerter sinken. »Werft sie fort. Macht schon!«, rief der Unbekannte. Bajan nickte. Die Schwerter landeten mit dumpfem Aufprall im Gras.
»Und jetzt langsam zurück, weg von den Schwertern!« Die Männer wichen zurück. »Auf die Knie. Hände hinter den Kopf!« Langsam taten die Männer wie geheißen. Erst da wagte sich der Sprecher aus dem Dickicht hervor. Das Schwert warnend ausgestreckt, ging er vorsichtig auf die fünf Männer zu.
»Ihr dort«, das Schwert ruckte in Bajans Richtung, »runter mit der Kapuze!« Bajan zog langsam. Der Stoff glitt herab. »Sieh einer an!« Der Triumph war deutlich aus der Stimme des Mannes herauszuhören. »Das gibt eine fette Belohnung, wenn ich ihnen Euren Kopf bringe!« Mit einem Ruck riss er seine eigene Kapuze herunter. Selbst aus dieser Entfernung sahen die Kinder, wie Bajan sich mit einem Ruck straffte. »Oh ja, Ihr kennt mich noch, nicht wahr? Auf diesen Augenblick habe ich lange gewartet. Sprecht Eure letzten Worte, Fürst!« Dieses Wort spuckte er geradezu. Das Schwert zum Stoß erhoben, glitt er auf Bajan zu.
Althea spannte ihren Bogen. »Der gehört mir«, flüsterte sie.
Phelan verlegte sofort sein Ziel auf den nächsten Soldaten, der aus dem Dickicht trat. »Ziel auf Gesicht und Hals. Für die Rüstung ist der Bogen zu schwach«, riet er. Althea hörte nicht mehr, was der Soldat noch zu Bajan sagte. Als er ausholte, zielte sie und schoss. In dem Moment, in dem Bajan sich zur Seite warf und dem Mann seinen Dolch in den Leib rammte, brach dieser bereits mit einem Pfeil im Hals zusammen, ebenso der zweite Soldat. Bajan blieb keine Zeit, sich zu wundern. Er griff sich das Schwert des Mannes und warf sich den anderen Angreifern entgegen, die aus den Büschen hervorsprangen.
Auch die Kundschafter waren erfahrene Kämpfer. Umgehend hatten sie die Schwerter an sich gebracht und drangen auf ihre Gegner ein. Die Kinder legten nach, schossen, aber sie trafen nur noch zwei Gegner, da sie in dem wilden Gewühl von den Kundschaftern kaum zu unterscheiden waren. Hilflos verfolgten sie den Kampf, wagten nicht zu schießen aus Angst, einen ihrer Leute zu treffen. Bajan entledigte sich gerade eines Gegners, als jemand Neues auf ihn eindrang. Es war der Mann mit dem saranischen Schwert, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte.
»Schnell, er hat nur ein altes Schwert!«, rief Phelan. Sie visierten ihn beide an, doch da warf sich Bajan ihm schon entgegen und versperrte ihnen die Sicht. Das Geräusch, das beim Aufeinandertreffen ihrer Klingen entstand, kannten sie nur zu gut. »Es wird zerbrechen. Geh zur Seite!«, rief Phelan. Er dachte nicht mehr daran, vorsichtig zu sein, sondern beugte sich so weit vor, wie er konnte. Er zielte und schoss, aber sein Pfeil verfehlte das Ziel. In diesem Moment wurde er gewahr, dass Althea sich nicht mehr an seiner Seite befand. Erschrocken wollte er aufspringen, da sah er sie durch die Büsche hetzen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ihren Weg mit seinem Bogen abzusichern. Ihm wurde übel vor Angst. Er sah, dass Bajan einen weiteren Schlag parierte, sein Schwert war bereits stark beschädigt. Bajan konnte den nächsten Streich seines Gegners nicht mehr richtig abfangen und warf sich zur Seite, um ihm zu entgehen. Dabei verlor er sein Schwert.
Jetzt konnte Phelan schießen, aber seine Hand zitterte, er fehlte erneut. Der Mann holte zum letzten Streich gegen Bajan aus, da hatte Althea die Lichtung erreicht. Noch im Laufen legte sie den Pfeil ein, blieb am Rande stehen und schoss. Der Mann brach getroffen zusammen. Phelan sank vor Erleichterung auf die Knie, nur um gleich wieder alarmiert aufzuspringen. Von der Seite näherte sich Althea einer der Soldaten, sie sah es nicht, ihr Blick hing an Bajan, der sich gerade mühsam aufrichtete. Der Mann zückte seinen Dolch und holte aus .. diesmal traf Phelans Pfeil.
Althea schrie auf, als sie den Aufprall des Körpers dicht neben sich spürte. Ihr Schrei rollte über die Lichtung, hoch und fremd an dieser Stätte des Kampfes. Totenstille senkte sich über die Kämpfer, sie fuhren überrascht herum. Es waren nur noch zwei Gegner übrig. Nadim nutze den Moment und erledigte den einen mit einem Stich seines Schwertes. Der Letzte fiel gleich darauf. Schwer atmend ließen die vier Kundschafter ihre Waffen sinken.
Bajan erhob sich mühsam aus dem Staub. Er fluchte leise, als er Althea mit dem Bogen in der Hand am Rande der Lichtung stehen sah. Sie ließ ihn zitternd fallen, als sie jetzt die vielen Toten wahrnahm und all das Blut. Gesehen hatte sie dies alles schon in ihrem Traum, aber nichts hatte sie auf die Realität vorbereitet, auf den Geruch und die Laute der Sterbenden. Sie schluckte und starrte Bajan an, der auf sie zulief, in den Augen einen ganz eigentümlichen Ausdruck. Mit einem Laut, den sie von ihm noch nie gehört hatte, zog er sie in seine Arme.
Althea klammerte sich an ihn, sie zitterte nun unkontrolliert. Oben auf dem Felsen wurde Phelan übel. Er erbrach sich in die Tiefe, als die Angst und die Anspannung schlagartig nachließen.
»Warum hast du das gemacht? Bist du wahnsinnig?« Bajans Stimme klang belegt, als er sie in seinen Armen wiegte.
»Er wollte Euch töten«, flüsterte sie und begann zu weinen.
Nadim kam heran. »Wo ist Phelan?«, fragte er so leise, dass die anderen Kundschafter es nicht hören konnten.
»Auf dem Felsen«, schluchzte Althea. Ihr wurde schwindelig, und Bajan spürte, wie die Beine unter ihr nachgaben.
Er hielt sie fest und sah Nadim über ihren Kopf hinweg an. »Ich bringe sie hier weg. Schafft die Toten fort, dann komm zu uns.« Er wartete keine Antwort ab, sondern hob Althea auf seine Arme und trug sie von der Lichtung.
»Sie?« Nadim starrte ihm hinterher. Doch er wurde sich der drängenden Zeit bewusst. Dieses Rätsel konnte warten.
Phelan schleppte sich indes mühsam zu den Pferden zurück. Er suchte Noemi, fand sie aber nicht. Rufen war überflüssig, sie konnte ihn ja nicht hören. Die Angst kam wieder hoch, doch da hörte er ein leises Knirschen. Phelan legte den Kopf schief und konzentrierte sich. Das Geräusch kam aus den Felsen. Er kletterte in sie hinein, suchte zwischen ihnen, aber er fand Noemi immer noch nicht. Dennoch musste sie hier irgendwo sein, gewiss versteckte sie sich vor lauter Furcht. Warum nur hatte er sie allein gelassen? ›Weil du den Helden spielen wolltest, Phelan, ganz einfach!‹, meldete sich sein schlechtes Gewissen. Ihm wurde erneut übel, aber diesmal beherrschte er sich. Es galt, Noemi zu finden. Er wartete und lauschte. Da vermeinte er, ein leises Atmen zu hören. Er ging in die Knie, beugte sich vor und sah ein Augenpaar in einer Nische aufblitzen.
›Noemi..‹ Er bewegte die Hände. Das Augenpaar verschwand und war gleich darauf wieder dort. Er atmete auf und zog sie heraus. Sie zitterte.
›Warum habt ihr mich alleine gelassen?‹ Ihre Hände waren ein einziger Vorwurf.
›Es tut mir leid. Der Fürst brauchte unsere Hilfe.‹ Phelan wollte sie an sich ziehen, aber sie sträubte sich. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und lief zu den Pferden. »Verdammt!« Phelan folgte ihr, und da kam auch schon Bajan mit Althea auf den Armen herbei. Er setzte sie schwer atmend ab.
Phelan schluckte, als er Bajans Blick auf sich spürte. »Ich habe Eurem Befehl nicht gehorcht, Fürst..« Er kniete nieder und strich Althea behutsam über die Stirn. Sie wurde bei der Berührung wieder wach. »Ich habe sie beide in Gefahr gebracht.« Phelans Stimme kippte. »Es tut mir leid.« Beschämt senkte er den Kopf und wartete auf Bajans Urteil.
»Verdammt, Junge, ohne euch wären wir in ernsten Schwierigkeiten gewesen!« Bajan packte ihn an der Schulter.
Phelan blickte überrascht auf. »Dann .. dann habe ich richtig gehandelt?«, schluckte er.
Bajan packte ihn fester. »Du hast das Beste aus der Lage gemacht. Ihr beide. Wie richtige Soldaten.« Er blickte Althea wieder mit diesem eigentümlichen Blick an.
Da erkannten die Kinder, dass der Fürst sich heftige Vorwürfe machte, sie in diese Gefahr gebracht zu haben. »Ihr auch«, flüsterte Althea und nahm seine Hand. »Wir müssen zusammenhalten. Bitte macht Euch keine Vorwürfe.« Da packte Bajan sie beide und zog sie in eine feste Umarmung. Noemi stand stumm dabei, aber Phelan streckte die Hand nach ihr aus. Sie flüchtete sich in die Sicherheit und Wärme der anderen.
So fand Nadim sie vor, fest aneinandergeklammert. Er sagte nichts, sondern wartete, bis sie sich voneinander gelöst hatten. »Du willst dies gewiss gerne wiederhaben.« Er streckte Bajan sein saranisches Schwert hin, das ihm sein Gegner abgenommen hatte. »Das hier haben wir außerdem erbeutet.« Er zeigte das andere saranische Schwert ihres Gegners, das im Mondlicht eigentümlich glänzte.
»Daran haben wir erkannt, dass es nicht Eure Leute sein konnten«, erklärte Phelan.
Nadim hielt das Schwert prüfend vor sich. »Was ist dies für eine Waffe? Das Material kenne ich nicht.«
»Es ist ein saranisches Schwert«, erklärte Althea. »Sie sind härter als Eure Schwerter.«
»Das habe ich sehr wohl bemerkt.« Nadim wog es ehrfürchtig in der Hand.
»Ja, und ich hatte meines nicht zur Stelle«, sagte Bajan. Er wischte sein Schwert sauber und steckte es zurück in die Scheide. »Mit einem solchen Gegner hast du kaum eine Aussicht zu bestehen. Diese Waffen zeigen mir, dass es Männer der Mönche waren, die uns angegriffen haben.«
Dies brachte nun auch Phelan halbwegs wieder zu sich. »Aber warum ist Euer Schwert nicht sofort zerbrochen? So wie das, was Fürst Roars Mann bei der Vorführung vor dem Rat benutzt hat?«, fragte er Bajan. Es ging ihm schon die ganze Zeit im Kopf herum.
Bajan klopfte ihm auf die Schulter zum Zeichen, dass er diese Frage durchaus ernst nahm. »Die Saraner haben eine minderwertige Replik benutzt. Sie haben sie selbst hergestellt. Trotzdem halten auch unsere besten Schwerter diesen nicht lange stand, wie wir eben gesehen haben.« Er schüttelte leicht den Kopf in Nadims Richtung, der ihn fragend ansah.
Dieser verstand. Eine genauere Erklärung würde er schon noch bekommen. Daher half er ihnen rasch auf, ohne weitere Fragen zu stellen. »Kommt, wir müssen sehen, dass wir hier wegkommen.« Sie kehrten auf großen Umwegen zur Hütte zurück.
Die Kinder schliefen sofort ein, während die Männer, selbst hundemüde, abwechselnd Wache hielten. Als der Morgen dämmerte, weckte Bajan die Kinder, und sie brachen auf. Nadim würde sie nach Temora bringen.
Mehr als einmal spürte Althea während des Tages den prüfenden Blick Nadims auf sich. Doch sie kümmerte sich nicht darum, zu sehr waren ihre Gedanken noch bei der vorherigen Nacht. Sie hatte getötet. Ein Teil ihrer selbst fühlte tiefes Entsetzen in sich, aber ein anderer Teil jauchzte vor Stolz darüber, dass sie dem Fürsten das Leben gerettet hatte. Sie fragte sich, ob sie wirklich noch normal war. Dies erfüllte sie mit noch mehr Furcht als ihre Tat selbst. Sie war kaum ansprechbar während ihres Rittes. Auch Phelan hatte zu kämpfen, und Bajan war klar, dass die Kinder sich ihm anvertrauen mussten, sonst konnte ihre Verstörtheit ernste Züge annehmen.
Dieser Zustand änderte sich erst, als Althea spät in der Nacht einen Traum hatte. Phelan, der mit Nadim gerade Wache saß, lief besorgt zu ihr, als sie sich herumzuwälzen begann. Selbst Noemi wachte auf. Bajan war sofort hellwach, denn er hatte den leichten Schlaf eines Soldaten.
»Nein .. nein, nicht .. geh nicht, du musst bleiben .. er braucht dich ..!!« Althea fuhr mit einem Schrei hoch. Schwer atmend versuchte sie, etwas zu sehen, aber ihre Augen waren blind.
Nadim kam langsam näher ans Feuer heran und blieb wie erstarrt stehen. Die Augen des Jungen waren schwarz, vollkommen schwarz.
Doch die anderen schienen sich daran nicht zu stören. »Thea, wach auf!« Phelan rüttelte Althea an der Schulter. Sie zuckte zusammen, schloss die Augen und riss sie wieder auf. Jetzt war ihre Farbe wieder normal. Verstört sah sie um sich.
»Es ist alles gut, Kleines, keine Angst. Was hast du geträumt?«, fragte Bajan behutsam.
Da ging Nadim auf, was die ganze Zeit nicht gestimmt hatte. Der Junge war ein Mädchen, und offensichtlich ein sehr Ungewöhnliches noch dazu. Er rührte sich nicht, sondern beobachtete aufmerksam, wie Althea stockend zu berichten begann.
»Es ist Sinan, der verwundet ist. Und seine Mutter ist tot! Himmel, was ist mit Nel ..?« Sie begann zu weinen. Jetzt kamen alle Ängste hoch, die sie den ganzen Tag unterdrückt hatte.
Bajan nahm sie tröstend in die Arme. »Ist ja gut, weine nur. Das hilft dir«, flüsterte er. Er sah Nadim am Rande des Feuerscheins stehen und schüttelte leicht den Kopf, worauf Nadim sich zurückzog. Erklärungen würden später folgen, wie schon so oft.
Althea berichtete stockend, was sie gesehen hatte: »Es geht ihm sehr schlecht, aber Currann ist wohlauf. Er sieht jetzt aus wie der König.«
»Wie der König?« Falls es Phelan auffiel, so zeigte er es jedenfalls nicht. Sie sagte nicht ›dein Vater‹. Althea nickte.
»Konntest du sehen, wo sie sich befinden?« Stummes Kopfschütteln. Bajan drückte sie fest an sich. Langsam beruhigte sich Althea wieder. »In meinem ersten Traum, da habe ich gesehen, dass sie viele Männer getötet haben. Es war schrecklich. Ist das immer so?«, fragte sie zaghaft.
»Was meinst du damit?«, erwiderte Bajan. Kam er jetzt dem auf die Spur, was sie belastete? Welch eine schreckliche Sache für ein elfjähriges Mädchen!
Althea holte tief Luft. »Ich .. es macht mir Angst, wozu ich in der Lage bin. Und .. ich bin stolz darauf.« Sie wagte nicht aufzublicken, denn sie schämte sich zutiefst.
Bajan atmete innerlich auf. Endlich sprach sie darüber. Er sah Phelan an und erkannte, dass sich der Junge genauso nach einer Antwort sehnte wie sie. Da wollte eine Antwort wohlüberlegt sein. »Wisst ihr, viele erwachsene Männer haben damit zu kämpfen, und ihr seid noch viel zu jung für diese Erfahrung. Sie sind nach ihrem ersten Kampf, was sage ich, nach jedem Kampf voller Entsetzen darüber, was sie getan haben. Gleichzeitig erfüllt es sie mit Stolz, für ihr Überleben oder das anderer gekämpft zu haben. Während des Kampfes ist es wie ein Rausch, versteht ihr? Entweder du stirbst oder dein Gegner. Da denkst du nicht nach. Es ist der Instinkt zu Überleben, der uns treibt. Erst hinterher bemerkst du, was du eigentlich getan hast. Dann meldet sich dein Gewissen. Das ist für die meisten sehr schwer, selbst für erfahrene Soldaten. Auch für mich. Sorge dich nicht, Althea, das ist völlig normal.«
Sie blickte auf und sah Bajans Augen liebevoll auf sich gerichtet. Eine Last fiel von ihr ab. »Ich danke Euch!« Sie umarmte den Fürsten und warf Phelan einen frohen Blick zu, den er erleichtert erwiderte. Es fiel Althea wesentlich leichter, sich dem Fürsten anzuvertrauen, als ihm. Gerade eben hatte sie es für sie beide getan.
»Wollt ihr versuchen, noch ein wenig zu schlafen? Ich übernehme deine Wache, Phelan.« Dieser nickte, froh darüber, Althea jetzt nicht allein lassen zu müssen. Dicht aneinandergedrängt schliefen die Kinder wieder ein.
Bajan beobachtete sie noch eine Weile, bis er ganz sicher war, dass sie ruhig schliefen, dann erhob er sich und ging zu Nadim hinüber. Er fand den Kundschafter auf einen Felsen.
»Du hast mir etwas zu erklären, mein Freund«, brummte Nadim.
Bajan seufzte. »Es war mir klar, dass unser Geheimnis nicht lang Bestand haben würde. Aber wenn du erfährst, was uns unterwegs widerfahren ist, wirst du verstehen, warum wir dich getäuscht haben. Also höre zu, und dann kannst du wütend auf mich sein.«
Als er geendet hatte, schwieg Nadim eine ganze Weile. Dann sagte er: »Sie haben alles für das Mädchen aufgeben?«
»Currann und Phelan hätten früher oder später eh mit ihrem Vater gebrochen. Altheas Sicherheit gab nur den Ausschlag für den Zeitpunkt und die Richtung ihrer Flucht. Aber Nadim, das Mädchen ist wichtig, so wichtig, dass ich alles für es tun würde. Frag mich bitte nicht, warum, das kann ich dir nicht sagen. Es muss nach Temora, so schnell wie möglich.«
»Das wird es, keine Sorge. Bald erreichen wir die Berge, dann suchen wir den Pfad. Wenn wir Glück haben und das Wetter mitspielt, sind wir schnell auf temorischem Gebiet.«
Am folgenden Tag hörte das Buschland unvermittelt auf, und Steppe breitete sich vor ihnen aus. Wieder hatten sie die Berge vor sich, nur dass sie nun zum Greifen nahe schienen. Althea zügelte ihre Stute. Mit großen Augen nahm sie diesen Anblick in sich auf. Ein schneller Seitenblick zeigte ihr, dass es Phelan und Noemi ähnlich erging. Selbst Bajan konnte sich nicht ganz aus dem Bann dieses Anblicks befreien. Er schloss zu Nadim auf. »Wo befindet sich der Beginn des Pfades?«
Nadim zeigte auf eine Stelle nördlich der vor ihnen aufragenden Bergflanke. »Dort drüben ist der Einstieg. Wir müssen ihn suchen, denn ich kenne auch nur seine ungefähre Lage. Aber zunächst gilt es, die Straße und dann den Fluss zu überqueren. Ihr seht sie von hier nicht, aber sie sind nur ein paar Stunden entfernt. Das wird ein gefährlicher Moment. Wir werden warten, bis es dunkel ist.« Er winkte den Kindern, ihnen zu folgen.
Es war später Nachmittag, als die Straße in Sichtweite kam. Nadim bedeutete den Kindern, hinter ein paar Felsen in Deckung zu bleiben. Er selbst kletterte hinauf und spähte die Straße aus. »Es sind eine Menge Leute unterwegs. Ich sehe mindestens vier Reiter und noch einige Wagen. Wir müssen wirklich warten, bis es dunkel ist.«
Bajan lehnte unten an der Rückseite des Felsens. »Zum Glück haben wir fast Vollmond, das gibt uns Licht.«
Nadim sah zu ihm herunter. »Aber auch wir werden dann besser gesehen. Ich weiß nicht .. wir werden sehen.« Er wandte seinen Blick wieder nach vorn. Nach einer Weile zog er sich ruckartig zurück. »Soldaten! Ein Dutzend Männer.« Selbst von ihrem weit entfernten Standpunkt konnten sie das Donnern der Hufe hören.
»Sie reiten nur Patrouille, sonst wären sie schneller. Sie haben uns nicht bemerkt«, brummte Bajan. Er sah zu den Kindern herüber, die sich ängstlich hinter die Felsen duckten.
Die Stunden bis zum Dunkelwerden wurden endlos lang. Althea nutzte die Gelegenheit, etwas Schlaf nachzuholen, aber Phelan war viel zu aufgeregt und Noemi zu ängstlich, als dass sie schlafen konnten. Also unterhielten sie sich, lautlos und aufmerksam beobachtet von Bajan, während Nadim auf seinem Posten blieb.
Endlich wurde es dunkel. Phelan weckte Althea auf, die bis dahin tief und fest geschlafen hatte. Nadim spähte immer noch die Straße aus, aber mittlerweile war niemand mehr zu sehen und noch viel wichtiger, auch nicht zu hören. »Die Luft ist rein«, gab er das Signal zum Aufbruch. Langsam näherten sie sich der Straße. Nadim hielt immer wieder inne, um zu lauschen, aber kein Laut war zu hören außer normale Geräusche der Nacht. Schnell hatten sie die Straße überquert, jetzt galt es noch, den Fluss zu überwinden. Nadim hielt hinter ein paar Büschen an. »Kinder, könnt ihr schwimmen?«
»Nein«, antwortete Phelan für sie alle drei.
»Das habe ich mir gedacht. Der Fluss ist tief und die Strömung reißend, außerdem ist das Wasser eiskalt, es kommt aus den Bergen. Wir binden euch jetzt an den Pferden fest. Habt keine Angst, eure Pferde können in jedem Fall schwimmen, auch wenn sie den Halt verlieren.« Er wollte Noemi ein Seil umbinden, aber sie zuckte zurück.
»Ich mache das.« Phelan glitt von seinem Pferd herunter und nahm Nadim das Seil ab. Schnell erklärte er ihr, was sie vorhatten, und band sie unter Nadims Anleitung fest. Anschließend wurden auch er und Althea festgebunden.
Nadim ritt ihnen voraus in das reißende Wasser. Die erste Strecke war noch flach, das Pferd schritt kräftig aus, aber dann sackte der Boden unvermittelt ab. Nadim trieb sein Pferd energisch voran. Die Kinder beobachteten mit angehaltenem Atem, wie es immer tiefer in dem rauschenden Wasser versank. Schließlich schaute nur noch der Rücken des Tieres heraus, und es bewegte sich gleitend vorwärts.
»Es schwimmt!«, staunte Phelan. Gleich darauf war Nadim auf einem flacheren Stück angekommen, und das Tier hatte wieder Boden unter den Füßen.
»Phelan, jetzt du!«, flüsterte Bajan. Phelan trieb seine Stute vorwärts. Er kam gut voran, obwohl er erschrocken Luft holte, als das eiskalte Wasser seine Beine umspülte. Doch die Stute wollte genau so schnell wieder heraus wie er, und so erreichten sie sicher das andere Ufer. Noemi folgte ihm sogleich. Ihr geduldiges Ersatzpferd hatte schon so einiges mitgemacht und trug sie sicher hinüber.
Dann war Althea an der Reihe. Das erste Stück schaffte sie problemlos, aber als das Wasser den Bauch ihrer Stute zu berühren begann, stieg diese plötzlich und scheute zurück. Doch Althea war inzwischen sehr sicher im Umgang mit ihr. Sie zwang sie herunter und trieb sie unerbittlich vorwärts. Doch als sie fast im flachen Teil des Flusses angekommen waren, trieb plötzlich etwas Dunkles im Wasser auf sie zu. Was es war, vermochte Althea hinterher nicht mehr zu sagen, aber es prallte gegen sie und ließ ihre Stute durchgehen. Das Tier begann, in Panik um sich zu treten, und es ging mitsamt seiner Reiterin unter. Althea wurde unter Wasser gezogen, sie bekam keine Luft mehr. Sie spürte, wie die Strömung sie und das Tier erfasste und forttrug. Doch genauso schnell, wie sie untergegangen waren, gelangten sie wieder an die Oberfläche. Althea schnappte nach Luft, die Kälte brannte wie Nadelstiche auf ihrer Haut. Dann schlug das Wasser wieder über ihr zusammen. Verzweifelt klammerte sie sich an Zügel und Seil fest, als plötzlich ein Ruck durch das Tier ging. Die Stute fand Grund unter ihren Hufen und kletterte an das rettende Ufer.
Zitternd blieb sie stehen, während Althea hustend das viele Wasser hervorwürgte, das sie geschluckt hatte. Als sie wieder Luft bekam, glitt sie vom Rücken ihrer Stute. Das Seil war lose, jetzt erkannte sie erst, wie viel Glück sie gehabt hatte. Sie lehnte sich an ihre Stute und versuchte, sie und sich selbst zu beruhigen. Die Wärme des Tieres tat ihr gut, denn ihr war kalt, eiskalt, aber ein schneller Blick auf die dunklen Umrisse der Berge sagte ihr, dass sie am richtigen Ufer war.
Sie beschloss, stromaufwärts zu gehen, dann würde ihr wenigstens warm. Zu rufen getraute sie sich nicht, wer weiß, wer es noch hören konnte. Sie war kaum ein paar Schritte gelaufen, da kamen die anderen ihr auch schon entgegen.
»Althea, bist du wohlauf?« Bajan sprang von seinem Pferd und lief auf sie zu.
»Ja, keine Sorge, Fürst, aber ich brauche trockene Kleider.«
Nadim kam heran gehastet, ein paar Zweige im Arm. »Bajan, wir müssen ein Feuer machen und sie wärmen. Sie holt sich sonst den Tod.«
Bajan hielt ihn davon ab. »Nein, das Feuer kann man von der Straße aus sehen. Phelan, hast du noch trockene Sachen?« Phelan hatte bereits etwas aus den Taschen ihres Packpferdes hervorgezogen und brachte es Althea.
Nadim protestierte: »Bajan, das Wasser war eisig. Sie wird krank werden, wenn wir sie nicht aufwärmen. Das Wagnis, gesehen zu werden, müssen wir eingehen!«
»Nein, Althea wird nicht krank«, wiegelte Bajan ab und nahm ihm die Zweige aus der Hand.
Der Kundschafter sah verwundert von einem zum anderen. Sonst waren sie so besorgt um das Mädchen, aber nun plötzlich nicht mehr? Er gab es auf. »Also gut, wenn ihr meint. Aber sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt!«
Althea kam umgezogen hinter einem Busch hervor. »Mir geht es gut, sorgt Euch nicht.«
Nadim verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Dann können wir ja weiter«, sagte er mit einem etwas unbehaglichen Unterton in der Stimme, bei dem Althea traurig den Kopf senkte.
Sie ritten die Nacht durch. Als die Sonne aufging, waren sie bereits tief in ein Tal vorgedrungen, und das Gelände stieg stetig an. Bajan fragte die Kinder, ob sie eine Rast einlegen wollten, aber diese wollten so weit wie möglich von der Straße weg. Den Männern war es recht, ihnen war es auch lieber, wenn sie außer Sicht waren. Gegen Mittag kamen sie an ein gigantisches Geröllfeld, das sich vom hinteren Teil des Tales bis in den Himmel zu erstrecken schien. Felsbrocken von der Größe einer Faust bis zur Größe eines Hauses türmten sich in wildem Durcheinander. Nun erkannte Bajan, was Nadim mit dem Wort ›Einstieg‹ gemeint hatte. Einen falschen Schritt in diesem Wirrwarr und man war unwiderruflich verloren.
»Und nun?«, fragte Phelan stellvertretend für sie alle.
»Wir müssen den Beginn des Pfades finden. Er muss hier irgendwo sein«, sagte Nadim. Sie sahen sich ratlos um. Das Geröllfeld erstreckte sich über die gesamte Breite des Tales.
»Wir teilen uns auf. Nadim, geh du mit Phelan in die südliche Richtung, ich suche mit den Mädchen in der nördlichen«, entschied Bajan.
Aber nach Stunden hatten sie immer noch nichts gefunden. Die Kinder wurden langsam müde, und auch die beiden Männer konnten gut und gerne eine Rast vertragen. Daher beschlossen sie, erst einmal etwas zu essen und es dann noch einmal gemeinsam zu versuchen.
Es war schließlich Noemi, die den Einstieg fand. Sie trat sich einen spitzen Stein in ihren Schuh und setzte sich auf einen Felsen, um ihn herauszuziehen. Dabei blickte sie um einen der größeren Felsbrocken herum, und da lag er vor ihr, wahrlich meisterhaft verborgen. Von einem Standpunkt außerhalb der Felsen konnte man ihn nicht sehen. Nur wenn man, so wie sie, bereits in ihnen saß und seitlich darauf blickte, war er klar zu erkennen. Hastig zog sie sich den Schuh wieder an und holte die anderen.
Ein Blick auf den Pfad und die Männer entschieden, dass sie dort nicht hinaufreiten würden. »Zu steil«, lautete ihr Urteil. Sie mussten die Pferde hinaufführen.
Der anstrengende Aufstieg ließ sie bald alle ins Schwitzen geraten. Es war ein heißer Tag, und selbst jetzt, am Abend, brannte die Sonne ihnen noch immer ins Gesicht, und mit der Zeit wurde die Luft merklich dünner. Oft mussten sie innehalten und verschnaufen, wobei die Männer zu ihrem Verdruss viel länger dazu brauchten, wieder auf die Beine zu kommen, als die Kinder.
»Bajan, mein Freund, wir werden alt«, sagte Nadim resigniert, als die Kinder schon wieder aufgesprungen waren und auf sie warteten. Bajan schmunzelte und erhob sich mühsam. Er hatte sich bisher immer für sehr geübt gehalten, aber dieser Weg ging auch an seine Grenzen.
Bei Sonnenuntergang erreichten sie das Ende des Geröllfeldes. Sie blickten auf ein flaches Hochtal, das weiter hinten in einem Schneefeld endete. Dahinter und zu den Seiten des Tales erhoben sich die verschneiten Gipfel des Nadorgebirges. Die Männer suchten nach einem geschützten Platz, an dem sie ihr Nachtlager aufschlagen konnten, denn bereits jetzt, in der untergehenden Sonne, war es empfindlich kalt. Die Kinder zogen fröstelnd ihre dünnen Umhänge um sich. Bajan entdeckte einen kleinen Felsüberhang, unter dem sie einen windgeschützten Platz fanden. Dort ließen sie sich nieder und wagten das erste Mal seit Tagen wieder, ein richtiges Feuer zu entzünden.
Es wurde klirrend kalt in dieser Nacht. Der Unterschied war besonders groß, da sie aus dem heißen, trockenen Tiefland kamen. Die Kinder zitterten trotz des warmen Feuers, da half auch nicht, dass sie sich dicht aneinanderdrängten. Erst als sie die Decken zusammen und sich ganz dicht ans Feuer legten, schliefen die beiden Mädchen erschöpft ein.
Phelan jedoch, der ganz hinten und damit ohne jemand Warmes im Rücken lag, fror erbärmlich. Trotzdem wollte er seine Lage nicht aufgeben, denn das hätte bedeutet, dass Althea frieren musste. Also biss er die Zähne zusammen und rückte so dicht es ging an sie heran. Aber der Schlaf wollte und wollte sich nicht einstellen. Nach einiger Zeit kam Nadim ans Feuer und ließ sich aufatmend gegen einen Felsen sinken.
»Nadim«, flüsterte Phelan so leise, wie er konnte, um Althea nicht zu wecken, »welchen Tag haben wir heute eigentlich?«
Nadim wandte erstaunt den Kopf. Er hatte damit gerechnet, dass die Kinder fest schliefen. »Warum fragst du?«
»Nur so.« Phelan konnte ein leichtes Zähneklappern nicht unterdrücken.
»Warte, ich hole dir etwas, das du hinter dich legen kannst. Das hält die Kälte etwas ab«, brummte Nadim. Dankbar blickte Phelan hinter sich, als ihm gleich darauf eine große Tasche von ihrem Packpferd in den Rücken geschoben wurde.
»Ich habe deine Frage nicht vergessen.« Nadim stopfte noch ein paar Kleidungsstücke zwischen Phelan und die Tasche. »Wir haben den zweiten Tag nach der Sommersonnenwende.« Er klopfte Phelan zum Zeichen, dass er fertig war, auf die Schulter, stand auf und wickelte sich in seine eigene Decke.
Bald verrieten Phelan tiefe Atemzüge, dass der Kundschafter eingeschlafen war. Er beneidete die beiden Männer darum, jederzeit an jedem Ort schlafen zu können. Das war wohl Folge des Soldatenlebens. Ihm selbst fiel es sehr schwer, er schlief nur unruhig, vor allem, wenn Althea träumte. Phelan schloss die Augen und wartete darauf, dass ihm etwas wärmer wurde. Ganz allmählich begann sich die Wärme in seinem Rücken auszubreiten, und er entspannte sich.
Also war er jetzt vierzehn Jahre alt. Sein Geburtstag war gekommen und gegangen, ohne dass sie es bemerkt hatten. Das Wissen schmeckte bitter. Welcher Junge mit vierzehn war schon vor tödlichen Verfolgern auf der Flucht, geschweige denn hatte selbst getötet? Und hatte Dinge in der Festung gesehen, die selbst für einen Erwachsenen schwer zu ertragen waren? Eine Weile fühlte er sich elend, einsam und verlassen, doch dann schämte er sich zutiefst dieser Gedanken. ›Hör auf, dich selbst zu bemitleiden!‹ Hätte er es gewagt, sich zu rühren, er hätte sich selbst geohrfeigt. Althea war jünger als er und obendrein noch ein Mädchen, und sie hatte noch viel mehr gesehen und wusste nicht einmal, ob ihr Vater noch lebte. Aber sie hielt es aus, ja, sie kämpfte sogar wie eine Kriegerin für die Ihren.
Er wusste, dass seine Mutter und seine Schwester in Gedanken bei ihm waren, wann und wo immer er sich befand, genauso wie er an sie dachte. Und er war nicht allein, er hatte Althea und Noemi und Fürst Bajan, der auf sie achtete. Bei diesem Gedanken verweilte er, immer noch nicht fähig einzuschlafen.
Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er überhaupt eine Ahnung davon bekam, wie es war, einen Vater zu haben. Sicherlich, Thorald hatte ihn unterrichtet, und er hatte Althea und ihren Vater ihr ganzes Leben lang zusammen gesehen, aber für ihn war Thorald niemals ein Vaterersatz gewesen, zu distanziert war seine Art. Aber diese Wochen mit Bajan waren etwas anderes und auch nur ein Hauch davon. Phelan konnte es nicht ganz begreifen, aber er ahnte nun, warum sein Bruder immer mit Vorfreude zu Bajans Unterweisungen gegangen war.
Doch es regte sich in ihm auch ein kleines bisschen Eifersucht. Sicherlich war Currann der Thronfolger, aber warum hatte er bei den Unterweisungen nicht dabei sein dürfen? Darauf wusste er keine Antwort. Gleichzeitig wuchs die Wut auf seinen Vater ins Unermessliche. Warum nur hatte er sie im Stich gelassen? Und war stattdessen bei dieser..
Phelan kniff die Augen zusammen und verbat sich den Gedanken. ›Schlaf endlich. Was Bajan und Nadim können, kannst du auch!‹ Also richtete er seine Gedanken auf diejenigen, die ihm geblieben waren. Eine lag dicht bei ihm, er spürte ihre Wärme und ihre ruhigen Atemzüge. Keine Träume heute Nacht. Phelan lächelte in sich hinein und war gleich darauf eingeschlafen.
Es war ihm nicht vergönnt, ruhig zu schlafen. Er fiel in einen erschreckend realen Traum: Er lief durch die unterirdischen Gänge der Festung, er suchte Althea, hörte sie rufen, konnte sie aber nicht finden. Stattdessen fand er eine erleuchtete Tür und dahinter .. Alia, mit dem Rücken zu ihm kniete sie auf einem Bett, und unter ihr lag der Maskierte. In seinem Traum schrie Phelan auf. Er versuchte, sich hastig zu entfernen, aber er kam nicht fort. Alia hatte ihn gehört, sie drehte sich zu ihm um, das Gesicht verzerrte sich. Ungläubig starrte er darauf, als es Lelias Züge annahm. Sie stand auf, kam auf ihn zu, und das Gewand schwang weit auf..
Phelan erwachte schweißgebadet. Gleichzeitig zitterte er vor Kälte. Die Decken waren von ihm heruntergerutscht, sie lagen in einer Lücke zwischen ihm und Althea. Er hatte zwischen seinem bloßen Rücken und der Tasche nur den dünnen Stoff seiner Tunika und des Umhangs. Verstört erkannte er, dass er zusammengekrümmt da lag, die Beine angezogen und die Hand fest zwischen sie gepresst. Er zog sie hervor und zuckte zusammen. Seine Hand war feucht.
Phelan war so schnell auf den Beinen und vom Feuer weg, als wäre ein Raubtier hinter ihm her. Draußen im Dunkeln lehnte er sich zitternd an einen Felsen. Voller Ekel vor sich selbst blickte er sich um, aber von Bajan war zum Glück nichts zu sehen. Er suchte sich eine windgeschützte Ecke und schlug sein Wasser ab, dann reinigte er sich. Anschließend sank er mit weichen Knien zu Boden.
Er versuchte zu begreifen, was soeben geschehen war. Oh, er wusste schon, worum es sich dabei handelte, in der Heerschule hatte er die versteckten Andeutungen der anderen Jungen gehört, aber er hatte es immer für ein Produkt ihrer übersteigerten Fantasien gehalten. Nie hatte er damit gerechnet, dass er selbst .. er schüttelte sich. Und er hatte hinter Althea gelegen, seiner Althea! Phelan stöhnte auf. Wie konnte er nur! Er war nicht besser als jener Eine im Palast!
»Alles in Ordnung mit dir?« Phelan schrak hoch. Nur schemenhaft konnte er den Umriss von Bajan erkennen, der sich besorgt über ihn beugte.
»Ich .. ich hatte einen schlimmen Traum.« Phelan schluckte. »Ich .. glaube, dass es Lelia schlecht ergehen wird. Fürst, sind Visionen ansteckend?«
Wäre die Lage nicht so ernst gewesen, hätte Bajan vielleicht gelacht, aber so sagte er ruhig: »Nein, das glaube ich nicht. Aber du hast viel erlebt und musst dies verarbeiten. Entweder du sprichst mit jemandem darüber, oder aber du tust es in deinen Träumen.« Die Stille nach seinen Worten dehnte sich. Bajan wartete, dass Phelan etwas sagte, aber dieser war noch so in seinem Erlebnis gefangen, dass er nicht sprechen konnte.
Schließlich spürte Phelan eine Hand auf seiner Schulter und wurde gewahr, dass Bajan immer noch da war. »Komm zurück ans Feuer, hier ist es zu kalt.«
Phelan nickte, wartete aber, bis Bajan sich entfernt hatte. Er sah an sich herab und ertastete erleichtert, dass seine Tunika in der kalten Luft getrocknet war. Trotzdem wickelte er fest seinen Umhang um sich, als er zum Feuer zurückging. Er schob die Tasche dicht an Althea heran, sodass sie wieder ganz umfangen war. Dann setzte er sich ans Feuer, den Mädchen gegenüber, und betrachtete ihre friedlichen Gesichter, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Altheas hohe Wangenknochen und schräge Augen mit dem überraschend schmalen Gesicht, das jetzt, wo sie die Haare so kurz trug, erst richtig zum Vorschein kam. Dagegen Noemis kleines, herzförmiges Gesicht mit den feinen Zügen und den langen, glatten dunklen Haaren. Phelan ballte die Hand zur Faust. Nein, das würde er nie wieder zulassen.
Er schrak hoch, als er spürte, wie ihm eine Decke umgelegt wurde. »Hier, nimm meine. Manchmal ist es besser, man schläft für sich allein.« Als Phelan mit hochrotem Kopf herumfuhr, war Bajan bereits wieder in der Dunkelheit verschwunden.
Der Last entbunden, für den Rest der Nacht auf sich achtgeben zu müssen, schlief Phelan traumlos, jedoch wurde Althea zunehmend unruhiger. Sie spürte, dass etwas fehlte, und wachte schließlich lange vor der Morgendämmerung auf. Sogleich sah sie, dass Phelan auf der anderen Seite des Feuers schlief. Ihr war seltsam kalt, und das lag nicht nur daran, dass die Wärmequelle hinter ihr fehlte. Warum war er plötzlich fort und schlief für sich? Hatte sie ihn wieder im Schlaf gestört? Beunruhigt versuchte sie, wieder einzuschlafen, aber vergebens. Also machte sie sich auf die Suche nach Bajan, nicht ohne Noemi vorher fest in die Decken eingewickelt zu haben. Die Kleine seufzte lautlos, wachte aber nicht auf.
Althea fand Bajan ganz in der Nähe auf einem Felsen sitzend, der eine windgeschützte Mulde aufwies. Er lächelte, sie sah es an den aufblitzenden Zähnen, als er sie kommen sah. »Kannst du nicht schlafen?«, fragte er und hob seinen Umhang, um ihn um Althea zu legen. Dankbar schlüpfte sie darunter und lehnte sich an ihn. »Schau hoch, du kannst hier sehr viele Sternschnuppen sehen. Manchmal hörst du sie sogar.«
Althea riss die Augen auf, als gleich darauf eine besonders prächtige, lange Sternschnuppe quer über den Himmel jagte. Man konnte das Zischen deutlich hören. »Sind wir schon so weit im Himmel?«
Bajan lachte leise. »Nein, nur viel höher, und die Luft ist dünner. Deswegen sind wir alten Männer auch so leicht aus der Puste. Weißt du, was Sternschnuppen sind?«
Althea schnaubte empört. »Natürlich weiß ich es. Es sind Gesteinsbrocken, die vom Himmel fallen. Manchmal findet man sie sogar noch, und sie sehen anders aus als alles, was es hier an Steinen gibt. Vater sagt, dass..« Sie hielt inne.
Bajan wandte den Blick vom Himmel ab auf die kleine Gestalt in seinem Arm. »Was sagt dein Vater, Kleines?«, fragte er behutsam.
Althea musste die Augen zusammenkneifen. Die Sterne verschwammen. Sie spürte einen seltsamen Druck in der Kehle. „..dass die Temorer glauben, die Sternschnuppen kommen von der Welt der Toten. Sie weinen um uns, aber gleichzeitig..« Sie verstummte.
»Ist schon gut, Kleines.« Bajan drückte sie an sich und sah wieder hinauf.
»Glaubt Ihr .. was haben sie mit ihm gemacht?« Althea brachte die Worte kaum hervor.
»Oh, Kleines, das weiß ich nicht. Ich will dir keine Angst machen, aber .. du hast ja selbst schon erlebt, was .. aber ich weiß, dass dein Vater mit ihnen fertig werden wird. Er hat es gelernt, in Temora, dessen bin ich sicher. Und du wirst es auch lernen, verstanden? Alleine schon um deines Vaters willen!«
»Ich weiß, dass er noch lebt«, schniefte Althea, auch um sich selbst zu beruhigen.
Bajan drückte sie kurz. »Wenn du das sagst, wird es stimmen. Du hast immer recht in diesen Dingen. Wir vertrauen dir.« Althea lehnte ihre Stirn dankbar an seine Brust. Sie wusste, dass er schwer daran trug, nichts für seinen Freund tun zu können, und hoffte, ihn etwas getröstet zu haben. Diese Nähe ließ sie wieder schläfrig werden, und ihr fielen langsam die Augen zu.
Sie riss sie erschrocken wieder auf, als Bajan sich mit einem Ruck aufrichtete. »Was..?«
»Sei still!«, zischte er, hatte schon sein Schwert in der Hand und ging in die Hocke.
Althea war noch etwas benommen, aber dann hörte sie es auch. Die Pferde waren unruhig, alle anderen Geräusche der Nacht waren verstummt. Ihre Sinne schrien mit allen Fasern: ›Gefahr!‹ Sie griff sich Bajans Bogen, obwohl es ein Erwachsenenbogen war, den sie wohl kaum würde spannen können. Aber besser diese Waffe als keine.
Lauschend hob sie den Kopf. Der Wind blies den Berg herab, sie roch etwas, aber sie konnte es nicht ganz deuten. In dem Moment kam der Mond hinter einer Bergspitze zum Vorschein. Er tauchte das Hochtal in ein fahles Licht.
»Da!« Bajan stieß Althea an. In dem kurzen Gras bewegten sich graue Gestalten auf sie zu, die Augen blinkten kalt. »Wölfe!«, flüsterte Bajan. Es klang erleichtert. Keine Soldaten! »Gib mir meinen Bogen. Hast du dein Messer?«
Althea hatte es bereits in der Hand. »Ja!«, flüsterte sie atemlos.
»Sie müssen sehr hungrig sein, wenn sie mit dem Wind angreifen.« Bajan legte an und schoss. Althea staunte über die Kraft, die den Pfeil weit fliegen und sicher sein Ziel treffen ließ. Ein Wolf wurde von der Kraft des Pfeils förmlich zurückgeschleudert. Über sie hinweg sirrte ein zweiter Pfeil, und auch er traf.
Aber die Wölfe wurden nicht abgeschreckt. Knurrend gingen sie zum Angriff über. Althea blickte hinter sich und sah auch schon Nadim mit dem Bogen in der Hand auf sie zurennen. Er schoss in schneller Folge, genau wie Bajan, und sie trafen beide. Aber es waren zu viele Wölfe, und sie kamen erschreckend schnell näher. Althea packte ihr Messer und machte sich bereit. Ein Wolf setzte zum Sprung auf sie an. Bajans Pfeil traf ihn mitten im Satz, er krachte am Fuße ihres Felsens ins Gras. Der Nächste sprang gleich darauf, wurde aber von Nadim getroffen.
Der dritte war ein sehr junges Tier. Althea konnte selbst im Mondlicht erkennen, dass das Fell noch flauschig war. Instinktiv suchte dieser sich das vermeintlich schwächste Glied in der Herde seiner Opfer aus. Er ignorierte Bajan und stürzte sich auf Althea. Sie hatte keine Zeit mehr zu schreien, sondern riss im letzten Moment die Arme hoch. Das Messer fiel mit einem Klappern aus ihrer Hand, als der Wolf sie ansprang. Er warf sie zu Boden und schnappte nach ihrer Kehle. Er verfehlte sie, verbiss sich stattdessen in ihrem abwehrend erhobenen Arm. Althea blieb keine Zeit, zu denken oder auch nur Schmerz zu fühlen. Instinktiv wehrte sie sich, wie sie sich immer gegen die Gefahr wehrte: Sie holte ihr Licht. Gleich darauf brach der Wolf leblos auf ihr zusammen. Jetzt wusste sie auch, was sie gerochen hatte. Es war der Geruch der Wölfe. Trotz seiner Jugend war das Tier schwer und nahm ihr fast den Atem. Sie hörte noch ein paar Pfeile über sich hinwegzischen, dann trat Stille ein.
»Althea!« Das Tier wurde von ihr heruntergezerrt, und sie sah die besorgten Gesichter von Bajan und Nadim über sich. Vorsichtig betastete sie ihren Arm. Er schmerzte.
Bajan richtete sie auf. »Lass mich sehen..« Er hielt den Arm in das Mondlicht. Dunkle Bissmahle waren darauf zu sehen, aber mehr nicht.
»Es geht mir gut«, murmelte Althea noch etwas benommen. Es stimmte, sie war wohlauf.
»Du .. bist nicht verletzt? Nein, das kann nicht sein!« Nadim wollte nach ihrem Arm greifen, aber Althea zog ihn mit einem Ruck zurück. Bajan hielt ihn mit einem warnenden Kopfschütteln zurück.
»Er hat mich nicht richtig erwischt.« Sie rappelte sich auf und lief an dem völlig erstaunten Nadim vorbei zum Feuer zurück. Dort wartete Phelan mit gezücktem Bogen, Noemi dicht hinter sich. »Sie sind erledigt«, schnappte Althea und ließ sich ans Feuer fallen.
›Bist du verletzt?‹ Noemi kam hinter Phelan hervor und lief besorgt zu ihr.
›Nein, aber Nadim ahnt etwas. Ein Wolf griff mich an, ich konnte mich nicht anders wehren als mit meinem Licht.‹
Phelan unterdrückte einen Fluch. ›Hat er das gesehen? Was hat er gesagt?‹
›Nichts, aber merkwürdig geschaut hat er. Du weißt, wie die Leute reagieren..‹ Altheas Hände verstummten, als sie sich nähernde Schritte hörte. Die Köpfe der Kinder fuhren herum, aber es war nur Bajan.
»Sehen wir zu, dass wir hier wegkommen. Packt eure Sachen, wir essen unterwegs.«
Er half den Kindern mit den Pferden. Dabei behielt er Nadim genau im Blick, der grübelnd auf die toten Wölfe starrte. Schließlich lief Nadim zu dem Tier, das Althea angegriffen hatte, und drehte es mit der Stiefelspitze herum. Er beugte sich darüber und tastete es ab. Eine ganze Weile hockte er dort, sodass Bajan ihn schließlich rufen musste. Sie waren aufbruchfertig.
Kein Wort fiel zwischen ihnen, während sie unter dem sich langsam erhellenden Himmel dahinritten. Dank des immer noch scheinenden Mondes war der Pfad gut zu erkennen, sodass sie schnell vorankamen. Als die Sonne aufging, hatten sie das Schneefeld erreicht. Bajan beschloss, hier zu rasten. Während des Frühmahls beobachtete er seine Schutzbefohlenen und ihren Führer genau. Dieses unbehagliche Schweigen gefiel ihm nicht, aber nichts geschah. Nadim kaute abwesend auf seinem Essen herum und starrte in unbestimmte Fernen. Die Hände der Kinder schwiegen, und Althea sah unentwegt zu Boden.
Als die Sonne angenehm warm wurde, unterbrach Nadim sein Schweigen und griff in seine Taschen. »Für die Überquerung des Schneefeldes müssen wir unsere Gesichter und unsere Augen gut schützen. Bindet euch Tücher um, und für die Augen nehmen wir dies hier.« Er hielt ein paar schwarze Steine an einer Schnur hoch.
»Was ist das?« Phelans Neugier war sogleich geweckt. Er nahm Nadim die Steine aus der Hand und drehte sie prüfend hin und her.
»Das sind geschliffene Bergkristalle, die anschließend gerußt worden sind. Setz sie auf«, forderte Nadim ihn auf, während er drei weitere Exemplare an die anderen weiterreichte. Seine Hand zögerte kurz, nur einen winzigen Moment, als er Althea ein Paar reichte, aber es genügte, um sie traurig werden zu lassen.
Phelan bekam davon nichts mit, er mühte sich mit der Schnur ab. Schließlich saßen die Kristalle dort, wo sie hingehörten. Seine Augenbrauen flogen in die Höhe. »Oh, man kann hindurchsehen. Aber ich sehe nur Schatten.«
Althea überkam ein Schauder. »Es sieht aus, als hättest du keine Augen mehr, sondern nur noch .. Höhlen.« Sie klang so unbehaglich, dass Phelan sie sofort wieder absetzte. Nadim warf ihr einen argwöhnischen Blick zu.
»Wir müssen sie tragen, sonst werden wir auf dem Eisfeld blind, so stark gleißt die Sonne. Nadim, wo geht der Pfad weiter?«, fragte Bajan und half Noemi, die Kristalle umzubinden.
Sie hob den Kopf in Phelans Richtung. Er begann zu lachen. »Ja, das sieht wirklich komisch aus.«
»Es gibt keinen. Über das Schneefeld müssen wir so hinüber«, antwortete Nadim auf Bajans Frage.
»Warum?«, fragte Althea. Es war das erste Mal, dass sie an diesem Morgen mit ihm sprach.
»Nun, es macht keinen Sinn, dort einen Pfad anzulegen, denn das Eis ist ständig in Bewegung. Es ist ein Gletscher.« Er rückte prüfend Altheas Kristalle zurecht. »So sitzen sie richtig«, sagte er, ließ danach aber wieder rasch die Hände sinken.
»Danke«, sagte Althea leise.
Nadim nickte ihr kühl zu. »Achtet darauf, wo ihr hintretet. Das Eis ist glatt, und es können darunter tiefe Spalten verborgen sein. Eure Pferde wissen, wenn es nicht weitergeht. Scheuen sie zurück, dann seid vorsichtig. Folgt am besten meinen Spuren. Ich binde euch jetzt mit einem Seil aneinander und zusätzlich noch an die Pferde. Solltet ihr dennoch einbrechen, werdet ihr von mehreren Seiten aus gehalten.«
Bereits nach kurzer Zeit erkannten die Kinder, wie recht Nadim mit den Kristallen hatte. Selbst durch den Ruß taten ihre Augen bald unangenehm weh. Ihre Füße wurden erst feucht, dann eiskalt, denn anders als die Männer trugen die Kinder keine festen Stiefel, sondern nur dünne Lederschuhe.
Phelan biss die Zähne zusammen, als er nach anfänglichem Schmerz seine Zehen überhaupt nicht mehr spürte. Noemi erging es ähnlich, zumal sie durch ihr leichtes Gewicht wesentlich mehr Mühe hatte, sich auf dem glatten Eis zu halten. Sie konnte nicht so fest auftreten wie die anderen. Althea bekam zudem starke Kopfschmerzen, die sie alles andere vergessen ließen.
Gegen Mittag waren alle restlos erschöpft. Nadim beschloss, eine Rast einzulegen. »Zeigt mir eure Füße«, forderte er die Kinder besorgt auf, als er die Kristalle abnahm und die dunklen Flecken an ihren Schuhen sah. Althea rührte sich nicht, sie hatte sich mit geschlossenen Augen zurückgelehnt, aber Phelan und Noemi zogen gehorsam ihre Schuhe aus. Nadim fluchte lautlos, als er die rot gefrorenen, angeschwollenen Zehen sah.
»Haltet sie in die Sonne. Wir müssen sie wärmer einwickeln.« Er begann, in seinen Taschen zu wühlen.
Bajan beugte sich unterdessen über Althea. »Geht es dir gut?«
»Hmmm..« Althea holte tief Luft, dann richtete sie sich wieder auf. Sie beugte den Kopf und barg ihn in den Händen. Bajan musste schon sehr genau hinsehen, um das Licht erkennen zu können, aber er war sicher, dass sie es gerufen hatte.
»Ich habe ein wenig Kopfschmerzen.« Sie schüttelte sich kurz und blickte dann auf.
Bajan lächelte und raunte ihr zu: »Lass die Kristalle auf, sicher ist sicher.«
Jetzt lächelte auch Althea. Es war nur ein kurzer Schimmer zwischen ihren Händen gewesen, kaum zu sehen in der gleißenden Sonne, aber die Augen hätten sie unweigerlich verraten. Phelan und Noemi sahen fragend auf, während sie ihre Füße massierten. Althea schüttelte unmerklich den Kopf. So wie die beiden da saßen, mit nackten Zehen und diesen merkwürdigen Dingern auf den Augen, sahen sie wirklich komisch aus. Althea begann zu grinsen.
Phelans Mundwinkel zuckten. »Willst du mir die Füße massieren?« Er streckte grinsend die Zehen in ihre Richtung.
»Iih pfui, wie lange hast du die nicht mehr gewaschen?!« Sie ließ sich zurückfallen und begann zu kichern.
»Och schade!« Phelan zuckte grinsend mit den Schultern. Seine Füße würden kalt bleiben, bis sie heute Abend ungestört waren.
Bajan schmunzelte in sich hinein, war sich aber Nadims Gegenwart bewusst. »Hast du etwas gefunden, was die Kinder umbinden können?« Er trat zu seinem Freund.
»Hier, das wird gehen.« Nadim hielt ihm einen Beutel auf.
Bajan reichte Phelan ein paar Leinenstreifen und half Noemi, ihre Füße fest einzuwickeln. Er zog die immer noch feuchten Schuhe darüber. Die Kleine dankte ihm mit einem Lächeln.
Nadim hockte sich vor Althea. »Die Höhe hier kann bei manchen Menschen merkwürdiges Verhalten verursachen. Wenn das bei dir der Fall ist, werden wir dich festbinden und tragen müssen.« Althea richtete sich mit einem Ruck wieder auf. Das Lachen blieb ihr im Halse stecken. Sie konnte zwar Nadims Gesicht nicht genau sehen, aber der Unterton in seiner Stimme entging ihr nicht.
Bajan wandte alarmiert den Kopf. »Nadim!«
»Lass nur, mein Freund. Genau wie du kann ich es nicht leiden, wenn etwas vor mir verborgen wird. Aber ich bekomme es schon noch heraus, keine Sorge. Brechen wir auf.« Er hielt Althea die Hand hin. Sie ignorierte diese und stand selbst auf. Sofort waren Phelan und Noemi an ihrer Seite. Diese wachsamen Blicke waren Nadim unheimlich. Er stand auf, nahm die Zügel seines Pferdes und ging wortlos voran. Bajan sah ihm besorgt hinterher.
Den restlichen Tag marschierten sie schweigend, und die folgende Nacht verbrachten sie in einer Mulde auf dem Eis. Es war noch kälter als in der Nacht zuvor, da sie kein Feuer entfachen konnten. Nach ihrem Erlebnis mit den Wölfen beschlossen Nadim und Bajan, gemeinsam Wache zu halten. Althea wartete, bis sie auf ihren Wachposten waren, dann tastete sie unter ihren Decken nach Noemis Füßen und begann, sie zu wärmen. Noemi seufzte wohlig auf, als sie ihre Füße wieder spürte, und Althea ließ sie auch gleich einschlafen.
»Phelan, willst du auch?«, flüsterte sie.
»Hm..« Phelan tat so, als würde er schon fast schlafen. Oh ja, ihm war kalt, und seine Füße waren wahre Eisklötze, aber er hatte sich doch geschworen, nie wieder..
Aber da war Althea auch schon bei ihm. »Sag mal, hast du irgendetwas?«, flüsterte sie, als sie die Decken über sie beide zog und sie merkte, wie er sich versteifte.
»Nein!« Ungewollt klang Phelan ärgerlich.
Althea fackelte nicht lange. »Her mit deinen Füßen, nun mach schon! Wer weiß, wann Nadim zurückkommt.« Sie packte zu, bevor Phelan auch nur protestieren konnte. Sofort wurde ihm angenehm warm, und er entspannte sich. Innerlich schalt er sich einen Narren. »Besser?« Althea ließ die Augen geschlossen für den Fall, dass Nadim zu ihnen herübersah, und wandte Phelan den Rücken zu.
»Jaah..« Ohne dass er es wollte, schlang er den Arm um sie und zog sie dicht an sich.
Althea kuschelte sich an ihn. »Sag mal, warum willst du nicht mehr bei uns schlafen?«, fragte sie nach einer Weile. Phelan versteifte sich sofort. »Also hast du doch etwas!« Althea drehte sich zu ihm um und sah ihn aufmerksam an. Selbst im bleichen Mondlicht konnte sie sehen, dass er mit etwas zu kämpfen hatte.
»Ich .. ich hatte einen schlimmen Traum. Es war so .. wirklich, als wäre ich dort. Ich bin irgendwann aufgewacht und konnte nicht wieder einschlafen. Ich wollte dich nicht wecken, verzeih.«
Althea ließ sich zurücksinken und sah zu den Sternen auf. »War es schlimm?«
»Ja, sehr. Ich habe geträumt, dass Alia und Lelia die Rollen tauschten. Sie hat mich verfolgt.«
»Es macht einem Angst. Ich weiß es.« Althea drückte beruhigend seine Hand.
Phelan seufzte. »Ich schlafe eh schon unruhig genug, da möchte ich euch nicht auch noch darum bringen. Ich denke, es ist besser so.«
»Du solltest es üben wie Fürst Bajan und Nadim. Sie können immer schlafen. Aber ich weiß, was du meinst.« Althea spürte, während sie zum Himmel aufsah, dass er wieder ruhiger wurde. Sie war sicher, dass dies noch nicht alles war, wollte aber nicht in ihn dringen. Aber eines konnte sie für ihn tun. »Ich kann dich einschlafen lassen, wenn du das willst. Noemi hat auch schon etwas abbekommen. Möchtest du?« Sie sah Phelans Zähne im Mondlicht aufblitzen, als er zu lächeln begann.
»Wenn du willst .. ich könnte den Schlaf gebrauchen.«
»Dann mach die Augen zu.« Sie fasste seinen Kopf mit beiden Händen, nicht ohne vorher die Decken über sie gezogen zu haben. »Schlaf gut«, flüsterte sie und sandte das Licht in ihn.
Die tiefen Atemzüge Phelans verrieten ihr, wann sie aufhören musste. Sie erhob sich und deckte ihn fest zu. Dann streckte sie sich. Auch wenn sie müde war, konnte sie doch noch nicht schlafen. Nadims Verhalten beunruhigte sie zutiefst. Er versuchte, hinter ihr Geheimnis zu kommen, aber er würde scheitern. Das konnte man mit normalen Mitteln nicht ergründen.
Althea sah sich suchend um und entdeckte die beiden Männer in einiger Entfernung. Sie wandte ihnen demonstrativ den Rücken zu und sah stattdessen auf den mondbeschienenen Gletscher hinaus. Es war vollkommen still. Der Wind hatte sich gelegt, und die Landschaft hatte etwas Unwirkliches, so weiß und kahl.
›Wie das Reich der Toten‹, dachte Althea und zog fröstelnd ihren Umhang enger um sich. Gerade als sie sich entschlossen hatte, wieder zu Noemi zurückzukehren, nahm sie plötzlich am Rande des Eisfeldes eine Bewegung wahr. Ein Schatten glitt über das Eis.
Althea kniff die Augen zusammen. War es nur einer? Ja, es war nur einer. Ohne dass sie es bemerkt hatte, war sie einige Schritte auf das Eis hinausgelaufen. Der Schatten verharrte, als er sie entdeckte. Althea ebenso.
Da setzte der Schatten sich hin und ließ ein lang gezogenes Heulen hören. Althea schluckte. Es klang unheimlich, aber auch traurig. Althea lauschte, ob andere Wölfe ihm antworten würden, aber es blieb still. Er war also ganz allein. Genauso wie sie. Kälte kroch ihr den Rücken hinauf, erfasste ihren ganzen Körper, auch ihre Hände und ihr Herz. Althea keuchte auf. So sehr Phelan und Noemi und Bajan zu ihr hielten, am Ende stand sie immer allein da, allein mit ihrer Gabe und der Ablehnung der anderen Menschen. Sie erkannte, dass sie allein damit fertig werden und sich allein schützen musste. Niemand konnte ihr helfen, niemand. Sie ging in die Knie. Ein Zittern lief durch ihren ganzen Körper. Sie hatte Angst. Angst vor ihrer Zukunft, Angst vor den Menschen, auf die sie in Temora treffen würde. Der Aberglaube und die Furcht der Gildaer war das Eine, aber Menschen, die in der Lage waren, ihre Gabe als das zu erkennen, was sie war, etwas völlig anderes. Die Worte ihres Vaters fielen ihr ein, dass die Temorer versuchen würden, ihre Gabe für ihre Zwecke zu missbrauchen. Althea sah auf den einsamen Wolf und schwor sich bei seinem Anblick, dass sie dies niemals zulassen würde. Niemals! Unwillkürlich hatte sie bei diesem Schwur an Phelans Bernstein gefasst, den sie immer noch um ihren Hals trug. Sie hob ihn an ihre Lippen. Besiegelt!
Althea atmete auf. Als sie aufblickte, war der Schatten verschwunden. Beruhigt ging sie in ihr Lager zurück und kroch zu Noemi unter die Decken.
Kaum ein paar Dutzend Schritte entfernt ließ Nadim mit einer Gänsehaut auf dem Rücken seinen Bogen sinken. Bajan stand regungslos daneben und sagte nichts.
Am Abend des nächsten Tages hatten sie den Gletscher überquert. Auf dieser Seite franste er in tiefe, gefährliche Spalten aus, sodass sie eine Weile suchen mussten, bis sie wieder auf dem festen Grund des Gebirges standen. Vor ihnen erstreckte sich ein Hochtal ähnlich dem, das sie bereits durchquert hatten, nur dass es wesentlich länger war. In der Mitte sammelte sich das Schmelzwasser des Gletschers in einem See. Die Kinder konnten es nicht glauben, als sie die Farbe des Sees zum ersten Mal sahen. Er war türkisgrün. Nadim lachte, als er Phelans erstaunten Ausruf hörte. Da die Sonne bereits tief stand, beschloss er, hier Rast zu machen. Während die Männer das Lager aufbauten, gingen die Kinder auf Entdeckungsreise.
Der Gletscher und der See faszinierten sie ungemein. Phelan zog seine Schuhe aus und wickelte die Leinenstreifen von seinen Füßen. Er wollte sich waschen, sprang aber mit einem lauten Schrei wieder zurück. Das Wasser war so kalt, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte. Althea spottete lauthals über ihn und erntete zum Dank eine Handvoll Wasser ins Gesicht. Prustend balgten sie sich, bis ihr Blick auf den Bach fiel, der aus dem Gletscher hervorkam. Daneben war eine tiefe Spalte zu sehen.
Sie wagten sich ein wenig in die Spalte hinein, so weit, bis es fast dunkel wurde. Es plätscherte von allen Seiten. Mit einem Mal sandte die tief stehende Sonne ihre Strahlen durch das Eis. Staunend drehten sie sich in einer Höhle, deren Wände in einer Kaskade von Farben leuchteten. Zu dem Rot der in den Eingang scheinenden Abendsonne gesellte sich tief drinnen ein unwahrscheinlich tiefes Blau.
»Solch eine Farbe habe ich noch nie gesehen«, sagte Phelan ehrfürchtig.
Althea staunte. »Oh doch, das habe ich schon einmal gesehen. Jemand hat solche Augen.« Sie sah auf den Punkt, wo die Abendsonne nicht ganz an das Eis heranreichte. Dort leuchtete das Blau am kräftigsten.
Phelan wandte sich verwundert zu ihr um. »Ja? Wer denn?«
»Denk nach. Du kennst ihn auch!«, lächelte Althea.
Phelan machte eine verdutze Miene, aber nicht lange. »Ja natürlich! Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Es ist Jeldrik, nicht wahr?«
Althea nickte. Noemi wollte wissen, wer Jeldrik war, also erzählten sie ihr auf dem Rückweg zum Lager von ihren Erlebnissen mit dem saranischen Jungen. Da sie schon dabei waren, baten die Kinder Bajan nach dem Essen, ihnen auch von der Expedition zu berichten. »Und lasst nichts aus, wir wissen, dass Currann jemanden getötet hat«, sagte Althea.
Bajan zog die Augenbrauen hoch. »Woher wisst ihr das? Currann hat es euch doch gewiss nicht erzählt!«
Althea und Phelan tauschten einen schnellen Blick. »Ähm, wir haben Euch belauscht, als Ihr es dem König berichtet habt«, gab Phelan verlegen zu.
»Soso! Ich wollte euch eh noch nach den Gängen in der Festung befragen. Aber das hat Zeit. Was wollt ihr wissen?« Er sah die Augen der drei gespannt auf sich gerichtet.
»Beschreibt uns die Lichter«, bat Althea prompt. Sie wollte alles darüber wissen, schließlich hatte Bajan sie selbst gesehen.
Doch Noemi hob die Hand. ›Ich weiß noch gar nichts darüber. Fangt doch von vorne an.‹
›Verzeih, natürlich‹, entschuldigte sich Althea bei ihr. Also erzählte Bajan ihnen von der Expedition. Nichts ließ er aus, auch nicht, dass Currann am Anfang seine Mühe gehabt hatte, mit den Männern mitzuhalten. Phelan und Althea kringelten sich bald vor Lachen, als sie davon hörten.
Noemi nahm ihn sofort in Schutz. ›Als wenn eure Kehrseite nicht geschmerzt hätte, gebt es zu!‹
›Ja schon, aber Currann tat immer so erfahren. Inzwischen wird er es wohl sein‹, zeigte Phelan.
Altheas Lachen verstummte, als sie Phelans Zeichen sah. »Wo er jetzt wohl ist?«, fragte sie leise. Sie sahen sich traurig an.
»Er ist am Leben, das genügt«, sagte Bajan. Dass er Altheas Träumen vollkommen vertraute, tat ihr gut. Sie schloss beruhigt die Augen und lauschte Bajans leiser Stimme.
An diesem Abend sprachen sie bis tief in die Nacht hinein. Die Kinder lauschten fasziniert Bajans Erzählungen, die er durch nichts beschönigte. Phelan interessierte sich besonders für die Unterschiede zwischen den Saranern und den Gildaern, aber da konnte ihm Bajan auch nicht weiterhelfen. Er erzählte ihnen von seinem Verdacht bezüglich der Saraner und von dem, was bei der zweiten Vorführung der Waffen vor dem Rat geschehen war. »Ich glaube, dass sie so etwas wie eine Heeres- und Kampfesdisziplin nicht kennen und dass auch die Ferrium Waffen Neuland für sie sind. Sie haben uns nicht einmal ansatzweise zeigen können, was sie für Möglichkeiten bieten.«
»Deswegen also habt Ihr damals im Turm..« Althea ging ein Licht auf.
Auf Bajans fragenden Blick erklärte Phelan: »Wir hatten uns gewundert, warum Ihr über Nusair gesagt habt, er habe sich verführen lassen wie ein kleiner Junge. Er hat die Waffen zu früh geordert und viel zu viel für sie bezahlt, nicht wahr?«
»Ihr habt gelauscht!« Für Bajan war es keine Frage. Phelan und Althea grinsten. Er schüttelte resigniert den Kopf. »Gegen euch ist wirklich kein Kraut gewachsen. Mein Verdacht mag wohl richtig sein, aber es hilft uns bei den Unterschieden zwischen Gildaern und Saranern nicht weiter. Ihr solltet euch eines bewusst sein: Nur wenige sind so weltgewandt wie Fürst Roar oder Meister Anwyll oder gar dein Vater, Althea. Ihr müsst euch darauf einstellen, dass ihr auf ein vollkommen fremdes Volk trefft, mit genau solch Vorbehalten wie die Gildaer. Haltet also Augen und Ohren offen, verstanden?«
Das Grinsen der beiden erlosch. Bajan bereute seine scharfen Worte etwas, aber es musste sein. Sie mussten sehr vorsichtig sein.
Althea starrte abwesend vor sich hin, während Bajan Phelan die Möglichkeiten einer neuen Kampfesweise beschrieb. Eine Bewegung an ihrem Bein ließ sie wieder zu sich kommen. Noemis Kopf war schlafend in Altheas Schoß gesunken. Sie tauschte ein Lächeln mit Phelan, der sich erhob und ihr half, ihre Freundin umzubetten.
Da er Wachdienst hatte, begab sich Phelan gleich darauf zu Nadim. Der Kundschafter blieb noch ein wenig bei ihm sitzen. »Deine Cousine sollte achtgeben«, sagte er schließlich nach einer Weile des Schweigens.
Phelan verbarg mit aller Macht, dass er innerlich alarmiert zusammenzuckte. »Worauf?«
»Darauf, dass sie nicht das Misstrauen der falschen Leute erweckt!« Nadim starrte geradeaus auf den mondbeschienenen See.
»Deswegen sind wir hier!« Phelan wollte wütend aufspringen, aber Nadim packte ihn fest.
Er zwang den Jungen, ihn anzusehen. »Hör zu, ich weiß nicht, was sie da genau macht, und ich will es auch gar nicht wissen. Aber sie muss lernen, es besser zu verbergen!«
Phelan zuckte zurück, als hätte er einen Schlag bekommen. Er schüttelte Nadims Hand ab. »Das weiß sie! Sie kann einfach nicht anders!«, fauchte er. Wutentbrannt sprang er auf und lief zum Feuer hinüber.
Althea richtete sich schlaftrunken auf, als Phelan sich neben sie fallen ließ. »Was ist?«
»Nadim .. er..«
»Was ist mit Nadim?« Bajan wälzte sich herum.
»Er sagt, dass Althea vorsichtig sein soll«, schluckte Phelan. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er wütend war oder Angst haben sollte.
Althea griff beruhigend Phelans Hand. »Keine Angst. Ich habe nicht vor, das in Temora jemanden sehen zu lassen. Niemanden, hörst du? Außerdem habe ich es Vater versprochen. Er fürchtet..« Sie brach ab.
»Was fürchtet dein Vater?« Bajan richtete sich nun gänzlich auf und runzelte die Stirn. Er wusste, dass Thoralds Verhältnis zur Gemeinschaft mehr als angespannt war.
»Er fürchtet, dass sie mich benutzen könnten. Es macht mir Angst«, sagte Althea kleinlaut.
»Thea..« Phelan zog sie an sich. »Hab keine Angst, du gehst ja nicht allein dorthin.«
»Ich weiß, aber dennoch .. du weißt nicht, was sie alles können.«
»Aber Meister Anwyll vertraust du doch, nicht wahr?« Bajan legte so viel Ruhe in seine Stimme, wie er konnte. Es fiel ihm schwer, denn sie sprach ja seine eigenen Befürchtungen aus.
»Ja, schon, aber trotzdem sollte er es nicht erfahren. Es reicht, dass er von meinen Träumen weiß. Mehr werden sie nicht erfahren, auf keinen Fall!« Althea ballte die Hände zur Faust.
Phelan stieß langsam die unwillkürlich angehaltene Luft aus. »Und ich dachte, wir bringen dich in Sicherheit!«, brach es aus ihm hervor.
Altheas versteifte sich. »Ich bin nirgends sicher, verstehst du das nicht?« Sie machte sich von ihm los und rollte sich wieder in ihre Decken ein. Phelan wollte noch etwas sagen, sah aber Bajans warnendes Kopfschütteln. Also begab er sich notgedrungen zu seiner Nachtwache, den Kopf voller unruhiger Gedanken.
Die Stimmung am folgenden Morgen war so frostig wie die Temperatur. Nach einem schweigsamen Frühmahl ritten sie entlang eines reißenden Flusses, der aus dem Gletschersee gespeist wurde, durch das Hochtal, bis sie zu einem Geröllfeld kamen ähnlich dem, das sie am Anfang durchquert hatten.
Eingedenk ihrer Erfahrung beim ersten Mal kletterte Phelan auf einen hohen Felsen, um den Anfang des Pfades ausfindig zu machen. Der Anblick, der sich ihm von dort oben bot, ließ ihn die schlechte Stimmung schlagartig vergessen.
»Kommt herauf und seht euch das an!«, rief er den anderen zu. Als sie alle oben waren, mussten selbst die Männer an sich halten, um nicht in erstaunte Rufe auszubrechen. Eine ganze Weile sagte erst einmal niemand etwas.
»Es ist so grün«, brach Althea schließlich das Schweigen. Tief unter ihnen erstreckte sich welliges, bewaldetes Hügelland, das jäh an einer blanken Fläche endete. Nie in ihrem Leben hätte sie sich ein solches Grün vorstellen können.
›Was ist das?‹ Noemi stieß Bajan an und zeigte auf die weite, graue und doch seltsam blinkende Fläche, die sich dahinter erstreckte.
»Das ist das Meer«, antwortete Bajan.
Noemis Augen wurden groß. ›So viel Wasser?‹ Ihre Hände zitterten vor Aufregung.
»Ja, alles Wasser. Aber man kann es nicht trinken, es ist zu salzig«, schmunzelte er.
»Seht!« Phelan deutete nach Norden, wo sich viele verzweigte Flüsse in einem weit gefächerten Gebiet ins Meer ergossen. »Ist das dort das Lir-Delta?«
»Ja, das ist es, oder zumindest das, was davon übrig ist«, antwortete Bajan. Das Delta war so dicht am Meer nicht besiedelt, da es oft bis weit ins Landesinnere überflutet wurde, und nach der Flutkatastrophe im letzten Herbst konnte selbst davon nicht mehr viel übrig sein.
Im Hintergrund waren schemenhaft zerklüftete Höhenzüge zu erkennen. ›Einer davon muss der Kohinor sein‹, dachte Phelan mit Schaudern. ›Aber nein, der liegt zu weit im Landesinnern!‹, beruhigte er sich sofort.
»Wo liegt der Sitz der Gemeinschaft?«, fragte Althea. Unmittelbar unter ihnen reichte das Gebirge sehr nah an die Küste heran, und es blieb nur ein schmaler Streifen Hügelland übrig. Selbst von hier oben konnten sie jedoch das helle Band einer Straße erkennen, das nach Süden lief. Es war die Straße aus Nador. Sie hatten die Grenze überschritten. Althea versuchte, in Richtung Süden mehr zu erkennen. Das Gebirge wich dort von der Küste immer weiter zurück und ließ immer mehr Platz für üppig grünes Hügelland.
Nadim deutete nach Süden. »Noch ein paar Tagesreisen von hier. Die erste Siedlung Temoras kannst du schon sehen. Dort drüben.« Er deutete auf einen Punkt, wo im Dunst leichter Rauch über den Hügeln zu schweben schien. Es war der Rauch von Feuern.
»Warum ist die erste Siedlung so weit von der Grenze weg? Trauen sie den Leuten aus Nador nicht?«, fragte Phelan. Das kam ihm merkwürdig vor.
Doch Nadim wusste, warum: »Dies Gebiet hier unten ist mit Beginn der Schneeschmelze nahezu unpassierbar. Genau wie viele Wege in Nador auch. Ich könnte mir vorstellen, dass es einfach keinen Sinn macht, hier zu siedeln.« Er holte befreit Luft. »Wir haben es geschafft!«
Althea sah zu ihm auf. Er warf ihr ein vorsichtiges Lächeln zu. »Von hier an werden wir nicht mehr behelligt werden. Kommt, dort hinten ist der Einstieg in das Geröllfeld. Ein guter Einfall von dir, hier heraufzusteigen.« Er schlug Phelan anerkennend auf die Schulter.
Nun, da die unmittelbare Gefahr vorüber war, schritten sie befreiter aus. Das Nachtlager schlugen sie im Wald am Fuße der Berge auf. So ganz konnten sie sich noch nicht von dem Gedanken, verfolgt zu werden, befreien und blieben daher außer Sicht der Straße.
Diesmal waren Althea und Phelan dran, das Lager aufzubauen. Noemi jedoch war so fasziniert von den vielen Bäumen, dass es sie nicht lange bei ihnen hielt. Sie nutzte die Zeit, um ein wenig umherzustreifen. Staunend lief sie durch die Bäume hindurch, ohne zu bemerken, dass sie von Bajan bewacht wurde, der ihr in einigem Abstand folgte. Plötzlich kniete sie sich hin und zog ihre Schuhe aus. Mit nackten Zehen stak sie in etwas hinein und lachte im stummen Entzücken. Neugierig trat Bajan näher. Es war Moos, das Noemi gefunden hatte. Sie kannte es zwar von den Felsen in den Gärten der Heilerinnen, doch noch nie hatte sie es auf dem Boden wachsen sehen, geschweige denn unter ihren Füßen gespürt.
Bajan trat an sie heran. ›Was meinst du, sollen wir unser Lager noch einmal verlegen?‹ Er lächelte auf sie herab. Noemi nickte und holte die beiden anderen. Althea und Phelan waren sofort begeistert. Mit Feuereifer bauten sie ihnen ein würdiges Lager zusammen.
In dieser Nacht schliefen sie so gut wie schon lange nicht mehr, weich gebettet in ein grünes Meer aus Moos. Selbst Nadim sank während seiner Nachtwache mit der ungewohnt weichen Unterlage in einen seligen Schlummer.
Sie wurden nicht gestört, aber aufmerksam beobachtet. Ein gelbes Augenpaar lugte durch die Bäume hindurch und wachte über ihren Schlaf.
Obwohl sie bereits auf temorischem Gebiet waren, herrschte unausgesprochenes Einverständnis zwischen Nadim und Bajan, dass sie fürs Erste die Straße meiden und querfeldein zu der ersten Siedlung reiten würden. Genauso selbstverständlich war es für Nadim, sie bis dorthin zu begleiten.
Sie brachen erholt auf. Da sie keine Eile mehr hatten, löste sich die Stimmung merklich. Immer wieder hielten die Kinder unterwegs an, um diese oder jene Pflanze zu begutachten, kleine Tiere, Insekten und andere Dinge, die sie fanden. Die Vegetation war so üppig, dass sie sich an dem Grün gar nicht genug sattsehen konnten. Sie merkten sehr bald, dass sie viele Pflanzen gar nicht kannten, und rührten sie lieber nicht an für den Fall, dass sie giftig waren.
Die Sonne neigte sich bereits dem Horizont entgegen, als sie auf die ersten befestigten Felder stießen und damit auch auf deren Besitzer. Sie ritten eine lange Hecke entlang. Unvermittelt tauchte dahinter eine Reihe Sensen und Rechen auf, und eine Gruppe Menschen trat vor ihnen auf den Weg.
Bajans Hengst scheute und stieg. »Ruhig!« Mit einem Ruck hatte er das Tier wieder auf dem Boden, aber es tänzelte weiter. Die Menschen fuhren herum. Es war nicht auszumachen, wer sich mehr erschrak, sie oder die Reiter.
»Heda, was macht ihr auf unserem Land?« Ein Mann trat vor die Gruppe, nach Statur und Gebaren erkannte Bajan sofort den Anführer. Rechen und Sensen wurden mit einem Ruck von den Schultern geholt und nach vorne gehalten, von Männern wie Frauen. Die Kinder wurden nach hinten gedrängt. Helle Augen sahen sie aus rot verbrannten Gesichtern an, nicht unfreundlich, aber wachsam. Bajan zog die Zügel seines Hengstes an und bekam ihn endlich ruhig. Er saß ab, drückte Nadim die Zügel in die Hand und ging auf die Gruppe zu.
Der Mann, der sie angerufen hatte, musterte Bajan gründlich, erfasste seine Statur, seine Bewaffnung und Kleidung. Als er an dem kostbaren Schwert hängen blieb, zog er unmerklich die Augenbrauen hoch. Dann ließ er einen schnellen Blick über die drei Kinder fahren und musste wohl entschieden haben, dass sie harmlos waren, jedenfalls ließ er die Sense sinken und ging Bajan entgegen. Sofort entspannten sich die Übrigen.
Althea sperrte Augen und Ohren auf. Dies waren die ersten Bewohner aus dem Land ihres Vaters! Zu ihrer Überraschung hatte sie Mühe, den Akzent zu verstehen. Sie musterte die Menschen, wie diese sie selbst, und sah, dass die Blicke ausnahmslos neugierig und sogar belustigt waren. Nicht nur eine Hand legte sich auf den Mund, um ein Lachen zu verbergen. Was war so komisch? Die nächste Überraschung erlebte sie, als Bajan unmittelbar vor der Gruppe stehen blieb. Sie wusste zwar, dass ihr Vater groß war, aber dass sogar einige der Frauen Bajan überragten, damit hätte sie niemals gerechnet.
»Verzeihung«, Bajan deutete eine Verbeugung an, »wir hatten nicht die Absicht, jemandes Besitzrecht zu verletzen. Wir sind vom Wege abgekommen und wären Euch dankbar, wenn Ihr uns den Weg in die Siedlung zeigen könntet.« Bajans Akzent war deutlich zu hören. Es war das erste Mal, dass Althea ihn Temorisch reden hörte.
Der Mann schien völlig verblüfft angesichts dieser formellen Anrede. »Vater, warum spricht der Mann so komisch, und warum hat er so merkwürdige Sachen an?« Ein kleines Gesicht schob sich neugierig zwischen den Erwachsenen durch.
Da wusste Althea, worüber sie sich so amüsierten. Keiner der Männer trug eine Tunika, im Gegenteil, die Kleider der Frauen waren so kurz, dass sie schon fast als Tunika durchgehen konnten. Das musste in ihren Augen sehr merkwürdig wirken. So war denn auch unterdrücktes Gelächter zu vernehmen.
»Jaahh, Ihr seid aus Gilda, nicht wahr?«, imitierte der Mann spöttisch Bajans formelle Anrede und lehnte sich entspannt auf seine Sense. »Seid ihr Gildaer so schlechte Pfadfinder, dass ihr die einzige Straße hier verliert?« Er begann zu feixen. Die Menschen hinter ihm brachen in Gelächter aus.
Bajan entschied, dass es kein böswilliger Spott, sondern nur Heiterkeit angesichts der Überraschung war, die sie den Menschen bereitet hatten. Er begann zu lächeln.
Althea jedoch nahm es weitaus ernster. »Das ist meine Schuld.« Sie ließ ihre Stute einige Schritte auf die Gruppe zu machen. Das Gelächter verstummte abrupt. Alle Köpfe wandten sich in ihre Richtung. »Mein Pferd ist durchgegangen, dadurch haben wir die Straße verloren«, sagte sie, mit einem Mal unsicher. Warum starrten sie denn alle an?
Der Mann richtete sich mit einem Ruck auf. Nun war er es, der eine Verbeugung andeutete, und zwar in ihre Richtung! Was hatte das zu bedeuten? »Folgt diesem Pfad, dann erreicht Ihr schnell die Siedlung«, sagte er ehrerbietig.
Althea hatte es die Sprache verschlagen. »Wir danken Euch«, sagte Bajan an ihrer statt. Althea brachte nur ein Nicken zustande.
»Es ist uns eine Ehre, der Gemeinschaft zu Diensten sein zu können«, erwiderte der Mann. Sein Akzent wurde etwas schwächer, er sprach formeller.
Bajan nickte ihm noch einmal zu und zog die Augenbrauen hoch, als er sich umdrehte und sich wieder auf sein Pferd schwang. Die Menschen traten beiseite und neigten die Köpfe. Althea fühlte alle Blicke auf sich gerichtet, als sie zwischen ihnen hindurchritten. Sie blickte starr auf ihre Zügel hinab und war froh, als sie außer Sicht waren.
»Was hat das zu bedeuten?« Phelan schloss zu Bajan auf.
»Ich weiß es nicht, mein Junge.«
»Aber ich habe so eine Ahnung«, sagte Nadim hinter ihnen. Althea wandte den Kopf. »Es liegt an deiner Aussprache. Alle Temorer, denen ich bis jetzt begegnet bin, hatten einen Akzent wie der Mann auch. Solch ein klares Temorisch wie deines habe ich noch nie gehört.«
»Dann wissen ja alle, wo ich hin will!« Althea wurde blass.
»Es hat den Anschein. Am besten, du versuchst, so wenig wie möglich zu sagen«, meinte Bajan. Wenn sogar einfache Bauern erkannten, wer Althea war, konnten das andere auch.
Nur wenig später erreichten sie die Siedlung. Die Kinder mussten sich sehr zusammennehmen, um nicht offenen Mundes hindurchzureiten. Sie war anders als alles, was sie in Morann je zu Gesicht bekommen hatten. Die Häuser waren nicht aus Stein, sondern aus einem Gitter aus Holz gebaut, dazwischen verputzt mit einer braunen Schicht und die Dächer aus Stroh. Keine Befestigung gab es hier, nicht einmal die Straße war gepflastert, sie war eine tief durchfurchte, breite Schneise aus Sand, an deren Seiten sich dicht an dicht die Häuser drängten. Althea mochte sich nicht vorstellen, was für einen Morast dies bei Regen geben würde. Überall liefen Tiere herum, es war ein buntes Durcheinander aus Hühnern, Schweinen, Gänsen, Hunden und Schafen.
Trotz der späten Stunde waren immer noch viele Menschen unterwegs, die sich neugierig nach den Fremden umdrehten. Gildaer waren zwar kein seltener Anblick hier, aber gildaische Kinder hatten die meisten noch nie gesehen. Es dauerte nicht lange, und eine Traube von Kindern lief neben ihnen her. Noemi war gar nicht wohl dabei, so angestarrt zu werden, und ritt dichter an Phelan heran.
Althea achtete vor allem auf die Frauen. ›Tante Naluri und Lusela würden ihre Kleider höchst unanständig finden‹, dachte sie amüsiert. Wie die Frauen auf dem Feld trugen sie zwar Kleider, teilweise auch Röcke, die jedoch nicht ganz die Unterschenkel bedeckten und die Füße freiließen. Einige trugen dazu hochgeschnürte Lederschuhe, die meisten jedoch wegen der Hitze flache, offene und nur mit ein paar Riemen versehene Sandalen.
Als ihnen eine Frau auf einem Pferd entgegenkam, entdeckte Althea, dass diese Beinlinge trug, zwar weit geschnitten, aber ganz eindeutig Beinlinge. Sie musste sich doch sehr zusammennehmen, um ihr nicht offen hinterherzustarren. Die Haare trugen sie unbedeckt, hier und da war ein Kopftuch zu sehen, wohl um bei schwerer Arbeit vor Schmutz zu schützen. Die traditionelle Chadra, mit der sich die sittsamen Bewohnerinnen Moranns bedeckten, fehlte völlig. Es gefiel Althea sehr.
Die meisten Männer und auch viele der Jungen hatten dagegen lange Haare, oft zu Zöpfen geflochten, wie sie es bei Jeldrik schon gesehen hatte. Da hörte die Ähnlichkeit mit den Saranern aber auch schon auf. Die Gesichter waren etwas breiter als die der saranischen Männer, die Wangenknochen nicht ganz so hoch und die Haarfarbe nicht nur weißblond, es gab alle Schattierungen von braun bis blond. Aber alle hatten helle Augen, ohne Ausnahme. Gekleidet waren sie wie die Saraner auch mit Beinlingen und Hemden, Kitteln und jeglicher Art Überwurf, wie es für die Arbeit gerade recht war.
Althea wurde aus ihren Betrachtungen gerissen, als Phelan sie anstieß. Sie waren vor einem Wirtshaus angelangt. Erleichtert saßen sie ab, waren aber gleich von einer Traube aus Kindern umringt. Sie kicherten hinter vorgehaltener Hand und starrten die drei unverhohlen neugierig an. Nadim verschwand durch die Eingangstür des Wirtshauses, während Bajan wachsam die Straße überblickte.
›Thea, was finden sie so komisch an uns?‹, zeigte Phelan. Noemi war bis an die Hauswand zurückgewichen, was die Kinder mit Gelächter quittierten. Er stellte sich schützend vor sie.
›Vielleicht unsere Kleidung?‹, vermutete Althea unbehaglich. Sie mochte es genauso wenig wie Noemi, angestarrt zu werden. Doch zu ihrem Glück wurde gleich darauf das Tor zum Hof aufgezogen. Der Wirt erschien mit seiner Frau und winkte sie herein.
»Puh!«, machte Phelan, und Noemi atmete sichtlich auf, als sich die Tore hinter ihnen schlossen.
Im Hof ging es geschäftig zu. Knechte kamen herbei und nahmen ihnen die Pferde ab, Frauen und Mädchen eilten hin und her. Die Wirtsfrau winkte sie zu sich. »Kommt her, ihr drei. Wir haben ein Bad für euch, ihr könnt es brauchen!« Sie führte die Kinder in einen Anbau, wo ein großer Zuber mit dampfendem Wasser wartete. Die Frau deutete auf Tücher und einige grobe Stücke, die wohl Seife darstellen sollten. »Legt eure schmutzigen Kleider daneben, wir waschen sie für euch. Ich hole euch andere Kleidung von unserer Art, damit..«, ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, »ihr nicht so viel Aufsehen erregt.«
Phelan dankte ihr artig. Althea und Noemi atmeten auf, als sie endlich allein gelassen wurden. Althea verriegelte sicherheitshalber die Tür, bevor sie und Noemi aus den Kleidern stiegen. Mit einem Seufzen ließen die beiden Mädchen sich ins Wasser gleiten, während Phelan Wache stand und durch einen Spalt nach draußen lugte. Noemi roch naserümpfend an der groben, talgigen Seife, aber es war besser als gar nichts. Sie seiften sich gründlich ein und schrubbten den ganzen Dreck der langen Reise von sich herunter.
»Da hast du aber kein sehr sauberes Wasser mehr«, sagte Althea, als sie fertig waren, und betrachtete mit gerümpfter Nase die dreckige Brühe, die sie und Noemi hinterlassen hatten.
Phelan zuckte mit den Schultern. ›Schnell, sie kommt zurück!‹, zeigte er auch für Noemi und zog den Riegel zurück. Die Mädchen wickelten sich rasch in ein Handtuch.
Als Phelan sich zu ihnen umdrehte, band Althea sich gerade das Handtuch um die Hüften. »Äh, Thea..« Althea blickte hoch. »Ähm, binde das Handtuch auch oben um«, druckste Phelan herum und wurde rot.
Althea sah an sich herunter. »Oh.« Sie holte ein zweites Tuch. Zu ihrem Ärger wurde auch sie rot, aber das ging in der Ankunft der Wirtin unter.
Mit viel Getue hielt sie den Kindern Kleidungsstücke an und traf dann eine Auswahl. Althea streifte sich rasch ein Hemd über, sodass sie dieses Problem erst einmal los war. Phelan kletterte derweil in den Zuber. »Wenn ihr fertig seid, durch die Tür dort wartet ein leckeres Abendessen auf euch«, verabschiedete sich die Wirtin.
Aufatmend verriegelte Althea die Tür. »Puh, das war knapp!« Rasch zogen sich die beiden Mädchen an. Althea setzte sich mit dem Rücken gegen die Tür. Sie warf Phelan einen vorsichtigen Blick zu. »Ich wusste nicht, dass man es schon so deutlich sieht«, sagte sie leise.
»Es ist mir auch noch nie aufgefallen«, murmelte Phelan mit geschlossenen Augen. Er ließ sich tiefer in den Zuber sinken.
»He, nicht einschlafen!«, rief Althea.
»Ach, lasst mich in Ruhe! Geht doch schon mal vor, ich komme gleich nach.«
Noemi hielt Althea die Hand hin und zog sie hoch. »Na gut. Aber schlaf nicht ein!«, mahnte Althea. Sie machten sich auf die Suche nach der versprochenen Mahlzeit.
Phelan öffnete vorsichtig ein Auge und sah ihnen hinterher. Aufatmend lehnte er sich zurück. Was war nur mit ihm los? Warum war er plötzlich so verlegen? Nein, er erkannte, dass er regelrecht erschrocken war! Aber warum? Phelan tauchte mit einem Stöhnen unter und schrubbte sich so energisch, dass seine Haut brannte. Oh, lieber nicht darüber nachdenken! Er hatte Angst vor dem, was er dann entdecken mochte.
Er war so in Fahrt, dass er das unterdrückte Kichern vor der Tür fast überhörte. »Was ist?«, fauchte Phelan. Zu spät ging ihm auf, dass er Gildaisch gesprochen hatte. »He, ist dort wer?«, rief er auf Temorisch. Sein Akzent war zwar längst nicht so stark wie Bajans, aber selbst für ihn deutlich zu hören. Er richtete sich halb im Zuber auf, nur um gleich darauf erschrocken wieder ins Wasser zurückzufallen. Es schwappte nach allen Seiten, was das Mädchen, das um die Ecke lugte, zum Grinsen brachte.
»Mutter schickt mich. Sie sagt, ich soll schauen, ob du nicht ertrunken bist!« Es presste die Hand vor den Mund, um nicht lauthals loszulachen. Jemand anderes kicherte. Also war es nicht allein.
»Danke, es geht mir gut«, erwiderte Phelan höflich und ließ sich vorsichtshalber noch etwas tiefer sinken. Das Mädchen blieb in der Tür stehen. Was wollte es noch? Es sah so aus, als wollte es etwas fragen. »Was ist?« Jetzt kam es in der richtigen Sprache heraus. Allmählich kam er sich recht dämlich vor, wie er da im Zuber saß und angestarrt wurde.
Das Mädchen wurde rot. »Ich .. ich wollte fragen, ob du..«
Weiter kam es nicht. Die Küchentür flog auf. »Ani, lass unseren Gast zufrieden und hilf mir in der Küche. Nun mach schon!« Die Stimme der Wirtin klang streng.
»Ja, Mutter!« Ani warf Phelan noch ein verschmitztes Lächeln zu und verschwand. Trappelnde Schritte sagten ihm, dass sich ihre unsichtbaren Begleiter ebenfalls entfernten. Die Gelegenheit kam nicht ein zweites Mal. Mit einem Satz war Phelan aus dem Wasser und warf die Tür zu. Er atmete auf. Rasch trocknete er sich ab und streifte sich die temorische Kleidung über. Er entdeckte, dass die Beinlinge erstaunlich bequem saßen. Das Hemd fiel weit und luftig darüber. Er tat es Althea nach und band den Gürtel locker darüber. ›Fast wie eine Tunika‹, dachte er etwas beruhigter. Er rubbelte sich die Haare trocken, schnürte zu guter Letzt noch sein Messer um und machte sich dann auf die Suche nach den anderen.
Er fand den Schankraum, blieb aber erstmal blinzelnd im Eingang stehen. Es war, als liefe er in eine Nebelwand. Hatten sie Probleme mit dem Feuer? Er schnupperte. Roch so ein Holzfeuer? Es war ganz anders als der Geruch von verbranntem Torf. Nein, ein Blick zum großen Kamin zeigte ihm, dass das Feuer aus war. Phelan sah sich erstaunt um. Fast jeder Mann in dem überfüllten Schankraum hatte eine Pfeife im Mund. Daher also der Nebel. Phelan rümpfte innerlich die Nase. Die Luft war so dick, dass man kaum atmen konnte, hinzu kam der kräftige Geruch der vielen Gäste. Sie schienen größtenteils direkt von den Feldern zu kommen, nach dem Schmutz an ihrer Kleidung und in den Gesichtern zu urteilen. Nun, bis vor Kurzem hatte er selbst auch nicht besser ausgesehen oder gar gerochen, schalt er sich. Nur wäre es einem Gildaer im Traum nicht eingefallen, sich derart verdreckt in einem Wirtshaus zu zeigen. Er riss sich aus seinen Betrachtungen und suchte den Raum nach seinen Begleitern ab. Er entdeckte sie an einem Tisch ganz hinten in der Ecke. Bajan hob die Hand und winkte ihn heran.
»Dein Essen wird kalt..« Althea füllte ihm etwas von dem kräftigen Eintopf auf, der in einer großen Schüssel in der Mitte auf ihn wartete. Phelan ließ sich neben Noemi auf eine Bank fallen und machte sich hungrig darüber her. Die Wirtin brachte zwei neue Krüge Bier für die Männer, hinter ihr folgte das Mädchen mit drei Bechern für die Kinder. Mit einem verschmitzten Lächeln stellte es den letzten Becher vor Phelan ab, fing aber sofort den strengen Blick der Mutter auf. Es senkte den Kopf und lief zurück in die Küche.
»Ich muss mich für meine Tochter entschuldigen. Kinder aus Gilda hat sie noch nie gesehen.«
›Zumindest einen nicht!‹ Altheas Handbewegung war schnell und spöttisch.
Noemi begann zu lächeln, während Bajan höflich erwiderte: »Das ist uns durchaus bewusst. Umgekehrt ist es genauso.« Seine Augen schimmerten vor heimlicher Belustigung.
Phelan wurde rot, schaffte es aber, Althea einen zielsicheren Tritt gegen das Schienenbein zu verpassen. Er grinste in sich hinein, als er ihre Augen gefährlich aufblitzen sah. Es erleichterte ihn. So sehr sie sich auch verändern würde, dieses würde sich niemals ändern.
»Kinder, wenn ihr fertig seid, zeige ich euch eure Kammer. Ihr müsst müde sein.« Die Wirtin schenkte Noemi ein warmes Lächeln. Sie erwiderte es vorsichtig. Sie verstand nicht, was die Frau sagte, aber Althea übersetzte es rasch. »Klopft einfach an die Küchentür, wenn ihr fertig seid.«
»Das kannst du übernehmen«, sagte Althea spöttisch in Phelans Richtung, als die Wirtin gegangen war. Geschickt wich sie einem erneuten Tritt Phelans aus und begann zu lachen.
Nadim und Bajan stimmten mit ein. »Ich weiß gar nicht, was ihr habt!«, schnappte Phelan. Beleidigt schaufelte er den restlichen Eintopf in sich hinein.
Gesättigt hatten die Kinder in der stickigen Luft bald Mühe, ihre Augen noch offenzuhalten. Bajan schickte sie schließlich zur Wirtin, die sie sogleich zu einer Kammer brachte. Darin fanden sie ihr Gepäck sowie drei saubere Schlaflager. Althea warf sich mit einem Jauchzen darauf. »Herrlich!« Phelan legte vorsichtshalber den Riegel vor, bevor er dasselbe tat. Es dauerte nicht lange, bis sie tief und fest schliefen.
Die Männer begaben sich ebenfalls bald auf ihre Kammer, doch sie suchten keinen Schlaf, sondern sprachen bis tief in die Nacht hinein. Bajan nutzte die Gelegenheit, Nadim letzte Anweisungen zu erteilen. »Ich möchte, dass du selbst nach Gilda gehst. Tarne dich als Händler. Deine drei Kameraden stellen die Überbringung der Botschaften von hier nach Nador sicher. Ich werde einen Weg finden, wie ich sie hierher senden kann.«
»Warum soll ich persönlich nach Gilda gehen? Kannst du nicht auf die anderen Kundschafter zurückgreifen?«, fragte Nadim, obwohl er die Antwort schon ahnte.
»Solange wir die undichte Stelle nicht kennen, ist es zu gefährlich. Nein, ich möchte, dass du persönlich zu Jorman reist. Sag ihm, dass wir sicher in Temora angekommen sind. Er soll vorsichtig sein. Und sag ihm, wenn er die Zeit für reif hält, soll er nach Currann forschen. Wir wissen, dass er noch lebt.« Bajan wartete, bis Nadim tief ausatmete.
»Oh ja, das tun wir.«
Bajan nickte. Nadim war soweit, dass er Altheas Urteil traute. Er fuhr fort: »Aber nun hör genau zu, denn ich habe mir etwas überlegt. Er soll unter den Vereidigten verbreiten, dass Currann sich verborgen hält, bis es an der Zeit ist, zurückzukehren. Dass er gegen böse Mächte gekämpft hat und sein Leben für seine Familie gegeben hat. Er soll einfach das Gerücht in die Welt setzen. So, wie ich die Gildaer kenne, wird es sich schnell verselbstständigen. Nadim, wir müssen es schaffen, dass die Vereidigten treu zu uns halten.«
»Du willst eine Legende schaffen?« Nadim überlegte. Gar nicht so schlecht, befand er.
»So ist es. Es wird das Gegengewicht sein zu den Dingen, welche die Mönche über ihn verbreiten werden.«
Nadim begann zu lachen. »Weißt du, wir haben uns immer gefragt, warum du wohl nach einem Barden benannt worden bist, so unmusikalisch, wie du bist. Aber jetzt macht es durchaus Sinn. Glaubst du, dass Namen Bestimmung sind? Ich glaube es fest!«
Nun war es an Bajan, Nadim verblüfft anzustarren. »Da hast du recht. Obwohl mein Vater mir einst sagte, ich trüge diesen Namen, weil ich bei meiner Geburt so geschrien habe. Nun, machen wir aus Currann eben eine lebende Legende. Der Junge wird es gewiss brauchen können. Aber noch einmal zu Jorman: Wenn du ihn nicht antriffst, dann geh in das Stadthaus der Heilerinnen. Frage nach Schwester Meda, aber nur nach ihr, verstanden? Dort wirst du erfahren, wie die Dinge stehen. Außerdem möchte ich, dass du zu Leviad gehst und auch ihn für uns verpflichtest. Und jetzt sieh her.« Bajan streifte seinen Armschutz zurück und hielt sein Handgelenk hoch.
Nadims Augen weiteten sich. »Das ist das Zeichen der Königin! Ihr habt euch zeichnen lassen!« Er starrte sprachlos auf die Rose an Bajans Handgelenk.
Bajan nickte. Er zog seinen Beutel zu sich heran und holte ein kleines Kästchen heraus. Das gleiche Kästchen hatte er vor ihrer Flucht an Meda übergeben. Bajan drängte den Gedanken schnell beiseite. Er nahm das kleine Siegel heraus und hielt es in die Flamme der Kerze. »Wir haben zwar kein richtiges Feuer, aber dies wird genügen. Nur so erhältst du Zutritt zu den Eingeweihten. Ich werde dir jetzt einen Eid abnehmen, einen Eid auf unseren künftigen König.«
Am folgenden Morgen waren die Kinder bereits vor Sonnenaufgang wach. Hungrig machten sie sich nach einer kurzen Wäsche auf den Weg in den Schankraum. Doch vor ihrer Kammertür stolperten sie erst einmal über die vielen schlafenden Gäste. Das, was sie gestern Abend noch für einen großen Flur hinter dem Schankraum gehalten hatten, stellte sich als Schlafraum für die übrigen Gäste heraus. Sie lagen in gesonderten Nischen, auf Bänken oder einfach auf dem Boden. Erst da ging ihnen auf, dass Bajan für ihre Kammern einen besonderen Preis bezahlt haben musste. Alle anderen mussten mit diesem Raum vorliebnehmen.
»Oh, hallo!« Im Schankraum liefen sie direkt in die Tochter der Wirtin hinein, die dabei war, die Tische zu decken. Sie lächelte Noemi flüchtig zu, streifte Althea mit einem kurzen Blick und errötete zutiefst, als sie bei Phelan angelangt war. »Ähm, ihr müsst hungrig sein. Setzt euch doch«, sagte sie und verschwand so schnell in die Küche, als würde sie verfolgt.
»Da hast du ja jemanden mächtig beeindruckt«, spottete Althea.
»Ach, halt den Mund!«, grummelte Phelan. Er schnappte sich ein großes Stück Brot und lief nach draußen in den Hof.
Althea und Noemi sahen ihm amüsiert hinterher, aber dann siegte der Hunger. Sie ließen es sich schmecken. Die Wirtstochter schien sich wieder gefangen zu haben, jedenfalls kam sie mit drei Bechern heißer Milch zurück. Enttäuschung malte sich auf ihrem Gesicht, als sie sah, dass Phelan nicht mehr da war. Aber sie schien sehr neugierig zu sein, also nahm sie allen Mut zusammen und sprach den seltsam aussehenden Jungen an. »Darf ich dich etwas fragen?« Sie trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.
»Natürlich. Willst du dich nicht zu uns setzen?« Althea war genauso neugierig wie das Mädchen. Rasch bewegte sie die Hände, damit Noemi mitkam.
Doch Wirtstochter Ani reagierte, als hätte sie einen Schlag erhalten. Mit weit aufgerissenen Augen wich sie zurück. »Nein, nein .. ist schon gut. Ich will dich nicht behelligen!« Sie floh.
Althea und Noemi schauten ihr ziemlich verdutzt hinterher. »Was um alles..« Althea sprang auf und folgte ihr in die Küche. »Nun warte doch mal!«, rief sie. Alle Geräusche verstummten schlagartig. Althea blieb unsicher in der Tür stehen. Sämtliche Augen waren auf sie gerichtet. ›Hört das denn nie auf?‹, dachte sie.
»Ani, tu, was er sagt!« Die Wirtin schob ihre Tochter in Altheas Richtung. Das Mädchen blickte ängstlich zu Boden.
Althea wusste nur eines, sie wollte hier raus. »Du wolltest mich etwas fragen. Warum läufst du davon? Komm doch zu uns an den Tisch!« Sie wartete keine Antwort ab, sondern stürmte fast hinaus zu Noemi. Gleich darauf stand die Wirtstochter wieder vor ihnen, von einer energischen Hand durch die Küchentür geschoben. Noemi verstand gar nichts mehr, aber sie sah, dass sie Angst hatte. Sie fasste sich ein Herz, ergriff ihre Hand, zog sie neben sich auf die Bank und lächelte ihr beruhigend zu. Das Mädchen entspannte sich etwas.
»Was wolltest du mich fragen? Und warum hast du Angst vor mir?« Althea umfasste ihren Becher und nahm einen Schluck. Diese Geste schien das Mädchen etwas zu beruhigen, aber es traute sich immer noch nicht zu sprechen. Ein Stups von Noemi half nach.
»Leute aus Temora darf man nicht behelligen«, brachte Ani hervor. Sie senkte kleinlaut den Kopf. »Es tut mir leid.«
»Aber warum das? Und gehört dieser Ort nicht zu Temora dazu?« Althea verstand überhaupt nichts mehr.
Der Kopf der Wirtstochter fuhr hoch. »Ja, weißt du das denn nicht?« Sie wirkte ehrlich verblüfft.
»Was soll ich wissen?«, fragte Althea misstrauisch.
Da dämmerte Ani langsam die Erkenntnis: »Du bist gar nicht aus Temora!« Ihre Miene erheiterte sich. Sie begann zu kichern. »Du redest nur wie sie!« Das Kichern wurde zu Gelächter.
Da Althea nicht wusste, was sie davon halten sollte, lächelte sie erst einmal vorsichtig. »Mein Vater stammt aus Temora, meine Mutter aus Gilda. Ich bin dort aufgewachsen.«
Das Lachen blieb Ani im Halse stecken. »Also bist du doch von der Gemeinschaft!« Sie wurde blass.
Althea schüttelte ratlos den Kopf. »Nein, nicht richtig. Aber wovon redest du eigentlich? Warum darf man Leute aus Temora nicht behelligen? Das verstehe ich nicht!« Sie lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und wartete auf eine Erklärung.
Ani maß sie mit einem bedauernden Blick. »Dein Vater muss schon lange tot sein, dass er dir das nicht mehr erzählen konnte.«
Mit einem empörten Schrei sprang Althea auf. »Mein Vater ist nicht tot!«, fauchte sie und rannte nach draußen.
Ani sah ihr völlig verblüfft hinterher. »Was hat er denn?« Noemi hob ratlos die Schultern. Sie hatte die beiden nicht verstanden.
Draußen sah Althea sich orientierungslos um. Wohin? Ein leises Schnauben nahm ihr die Entscheidung ab. Sie flüchtete sich in die Nähe ihrer Stute. An ihr herumzupusseln half ihr, sich zu beruhigen.
»Du brauchst das nicht zu tun. Wir machen sie gleich fertig.«
Althea fuhr herum. Ein junger Bursche teilte Futter aus. »Hast du meinen Cousin gesehen?« Es war ihr egal, ob er ihre Aussprache erkannte, und richtig, er zuckte zusammen, beherrschte sich aber besser als das Mädchen.
»Ja, er ist dort hinten. Meine Schwester hat ihn vertrieben. Sie kann ziemlich nervtötend sein«, entschuldigte er sich bei ihr und fuhr mit seiner Arbeit fort.
Phelan hörte sofort auf zu kauen, als er ihren Gesichtsausdruck sah. Sie ließ sich neben ihn ins Heu fallen. »Überall, wo ich auftauche, werde ich angestarrt. Sie fürchten sich vor mir. Du hättest sie sehen sollen, ich hatte kaum den Mund aufgemacht, und sie wäre fast im Boden versunken!« Wütend hieb sie auf das Heu ein. Phelan hörte ihrem Ausbruch stumm zu. »Und weißt du was? Dies ist nicht Temora! Warum hat Vater mir nie etwas davon erzählt?« Ihre Stimme zitterte gefährlich.
»Thea«, Phelan griff ihre Hand, »ich bin sicher, dass er es tun wollte. Auf eurer Reise. Er ist einfach nicht mehr dazu gekommen.«
»Er hat mir nie etwas von hier erzählt!« Langsam begann Althea, richtig wütend zu werden. »Und ich kann niemanden fragen, weil die Leute vor mir fast im Boden versinken. Warum kann ich nicht normal sein?«
Phelan konnte es nicht mit ansehen, wie sie sich quälte. »Pass mal auf«, er erhob sich entschlossen, »wenn du die Leute nicht fragen kannst, ich kann es wohl. He!« Er winkte den Sohn der Wirtin heran. »Darf ich dich etwas fragen?«
»Klar doch..« Er setzte sich zu ihnen.
»Warum ist dies hier nicht Temora?« Der Junge schwieg völlig verblüfft. Phelan sah sich genötigt, seine Frage genauer zu erklären. »Weißt du, in Gilda nennt man alles Temora, was jenseits der Grenze liegt.«
Der Junge schüttelte ungläubig den Kopf ob ihrer Unwissenheit. »Das ist nicht richtig. Temora ist der Sitz der heiligen Gemeinschaft. Niemals dürften wir uns als Temorer bezeichnen!« Allein der Gedanke daran bereitete ihm sichtliches Unbehagen.
»Warum? Und was ist dann der Rest des Landes?«, hakte Phelan nach.
»Es ist verboten, ganz einfach.«
»Verboten?« Althea starrte ihn ungläubig an.
»Ja, weißt du das denn nicht? Du bist doch von dort.« Der Junge verstand überhaupt nichts mehr.
Althea wagte ein vorsichtiges Lächeln. »Nein, ich bin nicht von dort. Ich stamme aus Gilda.«
»Ja, aber wo hast du dann so sprechen gelernt?« Neugierig sah der Junge Althea an.
»Von meinem Vater.« Es klang traurig.
Der Junge kombinierte schnell. »Oh. Wenn das so ist .. dies ist das Land des Volkes - Nitrea.«
»Und wie heißt diese Siedlung?«, fragte Phelan.
»Galeac. Tor des Nordens.«
»Oh, das passt«, murmelte Althea. Sie begann langsam zu begreifen. »Warst du schon mal in Temora?«
Die Augen des Jungen wurden groß. »Nein, wo denkst du hin? Nur wer geladen ist, darf Temora betreten.«
So langsam beschlich Althea leises Unbehagen. Sie tauschte einen raschen Blick mit Phelan und sah, dass es ihm ähnlich ging. »Das ist sehr streng«, sagte sie vorsichtig.
»Streng? Nein, warum? Es ist ihr Recht! Es ist ein heiliger Ort.«
»Warum ist es ihr Recht?« Phelan war genauso ratlos wie Althea.
»Weil sie in die Geheimnisse des Lebens eingeweiht sind und dort nicht gestört werden dürfen«, sagte die Wirtin. Ihre Tochter war so aufgelöst in die Küche zurückgekommen, dass sie beschlossen hatte, selbst nach dem jungen Temorer zu sehen. »Du weißt es wirklich nicht, nicht wahr?«
»Nein .. mein Vater..« Althea sah eine warnende Handbewegung von Phelan. Sie senkte den Kopf und verstummte. Die Wirtin glaubte zu wissen, was dem Jungen zu schaffen machte. »Nun, dann kommt doch zum Frühmahl. Mit leerem Magen reist es sich schlecht und arbeitet auch«, fügte sie mit einem strengen Blick auf ihren Sohn hinzu. »Achtet nicht auf meine Tochter, sie hat nichts als Dummheiten im Kopf.«
Bald war die Zeit des Aufbruchs gekommen und damit auch der Abschied von Nadim.
»Grüße an deine Frau«, sagte Bajan, als sie sich zum Abschied umarmten.
Nadim lächelte Noemi zu, Phelan schlug er mannhaft auf die Schulter, Althea jedoch hielt er die Hand hin. »Pass auf dich auf, Mädchen.« Als sie sie ergriff, drückte er sie fest.
»Das werde ich«, sagte sie.
Sie sahen ihm betrübt hinterher, als er die Straße nach Nador zurückritt. Dann machten auch sie sich auf den Weg. Zu ihrer Überraschung trafen sie schon bald auf die nächste Siedlung. Zwischendrin kamen sie immer wieder an Abzweigungen vorbei, viel befahren, was auf weitere Siedlungen hindeutete. Das Land war viel dichter besiedelt als Morann.
Obwohl sie nun alle die Kleidung des Landes trugen, riefen sie immer noch die gleiche freundliche Neugier hervor. Althea überließ tunlichst Phelan das Reden, sodass sie von der Ehrfurcht der Menschen verschont blieb und genug Zeit hatte, alles zu beobachten. Die Menschen schienen, abgesehen von der Gemeinschaft, keine Scheu zu kennen. Die Kinder folgten ihnen, wo immer sie auftauchten. Althea beobachtete mit heimlicher Belustigung, dass Phelan vor allem die Aufmerksamkeit der Mädchen auf sich zog. Sie machte mehr als eine spöttische Bemerkung zu Noemi über Phelans sichtliche Verlegenheit. Aber schon bald legte sich diese ziemlich schnell. Phelan entdeckte nämlich, dass er gezielt die Aufmerksamkeit der Mädchen auf sich lenken und so vieles erfahren konnte. Neckte er die Mädchen gar, war ihm der Sieg gewiss. Die Sache begann, ihm sichtlich Spaß zu machen.
»Übertreibe es nicht!«, rügte Bajan, als sie aus einem Ort herausritten.
»Och, sie sind doch nett«, verteidigte sich Phelan.
Althea beugte sich vor. »Hast du Held denn wenigstens ein wenig mehr herausbekommen?«, rief sie nach vorne.
Phelan drehte sich zu ihr um. »Was denn herausbekommen?«
»Na, über Temora natürlich!« Dumme Frage, fand Althea. Das beschäftigte sie seit dem Morgen. Ihn offensichtlich nicht. »Worüber habt ihr euch denn dann unterhalten, he? Über das Wetter?« Sie grinste ihn spöttisch an.
»Nein, sie wollten wissen, wie alt ich bin. Schon wieder. Ich frage mich nur, warum? Das ist wirklich merkwürdig.« Phelan wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Straße zu.
»Ein paar Versuche hast du ja noch«, brummte Bajan. Phelan wurde rot, und Althea lachte. Mit einem Grinsen trabte sie an.
Als sie jedoch am Abend in einem Wirtshaus einkehrten, verging Althea das Lachen. Grund dafür war Noemi. Wie bei ihrer Ankunft am Tag zuvor waren sie schnell von einer Traube aus neugierigen Kindern umringt. Leider hatte dieses Wirtshaus keinen Innenhof, sodass sie notgedrungen ihre Pferde davor anbinden und warten mussten, bis sie eine Kammer zugewiesen bekamen. Bajan verschwand mit dem Wirt im Haus, während Althea ihre Packpferde abzuladen begann. Noemi hielt sich dicht an Phelan, sie mochte es gar nicht, so angestarrt zu werden.
Aber anders als am Abend zuvor verwickelte Phelan die älteren Kinder in eine fröhliche Unterhaltung. Instinktiv probierte er aus, wie er auf sie wirkte, und wurde mit allerlei Aufmerksamkeit belohnt. Althea und Bajan achteten nicht darauf, sie hatten vollauf mit dem Gepäck zu tun und trugen es hinein. Die Traube vor der Tür wurde immer dichter, als sich ein paar ältere Jungen, kräftig und braun gebrannt, nach vorne schoben und Phelan in Beschlag belegten. Sie drängten die jüngeren Kinder mit einer energischen Bewegung beiseite und zogen den fremden Jungen mit sich.
Plötzlich stand Noemi allein vor den Kindern da. Diese lächelten und stellten ihr Fragen, aber sie konnte nur mit einem festgefrorenen Lächeln den Kopf schütteln. Sie verstand kein Wort. Mit dem Kindern eigenen, unfehlbaren Instinkt merkten die anderen sofort, dass etwas mit diesem Mädchen nicht stimmte. Die fröhliche Neugier verwandelte sich in misstrauische Aufmerksamkeit und Spott. Noemi, die mehr als jeder andere in der Lage war, die Körpersprache und Stimmungen ihres Gegenübers zu deuten, spürte den Stimmungswandel sofort. Hilflos sah sie sich nach Phelan um, aber der stand abseits mit den anderen Jungen und achtete nicht auf sie. Sie wich unwillkürlich an die Hauswand zurück. Die Kinder begannen zu lachen. Hätte Noemi gekonnt, sie wäre sofort in das Wirtshaus geflohen, aber sie war von allen Seiten umzingelt.
»Du, die hat Angst vor uns«, hörte Althea ein Mädchen spöttisch rufen, als sie in die Eingangshalle zurückkam. Alarmiert beschleunigte sie ihren Schritt, aber es war zu spät. Das Mädchen fasste Noemi an, und dies hasste Noemi mehr als alles andere. »He, was ..?« Noemi krümmte sich zusammen und schlug die Arme schützend um sich. Die Kinder brachen in Gelächter aus. »Was hat sie denn? He, du!« Ein anderes Mädchen pikte Noemi in die Seite, und mehrere Hände griffen nach ihr.
Althea konnte Noemis Schrei beinahe hören, als sie nach draußen stürmte. »Lasst sie in Ruhe! Sofort!« Die Kinder fuhren zu ihr herum. Althea kümmerte sich nicht um sie, sondern sprengte sie wie eine Furie auseinander und zog Noemi hoch. »Zurück!«, fauchte sie, als sie Noemi schützend in die Arme schloss. Die Kinder stolperten erschrocken auseinander. Erst jetzt wurde Althea gewahr, welche Macht ihr durch ihre Aussprache verliehen wurde. Als sie Noemi an sich drückte, spürte sie, dass ihre Freundin am ganzen Leib zitterte. Wütend sah sie sich nach Phelan um, aber der war mittlerweile auf der anderen Straßenseite angekommen und mit den anderen Jungen beschäftigt. ›Na warte!‹, dachte sie, als sie Noemi mit festen Schritten in das Wirtshaus brachte.
»Althea, ist alles in Ordnung?« Bajan kam mit besorgtem Gesicht auf sie zu.
»Die Kinder haben Noemi Angst gemacht. Phelan hat sie allein gelassen.«
Bajan kniete sich vor Noemi nieder und strich ihr beruhigend über die Wange. »Hab keine Angst, hier wird dir niemand etwas tun.« Noemi zitterte immer noch, und in ihren Augen schimmerten Tränen. Bajan richtete sich mit ernstem Blick auf. »Althea, bring sie in die Kammer. Ich denke, sie bleibt heute Abend am besten dort.«
Noemi brach in Tränen aus, kaum dass sie sich auf die Schlafstätte hatte fallen lassen. Althea blieb nicht viel übrig, als sie zu halten und abzuwarten, bis sie erschöpft eingeschlafen war. Während sie dort saß, stieg ihre Wut auf Phelan immer mehr. Als Noemi endlich schlief, beschloss sie, etwas zu essen zu holen, und machte sich auf den Weg in den Schankraum.
Althea sah Bajan und Phelan an einem der Tische. Phelan hatte beschämt den Kopf gesenkt, während Bajan eindringlich auf ihn einsprach. Sie presste grimmig die Lippen zusammen. Gut so, er bekam eine saftige Strafpredigt erteilt. Sie ignorierte die beiden und trat zu der Frau am Tresen. »Könnte ich wohl etwas Brot und Milch bekommen? Meiner Freundin ist nicht wohl.«
Auch die Frau zuckte bei ihrer Aussprache zusammen, fing sich aber gleich wieder. »Hier, nimm schon mal das Brot, ich bringe euch gleich etwas. Ein wenig Suppe könnte auch nicht schaden, nicht wahr?« Althea dankte ihr. Phelans fragenden Blick ignorierend, lief sie zurück in die Kammer.
Kurz darauf kam die Wirtin mit einem großen Tablett zu ihnen. Althea weckte Noemi und zwang sie, etwas zu sich zu nehmen. Besorgt beobachtete sie, wie ihre Freundin wieder in einen unruhigen Schlaf fiel. ›Phelan, was hast du nur angerichtet?‹, dachte sie. Gleichzeitig machte sie sich selbst heftige Vorwürfe. Sie hatte sich vollkommen auf Phelan verlassen, und das kam nun dabei heraus. Nun, dies würde ihr nicht wieder passieren!
Bald darauf klopfte es. Ein sichtlich betretener Phelan stand vor der Tür. Althea hielt die Tür nur so weit auf, dass sie den Kopf herausstrecken konnte.
»Thea, ich .. lass mich rein..« Er wollte die Tür aufstoßen.
»Nein!« Althea drängte ihn zurück. »Sie schläft, du wirst sie nicht stören. Sie hat sich sehr geängstigt, du hast für heute genug angerichtet. Gute Nacht!« Sie schlug ihm die Tür vor der Nase zu und lehnte sich mit geschlossenen Augen dagegen. Erst nach einiger Zeit hörte sie ihn weggehen und atmete auf.
Sie verriegelte die Tür und legte sich hin, plötzlich unendlich müde. Trotzdem war es ihr nicht vergönnt, ruhig zu schlafen, zu sehr wirbelten die Ereignisse durch ihren Kopf. Als sie am nächsten Morgen aufstand, war ihre Laune nicht die beste. Mit heimlicher Genugtuung sah sie, dass Phelan auch nicht gut geschlafen hatte. Geschah ihm recht!
Das Frühmahl verging in unbehaglichem Schweigen, ebenso der Aufbruch. Noemi hielt sich dicht an Althea, sie sah Phelan nicht einmal an, geschweige denn tauschte sie Handzeichen mit ihm. Es schmerzte ihn zutiefst, und sein schlechtes Gewissen steigerte sich ins Unermessliche. Selbst als er versuchte, Althea über seine neuesten Erkenntnisse zu unterrichten, scheiterte er. Er hatte nämlich herausgefunden, warum sie so interessant für die anderen Kinder waren.
Schließlich hielt er es nicht mehr aus. »Ich weiß, wie wir verhindern können, dass wir von den anderen umringt werden.« Er ließ seine Stute neben Altheas traben und nahm ihr jede Möglichkeit auszuweichen.
Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »So?« Sollte das etwa ein Friedensangebot sein?
»Jaah, wir müssen die Schwerter ablegen.« Phelan lächelte in sich hinein, als er ihr Interesse augenblicklich geweckt sah.
»Unsere Schwerter?« Selbst Bajan wandte interessiert den Kopf.
»Ja, unsere Schwerter. Diese Jungen von gestern haben mich schon wieder nach meinem Alter gefragt. Das fand ich so merkwürdig, da habe ich nachgebohrt.«
»Und was hast du herausgefunden?«
Phelan bemerkte zufrieden, dass Althea ihren Groll für den Augenblick vergessen zu haben schien. Er atmete auf. »Sie fanden es unglaublich, dass jemand in unserem Alter schon durch die Zeremonie gegangen ist. So haben sie es genannt. Erst dann nämlich ist es ihnen erlaubt, ein Schwert zu tragen.«
»Oh.« Damit hatte Althea nicht gerechnet. »Was für eine Zeremonie?«
»Das wollten sie erst nicht sagen, aber ich habe nicht locker gelassen. Es geht wohl um eine Art Probe, Kampf, Geschicklichkeit, Klugheit und Ähnliches. Aber es nehmen sowohl Jungen als auch Mädchen daran teil.«
Althea nickte verstehend. »Ja, Vater hat mir erzählt, dass auch die Mädchen kämpfen lernen. Aber wer nimmt die Zeremonie vor und wie alt sind die Jungen und Mädchen? Und was ist Bestandteil der Zeremonie?« Im Stillen ärgerte sie sich, dass sie das Fragen nicht lassen konnte und Phelan das auch noch merkte.
Er grinste überlegen. »Genau konnten sie es selbst noch nicht sagen, denn sie waren selbst noch nicht hindurchgegangen. Aber sie sind etwa sechzehn, wenn sie daran teilnehmen. Es findet nämlich nur einmal im Jahr statt. Dazu reisen die Priester der Gemeinschaft durch jede Siedlung. Jedenfalls, wenn wir die Schwerter heute Abend verbergen, gibt es nicht so einen Auflauf.« Er lächelte Noemi entschuldigend zu. Sofort war Altheas Wut wieder da. Ihre Augen begannen gefährlich zu funkeln.
»Du wirst keine Gelegenheit mehr haben, es auszuprobieren«, sagte Bajan über die Schulter. »Heute Abend sind wir in Temora.«
Althea wurde blass. »Heute schon?!« Mit einem Ruck hielt sie ihre Stute an.
»Thea, was ist denn?«, rief Phelan.
Sie sprang herunter. »Wir stecken die Schwerter sofort weg!«
Phelan schaute verwundert auf sie herab, zuckte dann aber mit den Schultern. »Schön, wenn du meinst..« Er band den Schwertgurt ab und reichte ihn zu ihr herunter. Er wollte sich um jeden Preis mit ihr versöhnen und gab deshalb sofort nach.
Aber Althea war immer noch böse mit ihm. Sie versteckte die Schwerter in einer Deckenrolle und schwang sich ohne ein weiteres Wort auf ihre Stute. Die restliche Strecke legten sie in unbehaglichem Schweigen zurück.
Am frühen Abend neigte sich die Straße plötzlich spürbar bergab und durchquerte einen dichten Wald. Phelan blinzelte gegen die Sonne. Meinte er nicht, zwischen den Bäumen etwas glitzern zu sehen? Auch Noemi schien etwas bemerkt zu haben und reckte den Hals. Seinem fragenden Blick wich sie jedoch aus.
»Es riecht hier so merkwürdig«, sagte Althea, die ganz vorne ritt. Sie hielt an und sog schnuppernd die Luft ein.
»Du hast recht«, stimmte Bajan zu. Er kannte diesen Geruch, sagte aber nichts, da er die Reaktion der Kinder sehen wollte. Sie ritten noch ein kurzes Stück, bis die Straße sich unvermittelt gabelte. Die eine Abzweigung ging geradeaus nach Süden, wohl weiter in Richtung Saran, vermutete Bajan. Die andere bog ab nach Westen zur Küste, nach Temora. Sie folgten diesem Abzweig und ritten durch den Wald auf ein paar hohe Felsen zu, die eine schmale Engstelle für die Straße freiließen. Was dahinter lag, konnten sie nicht sehen, aber dies änderte sich, als sie hindurchgeritten waren. Wie auf Kommando hielten sie an.
Der Wald hörte unvermittelt auf. Weit unter ihnen glitzerte das Meer in der tief stehenden Abendsonne. Die Straße lief in einem weiten Bogen bergab und verschwand in der Ferne hinter einer Hügelkuppe.
»Sind das etwa Schiffe?« Phelan deutete aufgeregt auf zwei weit entfernte, helle Flächen, die auf dem Wasser zu schweben schienen.
»Oh ja, das sind welche«, antwortete Bajan. Sie sogen alle den Anblick in sich auf.
Althea kam es so vor, als würde sich die Fläche des Meeres unendlich dehnen. Sie holte tief Luft und schnupperte erneut. »Riecht so das Meer?« Anstatt zu antworten, brummte Bajan nur in sich hinein.
»Ja, die Luft ist wirklich merkwürdig«, stimmte Phelan ihr zu. Und er könnte schwören, dass das Licht irgendwie anders war, intensiver und heller.
»Was wohl hinter dem Hügel liegt?« Althea war mit einem Mal verzagt.
Doch Phelan holte sie sogleich wieder da raus. »Unser Ziel, was sonst? Los, wer als Erster dort ist!«
Sie starteten ein wildes Wettrennen, das Phelan ganz knapp gewann, aber auch nur, weil Althea ihre Stute mitten im Galopp so plötzlich zügelte, dass die Erde unter ihren Hufen nur so spritzte. »Oh!«, war alles, was sie herausbrachte. Sie schloss zu Phelan auf und starrte sprachlos den Hügel herab. Am Fuß des Hügels, direkt am Meer, erstreckte sich eine Siedlung samt Hafen. Dahinter wand sich die Straße wieder in die Höhe.
Doch Althea verschwendete keinen Blick für die Siedlung, das Meer oder die vielen Schiffe, die sich in dem Hafen tummelten. Gebannt starrte sie auf das, was sich über allem erhob. Auf einem fast kreisrunden Felsplateau stand ein Kreis aus Steinen, riesigen, grauen, aufrecht stehenden Steinen. Und in der Mitte .. sie erschauderte. Zwei senkrecht stehende Steine mit einem querliegenden Abschlussstein.
Rasch sah sie sich nach Bajan um, aber der ritt langsam mit Noemi heran. »Phelan, der Steinkreis sieht genauso aus wie der unter der großen Halle. Und das Tor..« Sie verstummte.
Phelan riss sich von dem Anblick los und sah, dass Altheas Augen schreckgeweitet waren. »Keine Angst!« Es kam nicht sehr überzeugend aus seinem Mund. »Ob er geschützt ist?«
Althea reckte sich. »Nein, sieh doch!«
Da sah Phelan, dass Gestalten die Straße hinaufschritten, den Steinkreis umrundeten und weiter nach hinten liefen. Erst jetzt, mit einiger Verspätung, nahm Althea auch wahr, dass sie durch die Steine in der Mitte hindurchsehen konnte. Keine pulsierende Fläche wie unter der großen Halle Gildas. Sie atmete auf, löste ihren Blick von dem Steinkreis und richtete ihn auf das, was hinter dem Kreis aufragte. Eine breite, mit einer Brüstung eingefasste Brücke verband das Plateau mit einem großen, mit einer kegelförmigen Spitze versehenen Felsen, der weit in die See hinausragte.
»Das ist es. Temora.« Nun konnte Althea die Ehrfurcht der Menschen verstehen.
»Ja, das muss es sein.« Bajan war bei ihnen angelangt. Auch er war beeindruckt. Über den Felsen verteilten sich eine Vielzahl an Gebäuden, Türmchen, Treppen, Brücken .. es war ein heilloses Durcheinander.
»Sie sind aus Stein.« Althea verglich sie noch einmal mit der Siedlung. Sie hatte sich nicht getäuscht. Diese Gebäude ähnelten eher denen Gildas als denen im eigenen Lande.
»Wenn wir noch Zweifel hätten, wo die Gemeinschaft herstammt, dann wären sie jetzt wohl ausgeräumt«, sagte Bajan mehr zu sich selbst als zu den Kindern. Selbst der Baustil war ähnlich, aber viel filigraner. Im Vergleich zu diesen Gebäuden wirkten jene in Gilda geradezu klobig.
Althea spürte, dass etwas sie mit Macht dorthin zog. Sie setzte sich in Bewegung, aber nicht auf der Straße, nein, sie ritt schnurstracks auf Temora zu, querfeldein über den Hügel.
»Althea, warte!«, rief Bajan. Er wusste nicht, ob es klug war, einen anderen als den offiziellen Weg zu beschreiten. Die Ehrfurcht der Menschen vor Temora gab ihm doch sehr zu denken. Aber Althea hörte nicht. Für Noemi war es keine Frage, sie folgte ihr sofort. Gemeinsam ritten sie über den schmalen Grat der Wiese auf den Steinkreis zu.
Phelan und Bajan folgten notgedrungen. »Ich weiß nicht, ob das klug ist«, brummte Bajan besorgt.
»Mir ist auch nicht ganz wohl dabei«, erwiderte Phelan. Je näher sie Temora kamen, desto mehr steigerte sich dieses Gefühl. »Thea, warte!«, rief er. Aber sie hörte immer noch nicht. Phelan trieb seiner Stute die Hacken in die Flanken, plötzlich von dem Gefühl befallen, sie dort wegholen zu müssen. Bajan folgte ihm.
Sie hatten die beiden Mädchen fast erreicht, als Noemis Pferd plötzlich stieg. Mit einem angstvollen Wiehern bäumte es sich auf. Noemi verlor den Halt und stürzte in hohem Bogen herunter. Geistesgegenwärtig griff Althea zu, packte ihre Freundin und bewahrte sie vor Schlimmeren, verlor dabei aber selbst das Gleichgewicht. Sie kam ins Rutschen und stürzte mit Noemi im Arm zu Boden. Ihre Pferde rasten wie von einer Nadel gestochen davon.
»Thea!« Phelan und Bajan preschten heran, aber sie kamen nicht weit. Unmittelbar vor den Mädchen scheuten ihre Pferde vor etwas zurück, das Bajan alle Haare zu Berge stehen ließ. Es war, als ritten sie in eine unsichtbare Mauer. Sie konnte sich zwar auf ihren Pferden halten, aber sie nicht am Durchgehen hindern. Sie galoppierten davon, als wären alle Teufel hinter ihnen her. Erst weit oben auf der Hügelkuppe gelang es ihnen, ihre Pferde wieder unter Kontrolle zu bekommen.
»Www.. was war das?«, rief Phelan furchtsam. Er war fahl im Gesicht.
»Ich weiß es nicht, aber jetzt gibt es Ärger!« Bajan deutete auf die Siedlung, aus der eine Traube Menschen aufgeregt auf sie zu lief. Ganz vorne erblickten sie eine Reihe Gestalten in langen Gewändern. Es waren Priester.
»Oh Gott, Thea!« Phelan blickte sich hektisch nach ihr um, aber sie hatte sich bereits aufgerappelt und trat mit Noemi an der Hand auf den Steinkreis zu. Kurz entschlossen sprang Phelan von seiner Stute und rannte den Hügel hinunter. »Thea, halt! Bleib stehen!«, schrie er.
»Phelan, nicht!« Bajan packte sein Schwert und jagte ihm hinter her. Die Menschenmenge kam immer näher und wurde schneller.
Noemi traute sich nicht, sich Althea zu widersetzen, obwohl sie vor lauter Furcht am liebsten das Weite gesucht hätte. Sie waren da in etwas hineingetreten, das ihr ein unheimliches Angstgefühl verursachte, das aber nicht richtig an sie herankam. Es war, als schirmte Althea sie ab. Instinktiv klammerte sie sich an Altheas Hand. Um keinen Preis würde sie loslassen, und dann waren sie auch schon durch das unheimliche Etwas hindurch und liefen auf den Steinkreis zu.
Althea merkte sofort, dass es nicht der Steinkreis war, der sie anzog, sondern das, was dahinter lag. Der Felsen. Sie erkannte, dass der Kreis nur eine Kopie dessen in Gilda war. Es fehlten die Zeichen und Symbole und diese vibrierende Fläche in seinem Innern. Offensichtlich war er eine Erinnerung an das, was die Gemeinschaft einst verloren hatte. Ohne noch einen Blick an ihn zu verschwenden, trat sie auf die Brücke.
Ängstlich blickte Noemi sich um und sah zu ihrem Erstaunen, dass sie allein waren. Wo waren Phelan und Bajan? Sie zerrte Althea am Ärmel, aber ihre Freundin lief immer weiter über die Brücke, durch einen Torbogen und blieb erst auf einem kleinen Platz stehen, der von Gebäuden umstanden war und von dem unheimlich viele Treppen abzweigten. Mit großen Augen sah sie sich um.
»Thea!« Ein entfernter Schrei drang an ihre Ohren. Althea fuhr herum. Sie sah Phelan zu Fuß den Hügel herunterrasen, als würde er verfolgt. Weiter oben folgte Bajan, er rief etwas, aber sie verstand es nicht.
Althea setzte sich in Bewegung, aber da brach Phelan plötzlich zusammen. »Nein!« Der Schrei Bajans hallte in ihrem eigenen wider. »Phelan!« Althea erstarrte. Eine feste Hand hatte sich auf ihre Schulter gelegt, und es war, als erhielte sie einen Schlag. Noemis Hand krampfte sich um ihre. Ganz langsam drehte Althea sich herum.
Bajan schrie auf, als er Phelan zusammenbrechen sah. Er schätzte die Entfernung zu den laufenden Priestern ab. Es würde knapp werden, aber er konnte es schaffen.
Phelan mühte sich vergebens, auf die Beine zu kommen. Eine unheimliche Angst lähmte ihn bis ins Mark. Es war ganz anders als damals unter der großen Halle, wo er in tiefe Schwärze hinabgezogen und langsam erstickt worden war. Er konnte atmen und sehen und hören. Was das Ganze umso schlimmer machte, denn er sah die Priester mit wütenden Gesichtern auf ihn zueilen, dahinter eine große Schar aufgeregter Menschen. ›Oh verdammt!‹, dachte er. Sie steckten wirklich in der Klemme.
Bajan rannte, so schnell er konnte. Schon spürte er wieder diese Angst in sich hochsteigen, ignorierte sie aber. Die Sorge um Phelan war stärker. Mit aller Macht drängte er die Angst beiseite, obwohl sie ihn merkwürdig zu schwächen schien. Er wappnete sich.
»Haltet ein!« Ein sehr junger Priester war schneller als alle anderen bei ihm. Er stellte sich Bajan schwer atmend entgegen, der bereits anfing zu taumeln. In dem Augenblick eines Wimpernschlages erkannte Bajan mit seiner langjährigen Erfahrung als Soldat die einzige Möglichkeit, die ihm blieb, um zu Phelan zu gelangen. Er stürzte sich auf den völlig überraschten jungen Mann, packte seine Hand und zerrte ihn die wenigen Schritte zu Phelan hinüber. Kaum hatte er den jungen Mann berührt, war diese merkwürdige Schwäche auch schon verschwunden. Seiner Handlung folgte ein empörter Aufschrei der anderen Priester und der Menschen, die in sicherer Entfernung stehen geblieben waren.
Bajan kümmerte sich nicht darum, sondern kniete sich zu Phelan herunter. »Phelan, wach auf!«, rief er und rüttelte ihn an der Schulter.
Der Priester fasste sich sofort. Er erkannte, dass der Fremde aus Angst um den Jungen handelte. »So wird es nicht gehen. Fasst seine Hand, ich nehme die andere.«
»Bringt ihn hier raus, ich bitte Euch!« Bajan sah ihn flehend an. »Ich begebe mich in Eure Hände, aber bringt ihn hier raus!«
Der junge Priester nickte ihm beruhigend zu. »Keine Angst. Fasst mit an. Es sind nur ein paar Schritte.« Gemeinsam trugen sie den Jungen zurück.
Phelan erwachte sofort, als sie die unsichtbare Barriere hinter sich ließen. Er richtete sich keuchend auf und starrte durch den Steinkreis auf die beiden kleinen Gestalten, die allein vor einer Wand aus Menschen standen. »Thea!« Er wollte sich aufrappeln, aber Bajan hielt ihn fest.
»Nein, mein Junge. Du kannst dort nicht hin. Ganz ruhig.« Die Sicht wurde ihnen von langen Gewändern genommen. Sie wurden umzingelt. Erst jetzt fiel Bajan auf, dass er immer noch die Hand des jungen Priesters umklammert hielt. Er ließ sie los. »Ich danke Euch.« Er neigte den Kopf.
»Erhebt Euch«, sagte der junge Priester ernst. Bajan sah ihn sprachlos an. Sie hatten die ganze Zeit Gildaisch gesprochen.
Althea starrte in die wütenden Augen eines alten Mannes. »Was hat das zu bedeuten? Wie seid ihr hier hereingekommen? Sprecht!« Der ganze Hof war plötzlich voller Menschen in langen Gewändern, die sie in einem Halbkreis umzingelt hatten. Althea sah in teils erstaunte, teils empörte Gesichter. Furcht erregend sahen sie aus, weil sie so viele Tätowierungen hatten. Noemi neben ihr zitterte am ganzen Leib. Mit einer ruckartigen Bewegung schüttelte Althea die Hand des Mannes ab und wich einen Schritt zurück. Sie zog Noemi dicht an sich.
»Sprich, Junge, wie bist du hier hereingekommen?«, rief eine ältere Frau links von ihr.
»Ww..wo ist Meister Anwyll?«, war alles, was Althea herausbrachte. Sie konnte ihn in der Menge der Priester nicht entdecken.
»Hört ihn euch an!«, flüsterte eine Frau erstaunt. »Ja, die Sprache..« Es kam aus allen Richtungen.
»Woher kennst du Meister Anwyll?«, fragte der Priester vor ihr höchst verwundert.
Doch Althea hörte seine Frage nicht mehr. Sie hatte etwas gespürt, als sie ihren Blick durch die Menge schweifen ließ. Sie konzentrierte sich und zuckte gleich darauf zusammen, als hätte sie einen Schlag erhalten. Sie starrte in die fast schwarzen Augen eines jungen Mannes mit einer für diese Gegend ungewöhnlich dunklen Haut, der schräg rechts von ihr stand. An ihm spürte sie eine wohlbekannte Kälte. Nein, das durfte nicht wahr sein! Rasch wandte Althea den Blick ab, damit er sie nicht entdeckte, doch der junge Mann runzelte bereits die Stirn. Althea spürte, wie sich Noemi neben ihr verkrampfte. Auch sie hatte ihr Erschrecken bemerkt. Langsam wichen die beiden Kinder zurück.
»Hat es dir die Sprache verschlagen?« Altheas Blick kehrte zu dem Priester vor ihr zurück. Sie drückte Noemis Hand, warf einen Blick hinter sich, aber auch vor dem Steinkreis war eine große Menschenmenge. Der Priester schien zu ahnen, dass sie vor ihm davonlaufen wollte. Seine Miene wurde etwas freundlicher. Er streckte die Hand aus. »Keine Angst..«
Althea riss ihre Hand nach oben, sodass Noemi sie sehen konnte. ›Lauf!‹ Sie hatte nur einen freien Treppenaufgang zur Verfügung.
Die beiden Mädchen waren derart schnell darin verschwunden, dass die Priester erst mit Verzögerung begriffen, dass sie fort waren. »Bleibt stehen!«
Althea rannte mit Noemi bereits um die vierte oder fünfte Ecke herum, als sie hinter sich die Geräusche laufender Füße vernahm. Instinktiv rannte sie immer weiter den Berg hinauf, nahm jede Abzweigung, nur fort von den vielen Priestern. In Panik sah sie sich nach einem sicheren Versteck um. Wenn sie sie nur nicht fänden! Doch ihr war klar, dass dies etwas anderes war als die Festung Gildas. Sie kannte sich nicht aus. Ganz sicher würde man sie finden, es sei denn .. sie riss den Kopf in den Nacken und blieb so unvermittelt auf einer schmalen Brücke zu einer anderen Ebene stehen, dass Noemi auf sie prallte. Über ihr war nackter Fels, schroff, kantig und nicht bebaut. Und er hatte viele Vorsprünge. Das war ihre einzige Gelegenheit, wenigstens für eine kurze Zeit in Sicherheit zu sein. Sie brauchte Zeit zu überlegen, was sie jetzt tun sollte.
Energisch bedeutete sie Noemi, den Felsen hinaufzuklettern, und folgte ihr. Sie mussten sich beeilen, die Rufe hinter ihnen wurden immer lauter. Zu ihrem Glück fanden sie nur wenig über der Brücke einen breiten Felsvorsprung, der sie gegen die Blicke von unten schützte. Ängstlich pressten sich die beiden Mädchen an den Fels. Althea wandte vorsichtig den Kopf in alle Richtungen, ob man sie hier von irgendeiner anderen Ebene des Berges aus sehen konnte. Nein, solange sie flach liegen blieben, waren sie vor Blicken geschützt.
Kaum hatte sich ihr Atem etwas beruhigt, hörten sie auch schon unter sich Leute vorbeilaufen. »Sie müssen hier irgendwo sein. Sucht weiter ..!« Als sie fort waren, stieß Althea den unwillkürlich angehaltenen Atem aus. Beruhigend strich sie Noemi über den Rücken, bis diese aufhörte zu zittern. Ihr selbst war elend zumute. Wo war sie nur hineingeraten? Auch hier war ein Diener des Bösen, ein Maskierter. Hatte er sie gespürt? Althea wagte sich diese Möglichkeit nicht auszumalen. Und wo waren Phelan und Fürst Bajan? Hatte man sie gefangen genommen?
Lange wagten sie sich nicht zu rühren. Erst als es dunkel wurde, kehrte Ruhe in Temora ein. Sie hörten die Priester darüber sprechen, eine Wache auf der Brücke aufzustellen, damit sie nicht entkamen. Dann wurde es ruhig.
›Oh Vater, und du denkst, ich bin hier in Sicherheit!‹ Althea spürte, wie ihr die Tränen hochkamen. Mit aller Macht drängte sie diese zurück. Sie hob vorsichtig den Kopf und wagte nun zum ersten Mal einen Blick nach unten. Die Brücke war unbeleuchtet, aber sie konnte im schwachen Licht des aufgehenden Mondes gut die Gebäude der unter ihr liegenden Ebenen erkennen. Sie konnte in die Fenster sehen, die zum Glück dunkel waren, und erkannte, dass man sie von dort aus entdecken konnte.
›Wir müssen höher hinauf‹, bedeutete sie Noemi. So leise sie konnten, kletterten sie höher, bis sie die Spitze des Kegels erreicht hatten. Althea kletterte behände hinauf und fand zu ihrer Überraschung keinen nackten Fels, sondern eine Plattform mit einer Balustrade vor. Es war eine Sternenwarte.
Sie hielt einen Moment inne. Wieder spürte sie dieses merkwürdige Ziehen, aber es schien diesmal von unten zu kommen. Was war das nur? Aufmerksam sah sie sich auf der Sternenwarte um. Auf der anderen Seite wand sich eine Treppe in die Tiefe. Sie endete an einer kleinen Brücke, die hinüberführte in das mittlere Stockwerk eines Turmes. Althea fuhr zurück. Das oberste Fenster lag etwas unterhalb von ihnen. Jeder, der den Kopf hob, konnte sie sehen. Aber sie beruhigte sich sogleich. Das Fenster war dunkel. Trotzdem kauerte sie sich zusammen, als sie Noemi über die Balustrade half und einen genaueren Blick nach unten warf.
Der Turm war nicht das einzige Gebäude. Diese Seite des Felsens war genauso dicht bebaut wie die andere, aber mit einem Unterschied: Es gab hier Gärten. Sie liefen die Hänge entlang, Althea erinnerten sie an den Gärten der Heilerinnen. Sie stieß Noemi an und deutete darauf. Ihre Freundin beugte sich fasziniert vor. Das alles wurde eingerahmt von der schimmernden Fläche des nächtlichen Meeres. Hier hörten sie deutlich das Rauschen der Brandung. Es war eine seltsam friedliche Stimmung, die sie den erlebten Schrecken für einen Moment vergessen ließ. Doch es währte nicht lange.
Althea zuckte zusammen, als sie von weiter unten Schritte vernahm und das Licht einer Laterne den Berg hinaufkommen sah. Sie duckten sich. Althea kroch vor bis an die Stufen, von wo aus sie bis zum Fuß des Turmes sehen konnte. Eine Gestalt, es war wohl ein Mann, kam mit einem Korb in der Hand den Berg hinauf und öffnete die Tür zum Turm. Althea erstarrte. Wollte er etwa hier hinauf? Sie wagte nicht, sich zu rühren. Das Licht kroch im Turm hinauf, jetzt sah sie, dass an den Seiten schmale Schlitze eingelassen waren. Er näherte sich der Tür an der Brücke .. und stieg weiter hinauf. Althea atmete auf und verlagerte ihre Haltung etwas, denn es blieb nur noch ein Raum übrig, wo der Mann hinkonnte. Gleich darauf erschien Licht in dem Fenster unter ihr. Althea lehnte sich weiter vor, um etwas zu erkennen. Sie sah einen Tisch am Fenster, Regale, gefüllt mit allerlei Schriftrollen und Instrumenten, einen gepolsterten Stuhl und eine Schlafstätte .. Althea packte Noemis Hand und zog sie vor. Dort lag eine weishaarige Gestalt.
›Das ist Meister Anwyll!‹, zeigte sie aufgeregt.
Die Laterne wurde auf den Tisch am Fenster gestellt. Jetzt war er deutlich zu sehen. Althea erschrak, denn sie erkannte ihn kaum wieder. Die Wangen waren einfallen, das Gesicht glich eher einer Totenmaske als dem eines lebendigen Mannes. Er war krank, todkrank!
Althea erschrak noch mehr, als sie sah, wer dort zu ihm trat. Es war der junge Mann, an dem sie die Kälte gespürt hatte. Er beugte sich über Anwyll, hob prüfend die Lider an und nickte. Dann stellte er den Korb auf den Tisch, entnahm ihm eine Schale, aus der es dampfte. Er öffnete die schmale Tasche, die er am Gürtel seines Gewandes trug, und holte ein kleines Fläschchen hervor. Althea hielt die Luft an, als sie beobachtete, wie er ein weißes Pulver in die Schale abmaß. Sie wusste im selben Augenblick, worum es sich handelte und was gleich folgen würde.
›Halt mich fest!‹, wies sie Noemi an.
Doch noch passierte nichts, denn Anwyll wurde erst einmal gefüttert. Es tat Althea in der Seele weh zu sehen, wie der alte Mann Löffel für Löffel eingeflößt bekam. Er wehrte sich nicht. Dann stellte der junge Mann die Schale fort und hob die Hände. Althea wappnete sich und spürte Noemis festen Griff um ihre Schultern.
Die Kälte traf sie wie ein Schock. Noch nie zuvor war sie so dicht dabei gewesen, selbst bei Alia hatte sie immer noch eine dicke Schicht aus Mauerwerk dazwischen gehabt. Doch diesmal trennte sie nur eine kurze Strecke Luft von dem Schrecken. Sie musste alle Kraft aufwenden, um nicht zu schreien. Sie merkte nicht mehr, wie sie gegen Noemi sank und sich die Lippen vor Schmerz blutig biss. Ihr ganzes Sein war bei dem Unbekannten und dem, was er Anwyll antat. Doch diesmal war etwas anders. Althea spürte, dass er dem alten Mann Schmerzen zufügte, dass er ihn brechen wollte, aber es gab eine Barriere, gegen die er immer wieder anrannte, die er aber nicht durchbrechen konnte. In all dem Schmerz kam Althea die Erkenntnis, dass Anwyll zähen Widerstand leistete.
Es war schneller vorbei, als sie vermutet hatte. Dieser hier war offensichtlich nicht so stark wie der Diener in Gilda. Trotzdem lag Althea hinterher keuchend in Noemis Armen. Nur undeutlich hörte sie weiter unten eine Tür klappen. Als sie sich soweit wieder gefangen hatte, dass sie sich aufrichten konnte, lag der Turm im Dunkeln.
Sie zitterte immer noch, als sie sich langsam die Treppe hinunterbewegte, mit weichen Knien und Noemi dicht hinter sich. Es war keine Frage, sie musste etwas tun. Die Tür zum Turm war nicht verschlossen, ja, es gab nicht einmal ein Schloss. Althea tastete sich die schmale Stiege hoch. Als sie die Tür zur oberen Turmkammer aufstieß, hörte sie sofort Anwylls rasselnden Atem. Sie wartete nicht darauf, dass Noemi die Tür hinter ihr schloss, sondern stürzte zu ihm.
Sich innerlich gegen den Anblick wappnend, der gleich über sie kommen würde, legte sie ihm die Hände an die Schläfen und holte ihr Licht. Doch es kam nur eine Winzigkeit Kälte auf sie zu und kein Geistergesicht. Anscheinend hatte sich Anwyll sehr wirkungsvoll dagegen geschützt. Sie spürte lediglich, dass der Körper betäubt war bis in die letzte Faser. Das konnte sie heilen, und zwar im Handumdrehen. Die Frage war, ob sie Anwyll aus seiner selbst errichteten Festung herausholen konnte. Sie konzentrierte sich, Noemis beruhigende Gegenwart hinter sich.
Althea drängte die Droge zurück, es ging leicht, überraschend leicht. Sie spürte ein paar schwarze Stellen in dem alten Mann auf, die sie gleich mit eliminierte, bevor diese ernsthaften Schaden anrichten konnten. Die Gelenke waren auch nicht mehr die Besten, das erkannte sie aus Erfahrung mit der ehrwürdigen Mutter.
Als sie dies alles bereinigt hatte, wandte sie sich seinem Geist zu. Sofort stieß sie auf eine harte Barriere. Sie verstärkte ihr Licht, aber es war wirkungslos gegen dieses Bollwerk. Sie versuchte es sanft, klopfte quasi an die Tür, und als dies nichts half, in immer heftigeren Stößen. Es gab keine Reaktion. Und doch spürte sie, dass dort jemand war, ein wacher, gesunder Geist, der nur nicht wusste, wer dort draußen an ihm rüttelte.
Erschöpft zog sich Althea ein wenig zurück. Wenn es ihr nicht gelang, ihn aufzuwecken, dann war alles aus. Dieser alte Mann, Lehrer und Vertrauter ihres Vaters, war der Einzige, der ihr helfen konnte. Sie spürte, wie die Verzweiflung zu einem übermächtigen Druck wurde, gegen den sie nicht mehr ankam. Sie begann zu weinen, körperlich wie auch im Geiste. Das Licht verblasste, als sich die Angst und der Schmerz Bahn brachen. Schluchzend brach sie auf Anwyll zusammen.
Noemi umarmte sie von hinten, strich ihr beruhigend über den Rücken, aber Althea war nicht zu beruhigen. Schließlich wurde Noemi klar, dass sie Althea hier herausbringen musste, bevor der Mann zurückkam. Sie stand auf und wollte Althea unter die Achseln fassen, als plötzlich wie aus dem Nichts eine weiße Hand über ihrer Freundin erschien.
Erschrocken stolperte Noemi rückwärts. Die Hand legte sich auf Altheas kurze Locken und strich tröstend darüber. Althea fuhr hoch. Im schwachen Lichtschein des Mondes sah sie, dass Anwyll die Augen aufgeschlagen hatte und sie anlächelte.
»Mir war, als bräuchte da jemand meine Hilfe.« Seine Stimme krächzte. Althea war so erleichtert, dass sie ihm einfach um den Hals fiel.
Auch Noemi hatte sich wieder gefangen. Sie reichte Althea rasch einen Becher Wasser, den sie dem alten Mann an die Lippen setzte. Als er ausgetrunken hatte, tastete er nach Altheas Gesicht. »Wer bist du?« Die rauen Finger fuhren die Konturen ihres Gesichts nach und blieben auf ihrer aufgeplatzten Lippe liegen.
»Ich bin Althea.«
»Althea?!?« Anwyll fuhr auf. »Mach Licht, Mädchen! Kerzen sind im Regal neben dem Fenster.« Althea packte Noemis Hände und bedeutete ihr, wo sie diese finden konnte. Gleich darauf sah sie in die weisen, gütigen Augen des alten Meisters.
Althea berichtete ihm nicht viel, nur dass ihr Vater gefangen worden war, sie gezwungen waren zu fliehen und Fürst Bajan sie hierher gebracht hatte. Aber sie erzählte nichts von ihren Träumen, nichts von ihrem Licht, denn sie wollte sich unter allen Umständen an ihren Schwur halten. Die Verhaftung ihres Vaters traf Anwyll sehr. Als er von den Umständen ihrer Flucht hörte, wurde er ernstlich besorgt. Aber vollends war es um ihn geschehen, als Althea ihm berichtete, wen sie bei ihm gesehen hatte. »Er sah aus wie ein Gildaer, hatte schwarze Augen und dunkle Haut.«
»Pelin!« Anwyll ballte seine knochige Hand zur Faust. Die Gemeinschaft war in ernsthafter Gefahr, er spürte es deutlich, und das alles nur, weil er sich hatte überlisten lassen. Es gab noch so viele Fragen, besonders zu Althea, aber nun galt es erst einmal zu handeln. Er würde dem ein Ende bereiten.
Gestützt auf die beiden Mädchen und seinen allgegenwärtigen Zeremonienstab machte sich Anwyll eine halbe Ewigkeit später, so schien es jedenfalls Althea, auf den Weg nach unten. Sie hatten den alten Mann auf die Beine gebracht. Körperlich war er zwar schwach, aber durchaus in der Lage, sich zu bewegen.
Anwyll bebte geradezu vor unterdrücktem Zorn. Es war ein einfaches Fieber gewesen, was ihn im Frühjahr ans Bett gefesselt hatte. Niemals hätte er damit gerechnet, dass der junge Priester, der seine Pflege übernahm, ein Abgesandter des Bösen war. Erst im allerletzten Moment war es ihm gelungen, seinen Geist vor der Bedrohung zu schützen. Und wie man sah, ging es seinem Körper nicht schlecht, stellte er erstaunt fest, während er sich auf zittrigen Beinen nach unten mühte. Es musste an den Nachwirkungen der langen Betäubung liegen, dass er keine Schmerzen in den Gelenken hatte.
›Welche Wunder doch die Stimme eines Kindes haben kann‹, dachte Anwyll und drückte Althea an sich. Ihr Weinen hatte ihn aus seinem selbst gewählten Gefängnis herausgeholt. Ganz langsam machten sie sich auf den Weg zur großen Halle der Gemeinschaft, in der hoffentlich noch alle Mitglieder zum Nachtmahl versammelt waren.
Sie blieben vor dem imposanten Portal eines großen Gebäudes stehen. »Althea, du wirst mich zu demjenigen führen, den du heute Abend bei mir gesehen hast. Hab keine Angst, niemand wird dir etwas tun, solange ich bei dir bin«, wies er sie an.
Althea nickte. Sie konnte durch die Tür das Gesumm vieler Stimmen hören. Anwyll holte tief Luft. »Nun denn, mach das Tor auf. Gib acht, die Flügel sind schwer. Wir benutzen es eigentlich nicht, aber ich denke, für diese Gelegenheit ist es das Wirkungsvollste.« Er zwinkerte ihr beruhigend zu und zog Noemi dicht an sich, damit er sich gänzlich auf sie stützen konnte.
Der Torflügel war wirklich schwer. Althea musste sich mit aller Kraft dagegenstemmen, um ihn aufzubekommen. Mit heimlicher Genugtuung hörte Anwyll ein lautes Knarren. Wie passend! Dicht hinter Althea trat er in die große Halle.
Alle Geräusche verstummten, als sie eintraten. Die Köpfe der Menschen wandten sich in ihre Richtung, sie erstarrten mitten in ihrer Bewegung. Althea presste sich an Anwyll, der sich auf sie stützte und ihr beruhigend die Schulter drückte. Es waren viele, so viele, war ihr erster Eindruck. Die Halle war ein lang gestreckter Bau, der ganz hinten über ein paar Stufen zu einem weiteren Tor führte. Zwei Reihen Tische erstreckten sich über die ganze Länge des Raumes, und hinten, quer oberhalb der Stufen stehend, war ebenfalls eine Tafel gedeckt. Der Platz in der Mitte war leer. Anwylls Platz, erkannte Althea sogleich.
Die Sitzordnung schien der Bedeutung der Mitglieder zu entsprechen. Ganz vorne, direkt vor ihnen, gab es eine ganze Reihe leerer Plätze. Dahinter saßen Kinder in ihrem Alter. Links die Mädchen, rechts die Jungen. Sie wirkten verschreckt. Ihnen folgten weitere, ältere Kinder und Jugendliche, bis irgendwann weiter vorne die langen Gewänder und tätowierten Gesichter begannen.
In der Stille der Halle hätte man eine Nadel fallen hören können. Tatsächlich glitt irgendjemandem etwas aus der Hand. Es klirrte. Eine Frau schrie auf. Dann brach die Hölle los. Die Priester sprangen auf, eine Bank fiel um, sie wollten zu Anwyll stürzen, aber dieser hieb mit einem lauten Knall seinen Stab auf den Boden. Wieder erstarrten die Menschen.
Althea spürte, wie der alte Mann sich straffte. »Lange war ich in der Dunkelheit gefangen.«
Sie zuckte zusammen. Seine Stimme klang mit einem Mal mächtig, irgendwie anders, und er fühlte sich auch anders an. Sie sah zu ihm auf und sah in seinen Augen ein gefährliches Glitzern. Gut so, dachte Althea, sollen sie ruhig zittern.
»Nichts konnte mich daraus befreien. Nichts wurde unternommen, um es zu verhindern. Es wäre mein Tod gewesen, hätte nicht, ja, hätte mich nicht der Hilferuf eines Kindes erreicht.« Er sah auf Althea herab. Sie begegnete seinem Blick fest. »Zeig ihn mir!«
Althea setzte sich in Bewegung. Sie schritt vor Anwyll, der ihr auf Noemi gestützt folgte, die Mittelreihe zwischen den Tischen ab. Alle Blicke der Anwesenden ignorierend, suchte sie die Menge nach dem einen Gesicht ab. Sie fand ihn erstaunlich weit vorne für sein Alter. Sie blieb vor ihm stehen und sah zu dem alten Mann zurück, bis er heran war.
»Das ist er?«, fragte Anwyll mit gefährlich ruhiger Stimme. Althea nickte. »Nun, Pelin, schmeckt dir deine Suppe?« Der junge Mann kroch merklich in sich zusammen.
»Anwyll, was hat das zu bedeuten?«, rief eine ältere, grauhaarige Frau von der hohen Tafel.
»Das wirst du gleich sehen, Aislinn«, sagte er grimmig. »Wo hat er es versteckt?«
Althea machte einen Schritt auf den Mann zu und zeigte auf die schmale Tasche an seinem Gürtel. Er zuckte zurück. »Nun, dort ist also die Medizin, die du mir seit geraumer Zeit verabreichst. Öffne die Tasche!«, donnerte Anwyll.
Der junge Mann zögerte. Da griff Althea selbst zu, sorgfältig jede direkte Berührung mit ihm vermeidend. Sie förderte vier kleine Fläschchen mit einer weißen Substanz zutage. Der Blick des jungen Mannes bohrte sich in sie, aber sie hielt ihm ohne Weiteres stand.
Sie öffnete eines der Fläschchen und hielt es Anwyll unter die Nase. »Ah!« Er zog nur einmal prüfend die Luft ein und wusste sofort, was es war. Er trat an den Tisch und zog Pelins Schale zu sich heran. Ganz langsam ließ er die weißen Kristalle hineinrinnen, damit es auch jeder sah. Althea reichte ihm das zweite Fläschchen und dann das dritte und das vierte. In diesem ließ er einen Rest übrig.
Anwyll bedeutete Althea und Noemi, ihn zu stützen. Mit beiden Händen nahm er die Schale. Die gesamte Halle hielt die Luft an. »Knie nieder! Jetzt wirst du die Suppe auslöffeln, die du mir Tag für Tag eingeflößt hast!« Dem jungen Mann knickten die Beine ein. Fassungslos – so schien es jedenfalls den Anwesenden, Althea jedoch spürte seinen brennenden Blick auf Anwyll gerichtet – sank er auf die Knie. Kein Laut des Protestes drang über seine Lippen, als der alte Mann ihm die Schale an die Lippen setzen wollte.
»Aber Anwyll, selbst die beste Medizin kann überdosiert zum Tode führen!«, protestierte die als Aislinn angesprochene Frau und kam rasch von dem Podest herunter.
»Auch diese Medizin, die allgemein unter dem Namen Mor bekannt ist?« Anwyll nahm den Blick nicht von seinem Gegner.
Die Frau erstarrte. »Mor?!« Ungläubiges Gemurmel brach aus. Die Priesterin trat zu ihnen, griff das vierte Fläschchen und schnupperte daran. Sie wurde bleich. »Bei den Göttern..« Sie sah ihn entsetzt an.
Anwyll ignorierte es und setzte Pelin die Schale an die Lippen. »Und nun trink!«
Die Frau trat mit wütend blitzenden Augen hinter den knienden jungen Mann. »Ja, trink, du Verräter!« Sie versetzte Pelin einen Stoß in den Rücken. Gebannt hielten die Menschen den Atem an, als der junge Priester in großen Zügen die Schale leerte.
Anwyll ließ sie fallen, als er fertig war. Sie zerschlug mit einem lauten Knall auf dem Boden. Er packte Pelin am Kinn und bog seinen Kopf in den Nacken. »Du wirst es nicht wieder ausspucken!« Er presste dem jungen Mann den Kiefer zusammen, als dieser zu würgen begann. Plötzlich krümmte sich Pelin zusammen, kippte rückwärts zu Boden und begann zu schreien. Die Menschen um sie herum wichen unwillkürlich zurück, als sich der junge Mann mit Schaum vor dem Mund auf dem Boden zu winden begann.
Meister Anwyll spürte, wie Noemi zitterte, und wollte die beiden Mädchen von diesem Anblick wegdrehen, aber Althea machte sich von ihm los und trat sogar noch einen Schritt auf den Sterbenden zu. Mit einer Mischung aus Abscheu und Wut sah sie zu, wie die Zuckungen des jungen Mannes immer schwächer wurden. Kein Mitleid empfand sie, dachte sie doch daran, dass ihr Vater sich einst genauso auf dem Boden gewunden hatte, vergiftet wie er.
Schließlich lag er ruhig. Die Frau beugte sich zu ihm herunter und tastete nach seinem Herzschlag. »Er ist tot.«
Ein Stöhnen ging durch die Halle, unterbrochen von Entsetzensschreien und leisen Schluchzern. Doch Althea hörte es nicht. Sie nahm zum ersten Mal die Frau wirklich wahr, die sich langsam wieder aufrichtete. Wie gebannt starrte sie die Priesterin an. Diese Augen waren ihr seltsam vertraut, selbst das wütende Blitzen erkannte sie! Unwillkürlich streckte sie die Hand aus, ließ sie aber rasch wieder sinken.
Sie spürte Meister Anwylls feste Hand auf ihrer Schulter. »Kommt mit«, sagte er ruhig und ließ den Toten liegen.
Er stieg die Stufen zur hohen Tafel hinauf und forderte den Rat mit dröhnender Stimme auf, ihm zu folgen. Sie schritten durch das angrenzende Tor, hinter der sich ein Raum mit einem großen, runden Tisch befand. Hätte sie nicht alle Hände voll zu tun gehabt, den alten Mann zu stützen, Althea wäre offenen Mundes stehen geblieben. Die Wände und Decken, ja selbst der Tisch waren über und über mit fremdartigen, in den Fels gemeißelten Symbolen bedeckt.
Das Tor fiel mit einem lauten Krachen hinter ihnen zu. Sie spürte, dass viele Menschen hinter ihr waren, hatte aber keine Zeit, sich darüber zu sorgen. Anwyll begann zu taumeln, die Mädchen konnten ihn nicht mehr halten.
»Helft uns, schnell!«, schrie Althea auf, als er zusammensackte. Gleich darauf griffen mehrere Hände zu und nahmen den Mädchen ihre Last ab. Althea zog Noemi an sich und sah zu, dass sie schleunigst von den großen Gestalten in den langen Gewändern wegkam. Am liebsten wäre sie wieder davongelaufen, aber die Sorge um ihren Beschützer war stärker. Er wurde zu einem hohen Lehnstuhl gebracht. Die Frau, Aislinn, versorgte ihn mit Wasser und wollte ihm den Becher an die Lippen setzten, aber Anwyll winkte ab. Er trank selbst. »Es geht schon wieder, hab Dank.« Schwer atmend setzte er den Becher ab.
Althea war bis an die Wand zurückgewichen, aber niemand beachtete sie. Alle Mitglieder des Rates scharten sich um ihren Anführer. »Anwyll, was hat das zu bedeuten?«, fragte ein Mann im selben Alter wie er. Althea erkannte ihn wieder, es war der Priester, der sie im Hof befragt hatte.
»Ich weiß es nicht, Mihal. Aber es gibt jemanden, der uns das beantworten kann. Wo sind ..?« Er sah sich um und entdeckte die beiden Mädchen an der Wand. »Kommt her!« Er streckte die Hand aus. »Habt keine Angst.«
Die Priester wichen ein wenig zurück und machten eine Gasse für sie frei. Althea zögerte. Ihr Instinkt rang mit dem Vertrauen, das sie Anwyll entgegen brachte. »Wo ist Fürst Bajan?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
Anwyll richtete sich auf. »Das ist eine berechtigte Frage. Er wird einiges zur Aufklärung beitragen können. Mihal, wo ist er?«
Die Ratsmitglieder tauschten ernste Blicke. »Wenn du den Gildaer und den anderen Jungen meinst, nun, sie sind fort«, antwortete Mihal.
Althea erschrak. »Fort?« Sie trat unwillkürlich näher.
»Ja, warum ist er fort?«, fragte Anwyll.
Mihals Miene wurde finster. »Er hat einen unverzeihlichen Frevel begangen. Er hat einen unserer Brüder dazu benutzt, um in Temora einzudringen. Sicherlich, es geschah aus Sorge um den Jungen, aber dennoch .. Anwyll, du weißt, wie die Strafe dafür normalerweise aussieht. Da er jedoch völlig ahnungslos darüber schien, was er hier vorfinden würde, haben wir davon abgesehen. Er hat um freies Geleit nach Saran gebeten. Das haben wir ihm gewährt, aber trotzdem haben wir einen Bann über ihn verhängt. Er hat Temora noch vor Sonnenuntergang verlassen.«
Althea stand wie erstarrt. »Nein .. nein, das kann nicht sein!«, schrie sie auf. Mit erhobenen Fäusten stürzte sie sich auf den Priester. »Warum habt Ihr das getan?!? Holt ihn sofort zurück!« Der Mann war überrascht, aber er reagierte schnell. Er packte ihre Hände und drehte sie auf den Rücken. Althea brach in Schluchzen aus, wehrte sich aber nicht mehr.
»Junger Mann, es reicht!« Aislinn packte ihr Kinn und ruckte es nach oben. Sie war erbost.
»Lass das Mädchen los, Aislinn!«, befahl Anwyll leise.
Mit einem Ausruf des Erstaunens wurde Althea losgelassen. »Ein Mädchen?« Althea schlang zitternd die Arme um sich.
Anwyll nahm ihre Hand und sah zu der Priesterin auf. »Ja, Aislinn, ein Mädchen. Darf ich dir deine Enkeltochter Althea vorstellen? Althea, dies ist deine Großmutter.«
Altheas Kopf fuhr hoch. Voller Angst blickte sie in die Augen, die denen ihres Vaters vollkommen glichen. »Gg..Großmutter?« Plötzlich begann sich alles um sie zu drehen. Ein Rauschen erfüllte ihre Ohren, und um sie herum wurde es schwarz.
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