Читать книгу Trägerin des Lichts - Verzeihen - Lydie Man - Страница 8
Оглавление»Lebhafter Kerl, nicht wahr?« Jorid traf ihren Bruder an der Pferdewiese, wo er Joridas Nachwuchs beim Toben zusah. Aus dem staksigen Füllen war ein übermütiger Zweieinhalbjähriger geworden.
»Ist er schon richtig eingeritten?«
»Ich gebe mein Bestes, aber er ist noch sehr wild.« Jorid legte ihren Kopf schräg und sah ihren Bruder an. »Warum? Willst du ihn?«
Jeldrik verzog seinen Mund zu einem schiefen Grinsen. »Tjaaa.. Jerika wird langsam zu alt für derart lange Reisen, und da ist noch das Rennen auf dem Einheitsfest.. er ist noch sehr jung, aber vielleicht..«
»Nur zu.« Sie rief nach dem jungen Hengst, und er kam sofort herbeigetrabt, die Ohren aufmerksam auf sie gerichtet.
»Darauf jedenfalls hört er.«
Jorid lachte. »Ja, aber nur, weil er genau weiß, dass ich etwas für ihn habe.. he, du kleiner Räuber, nicht schon wieder das Band abknabbern. Hier, nimm lieber dies.« Sie zog eine Möhre aus ihrem Beutel und fütterte ihn.
Jeldrik kletterte unterdessen durch den Zaun. Sofort tänzelte das Jungtier nervös zurück. »Ah, ah, nicht so.« Mit festem Griff zog er ihn an seinem Halfter herunter.
Jeldrik war ein guter und vor allem starker Reiter, aber auch er hatte mit dem übermütigen jungen Hengst seine Mühe. Nicht nur einmal landete er unter Jorids schallendem Gelächter im nassen Gras der Wiese. Nach einem besonders schmerzhaften Abwurf trabte das Jungtier mit hocherhobenem Schweif eine Runde um die Koppel, als wolle es ihn verspotten.
»Hast du noch eine Möhre?« Jeldrik rappelte sich fluchend auf.
Jorid lachte noch mehr. »Schon gut, hier ist noch eine.« Sie warf sie Jeldrik zu.
Hinter sich hörte sie ein leises Auflachen, und als sie sich umdrehte, lehnte Althea hinter ihr an einem Baum. »Thea..« Sie musterte ihre Freundin rasch. »Besser siehst du aus. Hast du dich mit Noemi wieder vertragen?«
Althea ging nicht auf ihre Frage ein. Sie trat zu ihr an den Weidezaun. Jeldrik unternahm bereits einen weiteren Versuch. Er hatte mit keiner Regung gezeigt, dass er sie hatte kommen sehen. Und doch wusste sie, dass er sie bemerkt hatte. »So wird das nichts«, erkannte sie sofort. »Jeder will dem anderen imponieren und seinen Dickschädel durchsetzen.« Sie bückte sich und stieg durch den Zaun.
»Das kommt mir doch sehr bekannt vor«, spöttelte Jorid.
Als ihr vierbeiniger Freund Althea entdeckte, machte er eine überraschende Kehrtwende, buckelte hart, und Jeldrik flog einmal mehr ins Gras. Er fluchte laut und noch mehr, als er den Unhold lammfromm bei Althea stehen sah.
Sie strich dem jungen Hengst liebevoll über die Blesse und lehnte ihre Stirn gegen ihn. »Was machst du denn für Sachen, hm? Er möchte dein Freund sein.«
Das Tier schnaubte leise und ließ ein wenig den Kopf hängen. ›Fast sollte man meinen, er hat ein schlechtes Gewissen‹, dachte Jeldrik und rappelte sich auf.
»Jeldrik, komm her. Ich glaube, er wird dich mögen.« Althea hatte die Hand nach ihm ausgestreckt.
»Na gut, wenn du meinst..« Etwas zögerlich tat er es. Das Tier stand vollkommen ruhig. Althea nahm seine Hand und legte sie auf die Kruppe. Geduldig stand der junge Hengst still. »Schließe Freundschaft mit ihm, dann wird er alles für dich tun.«
»Wenn du das sagst..« Er bedachte sie mit einem spöttischen Lächeln, begann aber, ihn zu kraulen.
Althea trat zurück. »Das habe ich von dir gelernt, schon vergessen? Du hast es mir einst beigebracht.«
»Das..« Jeldrik war verblüfft. »Das weißt du noch?!« Er klopfte und kraulte den Hengst und schob ihn dann zurück. »Nein, ich habe nicht mehr für dich, Kleiner. Aber morgen versuchen wir es noch einmal. Was tust du eigentlich hier? Wolltest du nach Bajan sehen?«, fragte er in seiner gewohnten Art. Er betrachtete sie forschend. Jorid hatte recht, besser sah sie aus, sogar erheblich besser als gestern. Die Schatten in ihrem Gesicht waren fort.
»Das habe ich schon. Es geht ihm besser, sodass wir bald..« Sie biss sich auf die Zunge, und da war er wieder, der Schatten. Aber nur kurz, dann hatte sie sich wieder im Griff. »Ich muss wieder zurück«, wich sie aus. »Noemi hat gestern dank Phelans Hilfe so viel geschafft, dass ich wohl noch zweimal herkommen muss, um Verna alles zu bringen.«
»Soll ich dir helfen?« Jeldrik schickte seinen neuen Freund mit einem Klaps zum Grasen.
»Wolltest du denn nicht mit den anderen an dem Lagerhaus weiterbauen?« Sie gingen zu Jorid zurück. Der junge Hengst folgte ihnen in der Hoffnung auf noch mehr Leckerbissen.
»Das würde mich auch interessieren«, rief Jorid ihnen entgegen.
»Wir waren so schnell, dass Mahin das Holz ausgegangen ist. Er hat schon einen Boten losgeschickt, um Neues zu holen«, sagte Jeldrik und kletterte durch den Zaun. Er hielt Althea die Hand hin, um ihr zu helfen.
Diese jedoch war abrupt stehen geblieben. »Ach verdammt. Na, dann beeile ich mich besser.« Sie ignorierte Jeldriks helfende Hand, kletterte rasch durch den Zaun und nahm ihre Kiepe auf.
Jeldrik sah ihr kopfschüttelnd hinterher. Nein, eine vornehme gildaische Prinzessin würde sie niemals darstellen können. »Halt, warte. Warum willst du dich so beeilen?«
Althea schob die Kiepe auf ihrem Rücken zurecht. »Weil ich den beiden, die das Holz vermutlich bringen werden, nicht begegnen möchte.«
»Ach?« Jeldrik kam hinter ihr her. »Dann komme ich wirklich besser mit und helfe dir.«
Althea wechselte einen Blick mit Jorid. Die lächelte nur und kraulte ihren lebhaften Freund und sagte nichts. »Na gut, dann komm halt mit.« Sie sah Jorid belustigt zwinkern und rollte mit den Augen. »Wo hast du denn Phelan gelassen?«, fragte sie Jeldrik.
»Oh, der hat sich in Bryns Schmiede vergraben.«
Althea schnaubte. Statt den Tag mit ihr und Noemi verbringen zu wollen, machte er so etwas? »Ich finde, da kann er auch erst einmal bleiben«, sagte sie verstimmt.
Jeldrik las ihr jeden Gedanken vom Gesicht ab. »Das meine ich auch.«
Also wollte er mit ihr allein sein, dachte sie, während sie beide ihre Pferde holten. Althea wusste nicht so recht, ob sie sich darüber freuen oder vielmehr beunruhigt sein sollte. Ihr Gefühl sagte ihr eher Letzteres. Was hatte er vor? Ein weiteres Verhör?
Fast sah es danach aus. Kaum waren sie aus der Siedlung heraus, begann er schon wieder zu fragen. »Was hat es denn mit der Lieferung auf sich? Wem möchtest du nicht begegnen?«
»Mahin kauft sein Holz bei einem bestimmten Bergclan. Ich bin mit den Söhnen des Clansführers aneinandergeraten, und sie sind es meistens, die das Holz hierher bringen.« Sie zögerte. Jeldrik lief schweigend neben ihr her und wartete, dass sie weitersprach. ›Ach, was soll’s‹, dachte Althea und berichtete ihm in ihrer schönsten Erzählweise von ihren Begegnungen mit Taisto und seinem Bruder.
Bald lachte Jeldrik schallend über ihre Versuche, Taisto loszuwerden. »Das hätte meine Schwester nicht besser gekonnt.«
›Wenn du wüsstest, was deiner Schwester wirklich widerfahren ist‹, lag ihr auf der Zunge, doch sie beherrschte sich. »Pst, nicht so laut! Die Straße ist nicht weit«, mahnte sie. »Ich finde das gar nicht so komisch. Mit seiner Fragerei bringt Taisto mich in Gefahr. Das konnte ich zum Glück unterbinden. Und dann stellte sich heraus, dass sein Bruder von einem Diener angefallen worden war.«
Da verging Jeldrik das Lachen. Mit finsterer Miene hörte er zu, finster, weil er wieder den Eindruck hatte, dass sie ihm etwas verschwieg. Es wurmte ihn, gestand er sich ein, und zum ersten Mal wünschte er sich, er würde ihr Vertrauen besitzen wie Phelan. Das überraschte ihn, denn diesen Wunsch hatte er bei anderen, insbesondere bei seiner Schwester, nicht.
»Hier beginnt der Bannwald.« Althea war vor einem dichten Gebüsch stehen geblieben.
»Genau hier?«, fragte er und zog die Augenbrauen hoch.
Althea musste lachen. »Ja, genau hier. Pass auf.« Sie griff in das Gebüsch und löste zu Jeldriks Erstaunen ein Seil. Das Gebüsch, das sich als getarnte Tür herausstellte, schwang zur Seite und gab einen deutlich erkennbaren Pfad frei. »Am besten springst du mit einem großen Satz hinüber, dass man von außen keine Spuren sehen kann«, erklärte sie und zeigte ihm, was sie meinte. Nur wenige Momente später war die Wand wieder so unberührt wie vorher. »Großvater hat uns dies geschaffen, damit wir mit den Pferden im Bannwald verschwinden können, ohne Spuren zu hinterlassen.«
»Da hat sich der alte Seeräuber einiges einfallen lassen«, sagte Jeldrik beeindruckt. »Warum ist dies ein Bannwald?«
»Die Temorer haben ihn gezogen. Hier drin gibt es etwas sehr Gefährliches, etwas, das nur begabte Menschen spüren können. Da du es nicht bist, bleib immer in meiner Nähe, dann geschieht dir nichts.«
»Und was das ist, möchtest du mir wieder einmal nicht verraten?«, neckte er sie und folgte ihr auf dem schmalen Pfad durch den Wald.
Althea sagte über die Schulter: »Doch, warum nicht? Phelan hat dir bereits davon erzählt. Du weißt um den Todesring auf der Insel der Jäger?«
Jeldriks eben noch belustigte Miene wurde sofort ernst. »Dort sind viele unserer Leute umgekommen. Warum.. du willst doch nicht etwa sagen, dass..«
»Genau das.« Althea blieb stehen und drehte sich zu ihm um. »Es gibt in diesem Bannwald einen Todesring. Bleib also bei mir«, riet sie ihm eindringlich.
»Gut, wenn du das sagst«, nickte er.
Sie setzten ihren Weg fort. »Die Temorer möchten nicht, dass jemand unwissentlich dort hineingerät. Chaya und uns bietet dieser Wald ein ideales Versteck. Niemand wird sich in die Nähe unserer Hütte wagen, selbst auf dem Einheitsfest nicht. Und falls es jemand wissentlich versucht, haben wir das hier.. und den dort!« Althea lachte auf.
Ein schwarzer Schatten schoss wie aus dem Nichts auf sie zu und stürzte sich knurrend auf Jeldrik. Der jedoch brauchte nicht lange, um Freundschaft mit dem Ungetüm zu schließen. »Du bist wirklich ein guter Beschützer. Oh, runter mit dir! Mein Gesicht ist nicht zum Fressen da!«, lachte er.
»Es ist gut, Großer, lass ihn!«, befahl Althea. Sie zeigte Jeldrik den Weg durch die Hecke.
Dahinter blieb er erst einmal stehen und versuchte, einen Eindruck von dem zu gewinnen, was sich ihm dort bot. Eine kleine, friedliche Lichtung tat sich vor ihm auf. Ein Garten mit vielen, üppig bepflanzten Hochbeeten. Heilkräuter und Gemüse überall. Die Hütte und die Verschläge dahinter wirkten jedoch ärmlich, bessere Bretterverschläge in seinen Augen. Solche Hütten hatten in Saran die Clanlosen, die gezwungen waren, sich dicht an der Hochwasserlinie des Hafens niederzulassen. Was Althea ja war, zumindest nach Ansicht der Menschen hier. Eine Clanlose aus freien Stücken, wie sie wohl sofort betont hätte. Jeldrik folgte ihr langsam bis zur Hütte. Dort erwartete ihn eine erneute Überraschung. Die gemütliche, in manchen Augen sogar wertvolle Einrichtung strafte der äußerlichen Ärmlichkeit Lügen. Sie mussten mit dem Seifenhandel wirklich eine Menge verdienen.
Genauso freudig wie von dem Großen wurde er von Noemi empfangen, nur dass sie ihm nicht die Hände reichte. »Sie kocht gerade, ihre Hände kleben«, übersetzte Althea Noemis entschuldigendes Händeringen.
Jeldrik warf Althea einen kurzen, ziemlich durchdringenden Blick zu. Sie hatte Umhang und Kopftuch abgelegt und trug stattdessen nur noch ein weites Hemd und einen einfachen Zopf. Die roten Haare, an die er sich noch so gut erinnerte, waren nur schulterlang, ebenso wie seine und nicht wie bei vielen anderen Mädchen, die sie sich meistens bis über die Hüften wachsen ließen. »Kochen?«, fragte er irritiert.
Noemi lächelte in sich hinein und lud ihn mit einer Handbewegung ein, ihr zu folgen. Der Duft, der hier über allem lag, war Jeldrik schon aufgefallen, und als sie Noemis Anbau betraten, wurde er geradezu betäubend. Neugierig ließ er sich von Noemi diese merkwürdige Apparatur mit dem spitz zulaufenden Deckel und dem langen Rohr daran erklären, unter der ein kräftiges Feuer brannte. Althea übersetzte ihm, was Noemi sagte.
»Ich glaube, so etwas Ähnliches habe ich schon einmal gesehen. Man kann damit scharfen Met brennen.« Er beugte sich interessiert darüber.
Noemi freute sich über sein Interesse, doch schon bald scheuchte sie die beiden wieder hinaus. ›Ihr steht mir im Weg herum. Kannst du die restliche Seife verpacken und gleich mitnehmen, Thea?‹
»Oh je, das wird etwas dauern«, sagte Althea nebenan mit einem Blick auf den neuen Berg frischer Seifenstücke auf ihrem Tisch. Man sah nicht einmal, dass sie bereits eine Lieferung fortgebracht hatte. »Daran ist nur Phelan schuld, er hat ihr zu viel geholfen. Willst du so lange warten?«
»Ich kann dir dabei helfen«, bot er in der Hoffnung an, dass sie ihre Unterhaltung genauso zwanglos fortsetzten wie auf dem Weg hierher.
Althea warf einen zweifelnden Blick auf seine großen Hände, dann auf die feinen bestickten Säckchen. »Du kannst es ja versuchen.. wasche dich vorher, ja?« Er tat wie geheißen. Sie entzündete eine Lampe, damit sie genügend Licht hatten.
Recht behielt sie mit ihren Zweifeln. Die feine Arbeit beanspruchte bald Jeldriks ganze Aufmerksamkeit. Seine Hände waren einfach zu groß und es vor allem nicht gewohnt, solcherart Arbeit auszuführen. »Ach verflucht!«, knurrte er, als sich ein Band verhedderte, und warf ihr einen erbosten Blick zu, weil ihre Augen erheitert blitzten.
»Ich glaube, das lässt du lieber«, sagte sie grinsend. »Gib es mir, ich sehe, was ich noch retten kann. Möchtest du etwas essen oder trinken?« Sie wartete keine Antwort ab, sondern stellte ihm und sich selbst etwas hin. Derart versorgt, war er wieder versöhnt und konnte sich ganz auf sie konzentrieren und sie in aller Ruhe beobachten. Sie plauderten, einfach so, nichts Ernstes, über das Leben hier und in Saran und auf der Insel.
Althea verstand nicht, warum es in Saran niemanden mehr gab, der sich auf die Kunst des Heilens verstand. »Ich hätte mir doch zumindest etwas von den Temorern abgeschaut«, bemerkte sie.
Jeldrik war gerade dabei, sich seine Pfeife zu stopfen. »Wir haben uns wohl zu sehr auf die Temorer verlassen. Als sie fortblieben, war es zu spät, und das rächt sich nun. Die Frauen greifen seitdem auf die Überlieferungen ihrer Mütter und Großmütter zurück. Vieles davon ist ziemlich gefährlich. Sylja könnte dir Dutzende nennen, die nach solchen Behandlungen gestorben sind.« Er schlug mit einer heftigen Bewegung Schlagstein und Feuerring aufeinander, dass die Funken zu allen Seiten stoben. Althea beugte sich rasch vor und zog die Säckchen beiseite, bevor sie Schaden nahmen. Dabei rutschten die Ärmel ihres Hemdes nach oben, und er konnte zum ersten Mal ihre Hände und Unterarme von Nahem sehen.
Jeldrik vergaß, den Zunder anzublasen. Altheas Hände waren eher klein, kräftig und sehr geschickt, das hatte er schon vorher bemerkt. Aber diese Narben auf ihrem Handrücken und ihren Unterarmen.. es war ein richtig feines Gespinst, wie Spinnweben. Wieder etwas, das sie geschickt unter ihrem weiten, fast überlangen Umhang verborgen hatte. Nur zu gerne hätte er sie danach gefragt.
Rasch zog sie ihre Hände zurück und nahm sich ein neues Säckchen vor. »Machen sie das den Temorern zum Vorwurf?«, fragte sie, den Blick auf ihre Arbeit gesenkt. Unter diesem starrenden Blick war ihr gar nicht wohl.
»Ja, dass sie sich zurückgezogen haben, vor allem aber, dass sie ihr Wissen für sich behalten.« Aufmerksam betrachtete er ihren gesenkten Kopf, das schmale, längliche Gesicht. Sah er da nicht auch ein paar blasse Striemen an ihrem Halsansatz? Was war ihr nur geschehen? Ein grausiger Verdacht stieg in ihm auf. Er dachte zurück an den Moment, als Phelan den Brief von ihrer Rückkehr gelesen hatte. Wie aufgelöst er danach gewesen war! Und hatte er nicht die ganze Zeit diese Albträume gehabt davon, dass sie in Gefahr war? Hatte man sie gefangen und gequält? Sein nächster Versuch, die Pfeife zu entzünden, ging fehl. Er stieß einen Fluch aus.
Althea sah verwundert auf. Jeldrik lutschte an einer Schramme herum, die ihm der Feuerring verpasst hatte. »Soll ich..?«
»Nein, schon gut«, wehrte er ab.
Althea wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. »Noemi und ich denken auch, dass es nicht richtig ist, dieses Wissen für sich zu behalten. Wir haben dasselbe getan wie du und Jorid, wir haben begonnen, unser Wissen aufzuschreiben. Es ist ein richtiges Buch daraus geworden.«
»Ein Buch?«, fragte Jeldrik. »Es ist Ewigkeiten her, dass ich in einem richtigen Buch gelesen habe.«
Sie hielt inne. »Möchtest du es einmal sehen?«
Jeldrik nickte. Seine Erwartungen waren nicht allzu hoch – was sollten sie schon geschaffen haben außer ein paar Rezepten – doch womit sie dann zu ihm kam, ließ ihn Mund und Augen aufsperren, wie der kleine Junge, der damals durch Gilda gelaufen war.
»Sei vorsichtig, bei den vielen Seiten halten die Klemmen nicht mehr richtig.«
Es war wirklich ein Buch, ein dickes Bündel Pergamentseiten, fein säuberlich zwischen zwei Holzlatten gebunden. Allein die Zeichnung zuoberst ließ Jeldrik beinahe ehrfürchtig zögern, es zu nehmen. »Hast du das gemalt?«, fragte er beeindruckt.
»Ja, alle Zeichnungen stammen von mir. Nimm es ruhig, es ist zum Lesen da, nicht zum Anstarren.«
Jeldrik lachte verblüfft und fasste behutsam zu, als könne es ihm unter den Fingern zerfallen. Dabei berührten sie sich ganz kurz an den Fingerspitzen. Althea zog so rasch ihre Hände zurück, dass das Buch fast zwischen ihnen herunterfiel. »Vorsicht!« Er rettete es gerade noch und legte es behutsam vor sich auf den Tisch. Mit einer Hand zog er die Lampe zu sich heran. »Kannst du noch genug sehen?«
»Ja, es wird schon gehen«, sagte Althea. Selbst wenn sie etwas anderes gesagt hätte, er hätte es wohl nicht mehr gehört. Sie setzte sich verwirrt zurück auf ihren Stuhl und rieb die Hände aneinander, froh darum, dass seine Aufmerksamkeit derart gefesselt war. Als sie sich berührt hatten, war es wie bei einem Priester gewesen. Sie hatte einen Schlag erhalten. Wie konnte das sein? Er war doch unbegabt und trug schon gar keinen Armreif!
»Ihr solltet das binden lassen..«
»Wie?«, fuhr sie aus ihren Überlegungen, peinlich berührt, dass sie das so aus der Fassung gebracht hatte. »Was meintest du?«
»Binden, zu einem richtigen Buch mit Ledereinband«, erwiderte Jeldrik abwesend. Er blätterte Seite um Seite um.
»Wer sollte es binden können außer die Temorer? Die würden es gleich behalten, es schmälert ihre Macht.«
»Hmm, da könntest du.. ah, das hast du geschrieben, nicht wahr, und dies hier Noemi?«
Althea war erleichtert, dass er nichts von ihrer Verwirrung bemerkt hatte. Das hätte unweigerlich wieder Fragen nach sich gezogen. »Ja, sieht man das?«
»Hmm.. woher hast du nur die Farben?«
Althea lächelte in sich hinein. So scheinbar abwesend hatte ihr Vater auch manchmal gefragt und doch manches behalten, was sie ihm sagte. »Aus unserem Garten und aus dem Wald. Blau aus Waid, Gilbkraut für Gelb und Disteln für Rot. Ruß für Schwarz und Wallnusshülsen für Braun.«
»Hmm«, kam es nur von ihm, und dann war er stumm, für Stunden. Sie konnte sich kaum auf ihre Arbeit konzentrieren, so sehr weckte dieser Anblick Erinnerungen in ihr. Es war wirklich wie bei ihrem Vater, nur dass Jeldrik noch einen Ausdruck uneingeschränkter Freude in den Augen hatte, der bei ihrem Vater nicht dort gewesen war. Vielleicht, weil dieser sein Leben lang von Büchern umgeben gewesen und daran gewöhnt war.
Wie schon einst bei Noemi und dem kleinen Wächter juckte es sie in den Fingern, diesen Moment festzuhalten. Denn er war kostbar. Etwas sagte ihr, dass er sich so normalerweise niemandem zeigte. Ehe sie es sich versah, hatte sie sich ein leeres Blatt Pergament gegriffen und ihren Kohlestift gezückt und zeichnete.
Er merkte es nicht, sah nicht einmal auf, als sie sich bewegte. Noemi kam herein, brachte ihr neue Seife, schaute verwundert und ging lächelnd wieder. Althea genoss die Stille, die ihre Gedanken in Bewegung brachte. Sie wandten sich schnell jemand anderem zu, der ihr sehr viel näher stand als Jeldrik. Warum war Phelan fortgeblieben? Hatten sie ihn verärgert? Enttäuscht? Das musste sie herausfinden, und diesmal würde Noemi mitkommen. Es ging nicht an, dass sie ihre kostbare gemeinsame Zeit mit solch nichtigen Zwistigkeiten, die eigentlich keine waren, vergeudeten. Sie sehnten sich beide nach Phelans Gesellschaft, musste sie sich eingestehen, sie war bisher schmerzlich zu kurz gekommen.
Erst nach langer Zeit sah Jeldrik wieder auf. Er bemerkte zu seiner Verwunderung, dass die tief stehende Abendsonne ihre langen Strahlen in den Raum hineinwarf. So lange hatte er gelesen? Althea saß ihm gegenüber und hatte die letzten Säckchen in Arbeit. Sie sah bei seiner Bewegung auf. Er lächelte etwas verschämt: »Ich glaube, ich habe die Zeit vergessen.«
Sie erwiderte sein Lächeln. »So, wie mein Vater. Wenn er erstmal in ein Buch vergraben war, konnte man direkt vor seiner Nase die dümmsten Dinge anstellen, und er merkte es nicht einmal.« Ihr Lächeln wurde traurig, als sie daran dachte.
»Er wird bestimmt am Leben sein«, sagte er, bemüht, etwas Tröstliches zu sagen.
Althea nickte und stand auf. »Ich weiß, dass er noch lebt. Ich schaue mal nach, ob Noemi schon fertig ist.« Erst jetzt bemerkte sie, dass sie die Zeichnung auf dem Tisch hatte liegen lassen. Sie wollte nicht, dass er sah, wozu sie sich hatte hinreißen lassen. Es war ihr merkwürdig peinlich, so, als wäre sie in etwas zutiefst Persönliches eingedrungen. Sie griff danach und wollte sie fortlegen, doch er hatte sie schon bemerkt.
»Was hast du da gezeichnet?« fragte er.
»Nichts.« Das kam zu schnell und weckte erst recht seine Neugier.
»Zeig es mir. Bitte«, fügte er schnell hinzu und versuchte, danach zu greifen.
»Ach nein.. das ist nichts..« Sie wich ihm verlegen aus, war aber nicht schnell genug. Einen Augenblick später hatte er ihr das Blatt aus den Händen gerissen. »He! Gib es her..«
»Nein!« Jeldrik machten einen Satz rückwärts und lachte, aber das verging ihm, als er die Zeichnung erblickte. Er musste hart schlucken. Das war er selbst. Sie zeigte ihn, wie er sich noch nie gesehen hatte. Es war eine Seitenansicht, die unverletzte Seite seines Gesichtes, aber das war es nicht nur. Er erkannte sofort, dass er nur dann so aussah, wenn er sich ganz allein und unbeobachtet wähnte. ›Auf frischer Tat ertappt, Junge‹, dachte er und wusste nicht, ob er darüber lachen oder ihr böse sein sollte.
»Tut mir leid«, sagte Althea zerknirscht und meinte es auch so.
»Macht nichts«, sagte er betont beiläufig und gestattete es sich, die Zeichnung genauer zu betrachten. Es war faszinierend. Man konnte förmlich spüren, wie er selbstvergessen und gebannt durch die Seiten strich, dachte er mit einem leichten Schaudern. So sollte ihn nie jemand sehen. »Du hast eine Art zu Zeichnen, die das Innerste von einem nach außen kehrt«, sagte er mit einem unwirschen Schulterzucken und gab ihr die Zeichnung zurück.
Althea wusste nicht, was sie davon halten sollte. »Hätte ich dich von der anderen Seite gezeichnet, dann hätte es fast genauso ausgesehen«, bemerkte sie, während sie eine umgeknickte Ecke sorgfältig wieder zurechtbog und die Zeichnung dann zu den anderen legte.
Sie hörte, wie Jeldrik fast lautlos schnaubte, und wandte den Kopf. »Doch, es ist so.« Sie entdeckte einen Ausdruck von Ungeduld und, täuschte sie sich, sogar Enttäuschung in seinem Gesicht. Das wollte er offenbar nicht hören und dachte, sie versuche, ihm zu schmeicheln. Sie konnte es jetzt so deutlich in seinen Augen lesen wie die Buchstaben in dem Buch. Es machte sie wütend, dass er so etwas von ihr dachte.
»Nein, das tue ich ganz gewiss nicht«, sagte sie heftig. Sie sah, wie er unmerklich zusammenzuckte. Sofort wurden seine Gesichtszüge hart wie Stein, die Narben traten deutlich hervor. Sie nickte, als bekäme sie etwas bestätigt. »Sieh mal, wenn du so ein Gesicht machst wie jetzt, dann willst du doch, dass die Menschen nur deine schreckliche Seite sehen. Es soll sie abstoßen, ist es nicht so? Es dient dir als Abwehr, damit niemand sich traut, dahinter zu schauen.«
Damit hatte sie so ins Schwarze getroffen, dass es Jeldrik fast von den Füßen riss. Sie hatte da an etwas gerührt, woran er lieber nicht denken mochte. Zum ersten Mal bekam er eine Ahnung davon, wie es wirklich um sie bestellt war, wie tief sie in die Menschen dringen konnte. Er hielt ihrem offenen Blick zwar stand, musste sich aber mit aller Macht beherrschen, um nicht sein Erschrecken zu zeigen und ihr auszuweichen.
»Tut mir leid«, sagte sie leise, wandte den Blick ab und begann, die Seife in ihre Kiepen zu packen. Warum konnte sie es nicht lassen?, haderte sie mit sich. Jetzt hatte sie ihn abgeschreckt, gar böse vor den Kopf gestoßen, das spürte sie. Sie hörte ein Geräusch hinter sich, und als sie wieder in seine Richtung blickte, war er fort.
»Gut gemacht, Thea!«, schimpfte sie leise. Mit der neuen Freundschaft, die sich in den vergangenen Tagen zwischen ihnen angebahnt hatte, war es wohl erstmal vorbei. Sie hatte sich verleiten lassen, erkannte sie, von dem Wissen, das Phelan ihr anvertraut hatte. Sie war mit Jeldrik vertrauter als er mit ihr. Natürlich war er das nicht, wie sollte er auch?
Sie würde sich bei ihm entschuldigen müssen, und das schnell. Entschlossen schulterte sie die erste volle Kiepe und verließ die Hütte. Einen Schritt vor der Tür hielt sie jedoch gleich wieder inne. Sie war in eine Rauchwolke getreten. Althea wandte den Kopf und fand Jeldrik auf der Bank neben der Tür vor.
»Bist du immer so.. geradeheraus?«, fragte er, den Rauch ausstoßend.
Sie verbarg ihre Erleichterung hinter einem Lächeln. »Nein, nicht mehr«, sagte sie, ließ die Kiepe von ihren Schultern gleiten und setzte sich zu ihm. »Nur noch bei Leuten, die ich sehr gut kenne. Es tut mir leid. Durch Phelans Briefe weiß ich halt sehr viel über dich. Es ist so, als kenne ich dich ebenso gut wie er. Du mich aber nicht.«
»Und wieder rundheraus«, brummte er und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Althea sagte nichts, sondern blickte lächelnd auf ihre Hände herab. »Dann sollten wir zusehen, dass sich daran schnellstens etwas ändert, Althea Thoraldsfalan, meinst du nicht?«, sagte er gedehnt und nahm langsam einen tiefen Zug aus seiner Pfeife.
Althea sah überrascht auf. Mit einem solchen Friedensangebot hatte sie nicht gerechnet. »Das gilt für uns alle, auch für Phelan und Noemi.«
»Warum gehen wir dann nicht alle zusammen zurück, holen Phelan aus der Schmiede und verbringen den Abend miteinander?«
»Ein ausgesprochen guter Einfall, Jeldrik Roarsfalir«, neckte sie ihn, und sie lachten.
Noemi sträubte sich erst etwas, aber nur solange, bis Jeldrik sie bat mitzukommen. Das konnte sie ihm nicht abschlagen, und so machten sie sich sogar mit drei schwerbepackten Pferden auf den Weg. Über diese Menge staunte selbst Jeldrik. »Ist es denn nicht langsam genug?«
»Ja, wir sind fast fertig«, übersetzte Althea Noemis Handzeichen.
»Du musst mir ganz schnell deine Sprache beibringen«, sagte Jeldrik, »damit Thea nicht immer für mich übersetzen muss.«
Noemi lächelte. ›In Gildaisch oder Temorisch?‹
»Du kannst zwei Sprachen?« Noemi nickte. Da lachte Jeldrik, und er zwinkerte: »Ich sehe schon, es gibt viel..« Noemi hob plötzlich den Kopf und blieb stehen. Jeldrik fuhr herum.
Althea hatte die Hand gehoben. »Pst!«, zischte sie und legte den Kopf schräg, als würde sie lauschen. Sie hatte recht. Durch den Wald schallte das Rattern eines Fuhrwerkes. ›Oh nein, nicht jetzt‹, dachte sie. Der Tag war so schön gewesen, und nun sollte sie sich ihn durch Taisto verderben lassen? »Wir gehen einen Umweg!«, flüsterte sie den anderen zu und prüfte sofort den Sitz ihrer Kapuze.
Auf dem Weg um die Siedlung herum behielten sie die Straße genau im Auge. Und tatsächlich: Der Karren fuhr auf direktem Wege zu dem halb fertigen Lagerhaus. Dort wurden die beiden Brüder von Mahins und ausgerechnet auch von Jeldriks Leuten in Empfang genommen.
»Jeldrik!«, zischte Althea und deutete in ihre Richtung. »Kannst du deine Leute unauffällig von dort wegholen, damit sie nichts ausplaudern? Wie ich Taisto kenne, hat der nichts Besseres zu tun, als nach mir zu fragen.«
»Oh, verflucht..«
»Beeile dich, bevor es zu spät ist«, drängte Althea.
Jeldrik drückte ihr den Haltestrick von Jerika in die Hand und lief mit weit ausgreifenden Schritten davon. Er hatte schon einen guten Einfall, wie er die anderen von dort fortholen könnte, auch wenn Althea das ganz gewiss nicht gefallen würde.
Rasch versteckten die Mädchen die Pferde in Bryns Stall. Bajan war wach, als sie hastig die Tür hinter sich schlossen. »Ist etwas geschehen?«, fragte er sofort.
Die Ethenierin war wie üblich aufgesprungen und hatte sich sofort entfernt, als die Mädchen erschienen. ›Sie hat Angst vor mir‹, dachte Althea traurig. Wann sie das wohl endlich ablegen würde? »Ja, Fürst. Da draußen sind zwei angekommen, die nach Thea, der Heilerin forschen. Ich habe Jeldrik gebeten, seine Leute unauffällig von dort fortzuholen.«
»Ah, ich verstehe.« Bajan setzte sich auf. »Denkst du nicht, dass es Zeit ist, dich vorzustellen?« Ihre Stirn umwölkte sich.
›Thea, er hat recht‹, zeigte Noemi.
»Wenn es Euch gut genug geht, Fürst, dann werde ich..«
»Oh, dafür geht es mir längst schon gut genug«, lächelte Bajan.
Althea zögerte immer noch. »Ich glaube, ich hole Phelan«, wich sie aus. Der Fürst sah ihr schmunzelnd hinterher. Daran hatte sich also in all den Jahren nichts geändert.
»Phelan!« Althea riss die Tür zur Schmiede auf.
»Was.. oh, du bist es. Ist etwas passiert? Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?« Phelans Kopf tauchte hinter der Esse auf.
Althea musste lachen. Er war über und über mit Ruß bedeckt. »Dasselbe könnte ich dich fragen. Warum vergräbst du dich den ganzen Tag hier?«
»Wir haben etwas ausprobiert, Mädchen.« Bryn kam aus einer dunklen Ecke der Schmiede. Er hielt einen schmalen, länglich gebogenen Gegenstand in einer Zange. »Sieh mal, so in etwa?«
»Ja, das ist schon viel besser. Ist es denn stabil genug?«
»Bald«, brummte der Schmied und trat den Blasebalg an der Esse. Fauchend stoben die Funken in die Luft. Er tat das merkwürdige Ding in die Glut.
»Was soll das werden?«, fragte Althea neugierig.
»Eine Überraschung für Noemi.« Phelan grinste von einem dreckstarrenden Ohr zum anderen.
»Für Noemi?« Althea verschränkte die Arme. ›Phelan, Phelan, was hast du vor?‹, dachte sie.
Er wurde unter ihrem Blick sofort verlegen, und täuschte sie sich, auch etwas rot unter seiner rußverschmierten Haut? »Ähm, ich habe das Gefühl, mich bei ihr entschuldigen zu müssen. Weiß auch nicht, warum.«
»Dann sieh zu, dass du sauber wirst, denn ich habe sie mitgebracht. Sie ist bei Fürst Bajan.« Phelans Zusammenzucken entging ihr nicht. Konnte es sein, dass er gehörig ins Nachdenken gekommen war? Sie hoffte es um Noemis willen.
Er griff sich die Zange und zog den Gegenstand aus dem Feuer. »Sieh mal.« Er hielt es ihr hin.
»Wofür ist das denn!?« Von Nahem betrachtet sah es aus wie ein überlanger, sehr schmaler, verunglückter Löffel.
»Für Noemis Kessel. Sie beklagte sich, dass sie nicht alle Windungen richtig sauber bekommt. Damit wird es leichter. Unser Koch auf der Insel hatte sich auch so etwas gebaut.«
Althea war so verblüfft, dass sie einen Moment ihre Vorbehalte vergaß. »Das.. Phelan, das ist genial!« Sie nahm ihm die Zange ab und drehte den Gegenstand im schwachen Licht der Schmiede. »Wir hassen es beide, den Kessel sauber zu machen, weil man sich immer so schmutzig dabei macht. Damit kommt man bis in die hintersten Windungen. Noemi wird sich gewiss sehr darüber freuen.«
»Das hoffe ich«, sagte er mit einem leichten, sehr zufrieden wirkenden Lächeln.
Althea wusste weniger denn je, was sie von seinen Beweggründen halten sollte. Doch nun wurde ihr ein anderes, drängenderes Problem bewusst. »Taisto und sein Bruder sind gerade gekommen. Kannst du Jeldrik helfen, seine Leute von ihnen fortzuholen, bevor sie auf dumme Gedanken kommen?«
»Was.. ja, sofort! Wenn es dafür nicht schon zu spät ist.« Er riss die Tür auf, wollte hinauslaufen und hielt mitten in der Bewegung inne.
Althea fluchte lautlos. Jeldrik war mit den anderen auf direktem Wege zu ihnen. »Oh nein, was hat er vor?« Sie warf Phelan einen verzweifelten Blick zu, und er nickte.
»Tja, Mädchen«, Bryn nahm ihr die Zange ab, bevor ihr der Löffel herausrutschte, »ich denke, du solltest dich zu Bajan begeben.«
»Nun mach doch nicht so ein finsteres Gesicht, Thea!«, sagte Phelan sehr viel später leichthin. Sie hatten ein Feuer auf den Klippen entzündet und es sich zwischen windgeschützten Felsen gemütlich gemacht, Jorid, Jeldrik, Noemi und sie beide. Noemi drehte immer noch mit blassem, verschlossenem Gesicht Phelans Geschenk in den Händen. Echte Freude darüber vermochte sie nicht zu zeigen. Phelan überspielte seine Unsicherheit darüber, indem er Althea neckte.
»Du hast gut Lachen, dich haben sie ja auch nicht so angestarrt.«
»Ich fand ihren Gesichtsausdruck ausgesprochen erheiternd«, sagte Jorid, und ihr Bruder brummte: »Ja, als ob sie einem Geist begegnet wären.« Althea schnaubte.
»Ach Thea, sei doch nicht böse. Es war gewiss ein guter Einfall von Bajan, nicht nur dich, sondern auch Phelan und Jeldrik überwachen zu lassen«, tröstete Jorid.
Althea sah stumm auf das Meer hinaus. Wäre Phelan nicht so damit beschäftigt gewesen herauszufinden, was mit Noemi war, dann hätte er die Bedrücktheit hinter ihrem Zorn wohl bemerkt. Welch Verachtung war ihr entgegengeschlagen! ›Bastardmädchen!‹ Natürlich dachte man das auch in Nitrea von ihr, aber man war ihr in den allermeisten Fällen mit etwas herablassender Freundlichkeit begegnet und hatte sie akzeptiert. Ganz anders der Pulk junger Männer, der aufgekratzt mit Jeldrik in die Hütte gekommen war. Noemi war gleich geflüchtet, ganz ähnlich wie die Ethenierin vor ihr. Wären Phelan und Jeldrik nicht dazwischengegangen, dann hätten die jungen Saraner sie selbst von Bajan fortgezerrt und hinausgeworfen oder gar Schlimmeres.
»Wie können sie nur!« Althea fehlten die Worte dafür. Sie sah Jorid an. »Jetzt erst verstehe ich wirklich, warum ihr beide, Rana und du, aus Saran fortgegangen seid. Sind alle Saraner so? So.. voller Abneigung, handeln, ohne vorher nachzudenken?«
Jeldrik öffnete den Mund zum Protest, er wurde jedoch von Phelan unterbrochen, der nun endlich hellhörig ob ihres bitteren Tones geworden war. »Die meisten, Thea, aber nicht alle. Vergiss nicht, dass es in Gilda ebensolche Leute gibt.«
»Aber sie schlagen deswegen nicht gleich zu!«, rief Althea aus.
»Na, na, soweit ist es ja nicht gekommen«, wandte Jeldrik ein, doch er wusste selbst, wie seine Leute sein konnten.
»Nein, aber es hätte nicht viel gefehlt. Ich glaube, Saran ist kein Ort, wo ich leben könnte. Eure Regeln und Gesetze sind in mancher Hinsicht viel schärfer als in Morann. Dort ist kein Fremder..«
»Du urteilst über uns, obwohl du noch nie dort gewesen bist?«, unterbrach Jeldrik scharf.
»Was ich bis jetzt selbst und aus Phelans Briefen erfahren habe, reicht mir!«, fauchte Althea. »Kein Wunder, dass Großvater und seine Männer so geworden sind. Ihr lasst ihnen ja keine andere Wahl!« Sie sprang auf und verließ wutentbrannt den Lichtkreis des Feuers.
Noemi wollte sofort hinter ihr her. »Nein, lass sie sich erst einmal beruhigen.« Jeldrik hielt sie zurück. Die Übrigen musterten ihn erstaunt. Offenbar hatte er endlich mit Althea Freundschaft geschlossen, ja, er schien sie sogar sehr gut einschätzen zu können. Was war heute Nachmittag geschehen?
Althea hockte, die angezogenen Knie fest umschlungen, ein Stück weiter entfernt auf den Klippen. Sie seufzte leise, als sie hinter sich Schritte vernahm.
»Thea..« Phelan ließ sich neben sie fallen und drückte sie an sich. »Nimm es doch nicht so schwer. Sie werden sich schon an dich gewöhnen.«
»Ich weiß, ich bin wohl etwas aufgewühlt gewesen, verzeiht mir.«
»Hmm«, Jeldrik setzte sich auf ihre andere Seite, »du solltest dich nicht vor ihnen verstecken, sondern ihnen hocherhobenen Hauptes begegnen. Schließlich bist du Phelans Cousine, Regnars und Aislinns Enkeltochter. Du hast es gar nicht nötig, dich zu ducken.«
»Ich werde mich ganz gewiss nicht ducken!«, erwiderte sie heftig.
»Und dich nicht verstecken?«, fragte Jeldrik seltsam lauernd. »Denke daran, was du bist, darauf kommt es bei den Saranern an.«
Das sagte er so merkwürdig, dass Althea alarmiert den Kopf wandte. »Wie meinst du das? Wie kommst du dazu..?«
Jeldrik erlaubte sich ein leichtes Lächeln hinter seiner Pfeife. »Du magst von uns Saranern halten, was du willst, aber dumm sind wir ganz gewiss nicht.« Sie war kurz davor, wieder aufzuspringen, und spürte, wie Phelans Griff um ihre Schulter stärker wurde. Jeldrik fuhr fort, sie genau im Auge behaltend: »Wir brachten Bajan hierher, da war er dem Tode nahe, er hatte das böseste Lungenfieber, das man sich vorstellen kann. Heute, ganze drei Tage später, hat er nicht einmal mehr einen leichten Husten. Bist du noch gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass sie dich sehr schnell mit Bajans Genesung in Verbindung gebracht haben und du ihnen Furcht einjagst? Schließlich waren sie den ganzen Tag mit Mahins Leuten zusammen und haben einiges aufgeschnappt.«
Sie merkte, wie Phelan lautlos lachte, und schluckte. »Ja, ja, unser Jeldrik ist ein schlaues Kerlchen«, gluckste er.
Sie war sich Jeldriks Blick wohl bewusst. Seine Augen waren zwar nur schemenhaft im Glimmen der Pfeife zu erkennen, aber das genügte völlig. »Niemand soll vor mir Angst haben. Niemand außer meiner Großmutter!«
Das war so gut wie ein Eingeständnis. »Deshalb solltest du ihnen offen begegnen, damit sie sich an dich gewöhnen.« Jeldrik zögerte unmerklich. Eine Frage lag ihm auf der Zunge, Phelan und Althea merkten es beide.
»Gib es zu, du platzt fast vor Neugierde«, grinste Phelan ihn über Altheas Schulter hinweg an.
Jeldrik lachte auf hinter seiner Pfeife. »Natürlich. Wie hast du das fertiggebracht?«
Sie lauschte in ihr Innerstes, fragte gleichsam um Rat. Zögerte sie? Nein, nicht direkt, es war nur.. ganz anders bei ihm als bei allen anderen. Ihnen hatte sie sich freudig geöffnet. Warum nur war das so? Es ließ sie zurückschrecken. »Hast du in den nächsten Tagen Zeit für mich?«, wich sie aus. »Und vielleicht.. magst du mir dein Schiff zeigen?«
Jeldrik meinte zu verstehen, dass es ihr nicht leicht fiel, sich zu öffnen, und er wollte sie nicht drängen. »Komm einfach zu mir, dann werden wir sehen«, sagte er.
Althea wusste selbst nicht, was in sie gefahren war. Sie mochte ihn, sehr sogar. Warum dann diese merkwürdige Zurückhaltung? Erst nach einer Nacht unruhigen Schlafes ging ihr auf, dass sie meinte zu spüren, dass etwas zwischen ihnen lauerte. Was das war, wusste sie nicht zu benennen, und sie zögerte, es genauer zu erforschen.
Deshalb hielt sich an ihren Entschluss, möglichst viel Zeit mit Phelan zu verbringen und so Jeldrik erst einmal aus dem Wege zu gehen. Den folgenden Tag ritten sie beide die Küste hinauf, wanderten bis zu Altheas Lieblingsstellen und taten endlich das, was sie schon so lange vorhatten: Sie redeten, redeten und redeten. Nur langsam fanden sie wieder zu ihrem alten, innigen Verhältnis zurück, lernten sich wieder kennen. Jeder von ihnen beiden hatte sich zu einer starken Persönlichkeit entwickelt, die, in der Kindheit zwar in Ansätzen da, sich erst über die Jahre voll entfaltet hatte.
Althea bemerkte zu ihrem Erstaunen, dass Phelan sich weiter von ihr entfernt hatte, als sie es zunächst vermutet hatte. Er wirkte irgendwie älter als sie, und wie es ihre Art war, fragte sie ihn nach ein paar Stunden vorsichtigen Erkundens offen, ob er eine Ahnung hatte, woran das lag.
»Es stimmt, ich habe es auch schon bemerkt«, gab er zu. »Solange du die Druidai fort sperrst, wirkst du noch sehr jung. Ich denke.. dir fehlen einfach ein paar Jahre, Thea. Du wurdest schließlich von jetzt auf gleich fast sechzehn Jahre alt.«
»Du meinst, weil du nicht mehr zwei, sondern fünf Jahre älter bist? Aber.. daran kann es nicht nur liegen. Irgendetwas ist mit dir geschehen.« Sie hob die Hand und strich ihm behutsam über die Tätowierung an seiner Schläfe.
Diese Berührung wirkte wie früher. Er fühlte sich sofort getröstet. »Nein, du hast recht, das ist es vermutlich nicht nur.« Sein Blick ging zur Seite, er sah auf das Meer hinaus.
»Phelan..«
Er suchte nach Worten. »Ich.. ich musste die ganze Zeit kämpfen, du dagegen hast hier relativ behütet gelebt.«
»Auch ich musste kämpfen, mehr als genug«, erinnerte sie ihn.
»Verzeih mir, das stimmt natürlich«, gab er zerknirscht zu. »Ich weiß auch nicht, wie ich das beschreiben soll. Es ist dieses.. ich.. ich glaube, ich kämpfe gegen mich selbst. Oh Thea..« Etwas zerbrach in seiner Miene, und endlich, endlich öffnete er sich ihr ganz.
Althea hätte am liebsten vor Freude gejubelt. Fest zog sie ihn an sich. »Schscht, ist ja gut. Lass es heraus, bevor du daran erstickst«, wiederholte sie Gayles Worte, und Phelan ließ sich einfach fallen. Es tat gut, so gut. Alles erzählte er ihr nun, von seiner inneren Zerrissenheit, von Yeni, Tzusa, von dem Kind, das er vermutlich zurückgelassen hatte. »Hast du das mit dem Kind auch Noemi erzählt?«
Sie spürte sofort, dass er unruhig wurde. »Nein, noch nicht«, flüsterte er und hob den Kopf. »Ich weiß auch nicht, warum. Eigentlich..«, er runzelte die Stirn und suchte nach Worten, »..weiß ich gar nicht mehr, was ich von ihr halten soll. Alles habe ich ihr bisher anvertraut, einfach alles. Warum nur.. ist sie so.. so.. Thea?!«
Althea konnte nicht anders, sie musste lachen. »Nein, versuche es gar nicht erst, es steht mir nicht zu, etwas zu sagen. Das musst du selbst herausfinden.« Sie machte sich los und streckte sich.
»Aber Thea..«, flehte er fast.
»Nein, Phelan.« Sie sprang auf und beendete damit jedwede Diskussion. »Komm mit, ich möchte dir etwas zeigen. Das bringt dich auf andere Gedanken.«
Bald darauf lagen sie beide in dem blubbernden Wasser der heißen Quelle, die Althea auf ihrem letzten Ritt entdeckt hatte. Sie war heilfroh darum, dass sie sich gleich bei ihrer ersten Begegnung dazu gezwungen hatte herauszufinden, wie es um sie beide stand. Nur so konnten sie jetzt ohne jede Scheu nebeneinander im Wasser liegen und sich offen betrachten.
Phelan strich mit dem Finger über die vielen Narben auf ihrer Haut. »Das muss furchtbar gewesen sein«, sagte er mit schmerzhaft verzogener Miene.
»Ich habe nicht viel davon mitbekommen. Viel schlimmer fand ich, dass ich hinterher so hilflos war. Alles musste ich wieder lernen, sprechen, mich bewegen, laufen.. ich habe es gehasst.«
»So, wie ich manchmal meine Tätowierung hasse. Die kann ich nicht verbergen wie du«, nickte er und ließ sich tiefer ins Wasser sinken. Althea hatte recht, er fühlte sich wirklich gereinigt. Er wandte den Kopf. »Was ist, wollen wir bald zurückreiten und Jeldrik suchen? Der wird sich schon fragen, ob du ihn meidest.«
»Ach nein«, wich Althea lachend aus. »Er wird verstehen, dass wir erst einmal Zeit für uns brauchen. Es gefällt mir, dass er mich nicht drängt.«
»Tja, er kann auch anders. Bestimmt hat er gemerkt, dass er so weiter bei dir kommt. Ganz im Gegensatz zu einem gewissen Seeräuber..« Bei dem Gedanken setzte sich Phelan auf.
»Was ist? Oh, du wolltest mir noch unbedingt etwas sagen..«
»Ja, verdammt!« Phelan langte ins Wasser und wusch sich das verschwitzte Gesicht sauber. »Er hat da etwas von sich gegeben, das mich wirklich beunruhigt.«
»Was, Phelan? Und wann? War es das letzte Mal, als er zu euch auf die Insel kam? In deinen Briefen aus der Zeit davor stand nichts davon.«
»Ja.. Thea, lass uns aus dem Wasser gehen. Mir ist kalt.« Phelan sprang heraus, trocknete sich ab und zog sich an.
Althea sah ihm verwundert zu. Was hatte er denn plötzlich? Warum fröstelte er? Die Sonne schien, das Wasser war warm, es ging kaum Wind.. »Phelan!« Sie beeilte sich, hinter ihm herzukommen. Sie fand ihn bei den Pferden, wo er auf einem breiten Felsen hockte und mit leerem Blick auf die See hinausstarrte.
»He, was ist denn los?« Sie stellte sich vor ihn und versperrte ihm die Sicht.
Phelan sah zu ihr auf. »Er hat mich gefragt, warum er einen Todesring durchschreiten kann und andere nicht. Und er wollte wissen, was sich hinter der schimmernden Fläche verbirgt.«
Althea entfuhr ein leises Ächzen. Sie sank neben ihn auf den Fels. »Er hat..? Und das sagst du erst jetzt?!« Er warf ihr einen ungeduldigen Blick zu. »Entschuldige, dafür war wohl kaum die Zeit. Aber.. aber..« Diese Möglichkeit raubte ihr den Atem. Konnte ihr Großvater..?
»Der Sedat hängt mit in der Sache drin. Sie haben gemeinsam die Vergangenheit der Saraner erforscht. Thea, sie wissen mit Sicherheit mehr, als uns lieb sein kann. Vor dem Sedat musst du dich in acht nehmen, ich halte ihn für gefährlicher als Aislinn und Mihal und Regnar zusammen. Dem entgeht nichts, wirklich nichts.«
Sie spürte, wie er ihr den Arm um die Schultern legte, und sie barg ihren Kopf an seiner Schulter. »Großvater hat mir das vererbt?«, flüsterte sie. »Wie.. wie nur?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe viel darüber nachgedacht. Wenn deine Fähigkeiten erblich sind, warum hat dein Vater sie dann nicht?«
Althea hatte die Augen geschlossen. Diese Möglichkeit war einfach ungeheuerlich. »Das weißt du nicht. Vater hat sein Leben lang darüber geschwiegen, was hier in Temora geschehen ist. Vielleicht wusste er es selbst gar nicht. Aber warum kommt Großvater nicht durch das Tor, wenn er den Todesring betreten kann? Das.. darüber muss ich nachdenken. Halte mich fest, falls ich mich herumzuwerfen beginne.« Bevor er noch fragen konnte, was sie vorhatte, lag sie mit dem Rücken auf dem warmen Felsen, den Kopf auf seinem Schoß. Er schlang fest die Arme um sie.
Althea begann zu forschen. Asklepias Erinnerungen hatte sie gleichsam in einem eigenen Raum in ihrem Gedächtnis eingesperrt, damit diese sie nicht immer wieder hinterrücks überfielen. Nun holte sie diese einzeln und in Reihenfolge wieder hervor.
Phelan sah voller Unruhe auf ihr angespanntes Gesicht herab. Sie stöhnte von Zeit zu Zeit, warf ihren Kopf herum, bäumte sich sogar auf. Hoffentlich wird sie niemals hier oben auf den Klippen von einem Traum überfallen, wenn sie allein ist, dachte er. Das würde sie in Lebensgefahr bringen, sie könnte einfach in die Tiefe stürzen. Wenn sie kletterte.. oder ritt.. bei dem Gedanken umfasste er sie fester.
Schließlich lag sie ruhig, schien kaum mehr zu atmen. Phelan wusste nicht, was er tun sollte. »Thea! Komm zu dir!«, rief er und rüttelte sie leicht.
Da stöhnte sie leise und schlug die Augen auf. Sie waren merklich dunkler als sonst, aber es war nicht diese alles ausfüllende Schwärze, wie sie es stets bei ihren Träumen zeigte. »Es sind die Frauen, nur die Frauen, welche das Tor öffnen und durchschreiten. Die Männer blieben immer außen vor. Ich.. ihre Erinnerungen haben mir Hunderte von Ritualen gezeigt, und es war immer wieder dasselbe. Ich glaube, sie können es einfach nicht. Sie sind keine Träger des Lichts.«
Sie richtete sich auf und rieb sich die Schläfen, um das Hämmern darin zu mildern. »Großvater hat mit dem Sedat die Vergangenheit erforscht? Wissen sie denn etwas darüber?!«
Phelan hob die Schultern. »Er hat mir nichts gesagt. Wer weiß, wie weit die Erinnerungen des Sedats zurückreichen? Du wirst ihn fragen müssen, nur..«
»Ich weiß. Es ist gefährlich. Wir wissen nicht, was sie bereits alles ahnen.« Althea senkte den Kopf und starrte auf ihre Hände herab. Irgendetwas drängte sich in ihre Erinnerungen. Gleich darauf hatte sie es. »Oh nein, Meister Anwyll erzählte uns einst, dass er zum Sedat nach Saran reiste, als sie die ersten Anzeichen erhielten, dass ER wieder erwacht war. Erinnerst du dich? Ich habe dir davon geschrieben.«
Phelan hatte die Stirn gerunzelt. »Ja, ich erinnere mich, aber.. du hast nicht geschrieben, was sie beim Sedat erfahren haben.«
Althea kniff die Lippen zusammen. »Nein. Weil ich ihn nicht gefragt habe. Es ist alles in den folgenden Ereignissen untergegangen. Versteh doch, es war mein erstes Wiedersehen mit Meister Anwyll nach meiner Rückkehr. Da geschah so viel..«
»Ach Thea«, er drückte sie an sich, »mache dir doch keine Vorwürfe. Du hattest es wahrlich schwer genug. Vielleicht finden wir einen anderen Weg. Sollten wir ihn nicht fragen? Nein, eher nicht. Ich glaube nicht, dass es deinem Großvater recht ist, wenn Meister Anwyll davon weiß«, beantwortete er seine Frage selbst.
Althea setzte sich mit einem Ruck auf. Sie schnippte mit den Fingern. »Ich hab’s. Es gibt da jemand anderen, den wir fragen können.«
»Wen?« Phelan schaute verständnislos.
»Na, Jorid und Jeldrik natürlich! Sie haben die saranischen Geschichten aufgeschrieben, schon vergessen?«
Phelan schlug sich an die Stirn. »Ich Dummkopf! Natürlich! Aber..«, er sah Althea bedeutungsvoll an, »dann musst du Jeldrik auch erklären, was es damit auf sich hat. Darum wirst du nicht herumkommen.«
Althea nickte vorsichtig. »Das muss ich wirklich, ich wusste nur noch nicht, wann.« Sie sprang sie auf, voller Tatendrang auf einmal. »Komm, lass es uns gleich tun. Je eher wir dem Rätsel auf die Spur kommen, desto besser.«
So schnell sie konnten, kehrten sie in die Siedlung zurück. Als hätten es die anderen geahnt, hatten sie sich allesamt beim Schiff versammelt und aßen. Jorid und die anderen Frauen versorgten sie. »Seht mal, wer da kommt!«, rief Oren so laut, dass es auch Althea und Phelan hörten. Alle anderen empfingen sie mit lautem Gejohle. Althea musste sich zwingen, ein fröhliches Gesicht aufzusetzen, anstatt die Miene zu verziehen.
»Habt euch ja ganz schön Zeit gelassen..«
»Jaah, wenn ihr so weitermacht, ist das Einheitsfest vorbei, ohne dass ihr es merkt..«
»He, Phelan, warum bist du so sauber?«
»Wir waren schwimmen..« Noch mehr Gejohle und Pfiffe folgten.
Althea ignorierte es. Sie band ihre Stute fest und ging zu Jeldrik. »Du wolltest mir doch noch dein Schiff zeigen«, sagte sie und ruckte unmerklich mit dem Kopf dorthin.
Er verstand sofort. Das Grinsen in seinem Gesicht verschwand wie fortgewischt, seine Augen bekamen wieder diesen durchdringenden Ausdruck. Er sprang auf. »Natürlich, wenn du es willst..«
Jorid beobachtete sie verwundert. War etwas passiert? »Ich frage mal nach, ob sie etwas essen will«, sagte sie zu der Frau neben sich und folgte den beiden. Phelan sorgte unterdessen für Ablenkung, indem er schlagfertig die Scherze der anderen erwiderte.
Froh, dem Pulk entkommen zu sein, erklomm Althea leichtfüßig die Planke und sprang ins Schiff. Damit war sie praktisch außer Sicht und konnte aufatmen. Neugierig sah sie sich um. Sie hatte noch nie bei Tageslicht auf einem Schiff gestanden, und dieses hier kam ihr größer als alle anderen vor, aber das mochte täuschen. Der einzige Unterschied, der ihr gleich ins Auge fiel und den sie auch schon bei der Ankunft in Mahins Hafen bemerkt hatte, waren die beiden zusätzlichen, parallel zur Reling laufenden Segel. Sie fragte Jeldrik nach dem Grund.
»Du kannst damit besser bei ungünstigen Winden segeln, und damit dir das Großsegel nicht den Wind nimmt, haben wir ein kleines jeweils davor und dahinter gespannt.«
»Und das gelingt wirklich so, wie ihr euch das vorstellt?«, fragte sie skeptisch.
»Tja..«, Jeldrik kratzte sich den Bart, »so ganz wissen wir es noch nicht. Die Zeit wird es zeigen. Es gibt jedenfalls schon viele, die es nachbauen wollen. Die Winterfahrer vor allem.«
»Also auch Großvater«, sagte Althea, und ihre Augen wurden merklich dunkler.
»Ist etwas..?« Er machte einen besorgten Schritt auf sie zu, da kam Jorid und kurz nach ihr auch Phelan aufs Schiff.
»Wir müssen euch etwas fragen«, sagte er leise. Er sah über die Schulter, doch niemand machte Anstalten, ihnen zu folgen. Alle vier gingen sie gleichzeitig in die Hocke, sodass sie wirklich außer Sicht waren. Es war erstaunlich, als hätten sie den Gedanken laut gedacht.
»Thea und ich haben ein Problem. Wir brauchen ein wenig Unterricht in saranischer Geschichte.« Er umriss es ihnen nur grob, weil sie nicht sicher sein konnten, belauscht zu werden.
Jeldrik brummte nur. »Ihr stellt ja Ansprüche an mein Gedächtnis. Ich habe schon Jahre nicht mehr in den Geschichten gelesen. Du, Schwesterchen?«
Jorid spreizte lächelnd ihre langen, schmalen Finger. »Um ehrlich zu sein, gerade erst gestern, mit Pheli.« Sie lachte, als Jeldrik den Mund aufsperrte. »Du glaubst doch nicht, dass ich unser Werk bei Roar zurücklasse. Der bringt es fertig und wirft es einfach ins Feuer. Nein, ich habe alles mit hergebracht.«
»Worauf warten wir noch?«, rief Phelan.
»Aber nicht hier.« Althea hielt ihn zurück. »Können wir nicht zu uns nach Hause gehen? Dort stört uns niemand. Und es hört uns auch niemand«, fügte sie hinzu. Sie sah Jeldrik fest an und gab ihm damit ein Versprechen.
Jorid hatte die ganze Truhe voller Pergamente kurzerhand auf ihre Stute geladen, und irgendwie war es ihnen gelungen, ungesehen aus der Siedlung fortzukommen. In der Hütte wurden sie von der verwunderten Chaya und nicht minder verwunderten Noemi in Empfang genommen. Die alte Heilerin war regelrecht erschüttert zu erfahren, dass es vermutlich Regnar gewesen war, der Althea ihre Fähigkeiten vererbt hatte. »Niemals hat er auch nur ein Wort darüber verloren!«, rief sie aus. »Er hätte mich damals einfach so aus Temora fortbringen können! Und ihr meint, dass es mit der saranischen Geschichte zu tun hat?«
»Das hoffen wir«, sagte Jorid und bedeutete Jeldrik, die Truhe zu öffnen. »Es tut uns leid, Chaya, dass wir hier so unvermittelt hereinschneien. Es ist der einzige Ort, an dem wir ungestört sind.«
Die alte Heilerin musste lachen. Das hatte sie doch schon einmal gehört? »Nein, nein, Mädchen, sei unbesorgt, es stört mich nicht. Es interessiert mich genauso wie euch, und ich kann bestimmt das eine oder andere aus der temorischen Geschichte beisteuern. Unglaublich, dass der alte Seeräuber das die ganze Zeit verschwiegen hat.«
›Vielleicht war ihm die Bedeutung dieser Fähigkeit gar nicht so bewusst, bis er Thea getroffen hat‹, zeigte Noemi, die schon lange über so einiges an Regnar gerätselt hatte.
»Das mag sein, Mädchen, das mag sein«, nickte Chaya.
Gemeinsam räumten sie den Tisch leer und breiteten Jeldriks und Jorids Schätze darauf aus. »Oh je, dafür werden wir Tage brauchen«, seufzte Althea.
»Lass uns doch erst einmal die Gesetze von den Geschichten trennen, dann sehen wir weiter«, schlug Jorid pragmatisch wie immer vor. Sie legte einen großen Packen vor jeden Platz auf den großen Tisch.
Phelan setzte sich neben Noemi. »Kannst du denn temorische Schriftzeichen lesen?«, fragte er besorgt und wollte die Hälfte ihres Stapels nehmen und sie zu seinem Haufen legen.
Althea beobachtete, wie sie sich versteifte, ihre Hände flach auf den Stapel presste und die Seiten festhielt. ›Natürlich kann ich das!‹, hörte Althea die empörten, aber auch verletzten Worte.
»Phelan, lass es. Noemi kann ebenso gut das Temorische lesen wie ich. Wir haben es ihr beigebracht.«
»Na schön, wie du willst.« Er warf Noemi einen unsicheren Seitenblick zu.
Althea setzte sich kopfschüttelnd hin und fand sich auf dem Stuhl Jeldrik gegenüber wieder, der sie genau beobachtete. Sie zögerte immer noch, aber es nützte nichts. Das war sie ihm schuldig. Sie stand auf, holte den kleinen Korb mit den toten Wächtern von der Wand und stellte ihn auf den Tisch. Dann nahm sie das erste Blatt in die Hand. »Hat dir jemand auf deiner Reise nach Gilda die Legende der heiligen Asklepia erzählt?«, fragte sie täuschend beiläufig und begann, als er den Kopf schüttelte, leise ihre Geschichte zu erzählen.
Es warf ihn einfach um. Wie betäubt lief Jeldrik später in der Nacht hinter den anderen her, als sie auf dem Weg waren, ihre Freunde in Temora zu treffen. Er konnte noch gar nicht richtig erfassen, was er alles von ihr zu hören bekommen hatte. Sie sollte heilende Kräfte haben? Und wie war das mit der Legende, mit der Geschichte der Druidai? Und der Welt der Götter? Und der Macht der Temorer, die eigentlich keine war? So wunderbar ihre Gabe war, diese ganze Geschichte ließ ihm die Nackenhaare zu Berge stehen. Dieses Wissen war höchst gefährlich, und er hatte mehr denn je das Gefühl, dass dort noch viel mehr war. Deshalb musste sie sich verbergen. Sie war in Gefahr, mehr, als er es geahnt hatte. Überrascht ertappte er sich dabei, dass er sie am liebsten gebeten, nein, ihr befohlen hätte, nicht auf dem Einheitsfest zu erscheinen. Nun konnte er die anderen verstehen. Und Bajan wusste nichts davon? Und Regnar? Was war mit Anwyll? Fragen über Fragen!
»Jeldrik, halt!!« Gerade noch rechtzeitig packte seine Schwester zu und hinderte ihn daran, blindlings in den Ring zu laufen. Sie lachten leise, und es wurde von weiter vorne beantwortet. »Was machst du denn?!«
Nur Althea ahnte, weshalb er so gedankenverloren dahinlief. Rasch drängte sie sich an ihnen vorbei und überquerte die kleine Brücke und das Tor. Doch dahinter fand sie statt der erwarteten drei nur eine Gestalt vor. »Warum bist du ganz allein?«, flüsterte sie Galvin zu.
»Maret und Gayle sind bei Meister Anwyll.«
»Ist er krank?!«, fragte sie sogleich erschrocken.
»Nein, keine Sorge.« Galvin ließ sich von ihr durch die Barriere helfen und begrüßte die anderen. »Meister Anwyll möchte dich sehen, er bittet dich zu sich«, sagte er zu Jeldrik. »Nur.. du kannst leider nicht mitkommen, Phelan. Auf dir liegt immer noch der Bann.«
»Wie könnte ich den vergessen!«, spie Phelan leise aus. »Danke, ich verzichte. Und du, Noemi?« Deren abwehrende Handbewegung sagte alles. Auf keinen Fall wollte sie wieder wegen des gefangenen Ragais bedrängt werden.
»Ich bleibe auch hier«, bot Jorid an. »Wir werden in der Höhle auf euch warten.«
»Nun denn.. Thea?« Galvin streckte ihr fragend die Hand hin.
Sie zögerte. »Was hat er vor?«, fragte sie mit einem derart misstrauischen Tonfall, dass Jeldrik hellhörig wurde.
»Nichts, er hat nichts vor, außer dass er Jeldrik wiedersehen möchte. Deine Großmutter wird nicht dort sein, und er wird dich auch nicht drängen, den Ragai aufzusuchen, das hat er versprochen.«
»Wenn ich das nur glauben könnte«, murmelte Althea unhörbar für Galvin. »Also schön, gehen wir.« Sie griff nach Jeldriks und Galvins Händen und führte sie hindurch. Und wieder erhielt sie einen Schlag, den sogar Galvin spürte.
»Was war das?«
»Nichts.« Althea machte sich von beiden los. Wie unterschiedlich sich beide Hände angefühlt hatten! Die eine eiskalt, die andere verströmte eine wohlige Wärme. Althea verdrängte den Gedanken. »Lasst uns gehen.«
»Warte«, flüsterte Jeldrik. »Müsste ich nicht meine Waffen ablegen?« So ganz wohl war ihm nicht, Temora, diese verbotene Insel, zu betreten, Anwylls Einladung hin oder her. Da wollte er nicht noch einen Fehler begehen und gegen ein weiteres Tabu verstoßen.
»Eigentlich schon«, sagte Galvin, »nur dass ich meine auch trage und Thea ihre auch. Da kann ich schlecht von dir verlangen, deine abzulegen, nicht? Komm, mache dir keine Gedanken darüber. Niemand wird uns sehen oder hören.«
Leise schlichen sie über verborgene Pfade durch Temora. Althea merkte sehr bald, dass Jeldrik sich auffällig dicht bei ihr hielt. Das brachte sie auf. Am liebsten hätte sie sich umgedreht und ihn angefaucht: ›Lass es! Es gibt schon genug Leute, die mich am liebsten fortsperren würden, dann brauche ich nicht auch noch dich!‹ Doch Galvins Anwesenheit verhinderte das. Zum Glück wurde der Weg bald so schmal, dass sie hintereinander gehen mussten. Althea war erleichtert, als sie endlich ankamen.
Anwyll war erfreut, dass sie beide kamen. »Jeldrik.. und Althea!«
»Meister Anwyll! Ich hoffe, Ihr befindet Euch wohl?«, fragte Jeldrik mit untypischer Höflichkeit.
Der alte Mann gluckste prompt: »Da hast du dir von deinem Freund Phelan einiges an Höflichkeit abgeschaut, Jeldrik Roarsfalir, denn von deinem Vater hast du die sicherlich nicht geerbt. Benenne die Dinge doch einfach, wie sie sind! Alt und zittrig bin ich geworden, ich weiß es wohl«, zwinkerte er und drückte Jeldriks Hände.
»Wenn Ihr das sagt«, erwiderte Jeldrik. Dabei musste er wirklich sein Erschrecken verbergen, wie gebrechlich der alte Mann inzwischen wirkte. Kaum zu glauben, dass er erst vor ein paar Jahren die weite Reise nach Gilda angetreten hatte.
»Jaja..« Anwyll winkte ab. »Aber nun, berichte mir, was ist geschehen?«
Althea war erleichtert, dass sie sich ganz heraushalten konnte. Sie saß zwischen ihren beiden Freundinnen und lauschte Jeldrik und Anwyll, wie sie schon bald ins Saranische fielen, sodass sie ganz genau hinhören musste und manches nicht mehr verstand.
Sehr schnell kamen sie zu ihren Plänen für das Einheitsfest. Anwyll runzelte besorgt die Stirn in Altheas Richtung. »Es ist sehr wagemutig, wenn nicht gar gefährlich, was du da vorhast. Gut, dass Fürst Bajan seine Leute über dich wachen lässt, wie über euch alle. Du musst uns sofort benachrichtigen, wenn du den Diener spürst, Mädchen, hörst du?«
»Das werde ich, Meister Anwyll«, sagte Althea leise.
Er nickte und wandte sich wieder Jeldrik zu. »Diese Versammlung wird äußerst schwierig, stell dich darauf ein und warne auch Fürst Bajan und deinen Vater. Sie wird nicht unter meiner Leitung stattfinden, sondern unter Mihals. Ich werde allenfalls als Berater anwesend sein, soweit meine Kräfte es erlauben.« Er holte tief Luft. Wieder traf sein unergründlich Blick Althea. »Mädchen..«
Also doch! Sie versteifte sich. »Was wollt Ihr, das ich tue?«
Anwyll lachte leise. »Gut, Mädchen, gut! Fürst Bajan und Phelan bleibt der Zutritt zur Versammlung verwehrt, solange sie nicht begnadigt sind. Ich fürchte um unsere Entschlussstärke, wenn sie nicht anwesend sind.«
»So wie Ihr«, erwiderte sie. Ihr schwante nichts Gutes. »Bitte sagt mir, was ich tun kann.«
Seine Augen funkelten wieder so belustigt. »Ich möchte, dass du zu deiner Großmutter gehst und dich mit ihr versöhnst und ihr begreiflich machst, dass sie begnadigt werden müssen. Ich möchte es schon den ganzen Winter über.«
Althea war bleich geworden. »Aber warum ich? Warum redet Ihr nicht mit ihr?«
»Ich? Glaubst du denn, dass sie auf mich hören würde?«
»Nein«, musste Althea zugeben, erschrocken darüber, wie müde er plötzlich klang.
»Eben. Und ich möchte es, weil ihr Einfluss auf Mihal am größten ist. Er es ist, der Fürst Bajan und deinen Cousin begnadigen muss. Ich glaube, dass sie auf dich hören wird, wenn du dich denn beherrschen kannst und sie nicht gleich angehst. Sie fragt oft nach dir, musst du wissen, sie will dich wiedersehen.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen«, murmelte Althea. Sie spürte die fragenden Blicke der anderen auf sich und wich ihnen aus. »Wo ist sie jetzt?«
Anwyll nickte ihr ermutigend zu. »In ihrem Gemach, vermute ich. Diese Nacht ist frei von jeglichen Ritualen.«
Zögernd stand Althea auf. »Dann bringe ich es am besten gleich hinter mich.«
»Bist du sicher?«
»Soll jemand mitkommen?«
»Willst du..?«, fragten ihre Freunde alle durcheinander.
Jeldrik beobachtete alles aus schmalen Augen. »Du solltest jemanden mitnehmen, nur zur Sicherheit«, schlug er vor.
»Ja.. Gayle.« Sie wählte ihre Freundin intuitiv. Gayle war seit ihrem Einfall mit dem Kelch schon fast in die Reihen der Priester eingegangen, durfte trotz der fehlenden Weihe an den Ritualen teilhaben. Sie würde sich von ihnen allen am wenigsten den Zorn ihrer Großmutter zuziehen.
Jeldrik sah den beiden Mädchen voller Unruhe hinterher. Er unterdrückte die Regung aufzuspringen und ihnen nachzulaufen, erst recht, als er Galvin sah. Der Novize ballte derart die Fäuste, dass er fast zu platzen schien.
»Keine Sorge, sie hat es bisher immer geschafft, sich gegen ihre Großmutter zu wehren«, sagte Anwyll zu Galvin. »Aber nun ist es Zeit für dich, unseren Gast zu versorgen. Vielleicht möchtest du ihn begleiten, Jeldrik? Er ist ein alter Bekannter von dir.«
»Ihr meint den Ragai?«
»Eben den. Vielleicht gelingt es dir ja, ein wenig in ihn zu dringen. Ich möchte Noemi keinesfalls zumuten, ihm noch einmal gegenüberzutreten.«
Damit hatte er auch Jeldrik binnen kürzester Zeit dort, wo er ihn haben wollte. Für Noemi würde er alles tun, so, wie alle anderen auch. »Wie macht er das bloß?«, fragte Jeldrik kopfschüttelnd, als er hinter Galvin durch die Gänge lief. Mit besten Wünschen an Bajan war er entlassen worden. Der alte Mann hatte auf einmal sehr erschöpft gewirkt, was ihm noch weniger Grund gab, diese Bitte abzulehnen. Jeldrik hatte ernste Bedenken, dass Anwyll überhaupt an der Versammlung würde teilnehmen können.
Galvin schnaubte leise. »Das frage ich mich schon, seit ich ihm diene. Der Einzige, bei dem es nicht wirkt, ist Mihal.«
»Und deshalb schickt er Thea?!«, fragte Jeldrik unruhig.
Galvin antwortete nicht, er legte einen Schritt zu. Jeldrik folgte ihm mit noch größerer Verwunderung. Was hatte das zu bedeuten?
»Soll ich mit hineinkommen?«, fragte Gayle. Sie standen im Schatten des Gebäudes, das zu Aislinns Gemach führte.
»Ist denn niemand hier, der Wache steht?«
»Nein. Niemand wird dort sein außer der Priesterin, die ihr gerade dient.«
»Dann gehe ich allein. Wartest du hier auf mich?«
»Natürlich. Mögen die Götter dir beistehen und dir Kraft geben.« Gayle zog sich in eine dunkle Nische neben der Tür zurück.
Althea betrat zögernd den stillen Gang. Es gab nur eine weitere Tür dort, erinnerte sie sich vom letzten Mal. Leise klopfte sie an und unterdrückte die Regung, gleich wieder in den Schatten zurückzuweichen. Was sollte sie bloß sagen, was tun?
»Wer ist dort?« Die Tür wurde einen Spalt weit geöffnet. Es war die Dienerin, Althea erinnerte sich an ihr Gesicht, aber nicht an ihren Namen. »Wer.. oh!« Sie machte einen überraschten Schritt zurück.
»Meine Großmutter wollte mich sehen. Ist sie hier?« Stumm trat die Frau zurück. Althea folgte ihr hinein. In dem Gemach war es dämmrig, nur von weiter hinten drang der Schein einer Lampe zu ihnen. Althea zog leise die Tür hinter sich zu.
»Was gibt es, Niune?«, rief Aislinns Stimme aus Richtung des Lichtes.
»Herrin, hier ist.. Besuch für Euch.« Das klang so merkwürdig, das Aislinn sofort nach vorne kam.
»Was für Besuch.. oh.« Sie erkannte die Gestalt unter dem langen Umhang sofort. Einen Moment starrten sich Großmutter und Enkelin wortlos an. Aislinn fasste sich zuerst. »Lass uns allein, Niune.«
»Ja, Herrin.« Die Dienerin verneigte sich und ging hinaus.
Kaum war sie fort, fragte Althea: »Du wolltest mich sprechen?«
»Sprechen?« Aislinn zog die Augenbrauen hoch. »So kann man das auch bezeichnen.«
»So hat man es mir gesagt«, erwiderte Althea.
»Also Anwyll«, nickte Aislinn kühl. »Was bezweckt er damit?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Mit euren Ränkeschmieden habe ich nichts zu schaffen.« Das kam heftiger heraus, als Althea es beabsichtigt hatte. ›Bleib ruhig, lass dich nicht aufbringen‹, mahnte sie sich.
Ihre Großmutter ging auf diesen Ausspruch nicht ein. »Nun, da du schon einmal hier bist, komm herein.« Aislinn machte eine Handbewegung hinter sich, und irgendwie schaffte sie es, dass diese Bewegung nicht einladend, sondern befehlend wirkte. Althea folgte ihr dennoch. »Möchtest du etwas trinken?«
»Nein, danke.« Althea setzte sich langsam auf einen Stuhl, während Aislinn sich selbst einen Becher nahm.
»Ich habe gehört, ihr habt vor ein paar Tagen überraschenden Besuch erhalten«, wandte sich Aislinn nach einem langen Moment des Schweigens an sie.
»Ja. Fürst Bajan ersuchte um unsere Hilfe. Er war krank geworden. Wie du sicherlich weißt, gibt es in Saran keinen Heiler mehr, und wir konnten ihm helfen. Bis zum Einheitsfest wird er wieder genesen sein.«
»Er kann dort um Begnadigung ersuchen. Wird er es tun?«
Althea setzte sich noch aufrechter hin. »Das denke ich nicht. Auch Phelan wird es auf keinen Fall tun, das hat er mir gesagt.«
Die Vorstellung, dass jemand die Gesetze der Gemeinschaft einfach so ignorierte, war für Aislinn undenkbar. Ihr rutschte fast der Becher aus der Hand. »Sie werden nicht..?!«
»Großmutter, warum fragst du dann, wenn du mit dieser Möglichkeit nicht gerechnet hast?« Aislinn erwiderte nichts darauf. »Warum wurden die beiden gebannt?«, drängte Althea.
»Weil sie unsere Gesetze..«
»Nein!«, unterbrach Althea sie scharf. Mit ihrer Ruhe war es vorbei. »Ich will nichts darüber hören, dass sie Gesetze gebrochen haben! Sie kamen hierher, weil sie in Not waren. Fürst Bajan hat seinen Eid an das Königshaus von Gilda erfüllt, er wollte uns beschützen. Dass er und Phelan dabei unwissentlich in etwas gerieten, das man als normaler Mensch weder sehen noch hören noch spüren kann, war nicht ihre Schuld. Wenn hier überhaupt jemand Schuld hat, dann Vater, weil er uns nicht gewarnt hat.«
»Bajan hat unser ältestes Tabu gebrochen!«, fuhr Aislinn erbost auf.
»Wegen mir, wegen Phelan! Er tat es aus edlen Motiven und setzte sein Leben dabei aufs Spiel! Sie waren unwissend.«
Ihr Widerstand brachte Aislinn auf und auch, dass ihre Enkelin mit zunehmender Wut einem alten Seeräuber immer ähnlicher wurde. »Unwissenheit schützt vor Strafe nicht!«
»Das mag sein«, nickte Althea und zwang sich ruhig. »Aber ihr habt etwas noch nicht begriffen: Fürst Bajan muss nicht um Begnadigung bitten, er hat es nicht nötig. Er ist ebenso hochgestellt wie ihr, Heerführer und erster Fürst Moranns, bevor unser Feind meinen Onkel überwältigte.«
»Wie kannst du es wagen..!«
Althea sah ihre Großmutter auffahren, sah ihren Mund sich bewegen, hörte es jedoch nicht mehr. Etwas zerrte an ihr. ›Oh nein, nein, das soll sie nicht sehen!‹ Sie wollte aufspringen, davonlaufen, sich verbergen und schaffte es nicht mehr. Mitten im Sprung brach sie zusammen. Ihre Großmutter wurde davon völlig überrascht. Althea prallte hart auf den Boden.
»Niune, zu Hilfe!«, rief Aislinn. Gleichzeitig griff sie nach der Hand ihrer Enkelin und wurde mit voller Wucht von dem getroffen, was Althea sah. Es war einfach zu stark, sie konnte sich nicht gegen den Zwang wehren.
Die Dienerin sah Aislinn über dem Mädchen zusammenbrechen. »Herrin!«, rief sie erschrocken. Sie rollte die alte Frau herum. Da stöhnte Althea und schlug die Augen auf. Sie waren wie zwei schwarze Seen, ohne irgendetwas Weißes darin. Die Hand, die sie mit ihrer Großmutter verband, begann zu leuchten. Die Dienerin fuhr mit einem schrillen Aufschrei zurück, so laut, dass Gayle es draußen hörte. Sie stürzte herein.
»Was.. was ist das?!«, rief Niune.
Gayle brauchte nur Altheas Augen zu sehen. »Sie hat einen Traum. Schnell, hole ein paar Decken und Kissen, manchmal wirft sie sich..« Althea stöhnte und bäumte sich auf. Einen Lidschlag später Tat Aislinn dasselbe. Sie bewegten sich wie zwei Puppen an langen Fäden, ein grausiger Anblick. »Beeile dich!«, drängte Gayle. Sie brauchte beide Hände, um Althea und ihre Großmutter davor zu bewahren, sich zu verletzen.
Der Anfall kam ihnen wie eine halbe Ewigkeit vor, dabei währte er nicht lange. Schon bald stöhnte Althea auf und schlug beide Hände vor das Gesicht. »Es ist vorbei«, flüsterte Gayle.
Aislinn dagegen lag regungslos. »Herrin, wacht auf!«, rief Niune.
Da riss Althea die Augen auf und wurde entsetzt gewahr, wer da neben ihr lag. »Oh verd..!« Sie versuchte aufzuspringen und verlor das Gleichgewicht.
»Langsam, setz dich hin. Das ist jetzt nicht mehr zu ändern.« Behutsam half Gayle ihr auf den Stuhl zurück. Die Dienerin schaffte es unterdessen, ihre Herrin aufzuwecken. Althea ließ sie nicht aus den Augen. »Thea, was hast du gesehen?«
»ER hat SEINEN Diener zu sich befohlen und befragt. Der Diener war hier, hier in der Siedlung.«
»Hier? In der Siedlung?« rief Gayle aus. »Aber wie ist das möglich? Was haben wir übersehen?« Aislinn hob den Kopf, ihr Blick wurde klar.
»Du bist doch der schlaue Kopf von uns«, brach es aus Althea hervor.
»Von wem redet ihr?«, rief Niune unbehaglich.
Beide Mädchen antworteten gleichzeitig: »Von Phileas.«
»Bei den Göttern!« Bleich fuhr die Dienerin zurück und ließ Aislinn los.
»Er ist es wirklich!«, flüsterte Aislinn fassungslos.
Ebenso fassungslos hörte Althea ihre Worte. »Du hast es nicht geglaubt?!«
»Ich wollte es nicht wahrhaben, Mädchen«, antwortete Aislinn. Sie war bleich im Gesicht.
So sah jemand aus, der alle Hoffnung verliert, dachte Althea und versperrte sich einem überraschenden Anflug von Mitleid. Stattdessen überkam sie der Zorn. Wenn Aislinn es schon nicht glaubte, wer dann? »Hast du gesehen, was ich gesehen habe? Auch SEINE Wesen? Sie sind wieder erwacht. Noch sind sie im hohen Norden..«
»Herrin..« Niune wäre am liebsten geflüchtet.
»Es ist ein ganzes Heer. Mögen die Götter uns beistehen«, stöhnte Aislinn und krümmte sich. »Warum hast du mich festgehalten? Warum ließest du mich nicht gehen?«
»Weil ER uns dann bemerkt hätte. Du darfst dich nicht wehren, sonst wirst du sichtbar für IHN. ER weiß nicht, dass ich IHN belausche.«
»Und trotzdem weiß der Diener, wer du bist?!«, rief Aislinn. Sie zitterte.
Ihre Großmutter so geschwächt zu sehen, beruhigte Althea. Sie hatte sich wieder im Griff. »Der Diener hat Hinweise von seinem Bruder aus Gilda erhalten und hat irgendwann Rückschlüsse auf mich gezogen. ER wird versuchen, mich zu bekommen.. was hast du?«
Aislinn hatte die Hand ausgestreckt. Sie zeigte auf Althea. »Du.. du bist es! Du holst IHN hierher! Oh, ich sehe dieses Unglück schon lange.«
»Herrin!«
»Was siehst du?« Althea sprang auf. »Sag es mir!« Da war es dahin, ihr Geheimnis. So schnell!
Die Dienerin wich kopfschüttelnd und mit weit aufgerissenen Augen zurück. Warum, das wusste Althea nicht, aber Gayle wusste es. Sie hinderte die jüngere Frau daran davonzulaufen. »Beruhige dich. Sie hat von uns allen das größte Recht, dies zu fragen.«
»Großmutter..«
Aislinns Augen wurden starr. Ihr Blick richtete sich nach innen. »Tote. Tote überall. Im Ring, auf den Wiesen, in der Siedlung.. und dann sind sie fort, es weht nur noch der Wind und es ist still.«
»Du siehst die Zukunft.« Althea fiel kraftlos auf ihren Sitz zurück.
»Du musst von hier fort«, entfuhr es Aislinn. Ihr Gesicht wurde hart und bekam einen zwingenden Ausdruck.
Gayle rückte sofort näher an Althea heran und legte ihr schützend eine Hand auf die Schulter. Dankbar sah Althea zu ihr auf. »Nein, ich werde nicht fortgehen. Ich muss den Diener finden, bevor er mich findet. Ich werde ihn suchen, auf dem Einheitsfest. Fürst Bajan hat versprochen, seine Leute über mich wachen zu lassen, damit mir nichts geschieht. Großmutter!« Sie streifte Gayles Hand ab und beugte sich vor. Ihr Blick wurde ebenso hart und zwingend wie Aislinns, und mit einem Mal konnte sie sich nicht mehr beherrschen.
Sie ließ ihren Schutz fallen. »Gegen eine solche Übermacht könnt ihr niemals bestehen. Ihr braucht Fürst Bajan, ihr braucht sein Wissen, seine Fähigkeiten, seine Verbindungen zum gildaischen Heer. Nur gemeinsam könnt ihr IHN besiegen. Überwindet euren Stolz, versöhnt euch mit ihm. Es ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Größe, von Erhabenheit.«
Gayle machte einen überraschten Schritt zurück. Die Stimme ihrer Freundin klang nicht mehr wie die des Mädchens Althea, sondern nach jemand anderem, Mächtigerem, und die entsetzten Gesichter der beiden Frauen sagten ihr, dass Althea auch so aussah. »Thea, bitte, lass uns gehen..«
»Ja, wir gehen.« Althea erhob sich und wandte sich zur Tür.
»Warte!« Aislinns Befehl klang nicht mehr scharf, sondern eher wie eine Bitte. Wie schon einmal hielt Althea inne, die Hand am Riegel der Tür. »Wer bist du wirklich?« Die Dienerin stieß einen Schreckenslaut aus. »Sei still!«, wies Aislinn sie harsch zurecht.
Althea wandte sich um. »Diese Frage stelle ich mir schon mein halbes Leben, seit meine Träume anfingen, Großmutter. Es wäre einfacher gewesen, sie zu beantworten, wenn ihr, du und Großvater und Vater, wenn ihr mir die Wahrheit über meine Abstammung gesagt hättet. So endete alles in Lug und Betrug, und ich bin gezwungen, das Leben einer Flüchtigen, eines Bastardes zu leben. Es schwächt unseren Zusammenhalt, und nun ist es fast zu spät.« Sie nickte Gayle zu und ging einfach hinaus.
Althea schaffte es gerade noch bis in den nächsten verborgenen Gang, dann wurde ihr schwindelig. »Thea!« Gayle half ihr, sich zu setzen. »So schlimm?«
»Es war so anstrengend.« Althea lehnte ihren Kopf gegen die kühle Wand und schloss die Augen. »Ich musste sie ruhig zwingen, damit sie mich nicht verrät.«
»Und? Hat ER..?«
»Nein. ER hat nur gefragt. Der Diener wusste, dass Fürst Bajan und Phelan hier sind. ER hat SEINEM Diener befohlen, einen von ihnen zu unterwerfen.«
Gayle schrak auf. »Das sollten sie schnellstens wissen.«
»Ja.« Mühsam raffte Althea sich auf, doch sie war geschwächt. Als sie unten auf dem Felsen des Götterurteils ankamen, keuchte sie regelrecht.
»Thea!« Maret und Galvin stürzten zu ihnen. Jeldrik, der ebenfalls auf sie zugehen wollte, stutzte. Althea machte eine abwehrende Handbewegung, aber nur in eine Richtung: Galvin. Der hielt sofort inne und trat mit eingezogenen Schultern zurück.
»Macht euch keine Sorgen. Ihr könnt Meister Anwyll sagen, dass ich sie gewissermaßen davon überzeugt habe, dass sie Bajan brauchen«, keuchte Althea. »Ich glaube, sie werden ihn begnadigen.«
Später fiel Phelan aus allen Wolken. »Er hat dich allein zu Aislinn geschickt?! Wie konnte er nur!« Erregt war er aufgesprungen und umrundete das munter flackernde Feuer in ihrer Höhle. Er wollte sie besorgt in Augenschein nehmen, doch sie wehrte ab.
»Ich wollte es nicht, genauso wenig wie Jeldrik den Ragai wiedersehen wollte. Meister Anwyll hat halt gewisse Mittel, einen zu überzeugen.«
›Phelan!‹ Noemi zog ihn zurück auf ihre Seite des Feuers. Sie sah, wie erschöpft Althea wirkte.
»Recht hast du, Noemi«, sagte Jorid und warf Phelan einen strafenden Blick zu. Sie löschten Feuer und Licht. Althea fest in die Mitte genommen, liefen die Mädchen voraus, um sie nach Hause zu bringen. Phelan und Jeldrik folgten etwas langsamer.
»Wie konnte er das nur tun!«, grollte Phelan immer wieder.
»Irgendwann musste sie sich mit ihrer Großmutter auseinandersetzen«, brummte Jeldrik. »Besser jetzt als während des Einheitsfestes. Das hätte nur unnötig Aufmerksamkeit erregt. Sie hat Aislinn doch überzeugt.«
»Hör auf! Wenn ich daran denke, wie..«
Jeldrik packte ihn. »Nimm Vernunft an! Etwas anderes macht mir viel mehr Sorgen. Der Ragai ist geradezu besessen von Noemi. Er hat mich angefallen, weil er dachte, ich halte sie verborgen.«
»Ha!« Phelan verbarg seinen Schrecken hinter einem neuen Wutanfall. »Soll er doch dort unten vermodern!«
»Auch sie wird sich ihm irgendwann stellen müssen, denn sie ist die Einzige, die etwas bei ihm erreichen könnte.«
»Nein! Das lasse ich nicht zu!«, begehrte Phelan auf, so laut, dass die Mädchen es hörten und verwundert die Köpfe wandten.
»Nicht so laut!«, zischte Jorid ihnen mahnend zu.
Jeldrik zwang Phelan mit einem harten Griff stehen zu bleiben. »Du hast darüber, glaube ich, nicht zu entscheiden.«
»Aber..«
»Nein, Phelan! Galvin meint, dass Noemi für den Ragai eine rituelle Bedeutung hat, etwas, das ihn bindet, weil sie sich um ihn gekümmert hat. Sie wird es irgendwann tun müssen.«
Phelan schlug seine Hände beiseite. »Ich will nichts davon hören!«, rief er und lief weiter.
Doch Jeldrik ließ nicht locker. »Du solltest langsam aufhören, ein kleines, hilfloses Mädchen in ihr zu sehen. Die anderen tun es nämlich nicht mehr, ganz besonders der Ragai nicht.«
Phelan blieb wie angewurzelt stehen. »Was willst du damit andeuten?«
Jeldriks Augen blitzten kalt im Mondlicht auf ihn herab. »Ich glaube, dass er sie begehrt und sie das ganz genau weiß. Hast du schon vergessen, dass ihr keine Regung ihres Gegenübers entgeht? Nur weshalb und wofür, das ist ihnen allen offenbar ein Rätsel.«
»D..du..« Phelan geriet ins Stottern und machte einen überraschten Schritt zurück.
Sein Freund trieb ihn unbarmherzig weiter. »Magst du sie?«
»Natürlich mag ich sie! Sie ist meine Freundin!«, zischte Phelan, empört darüber, dass Jeldrik ihm etwas anderes unterstellen könnte.
»So, sie ist also deine Freundin? Warum weicht sie dir dann aus? Denke mal darüber nach«, sagte Jeldrik und ließ Phelan stehen. Völlig verwirrt blieb dieser zurück.
Als Bajan hörte, dass er womöglich bald von den Priestern aufgesucht werden sollte, hielt ihn nichts mehr auf seinem Lager. Mit der gewohnten Härte gegen sich selbst arbeitete er daran, wieder auf die Beine zu kommen.
»Wie eine gefräßige Raupe!«, scherzte Rana über die Mengen, die sie ihm kochen musste.
Schon bald hielt er mit seinen ehemaligen Schülern einfache Waffenübungen ab, zu denen sich hin und wieder auch Althea und mit ihr Jorid gesellte.
Von da an begann sich zwischen Althea und den jungen Männern etwas zu verändern. Sie begegneten ihr mit wesentlich mehr Achtung und Respekt als zuvor, ja manch einer sogar mit Verehrung. Sobald sie gegen den Ersten im Schwertkampf bestand, war das keine Frage mehr. Auch Jorid wurde diese Verehrung als Jeldriks Schwester und Altheas Freundin zuteil, einige begannen sogar, ernsthafte Absichten zu zeigen. Sie scherzten darüber, sobald sie allein waren, bis sie sich die Bäuche hielten.
Die übrige Zeit verbrachten sie mit Phelan und Jeldrik. Sie übten mit Jorids jungem Hengst, den Jeldrik ihr abkaufen wollte, ritten aus und begleiteten Althea auf ihren Streifzügen durch den Wald. Oft trafen sie sich auch mit ihren Freunden in Temora, führten die gewohnten hitzigen Debatten und Gefechte, die Althea so liebte. Es waren unbeschwerte, sonnige Wochen vor dem Einheitsfest, die sie in vollen Zügen genossen, denn sie wussten alle, dass es damit nur allzu schnell wieder vorbei sein würde. Althea sollte später mit Wehmut daran zurückdenken. Es verleitete sie geradezu dazu, das, was auf sie lauerte, zu verdrängen, und nur die gelegentlichen Träume holten sie auf den Boden der Tatsachen zurück. Da sie aber nichts Neues brachten, verschwieg Althea die anhaltenden Umtriebe des Dieners.
Nur Noemi mochte sich alldem nicht anschließen. Sie wurde zunehmend verschlossener, verschanzte sich hinter ihrer Arbeit, die eigentlich längst beendet war. Es bereitete Althea Sorgen, und Phelan wusste bald gar nicht mehr, was er noch tun sollte. Er reagierte wie gewohnt, nahm Abstand von dem, was ihn beunruhigte, und überspielte es mit Fröhlichkeit, die eigentlich Traurigkeit war. Althea mochte es fast nicht mehr mit ansehen, und beinahe hätte sie ihr Versprechen an Noemi gebrochen.
Ihre Freundin bat sie inständig, es nicht zu tun. »Aber so kann es doch nicht weitergehen!«, widersprach Althea. »Er ist nun schon so viele Wochen hier, und du meidest ihn wie eine gefährliche Krankheit. Das ist ihm gegenüber nicht gerecht. Er kann nicht in die Menschen schauen wie du und ich.«
Noemi sank in sich zusammen. ›Nein, das weiß ich. Ich kann mir nicht helfen, es geht nicht!‹, zeigte sie heftig und beendete die Diskussion, indem sie hinauslief.
»Lass sie«, mahnte Chaya, »es wird sich alles finden.«
»Wenn ich das nur glauben könnte«, seufzte Althea.
Abend für Abend durchforsteten sie die saranische Geschichte. Sie begannen, alles in eine zeitliche Abfolge zu bringen, und banden die Geschichten, wie Althea es mit ihren Heilpflanzen getan hatte, passend zueinander in Holzleisten, die Jeldrik gefertigt hatte. Dem Rätsel jedoch kamen sie kaum näher. Dafür bekam Althea, ohne dass sie es wollte, einen tiefen Einblick in die saranische Rechtsprechung. Manches mutete ihr seltsam an, und sie fragte Jeldrik wahre Löcher in den Bauch über die Hintergründe dieser Gesetze, bis der irgendwann meinte, er sei doch kein Sedatschüler. Aber er zwinkerte dabei, und so nahm sie es ihm nicht übel.
»Mir fehlt hier noch eine Seite. Könnt ihr mal schauen, ob sie in euren Stapeln liegt?«, fragte Althea. Sie las gerade die Geschichte vom Untergang der Insel der Saraner. »Sie versank in einem Meer aus Feuer.. meinten sie damit einen Vulkan?«
»Bestimmt«, sagte Chaya. »Es heißt, dass sie hierher kamen mit wenigen Schiffen und ohne Hab und Gut. Das hört sich für mich nach einem überstürzten Aufbruch an.«
»Aber warum haben sie sich nach der Flucht aus Gilda überhaupt von den Temorern getrennt und auf der Insel niedergelassen? Das verstehe ich nicht«, sagte Phelan. »Hier findet sich nichts darüber, die Geschichten sind nicht alt genug.. ah, hier, Thea, geht es weiter.« Er reichte ihr die fehlende Seite.
Chaya hatte die vernarbte Stirn bei seinen Worten in Falten gezogen, wie immer, wenn sie angestrengt nachdachte. »Ich meine mich zu erinnern, dass die Gemeinschaft in den Saranern Verräter sah. Irgendetwas musste auf der Flucht aus Gilda geschehen sein, das sie entzweite.«
»Was auch immer das war, ich werde den Sedat danach fragen müssen und natürlich Großvater«, sagte Althea. »Er wird mir antworten. Diesmal muss er es!«
»Ja, wenn du zu viel über dich verrätst«, warnte Phelan. Noemi zog unbehaglich die Schultern ein. Der Gedanke an Regnar behagte ihr nicht. Er wollte ihr beruhigend zulächeln, doch sie wandte den Kopf ab und blickte beharrlich auf ihre Seiten herab.
Da hielt Phelan es nicht mehr aus. Er stand abrupt auf und ging hinaus. Die Tür schlug vernehmbar hinter ihm zu. Noemi zuckte gut sichtbar für alle zusammen und starrte ihm hinterher. »He«, Jorid stieß sie an, »wir haben noch ein ganzes Stück zu lesen.« Noemi errötete ertappt und beugte sich wieder über ihre Seiten.
An all den Abenden kamen sie des Rätsels Lösung nicht viel näher. Nur einmal stießen sie auf die Andeutung, dass die Saraner einen Schatz fortgebracht hätten. »Was auch immer sie damit gemeint haben«, sagte Althea eines schönen, sonnigen Vormittages zu Phelan. Sie lehnten am Weidezaun und sahen zu, wie Jeldrik und Jorid dem störrischen Jungtier nach und nach Gehorsam beibrachten. Sie führte die lange Leine, er ritt. Es ging schon ganz gut, was hieß, dass Jeldrik heute noch nicht ins Gras geschickt worden war.
Althea bekam von Phelan keine Antwort. »Träumst du?« Sie stieß ihn an.
Er brummte unwirsch und rief ablenkend: »Lass mich auch mal, Jeldrik!«
Sein Freund zügelte das Tier. »Wenn du willst, aber pass auf!«, warnte er ihn.
Sie tauschten die Plätze. Jeldrik kam zu Althea herüber. Mit dem Ärmel wischte er sich über das verschwitzte Gesicht. »Unser Kleiner ist ganz schön anstrengend.«
»Ja, hoffentlich bringt er Phelan aus seiner düsteren Stimmung, sonst muss ich ihn mir vornehmen. Was hat er nur?«, fragte sie und sah zu ihm auf.
Jeldrik lehnte sich lässig an den Zaun. Seine Mundwinkel zuckten. »Tja..«
Althea begann zu lächeln. Also hatte er verstanden. »Tja..« Sie brachen beide in Gelächter aus. Althea hob die Hände. »Ich habe ihr versprochen, nichts zu sagen.«
»Nein, das soll er schön selbst verstehen«, raunte Jeldrik ihr zu, denn Phelan ritt gerade an ihnen vorbei. »So schlau Phelan ist, in manchen Dingen ist er einfach blind. Blind und taub.« Nun, da sie schon einmal so dicht beisammen standen und fast allein waren, beschloss er, einen Vorstoß zu wagen. »Darf ich dich etwas fragen?«
»Natürlich. Was?«
»Ja, was willst du sie fragen?«, rief Phelan zu ihnen herüber.
»Habe ich mit dir gesprochen?« Jeldrik drehte ihm den Rücken zu.
Das ließ sich Phelan natürlich nicht gefallen. »Was wolltest du von ihr wissen?« Er kam zu ihnen geritten.
›Schade‹, dachte Jeldrik, aber nun konnte er nicht mehr zurück. »Warum benimmt sich Galvin dir gegenüber so merkwürdig?«
»Ach, der!« Phelan machte eine wegwerfende Handbewegung und glitt vom Pferd.
Althea schnaubte nur. Sie wandte ärgerlich den Kopf ab, weil sie merkte, wie ihr Gesicht heiß wurde. Phelan lachte. »Lach nicht!«, zischte sie und hielt ihren jungen Freund davon ab, wieder einmal seine neugierige Nase in ihren Beutel zu stecken.
Da von Althea keine weiteren Erklärungen kamen, nahm Jeldrik seine Schwester ins Visier. Sie rollte spöttisch grinsend die lange Führleine ein. »Der gute Galvin hat bei seiner Einweisung ein wenig zu tief in den heiligen Kelch geschaut. Danach fand er sich einfach unwiderstehlich und hat versucht, Thea mit aller Macht davon zu überzeugen, dass er es auch wirklich ist.«
Jeldrik stieß einen heftigen Fluch aus. »Ist das wahr?«, fragte er Althea scharf.
Sie winkte ab und verzog das Gesicht. »Sehr treffend formuliert, Jorid. Die Betonung liegt auf ›versucht‹, weiter ist er nicht gekommen. Ich habe ihn..« Sie zögerte.
»Ja?« Jeldrik rückte mit finsterer Miene näher. »Zeige mir, wie du das machst«, drängte er.
Althea schüttelte den Kopf. »Du brauchst gar nicht so finster zu schauen. Es ist nichts geschehen, und es hat ihm hinterher entsetzlich leidgetan. Ich habe ihm längst verziehen. Wir sind Freunde, nichts weiter.« Sie lächelte ihn treuherzig an und legte ihre Hand auf seinen Arm, tätschelte ihn sogar beruhigend. Nur ein gefährliches kleines Glitzern in ihren Augen strafte ihrer Handlung Lügen.
Sein Instinkt warnte ihn sogleich. Er riss die Augen auf und wollte ihr den Arm entziehen, da traf ihn auch schon etwas, das ihn bis ins Mark erschütterte. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen, und als er wieder zu sich kam, lag er am Boden. Althea beugte sich mit einem fröhlichen Lachen im Gesicht über ihn. Ihre Freunde bogen sich vor Heiterkeit über seine verdatterte Miene.
»Siehst du, lege dich niemals mit Thea an!«, japste Phelan.
Althea streckte ihm grinsend die Hand hin. Er zögerte doch tatsächlich, sie zu nehmen. »Keine Angst, diese Kostprobe war genug. Jetzt weißt du, wie ich selbst Großvater mit Leichtigkeit außer Gefecht setzen kann.«
»Bei den Göttern!« Jeldrik schüttelte sich und strich sich verlegen die wirren langen Haare zurück. Aber Altheas Hand nahm er nicht, als er sich aufrappelte.
Das Lachen schwand aus ihrem Gesicht. ›Gut so, soll er ruhig ins Nachdenken kommen‹, dachte sie und sagte spitz: »Ich hoffe, das hat Galvin kuriert.« Sie schlüpfte unter dem Zaun hindurch und nahm ihm jede Möglichkeit einer Antwort, indem sie aufsaß und anritt.
»Danach sah es mir aber ganz und gar nicht aus«, brummte Jeldrik so leise, dass die anderen es nicht hören konnten.
Es wollte Jeldrik nicht mehr aus dem Kopf gehen, den ganzen Tag lang nicht, selbst als sie ausritten und die nördliche Küste entlangstreiften. Als sie schließlich ihre Pferde zurück in den Stall führten, reichte es Althea endgültig. Ein vor sich hinbrütender Phelan war schon schlimm genug, und jetzt auch noch Jeldrik.. sie wollte sich nicht diesen schönen Tag verderben lassen. »Nun hört endlich auf!«, fuhr sie die beiden an. »Sonst sehe ich den Rest der Pergamente mit Jorid allein durch.«
Phelan und Jeldrik wechselten einen verdutzten Blick. »He, da ist aber jemand böse..«
»Das dürfen wir uns nicht gefallen lassen..«
»Nein..« Sie zwinkerten sich zu, und dann stürzten sie sich gemeinsam auf Althea, packten sie und warfen sie ins Stroh.
»Hilfe, Jorid!« Althea kreischte, als die beiden sie kräftig durchkitzelten. Ihre Freundin ließ sich nicht lange bitten. Im Nu war eine wüste Balgerei im Gange, die auch schnell die Kinder herbeilockte. Sie stürzten sich begierig in den Spaß, bewarfen sich mit Stroh, kitzelten sich und lachten, bis sie keine Luft mehr bekamen.
»Ha, Livie, na warte!«, rief Althea, nachdem sie eine Handvoll Stroh an den Kopf geworfen bekommen hatte. Die Kleine rollte sich kichernd den Strohberg herunter. Althea wollte ihr hinterher, doch da packte jemand sie am Knöchel und brachte sie zu Fall.
»Halt sie fest, halt sie fest!«, hörte sie Phelan rufen. Sie wurde herumgerissen und fand sich unter einem blitzenden blauen Augenpaar wieder. Jeldrik drückte ihre Hände ins Stroh und nagelte ihre Beine mit den Knien fest.
»Lass mich los!« Althea kämpfte verbissen, bis sie vor lauter Lachen keine Kraft mehr hatte.
»Nein«, grinste er auf sie herab. »Mach schon, Phelan!« In dem Moment schickte die tief stehende Abendsonne ihre Strahlen in den Stall. Althea konnte nicht anders, sie sah fasziniert in seine Augen. Für einen Moment verschwanden die Geräusche um sie herum, es war fast, als würde sie fortgerissen, hin zu dem Gletscher auf ihrer Flucht, dessen Farbe genau dieselbe gewesen war, eine unglaubliche Mischung aus Blau, Grün und Violett. Fast meinte sie, das Rumpeln und das Plätschern des Baches hören zu können. Sie hielt den Atem an.
Da schob sich die nächste Wolke vor die Sonne. Der Augenblick war vorbei. Phelan riss an dem Kragen ihres Hemdes, dass die Schnüre bedenklich knackten, und stopfte ihr eine Handvoll Stroh hinein. Jeldriks Blick zuckte nach unten, und plötzlich stand etwas in seinem Gesicht, das sie nicht zu benennen vermochte. Die Narbe trat hervor, irgendwie wurden seine Züge schärfer, härter. War es Mitleid? Zorn? Er hatte ihre Narben gesehen! Althea wurde es zu eng. »Nein!«, keuchte sie und wurde sofort losgelassen. Sie stieß Jeldrik beiseite und sprang auf. Ein paar lange Schritte den Strohberg hinab, und sie erreichte die rettende Tür. Doch dort erstarrte sie mitten in der Bewegung.
»Thea! Was ist?« Beim Anblick ihrer geduckt dastehenden Gestalt wusste Phelan sofort, dass etwas nicht stimmte. Sie wich mit einem leisen Fluch zurück in den Schatten des Stalles. Die Kinder hielten inne mit ihrer Balgerei. Alarmiert eilten die Freunde zu ihr.
»Oh verdammt, die Priester!«, entfuhr es Phelan. Zwei reich geschmückte Wagen näherten sich der Siedlung.
»Thea, Thea, was ist denn?« Die kleine Phelana zog ängstlich an ihrer Hand.
Althea fing sich sofort. »Lauf, Pheli, hole deinen Vater und sage deiner Mutter bescheid. Ihr bekommt wichtigen Besuch. Livie, du auch. Ihr anderen geht nach Hause, beeilt euch. Keine Widerrede!« Sie griff sich gewohnheitsgemäß an ihren Kopf, um den Sitz ihres Tuches zu prüfen, und fasste in eine Flut wirrer, aufgelöster Locken. »Verdammt, wo ist..?«
»Hier.« Jeldrik reichte ihr den Umhang.
»Oh je, so könnt ihr nicht vor den Priestern erscheinen«, sagte Jorid mit Blick auf ihre verschwitzte, voller Stroh hängende Kleidung. »Kommt schnell, suchen wir etwas Passendes für euch heraus.« Noch im Laufen klopften sie sich den gröbsten Schmutz ab.
In der Hütte halfen Rana und die Ethenierin Bajan gerade in frische Kleider. »Wollt Ihr auch die Rüstung anlegen, Fürst?«
»Nein, nein, lassen wir das. Sie würde an mir nur schlottern wie ein loses Hemd«, wehrte Bajan ab. »Ich danke euch.. ah, da seid ihr ja.. wie seht ihr denn aus?!«, fragte er konsterniert. Die Frauen rissen die Augen auf.
»Eine kleine Schlacht mit den Kindern. Thea, hilf mir mal«, bat Phelan. Den gröbsten Dreck abgewaschen, frische Beinlinge und ein neues Hemd, Schwertgurt und Dolch angelegt, die Haare gebürstet und zurückgebunden.. im Handumdrehen sahen Phelan und Jeldrik wieder wie ein Prinz und der Sohn eines Clansführers aus. Althea band sich rasch noch die wirren Locken zusammen und verbarg sie unter einem von Rana geliehenen Tuch, da wurde auch schon mit einem harten Gegenstand gegen die Tür geklopft.
»Wo ist der Herr dieses Hauses?«
Sie tauschten ein verschwörerisches Lächeln. Bajan bedeutete Althea und den anderen Frauen, sich zurückzuziehen. Dann erst öffnete Bryn die Tür.
Althea beobachtete die Zeremonie aus dem Dunkeln der Hütte heraus. Mihal war dem ersten Wagen entstiegen und ein paar andere Mitglieder des Rates, aber wo war ihre Großmutter? Nichts war von ihr zu sehen. War sie im zweiten Wagen, der etwas weiter entfernt stehen geblieben war? Nichts rührte sich dort.
Die Priester hatten ein Hexagramm in den Boden vor Bryns Hütte gezeichnet und Phelan und Bajan aufgefordert, sich dort hineinzubegeben. Die anderen hielten sich in gebührendem Abstand dazu. Regungslos ließen die beiden die Zeremonie über sich ergehen. Es wirkte alles so seltsam, dachte Althea. Nicht ein persönliches Wort war gefallen. In aller Hast wurde die Zeremonie vollzogen, und nach ihrem Ende bestiegen die Priester wieder ihren Wagen und fuhren davon. Ohne ein Wort, ohne dem örtlichen Clansführer ihre Referenzen zu erweisen.
Bajan verschränkte die Arme und beobachtete, wie der Wagen die Siedlung verließ. Es wurde still. Der zweite Wagen stand scheinbar verlassen dort, sein Führer war mit den anderen davongefahren.
»Mehr Verachtung hätten sie nicht zeigen können«, sagte Phelan mit voller Absicht laut auf Gildaisch, sodass man es bis dort hören konnte.
Seine Absicht ging auf. In dem Wagen entstand Bewegung, das Tuch vor dem Einstieg wurde zurückgeschlagen und heraus kletterte.. »Galvin!«, entfuhr es Althea überrascht.
Er lächelte flüchtig in ihre Richtung, hielt das Tuch zurück und half seinem Lehrmeister heraus. »Ihr erwartet hoffentlich nicht, dass meine Brüder und Schwestern Begeisterung über diese Sache zeigen, Hoheit«, sagte er tadelnd zu Phelan und trat dann auf Bajan zu. »Ich bin froh, Euch wohlauf zu sehen, Fürst.«
»Und ich Euch, Meister Anwyll«, sagte Bajan. Sie begrüßten sich mit Handschlag und musterten sich einen Augenblick ergriffen, ein seltsamer Anblick bei zwei solch großen Männern.
»Wie ich sehe, ist die Zeit nicht spurlos an Euch vorübergegangen«, sagte Anwyll in seiner so unbestechlichen Offenheit.
»Wie an uns allen, Meister Anwyll«, schmunzelte Bajan.
»Ah, ich hatte vergessen, was für ein aufrechtes Gegenüber Ihr seid.« Die beiden Männer lachten. »Und Ihr, junger Mann, seid Phelan, nicht wahr?«
»Ich grüße Euch.« Phelan verneigte sich steif. Er konnte sich an den alten Priester kaum erinnern, hatte er ihn doch in Gilda nur aus der Ferne gesehen. Viel schwerer wog, was Althea ihm im Laufe der Jahre geschrieben hatte. Er fragte sich, was er wohl von ihnen wollte.
Die Antwort erhielt er gleich darauf. Anwyll wandte sich wieder an Bajan. »Fürst, ich möchte Euch gerne jemanden vorstellen.« Er deutete auf den Wagen. Dort wurde das Tuch erneut zur Seite geschlagen. Heraus kam eine jüngere Priesterin, die Althea sofort erkannte.
»Oh nein, was hat sie vor?«, flüsterte sie und rückte näher an die Tür der Hütte heran, um besser sehen zu können.
»Was meinst.. oh!« Alle Frauen scharten sich um sie, als Aislinn in ihrem kostbarsten Priestergewand aus dem Wagen stieg. »Ist sie das?«, wisperte Jorid. »Deine Großmutter?«
»Ja«, hauchte Althea. Sie hatte ein ganz übles Gefühl im Magen.
Sie beobachtete, wie Aislinn, Phelan und Bajan einander vorgestellt wurden. »Ich möchte Euch danken, Fürst, dass Ihr meiner Enkeltochter das Leben gerettet habt. Dass Ihr damals hier derartig empfangen wurdet, geschah unter mehr als unglücklichen Umständen.«
Althea traute ihren Ohren nicht. Bajan auch nicht, aber die jahrzehntelange Übung ließ ihn sein Misstrauen nicht anmerken. »Dass Eure Enkeltochter wohlbehalten hierherkam, verdanken wir vor allem diesem jungen Mann hier.« Er legte Phelan nicht ohne Grund die Hand auf die Schulter. Schließlich war er ihr Großneffe. »Ohne seine tatkräftige Hilfe hätten wir es niemals geschafft.«
»Nun, dann gebührt mein Dank auch Euch«, sagte Aislinn kühl. Phelan antwortete mit einer leichten Verneigung.
»Spöttischer ging es nicht«, flüsterte Althea und zog sich gänzlich zurück.
»Wie du dabei nur so ruhig bleiben konntest!«, rief Althea später am Abend aus, als sie in ihrer Hütte saßen und wieder die Pergamente studierten. Sie waren fast fertig damit. »Ich wäre ihr am liebsten ins Gesicht gesprungen.
»Was hat Aislinn den getan?« Chaya setzte sich aufatmend zu ihnen und streckte ihre schmerzenden Knochen. Altheas besorgten Blick wiegelte sie mit einem leichten Kopfschütteln ab. »Das Wetter ändert sich, es wird Regen geben. Morgen«, sagte sie.
»Ich spüre es auch«, ließ Jeldrik von der anderen Seite des Tisches vernehmen. Er blätterte die nächste Seite seines Stapels um. »Sie hat versucht, Bajan im Sinne der Gemeinschaft zu beeinflussen. Für mich klang es so, als fürchteten sie Widerstand der örtlichen Clansführer.«
»Ja, derartig geschickt hat sie es versucht, dass es kaum zu merken war.« Althea war immer noch verblüfft. Das war ein Zug an ihrer Großmutter, den sie so noch gar nicht kannte.
»Das konnte Aislinn schon immer gut, andere Leute manipulieren, ohne dass sie es merkten. Ich hoffe, Bajan war klug genug, sich nicht von ihr beeinflussen zu lassen?«
»Nein.« Althea schüttelte den Kopf.
»Es war eine große Beleidigung zu denken, dass Fürst Bajan es nicht bemerken würde«, grollte Phelan. Auch ihn hatte es alle Beherrschung abverlangt, diese Frau, die ja auch seine Großtante war, nicht offen anzugehen. »Ich glaube, sie wollte auch etwas mehr über Thea herausfinden.«
»Natürlich wollte sie das, das ist es ja, was mich so wütend macht. Warum spricht sie nicht mit mir selbst?«, grummelte Althea.
»Weil du deinem Großvater zu ähnlich bist und sie gleich anfauchst?«, riet Phelan. Althea verdrehte die Augen. Er hatte gut reden, er schaffte es spielend, seine Wut hinter einer eisglatten Maske zu verstecken. Diplomatie hatte Bajan das genannt. »Mach dir nichts daraus, das lernst du schon noch«, tröstete er, weil ihr jeder Gedanke anzusehen war. Althea warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
›Hat Fürst Bajan es denn gut überstanden?‹, fragte Noemi besorgt.
»Gutes Mädchen, dass du danach fragst«, lächelte Chaya. »Ja, wie geht es ihm denn nach alldem? Hat es ihn überanstrengt?«
»Oh nein«, antwortete Jorid. »Er hat sich keine Schwäche anmerken lassen, auch hinterher nicht. Ich denke, er wird zum Einheitsfest wieder ganz genesen sein, nicht, Thea?« Althea nickte.
»Schade, dass deine Großmutter dabei war«, sagte Jeldrik. »Wir hätten sonst Meister Anwyll in aller Ruhe danach fragen können, was der Sedat ihm damals gesagt hat.«
Altheas Gesicht verfinsterte sich. »Das war wohlmöglich die letzte Gelegenheit, ihn allein vor dem Einheitsfest sprechen zu können.«
»Ja, Galvin glaubt, dass Meister Anwyll womöglich nicht oft bei den Beratungen anwesend sein kann«, ergänzte Jorid. Sie hatte die Gelegenheit, ein wenig allein mit ihm zu sein, ausgenutzt. Auch wenn sie nicht das Lager miteinander geteilt hatten wie schon so oft, so hatte er doch die Zeit genutzt, ihr seine Sorgen anzuvertrauen. Sie betrachten beide ihre Beziehung ganz nüchtern, es diente ihnen dazu, Lasten loszuwerden, sei es Sorgen, Ängste oder körperliche Nöte. Sie waren Freunde, enge Freunde, nichts weiter.
»So schlimm?«, fragte die alte Heilerin.
»Er stirbt, Chaya«, sagte Althea gedrückt, »er stirbt, ich kann es nicht verhindern, und er weiß das. Vielleicht wollte er deshalb noch einmal allein mit Fürst Bajan reden, und Großmutter hat es vereitelt. Zuzutrauen wäre es ihr.«
»Ich werde dafür sorgen, dass er auf dem Fest Gelegenheit dazu bekommt«, bot Jeldrik an, und sie dankte ihm mit einem leichten Lächeln.
Chaya und Jeldrik behielten recht. Am nächsten Tag zogen dunkle Wolken von der See heran, und es begann sich richtig einzuregnen. Schon in den Tagen zuvor hatten sie alle bemerkt, dass sich eine gewisse Unruhe über die Gegend legte. Die Straßen wurden voller, die ersten Händler reisten an, sich die besten Plätze auf dem Festgelände zu sichern. Sie schickten ihre Boten zu Mahin, um die vereinbarten Mengen Seife abzuholen. Einer von ihnen brachte eine Botschaft für Bajan und Jeldrik mit, dass die Priester allen Clansführern Plätze zugewiesen hatten, an denen sie sich niederlassen konnten, damit es nicht von vorneherein zu Streit kam. Jeldrik wurde aufgefordert, den Platz seines Vaters in Augenschein zu nehmen, und er beschloss, gemeinsam mit Oren und dem Fürsten hinzureiten.
»Falls Euch das zu sehr anstrengt, wird sich Thea Eurer annehmen, Fürst«, mahnte Jorid.
»Soll das eine Drohung sein, Mädchen?«, zwinkerte Bajan. Trotzdem sahen die Frauen ihm besorgt hinterher. Bajan war noch nicht so weit genesen, wie er sich den Anschein gab.
Später am Vormittag fiel der Regen in Strömen, als Althea und zu ihrer Überraschung auch Noemi triefend nass in Bryns Hütte eintrafen. Noemi wäre am liebsten sofort wieder umgedreht, sobald sie sah, dass der Fürst und Jeldrik nicht anwesend waren. Das bedeutete noch weniger Ablenkung von Phelan. Sie hatte sich von Althea überreden lassen mitzukommen, denn zu Hause wartete keine Arbeit mehr auf sie. Alle Vorräte waren restlos aufgebraucht, sie hatte nichts, aber auch gar nichts mehr, das sie verarbeiten konnte. Kein Grund also, weiter fortzubleiben. Althea schob sie energisch in die Hütte.
Rana versorgte sie mit trockener Kleidung und hängte ihre zum Trocknen ans Feuer. »Was für ein Wetter!« Jorid kam schimpfend herein und schüttelte sich den nassen Umhang aus.
Hinter ihr öffnete sich erneut die Tür. Verna kam herein. »Ich habe gehört, ihr habt noch Seife mitgebracht..« Nach und nach füllte sich die Hütte, sodass sich Noemis Befürchtungen als unbegründet erwiesen.
Althea hatte schon oft beobachtet, dass die Frauen Ranas Reich dafür nutzten, um sich eine Pause von ihren Pflichten zu gönnen und ungestört plaudern zu können. Die Kinder machten das allerdings zunichte. Sie waren rastlos, weil sie nicht draußen spielen konnten und ihnen die Beschäftigung fehlte. Schließlich raunte Rana Althea zu: »Ich wäre euch dankbar, wenn ihr uns ein wenig Ruhe verschaffen könntet.«
Also nahmen Althea, Phelan und Jorid die Kinder mit in den Stall und spielten mit ihnen. Althea holte ihr ganzes Talent als begnadete Geschichtenerzählerin hervor. Seeräuber, Soldaten, Prinzen und Prinzessinnen wurde erfunden und mit Hingabe in die Handlung eingebunden. Selbst Noemi kam irgendwann hinzu und ließ sich nach einigem Zureden zu dem Spaß hinreißen. Sie spielte das stumme Orakel, das die Kinder, aber ganz besonders Althea und Jorid mit allerlei Gebrechen belegte. Einen Frosch mussten sie spielen, eine Schlange, einen Wal..
»Wie macht man denn einen Wal nach?!«, fragte Jorid in gespielter Verzweiflung. Es war schon denkbar komisch, sich die überschlanke Jorid als Wal vorzustellen.
»Papa ist der Wal!«, fiel Phelana die Rettung ein. Sie lief hinaus, um ihn zu holen.
»Und was ist Phelan, Emi?«, verlangte Livie zu wissen.
Noemi senkte den Kopf. ›Er ist der Floh in meinem Ohr und das Hämmerchen in meinem Herzen‹, dachte sie nur für Althea hörbar.
Sie sprang ihrer Freundin helfend bei. »Phelan ist der Esel, auf dem alle Prinzen und Prinzessinnen reiten können!«, rief sie den Kindern zu.
»Ha, na warte!« Phelan wollte es ihr vergelten, wurde jedoch von der Horde Kinder von den Füßen gerissen.
»Das war gemein.« Jorid grinste spöttisch, aber Althea erwiderte nichts. Sie war von der kleinen Phelana abgelenkt, die aufgeregt von einem Bein aufs andere hüpfend in der Tür stand. »Thea, Bajan und Jeldrik sind wieder da.«
»Wirklich?« Althea lief zu ihr und klopfte sich das Stroh aus den geliehenen Kleidern. »Nun, dann sehen wir doch mal, was die beiden zu berichten haben, nicht wahr?« Die Kleine streckte die Arme hoch, eine gewohnte Aufforderung. Althea nahm sie huckepack und warf einen Blick nach draußen. Es regnete unvermindert stark. »Igitt, ist das ein Regen!«
»Warte«, Jorid kam vom Strohberg zu ihnen herunter, »nimm meinen Umhang.« Sie hängte ihn Althea um, aber er war viel zu lang und schleifte am Boden.
»Uuihh, ich werd’ trotzdem ganz nass!«, beschwerte sich Phelana.
»Häng ihn doch ihr um, dann reicht er für uns beide«, sagte Althea und ging in die Knie.
Als sie sich wieder aufrichtete, brachen alle in kreischendes Gelächter aus. »Ihr seht aus wie ein doppelköpfiges, vieräugiges Ungeheuer!«, rief Phelan.
Althea knurrte, und Phelana lachte begeistert. »Hüa, hüa!« Althea machte ein paar Hüpfer, sehr zum Entzücken des Mädchens, und galoppierte mit ihr hinaus. Sie hüpfte und schnaubte, bis ihr vor Lachen die Luft ausging. »Oh, ich kann nicht mehr! Runter mit dir, Pheli, du wirst zu schwer! Lass uns..« Sie stockte. Die Kleine rutschte ihr aus den Händen und landete ziemlich unsanft auf dem Boden.
»Aua, Thea!«
Althea beachtete sie nicht. Sie sah nach vorne, zwischen zwei Lagerhäusern hindurch zu dem Stall, der Jeldriks Leuten als Unterkunft diente. Dort saßen die drei Rückkehrer gerade ab. Althea blinzelte gegen den strömenden Regen an. Was war das? Irgendetwas stimmte dort nicht, so, als verschwamm die Luft ein wenig um die fallenden Regentropfen herum. Althea zerrte die Kleine zurück, sodass sie empört aufheulte. »Lauf zu deiner Mutter, schnell, und bleib dort!« Sie selbst rannte zurück zum Stall. »Phelan! Komm schnell!«
Die anderen horchten auf. »Was ist?«
»Es.. irgendetwas ist mit ihnen. Ich kann es spüren!«
Phelan stieß einen heftigen Fluch aus, der alle Kinder erschrocken zurückfahren ließ. »Schnell, Jorid, hol unsere Waffen. Thea, du bleibst hinter mir. Sage mir, wer es ist!«
Sie rannten geduckt durch den Regen und pirschten sich an die Rückkehrer heran. Gerade hatten die anderen sie entdeckt und kamen aus dem fast fertigen Lagerhaus heraus, wo sie immer noch für Mahin zimmerten. Althea erschrak. »Nein! Phelan, halte sie auf. Sie sollen fortbleiben!« Er rannte los.
Jorid kam mit ihren Waffen zurück und drückte Althea ihr Schwert in die Hand. »Welcher ist es?«
»Ich weiß es nicht.. sie stehen zu dicht zusammen. Lauf, hilf Phelan, sie aufzuhalten.« Althea folgte ihnen langsam, ihre Sinne auf Bajan, Jeldrik und Oren gerichtet. ›Oh bitte, lass es nicht alle drei sein!‹, flehte sie. Die sprechende Säule in der großen Halle Temoras stand ihr noch allzu deutlich vor Augen. Nicht Bajan.. und nicht Jeldrik.. bitte nicht! Sie hätte es fast geschrien.
Gerade noch rechtzeitig fingen Phelan und Jorid die anderen Männer ab. Ein paar aufgeregten Rufen folgte ungläubiges Schweigen. Althea sah, wie Bajan alarmiert den Kopf hob und Jeldriks versehrte Hand augenblicklich an den Griff seines Schwertes fuhr. Die Wächter hatten allesamt ihre Waffen gezogen, sofern sie denn eine bereit hatten.
»Verteilt euch«, hörte Althea Phelans undeutliche Worte, »..nicht berühren.« Sie selbst schob sich weiter nach vorne.
Einer der Wächter wollte sie aufhalten. Es war Haldar. »Bleib zurück«, knurrte er.
»Nein, ich muss sie mir ansehen. Gebt mir Deckung.« Etwas in ihrer Stimme ließ ihn sofort gehorchen. Sie trat allein in den freien Raum vor dem Stall.
Bajan und Jeldrik wandten sich zu ihr um. »Althea, was hat das..«
»Lasst Eure Pferde los, Fürst. Jeldrik, Oren, ihr auch. Tretet auseinander.« Sie blieb in sicherer Entfernung stehen.
»Thea, was willst du uns sagen?«, fragte Jeldrik. Ihre Stimme klang so anders, das Gesicht war unter dem überlangen Umhang nicht zu erkennen. Sie stand wie geduckt. Bereit zum Kampf.
»Tut, was sie sagt! Schickt die Pferde fort!«, rief Phelan.
Althea hörte hinter sich das Knarren von Bogensehnen. Zögerlich ließen sie ihre Pferde los. Kaum waren sie fort, spürte sie es deutlich. Einer von ihnen verströmte eisige Kälte, so stark, dass es sie überraschte. Althea hob die Hand.
Jeldrik und Bajan fuhren herum und zogen ihre Schwerter. Sie richteten die Waffen auf Oren. »Geht zurück!«, rief Althea. Oren senkte den Kopf. Er ballte die Fäuste, und dann sah sie es auch schon kommen. Sein Gesicht verzerrte sich. »Zurück, schnell!«, schrie Althea und rannte los.
Es geschah alles so schnell, dass niemand mehr Zeit hatte einzugreifen. Oren knurrte und sprang sie an. Althea warf sich im letzten Moment zur Seite, sonst hätte der schwere Kämpfer sie unter sich begraben. Beide fielen sie hart in den Schlamm. Er warf sich schneller auf sie, als sie reagieren konnte. Kälte überwältigte sie und nahm ihr für einen Moment den Atem und den Willen, sich zu wehren. Wie aus weiter Ferne hörte sie die Schreie ihrer Freunde. Die kalten Augen bohrten sich in sie. Instinktiv reagierte sie, wo ihr Verstand noch zu begreifen versuchte, wie das möglich war. Sie packte zu.
Die heranstürmenden Freunde wurden von den Füßen gerissen und mehrere Schritte weit zurückgeschleudert. Phelan prallte sogar gegen die Wand einer Hütte. Selbst diejenigen, die noch halb oder ganz in Deckung beblieben waren, riss es um, sodass sie alle für einen Augenblick betäubt waren.
Als ihr Blick wieder klar wurde, war von Althea nicht viel zu sehen. Sie lag begraben unter dem jungen Mann, dessen fassungsloses Gestammel zu ihnen drang. Ächzend stemmte er sich hoch. Altheas Kopf rollte kraftlos zur Seite. Regentropfen schlugen mit leisem Klacken auf dem plötzlich hart gefrorenen Schlamm auf und besprengten sie mit dunklen Spritzern.
»Thea!!«
»Fort mit ihm, runter von ihr!«, hallte Bajans scharfer Befehl durch die Gassen.
Oren fuhr hoch, da wurde er auch schon von einer Seilschlinge getroffen, und von noch einer und noch einer. Die Wächter hatten Bajans Instruktionen nicht vergessen. Oren wurde brutal von Althea heruntergezerrt und an allen Vieren über den eisglatten Boden fortgeschleift. Seine Schreie waren noch weithin zu hören.
»Thea!« Phelan kniete sich zu ihr und versuchte, ihre festgefrorenen Haare aus dem Schlamm zu lösen. Sie war bewusstlos.
»Finger weg!« Bryn war plötzlich bei ihm und stieß ihn beiseite. Er zerschlug das Eis mit seiner Faust, hob Althea auf seine starken Arme. Rasch trug er sie zu seiner Hütte. Dort betteten sie Althea in Bajans weiche Felle, und Noemi nahm sich ihrer an. Sie wusste schließlich am besten, was zu tun war. Alle Männer beugten sich den energischen Handbewegungen der winzigen jungen Frau. Nur bei Rana und Jorid ließ sie es zu, dass sie ihr halfen. Sie bildeten einen festen, schützenden Ring um sie, zogen ihr die triefend nasse Kleidung aus, rieben sie sauber und kleideten sie neu an.
Schon gleich zu Anfang hatten Bajan und Phelan all die anderen vor die Tür geschickt. Nur Jeldrik gestatteten sie zu bleiben, der versuchte, sie nicht allzu sehr anzustarren. Dass sie sich so einfach, so ohne nachzudenken, in Todesgefahr begab, versetzte ihm einen Schock, wie die Folgen es auch taten. ›Sie opfert sich‹, erkannte er und war regelrecht erschrocken darüber, dass er vor Wut beinahe die Wände hochgegangen wäre. Gab es denn gar nichts, womit man sie beschützen konnte? Die Antwort war niederschmetternd. Nein, sie konnten es nicht.
»Ist es immer so?«, fragte er Phelan grimmig.
»Ja. Man kann nichts dagegen tun.« Phelans Stimme war ganz heiser vor Anspannung.
Jorid stand auf und kam zu ihnen herüber. »Noemi sagt, dass sie noch eine Weile schlafen wird. Ihr solltet euch keine Sorgen machen, sie atmet tief und ruhig.« Aber auch sie konnte einen furchtsamen Unterton in ihrer Stimme nicht unterdrücken. Von etwas zu hören, war etwas ganze anderes, als es selbst zu erleben. »Kommt, lasst sie in Ruhe. Seht einmal nach, was mit Oren ist.«
Althea schlief nicht lange, obwohl es den Freunden wie eine halbe Ewigkeit vorkam. Keuchend fuhr sie plötzlich von ihrem Lager hoch. »Es sind die Pferde!«
»Thea, komm zu dir!«, rief Jorid. Noemi hielt sie fest, damit sie nicht wieder fiel.
Althea sah aus weit aufgerissenen, fiebrigen Augen um sich. »Die Pferde verbergen die Kälte, das ist es! Der Diener kann überall sein, er kann dicht an mir vorbeigeritten sein, ohne dass ich es bemerkt habe. Wir müssen noch einmal ganz von vorne anfangen. Nichts.. nichts ist mehr sicher..« Stöhnend fiel sie zurück auf ihr Lager und schloss die Augen.
»Hier, trink etwas, das wird dir gut tun.« Unter gutem Zureden brachten die Frauen Althea wieder auf die Beine.
»Wo ist Oren?«, fragte Althea, als sie endlich wieder richtig wach auf ihrem Lager saß. Ihre Freundinnen wussten es nicht. Entschlossen stand Althea auf. Sie ignorierte die Proteste der anderen in der gewohnten Sturheit und machte sich auf die Suche.
Sie hatten ihn in dem halb fertigen Lagerhaus an einen Stützbalken gefesselt. Althea brauchte niemanden zu fragen, wo er sich befand, sie hörte ihn auch so. Sein Geschrei war durch die ganze Siedlung zu hören. Es klang so furchtbar, wie ein Mensch, der Todesängste ausstand. Althea konnte nur ahnen, wie es in ihm aussah. Es musste ihn völlig verstören. Sie musste ihm helfen, so schnell wie möglich.
Dort jedoch stellte ihr sich ein unerwartetes Hindernis in den Weg. Jeldrik persönlich hielt vor dem Eingang Wache. Sie ahnte, was sich abgespielt hatte. Seine Miene und die Abwesenheit der anderen sagten ihr genug. Leise trat sie an ihn heran, so leise, dass er sogar zusammenzuckte, als sie ihn am Arm berührte. Stumm schaute er auf sie herab. Er wusste nicht, was er sagen sollte. In seinen Augen stand etwas, vor dem sich Althea am liebsten tief in der Kapuze ihres Umhanges verborgen hätte.
»Ich möchte nach ihm sehen. Bitte lass uns allein.«
Er packte zu, bevor sie auch nur einen Schritt machen konnte. »Nein, nicht allein!«
Althea schloss die Augen. Wie konnte diese Hand, so schmerzhaft, wie sie zupackte, eine derartige Wärme verströmen? »Bitte lass mich los.« Er hörte nicht, sondern drängte sie von der Tür fort an die Wand der Hütte. »Bitte.. ich möchte nicht gezwungen sein, meine Kräfte gegen dich zu wenden. Er braucht meine Hilfe! Hörst du nicht, er ist wie von Sinnen vor lauter Angst!«
»Er ist wahnsinnig!«, knurrte Jeldrik.
»Nein. Das ist er nicht. Er hat Todesangst.« Althea legte ihre Hand auf seine, die immer noch schmerzhaft ihren Arm umklammert hielt, und öffnete die Augen. »Lass mich tun, was ich tun muss. Du kannst mich nicht daran hindern.« In ihren Augen glomm etwas auf, eine Drohung, ein Zwang. ›Halte mich nicht davon ab.‹ Es stand deutlich in ihnen geschrieben. Schon spürte er, wie die Knie unter ihm nachgaben. Geschwächt taumelte er gegen die Wand des Lagerhauses und brach zusammen, aber er wurde nicht bewusstlos.
Althea hockte sich zu ihm. Ihre Miene verzog sich schmerzhaft. »Ich wollte nie gezwungen sein, mich gegen meine Freunde zu wenden, aber du lässt mir keine Wahl.« Sie wischte sich mit dem Knöchel ihrer Hand über den rechten Augenwinkel und wandte sich ab. War es eine Träne gewesen oder ein Regentropfen? Hilflos musste Jeldrik mit ansehen, wie sie allein das Lagerhaus betrat.
Die Schreie verstummten sofort. Aus weit aufgerissenen Augen starrte Oren ihr entgegen und zerrte heftig an seinen Fesseln. Sein Umhang, sein Hemd hingen bereits in Fetzen, und seine Haut trug blutige Abschürfungen dort, wo ihn die Fesseln ins Fleisch geschnitten hatten und er gegen den dicken Balken geschlagen war.
Langsam ging sie auf ihn zu und legte alle Ruhe in ihre Stimme, die sie aufbringen konnte. »Hab keine Angst. Ich bin hier, um dir zu helfen.«
»Oh bitte, was.. was ist mit mir geschehen?«, rief er voller Furcht.
»Du erinnerst dich nicht?«
Er schloss die Augen und lehnte die Stirn an den Pfeiler. »Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Es ist schrecklich.« Er keuchte, die Furcht drohte ihn wieder zu überwältigen.
Mit einer tröstlichen Geste strich sie ihm über die Schläfen, was ihn verschreckt die Augen aufreißen ließ. »Hab keine Angst. Es ist alles noch in dir drin, du musst es nur wiederfinden. Ich kann dir dabei helfen. Du musst es nur wollen und mir vertrauen.«
Fiebrig glänzten seine Augen sie an. »Ja, bitte.. hilf mir.«
Althea löste seine Fesseln. Fast musste sie ihn tragen, so geschwächt war er von alldem, eine Schwäche des Geistes, nicht des Körpers. Sie keuchte unter dem Gewicht des kräftigen Saraners, ließ ihn auf einen Haufen weicher Sägespäne sinken und hockte sich zu ihm. »Komm her. Lege deinen Kopf hierher auf meinen Schoß. Hab keine Angst.« Dem Zwang hinter ihren Worten konnte der geschwächte junge Mann nichts entgegensetzen.
Althea legte die Hände an seine Schläfen. Mit ihrem Licht begann sie zu forschen. Den Riss in ihm fand sie sofort, es war wie eine offene Wunde. Der Diener musste mit aller Gewalt in ihn eingedrungen sein. Er hatte keine Zeit mehr, die Kälte langsam und versteckt ihr Werk tun zu lassen, wurde sichtbarer, wie sie selbst auch. Sein Eindringen hatte ein Trümmerfeld hinterlassen. Althea fand eine oberflächliche Schicht aus durcheinander gewirbelten, teilweise sogar zerstörten Erinnerungen, die Ereignisse der letzten Tage und Wochen, wie sie vermutete. Doch darunter war alles heil geblieben. Saran, wie sie es aus Phelans Beschreibungen kannte. Dichte Wälder, eine Axt, die geschwungen wurde. Dann das Bild einer hübschen jungen Frau, die ein Kind stillte. Dies war es, das sie ihm zuerst zeigte. Geradezu gierig griff er danach, und dann tauchte er ein in seine eigenen Erinnerungen. Althea half ihm, dass sie nicht zu schnell auf ihn einprasselten, dass er sie lenken konnte. Nach und nach heilten sie gemeinsam den Riss in ihm.
»Was tut sie denn da?«, fragten die jungen Wächter. Sie saßen allesamt im Schutz ihrer Unterkunft und sahen voller Unruhe zum Lagerhaus hinüber, wo ein warmer Lichtschein durch die Tür nach draußen fiel. »Macht sie Feuer? Dort ist alles voller Späne, sie wird das Lagerhaus in Flammen setzen!«
Phelan fuhr sie an zu schweigen. Er hatte Jeldrik vor der Tür gefunden und ihm hinüber zu den anderen geholfen. Nun musste er all seine Kraft aufbieten, um den fassungslosen Saraner daran zu hindern, wieder hinüberzustürmen. »Nein, das ist kein Feuer«, murmelte er so leise, dass nur Jeldrik es hörte. Dessen Widerstand erlahmte augenblicklich.
»Lasst sie, sie weiß, was sie tut.« Bajan trat zu ihnen und befahl es mit jener ruhigen Autorität, der sich stets alle beugten.
Es dauerte nicht lange, da kam Althea wieder heraus. Ohne den Umhang lief sie im strömenden Regen auf sie zu und blieb, als alle zu ihr hinausdrängten, stehen. Ein ganz merkwürdiger Glanz lag in ihren Augen, ihr Gesicht wirkte spitz und die Haare sträubten sich wie das Fell einer Katze zu allen Seiten. Ihr Anblick jagte ihnen allen Furcht ein.
»Thea?«, fragte Phelan behutsam.
»Er schläft, es geht ihm gut. Außer, dass er sich womöglich nicht an die vergangenen Tage erinnern wird, hat er keinen bleibenden Schaden davongetragen. Seid nachsichtig mit ihm und erklärt ihm alles, was er wissen muss.«
Phelan trat an sie heran und nahm sie vorsichtig in die Arme. »He, du bist ja ganz kalt und nass«, murmelte erschrocken.
»Ich weiß. Mache dir keine Sorgen, du weißt doch, ich werde niemals krank. Bring mich nach Hause, ja?« Sie wollte so schnell wie möglich fort von diesen Blicken.
Also holte Phelan sein Pferd und brachte sie und Noemi nach Hause. Die Hilfe der anderen, insbesondere Jeldriks, lehnte er ab. Irgendwie meinte er zu spüren, dass Althea auch von ihm fortwollte, und er fragte sich, was da vorgefallen war. Keine Freude empfand er, als er abends allein mit Noemi vor der Feuerstelle in Chayas Hütte saß und sie sich verzagt anschwiegen. Er wusste einfach nicht, was er ihr noch sagen sollte.
Es war das Ende ihrer unbeschwerten Zeit. Am nächsten Tag tauchten Segel am Horizont auf. Die Saraner waren auf dem Weg nach Temora.
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