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Kapitel 1
ОглавлениеDas Erbe
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Wie sehr Kjell das Reisen in dieser kargen Gegend in Fleisch und Blut übergegangen war, wie mühelos er wieder in den Rhythmus von Reiten und Rasten und Schlafen hinein fand! Fast wie im Traum trug ihn sein Pferd dahin, er umging gekonnt die große Straße, die Siedlungen und Wachposten, nur getrieben von dem Ziel, so schnell wie möglich zur Grenze nach Westen, raus aus Morann und weiter nach Nitrea und Saran zu gelangen.
Doch in Wahrheit merkte er gar nichts davon, keine Landschaft, keine Kälte der Nacht, nicht den ein oder anderen Regenschauer, als er in die Nähe der Feuchtigkeit des Lir-Deltas gelangte. Mit den Gedanken war er weit fort, weit fort. Warum nur, warum?, rief es immer wieder in ihm. Warum hatte sein Vater sterben müssen, feige ermordet, und sein Onkel Phelan? Er fand keine Antwort. So stark es ihn nach Saran zog, die dort wartende Verantwortung, sein Erbe, lastete wie ein Mühlstein auf seiner Seele. Und die Trauer, natürlich. Wie sollte er die Stellung seiner Familie behaupten, gegen die übrigen Saraner, und ja, auch gegen seinen eigenen Großvater? In ihren Augen war er ein Junge, ein Hänfling, der seine Stärke noch beweisen musste. Zur See fahren, kämpfen, auf der Versammlung sprechen und natürlich saufen und andere derartige Dinge, welche einen Saraner erst zu einem gestandenen Mann machten. Bei dem Gedanken verspürte er nur kalte Verachtung und eine gute Portion Rebellion. Nein, er würde seinen eigenen Weg gehen, da war er fest entschlossen.
Irgendwann kehrte er in die Wirklichkeit zurück. Aus dem Dunst der Steppe schälten sich die Umrisse der schneebedeckten Berge Nadors, seine Reise durch die endlose Steppe war fast zu Ende. Hastig sah er sich um, doch er konnte niemanden entdecken. Er musste vorsichtiger werden! Die Straße war viel bereist und die Steppe rings herum von zahlreichen Hirten und ihren Herden begangen. Der Abstieg von der Hochebene Moranns war nur an wenigen Stellen möglich. Wollte er die Wachen umgehen, blieben ihm nur wenige Möglichkeiten: Eine davon war, dass er sich südlich der Straße in den Busch schlug, aber dann würde er sich binnen kürzester Zeit verirren. Die Warnungen ihres alten Kundschafterfreundes Nadim hatte er noch gut im Gedächtnis. Nein, entschied er und wählte einen kaum begangenen Pfad weiter nördlich in Richtung des Lir-Deltas. Dort war es zwar sumpfig, aber allemal besser als im Busch. Die dritte Möglichkeit, nämlich offiziell zu reisen und um Quartier in Nador bei den Freunden seiner Eltern, Fürst Tamas oder Nadim, zu ersuchen, schloss er von vorne herein aus. Bestimmt hatten die Nadorianer bereits die ersten schlimmen Gerüchte von dem Anschlag auf die königliche Familie erreicht, und er würde dann über mehrere Tage dort festgehalten werden und ihnen Rede und Antwort stehen müssen.
Durch das unwegsame Sumpfgelände kam er wesentlich langsamer voran als auf der Straße. Bald wurde das Schilf höher, der Weg schmaler, bis dieser kaum noch zu erkennen war, und er fragte sich, ob das wirklich ein so guter Einfall gewesen war. In dem Matsch mochte er sich nicht schlafen legen, also ritt er die Nächte durch. Zum Glück schien der Mond, sodass er seinen Weg einigermaßen finden konnte. Wer hier wohl reisen mochte?, fragte er sich, oder war es nur ein Wildpfad?
Wild gab es hier allerdings im Überfluss. Allein von den zahlreichen Vögeln hätte er ganz Gilda verköstigen können. Sein Bogen fand ein ums andere Mal eine schmackhafte Mahlzeit. Immer weiter drang er nach Westen vor, und unmerklich, dann immer stärker, wurde die Luft salzig. Das war wie Balsam für Kjells angeschlagene Seele. Es roch nach Heimat, nach Zuhause. Das war Gilda nie gewesen, so viel gestand er sich nun ein. Ein Teil seiner Familie, seiner Herkunft, ein Ort zum Verweilen, aber eben nicht das Zuhause. Gespannt richtete er sich auf, ob er das Meer erspähen konnte, aber er sah nur undurchdringliches Schilf.
Dann bog der Pfad plötzlich nach Süden ab. Er entdeckte etwas in der Ferne, eine grüne Wand, welche nur ein Wald sein konnte, der erste Wald seit mehr als vier Jahren, den er zu Gesicht bekam. Dort würde er sein Nachtlager aufschlagen, beschloss er, auf dem ersten trockenen Platz, den er fand.
Bis es soweit war, dauerte es noch seine Zeit, doch schließlich fand er im letzten Licht des Tages einen wunderbaren moosbewachsenen Flecken, wo er herrlich weich gebettet ruhen konnte. Er war im Westen angekommen.
Diesmal schlief Kjell bis weit nach Mittag des nächsten Tages durch. Erholt wachte er auf, und auf einmal hatte er es nicht mehr so eilig. Ein wenig, so resümierte er, als er vor einem Tümpel saß und sich den Staub der Steppe abwusch, hatte es auch von einer Flucht gehabt, vor seiner Mutter, seinem Onkel, dem König, und vor dem Schrecken ganz besonders. Betäubt hatte er sich und verausgabt, erkannte er und betrachtete sein Spiegelbild im Wasser. Hager war er geworden, mit einem strubbeligen blonden Bart und noch nicht ganz verblassten Prellungen von dem Unglück im Gesicht. Seine Nase hatte auch etwas abbekommen, dachte er und rümpfte selbige. Nicht, dass es ihm zum Nachteil gereichte. Er fand, es sah verwegen aus. Zeit, auch den Rest wieder in einen Saraner zu verwandeln.
Die verdreckte Tunika und den Lendenschurz wollte er als Andenken aufheben. Nie wieder würde er sie tragen. Stattdessen legte er Beinlinge und Hemd an, dann Stiefel und seinen Umhang. Besondere Sorgfalt verwendete er auf seine Waffen. Als erstes legte er das Ragai-Schwert an, die Waffe seines Vaters. Er hatte sie einfach mitgenommen, ohne zu fragen, weil er fand, dass ihm das als ältesten Sohn und Erben zustand. Bewundernd drehte er die feine Klinge im Sonnenlicht. Er würde es bis an sein Lebensende tragen und mit aller Macht verteidigen.
Sein gildaisches Heeresschwert, das er seit Ende der Heerschule als Offizier trug, wickelte er in die Tunika ein und steckte es weg. Es war zwar aus Ferrium, aber im Vergleich zu dem anderen kürzer und wirkte eher plump. Eine solide, zuverlässige Waffe. Sollten dereinst seine Söhne und Töchter damit üben. Den Dolch steckte er wie alle Saraner unter das Hemd und sein kleines Messer, das Geschenk des Königspaares, kam wie gewohnt an den Arm. Da durchzuckte es ihn schmerzhaft, bei welcher Gelegenheit er es bekommen hatte. Und mit wem.
Lara.
Er kniff die Augen zusammen und ballte die Fäuste. Atmete einmal zischend ein und aus. Nicht daran denken!
»Auf geht’s!«, sagte er zu seinem Tier, das wie alle gildaischen Pferde keinen Namen trug, und erntete ein fast belustigt klingendes Schnauben. Es war ein gutmütiger Wallach, kein feuriger Hengst, wie ihn manche seiner Heereskameraden bevorzugt hatten. Kjell war ein Tier ohne Kapriolen allemal lieber als eines, das einem zu vermeintlichem Ansehen verhalf.
An diesem Tag ritt er nicht mehr lange und schlug tief im Wald sein Lager auf. Ein friedlicher Ort war das, mit leise säuselndem Wind und in der Ferne dem Rauschen der Wellen. Hier würde er gut schlafen können. Nur, dass er noch ziemlich ausgeruht war und allenfalls ein wenig wegdöste.
Deshalb war er auch gleich hellwach, als es irgendwo in der Nähe laut knackte. Er sprang auf und ging hinter einem Baum in Deckung. Vor seinem glimmenden Feuer gab er ansonsten ein viel zu leichtes Ziel ab. Angespannt spähte er in die Dunkelheit. War es ein Tier gewesen? Aber nein, da schnaubte es leise, und dann hörte er das Klirren eines Zaumzeuges, als wenn ein Pferd den Kopf schüttelte. Es kam aus Richtung des Pfades, den er entlang gekommen war.
Lautlos schlich sich Kjell an den Unbekannten heran. Da, dort vorne bewegte sich jemand durch die Bäume. Kjell spannte seinen Bogen. »Halt, wer da?!«
Die Gestalt machte einen selbst in der Dunkelheit gut sichtbaren Satz. Dann klammerte sie sich an ihr Pferd und stieß ein erleichtertes Lachen aus. »Oh Mann, hast du mich erschreckt!«
»Bjarne?!« Kjell ließ verblüfft seinen Bogen sinken. »Was machst du hier?«
»Na, was schon, ich bin dir gefolgt! Seit Tagen schon versuche ich, dich einzuholen.«
Kjell fehlte die Sprache vor lauter Überraschung. »Aber...«
Lässig kam Bjarne herangeschlendert. »Du glaubst doch nicht, dass ich mich wie ein Paket zu Bryn verfrachten lasse und brav dort bleibe? Ich will kämpfen!« Das kam so euphorisch heraus, dass Kjell lachen musste.
»Na dann, willkommen, Bruder! Willst du was essen? Ich habe noch was übrig.«
»Oh, immer. Ich sterbe vor Hunger!«, grinste Bjarne und folgte ihm.
Wann hatte sein Bruder mal keinen Hunger, dachte Kjell später. Er hatte das Feuer entfacht und die Reste der erlegten Vögel auf kleine Spieße gesteckt und sogar noch etwas Brot gefunden.
»Du warst so schnell, dass ich dich in der Steppe nicht mehr gefunden habe«, erzählte Bjarne mit vollem Mund. Kjell betrachtete ihn. Dreckstarrend, mit verfilzten Haaren, den ersten blonden Bartstoppeln und fröhlich blitzenden Augen saß sein kleiner Bruder vor ihm. Kjell hätte schwören können, er war schon wieder gewachsen.
Bjarne sah auf. »Was schaust du so?«
»Nichts.« Kjell winkte ab. »Ich dachte nur... dass du Regnar immer ähnlicher siehst. Seine Kraft hast du auf jeden Fall geerbt, denn den Ritt, den sieht man dir nicht an.«
Bjarne prustete los und verschluckte sich. »Ich bin geritten wie der Teufel, aber erst am Ende der Hochebene habe ich dich in Richtung der Sümpfe entdeckt. Aber wirklich eingeholt hatte ich dich erst, als du so lange geschlafen hast.« Er leckte sich die Finger ab.
Kjell zog die Augenbrauchen hoch, griff hinter sich und reichte ihm ein Tuch. »Hier, nimm dies.«
Das veranlasste Bjarne zu einem erneuten Grinsen. Er wischte sich die Finger ab. »Ah, das tat gut! Was hast du jetzt vor? Willst du zu Bryn und Waffen kaufen?«
»Tja, das ist die Frage. Ob Vater schon welche bei ihm bestellt hat? Das hätte ich jedenfalls getan, bevor ich nach Gilda aufgebrochen wäre.«
»So oder so werden wir dort mehr von den Unruhen in Ethenien erfahren, denn wenn einer weiß, was in der Gegend vor sich geht, dann Mahin und vielleicht noch die Temorer. Wir könnten Galvin einen Besuch abstatten.«
Der Gedanke veranlasste Kjell zu einem Stirnrunzeln. »Und ihm brühwarm erzählen, dass Mutter jetzt Witwe ist? Nein, danke! Damit tun wir ihr keinen Gefallen. Ach, das wusstest du nicht?« Bjarne war das Erstaunen anzusehen. »Na, dann sperr mal die Ohren auf, Bruder!«
Kjell empfand nicht wenig Genugtuung, ihn aufzuklären. Offenen Mundes, die Augen weit aufgerissen, hörte Bjarne zu, wer in Temora wohl keine allzu tiefe und aufrichtige Trauer über den Tod ihres Vaters empfinden würde: Galvin, Jugendfreund ihrer Mutter aus vergangenen Tagen, der sie schon immer begehrt hatte und immer noch begehrte.
»Sehr schwierige Sache«, schloss Kjell, »besonders, wenn sie sich endlich entschließen sollte, Faye nach Temora zu bringen. Wer weiß, wann sie sich dazu durchringt.«
»Ich frag mich, wo sie dann wohl leben will. Doch nicht bei den Priestern!«
»Bei Maret im Bannwald, das möchte ich wetten.«
»Jaah, und über die erfährt Galvin es eh, egal, was wir tun. Bestimmt hat Onkel Currann bereits eine Botschaft losgeschickt, sodass sie eh wissen, dass wir auf dem Weg sind.«
Kjell prustete los. »Um auf uns aufzupassen?« Er lachte schallend. »Glaubst du das wirklich?«
»Hmm... ja. Aber ich glaub’, es hat uns niemand überholt. So schnell wie wir sind die niemals, selbst nicht mit diesem Umweg.« Er wies auf das Wäldchen um sich herum.
»Na, dann macht es auch nichts, wenn wir Bryn einen Besuch abstatten und die Waffen mitnehmen.«
»Nur, wie willst du die bezahlen? Weißt du, wie Vater das gehandhabt hat?«
Bei dem Wort verschwand Kjells Fröhlichkeit wie fortgewischt. »Ganz ehrlich? Ich habe keine Ahnung. Er hat mir zwar jeden Winter erzählt, wie es um unseren Besitz in Saran bestellt ist, aber wo er seine Barschaft lagert und was er mit Bryn abgemacht hat... keine Ahnung. Wir werden es herausfinden müssen.«
Es versetzte Kjell in Unruhe. Darüber hatte er sich noch nie Gedanken gemacht und auch nicht, dass seine Mutter die eigentliche Besitzerin ihres Vermögens war. ›Alles zu seiner Zeit‹, dachte er, aber die Unruhe blieb.
Auch wenn Kjell sich eher die Hand abgehackt hätte, als das zuzugeben, er war froh, dass sein Bruder da war. Mit seiner gutmütigen Art, die Dinge leicht zu nehmen, vertrieb Bjarne ein wenig die düsteren Wolken in seinem Gemüt. In Galeac, der nördlichsten Siedlung Nitreas, gönnten sie sich ein ausgiebiges Mahl in dem Gasthof. Niemand beachtete die beiden jungen Saraner sonderlich, es war ganz normal, dass Reisende hier durchkamen. Allenfalls die Tatsache, dass sie keine Packtiere mit sich führten, wäre dem einen oder anderen merkwürdig vorgekommen, aber das bemerkte außer dem Stallknecht niemand.
Die Brüder hatten sich unauffällig in eine Ecke zurückgezogen und sprachen kaum ein Wort. Stattdessen lauschten sie aufmerksam den Gesprächen um sich herum, ob irgendetwas von den Unruhen im Süden zur Sprache kam, aber es ging nur um die vergangene Ernte, wer wie viel Holz im Winter einschlagen wollte und wer noch einmal zur Jagd ins Delta aufbrechen.
»Ah«, sagte Kjell, »die benutzen also unseren Pfad. Keine Schmuggler, wie langweilig! Komm, lass uns gehen.«
Zügig ritten sie weiter nach Süden. Nachts schliefen sie im Wald fernab aller Siedlungen, und trafen sie auf eine, ritten sie rasch hindurch. Als sie sich Temora näherten, wurden sie langsamer.
»Wenn ich noch wüsste, wo dieser Abzweig zu Mahins Siedlung gelegen hat«, sagte Kjell, als sie wieder einen passierten. »Irgendwie kann ich mich nicht erinnern, sie sehen alle gleich aus.«
»Aber ich«, kam es prompt von Bjarne. »Da stand eine vom Blitz gespaltene Eiche, die hatte ein Gesicht, fand ich. Es ist noch ein Stück.«
Kjell seufzte innerlich. Das wunderte ihn nicht. Sein kleiner Bruder merkte sich lauter solche Dinge. So hatte er auch sämtliche Pfade und Gassen in Gilda wiedererkannt und so würde er sich auch auf See zurechtfinden, da war Kjell sich sicher. Eine beneidenswerte Fähigkeit, der Gabe ihrer Schwester Faye nicht unähnlich.
Durch Bjarnes Gespür fanden sie den Abzweig auf Anhieb wieder. Kjell hätte beim besten Willen nicht sagen können, ob es nun dieser oder ein anderer gewesen war. Es war wohl wie bei seinem Vater, dachte er, der hatte die Seewege, die Navigation auch regelrecht pauken müssen.
Niemand beachtete sie sonderlich, als sie in die Siedlung ritten. Es war früher Abend und die Leute dabei, ihr Tagewerk zu beenden und nach Hause zurückzukehren. Es kamen wohl oft Reisende hierher, was die Wichtigkeit der Siedlung und ihrer Bewohner, allen voran ihres Clansoberhauptes Mahin, unterstrich.
Wieder überließ Kjell seinem Bruder die Führung, und der brachte sie auf direktem Weg zur Schmiede. Laute Hammerschläge aus dem großen Stallhof sagten ihnen, dass hier noch gearbeitet wurde. Wenn Kjell so an die Schilderungen seiner Mutter dachte, in welcher Bruchbude Schmied Bryn am Anfang nach dem Fortgang aus Saran gehaust hatte, dann hatte er es wahrlich zu Reichtum gebracht. Es gab ein großes solides Haus aus Stein und mehrere Nebengebäude, die nahtlos um eben jenen Hof gruppiert waren, sodass man ihn mit einem großen Tor komplett verschließen konnte. So, wie er es in Saran auch besaß.
Sie ritten schnurstracks in den Hof und saßen ab. Der Hufschlag ihrer Pferde lockte einen jungen Mann in einer fleckigen Lederschürze nach draußen. Er war ziemlich klein, aber dafür sehr breit und muskulös gebaut. Sein Gesicht mit dem blonden Haar und einem Ansatz von Bart und den schrägen dunklen Augen zeugten von seiner gemischten Herkunft. Selbige riss er überrascht auf, als er meinte, sie zu erkennen.
»Jeldrik! Was, bei den Göttern, machst du denn schon wieder...« Er verstummte, denn sein Blick war auf Kjells rechte Hand gefallen. Fünf Finger anstatt der erwarteten drei, welche die Zügel hielten.
Innen waren die Hammerschläge verstummt. »Wer ist da, Phorsteinn?«
»Oh verdammt!«, entfuhr es dem jungen Mann, und er ging auf Kjell zu. »Es gibt Schwierigkeiten, nicht wahr?« Kjell und Bjarne wechselten einen Blick.
»Hör mal, Sohn, ich rede mit dir!« Drinnen erklang ein metallisches Klappern, dann näherten sich schwere Schritte der Tür und Schmied Bryn erschien darin. Die Brüder erkannten ihn auf Anhieb wieder. Bis auf dass sein Bart weiß und das Gesicht unter dem kahlen Schädel faltiger geworden waren, wirkte er so mächtig wie eh und je.
Kjell streifte seine Kapuze ab und nickte dem jungen Mann zu. »Du bist Phorsteinn, nicht wahr? Ich erinnere mich an dich.«
»Bei den Göttern, Junge!«, entfuhr es Bryn. Er kam auf Kjell zu und packte ihn. »Ihr müsst geritten sein wie die Teufel, um schon wieder hier zu sein. Wo ist denn euer Vater? Bei Mahin?« Da fanden sie ihren Verdacht bestätigt. Die Botschaft des Königs hatte sie tatsächlich nicht erreicht.
Bei all seinen Plänen hatte Kjell nicht bedacht, wie schwer es war, jemandem die Nachricht vom Tode zweier geliebter Freunde zu überbringen. Es war ein ergreifender Anblick zu sehen, wie hart die Neuigkeit diesen mächtigen Mann traf. Er musste sogar einige Momente außer Sicht gehen, bis er sich wieder im Griff hatte.
Bryns Frau Rana dagegen zeigte ihre Trauer offen. Sie weinte in den Armen ihres Mannes, sehr lange, während Kjell und Bjarne abwechselnd berichteten, was sich zugetragen hatte. Mittlerweile saßen sie im Haus in der großen Küche, wo sonst, und auch Verna und Mahin waren dazugekommen.
Anfangs wunderte sich Kjell etwas über ihre Reaktion, denn bei Verna und Mahin war es anders. Sie waren zwar erschüttert, aber nicht so aufgelöst. Doch dann fiel ihm ein, dass sein Vater und sein Onkel Phelan ja Bryns Zöglinge gewesen waren und Phelan Rana aus der Sklaverei befreit und Bryns und Ranas Bund gestiftet hatte. Ihre Bindung zu den beiden war einfach sehr viel enger.
»Was habt ihr jetzt vor?«, fragte Phorsteinn nach einer Weile. Ungebeten hatte er sich dazu gesetzt und reichte jetzt etwas zu trinken herum. Er war Bryns zweitältester Sohn, meinte Kjell sich zu erinnern. Neben seiner Schwester Phelana, Phelans Patentochter, die bereits verheiratet war und eigene Kinder hatte, hatte er noch zwei jüngere Schwestern und einen Bruder, den Kjell auf ungefähr zehn Jahre schätzte. Sein ältester Bruder dagegen war nicht zuhause. Er war in Geschäften unterwegs nach Nador und sollte dereinst die Schmiede hier übernehmen. Hätten Kjell und Bjarne die Straße benutzt, wären sie ihm mit Sicherheit begegnet.
»Wir reiten nach Saran, gleich morgen früh und so schnell wie möglich«, antwortete Kjell, und Bjarne ergänzte: »Vater wollte mich eigentlich hier lassen als Gehilfe, aber ich möchte mit nach Saran.«
»Und kämpfen?« Bryn schnaubte und drückte seine Frau an sich. »Na, du hast ja Vorstellungen! Dich lassen sie nicht mal auf ein Schiff.«
»Das ist mir egal!«, stieß Bjarne hervor. »Ich werde Kjell helfen, unser Erbe zu sichern, bevor die Leute von Vaters Tod erfahren und sich wie die Geier über unseren Besitz hermachen.«
Bei den Worten schüttelte Mahin nachsichtig den Kopf. »Also euer Großvater. Das kann ich verstehen, aber weder du – wie alt bist du eigentlich, Bjarne? – noch du, Kjell, dürft vor dem Rat sprechen. Das darf nur eure Mutter als Witwe eures Vaters, bis dein Großvater dich offiziell als Nachfolger anerkannt hat, und das geht nur bei der nächsten Clansversammlung im Frühjahr.«
»Ich weiß«, stieß Kjell hervor. »Trotzdem möchte ich vor Ort sein, falls es Schwierigkeiten gibt. Und Bjarne... dem schreibe ich nichts vor.«
»Das sollst du mal versuchen«, schnappte der.
»Ich möchte wissen, ob Vater Waffen bei dir bestellt hat, Bryn, und welche Vereinbarungen er mit dir zwecks Bezahlung getroffen hat. Ich...« Kjell schluckte und holte tief Luft. »Wir konnten nicht mehr darüber sprechen. Es ging zu schnell.« Bei diesen Worten fing Rana wieder an zu schluchzen.
»Das solltest du anderen gegenüber aber tunlichst nicht erwähnen«, rügte Mahin daraufhin. »Sie könnten es als Schwäche auslegen und versuchen, die Regeln zu ihren Gunsten zu ändern.«
»Ich weiß. Glaube mir, ich weiß es und werde deinen Rat beherzigen, Mahin. Aber ich weiß auch, dass ihr das niemals tun würdet. Wegen Mutter.« Bei den Worten sah er beide Männer dergestalt an, dass diese sofort aufmerkten.
Wirklich geschickt, dachte Mahin und fügte dem Wenigen, was er über Altheas und Jeldriks Ältesten wusste, hinzu, dass er ziemlich gerissen war. Nun konnten sie sich gar nicht anders verhalten, wenn sie nicht als ehrlos dastehen wollten. Aber das hätten sie auch nicht getan. Eben wegen Althea.
»Du hast recht.« Bryn steckte sich eine Pfeife an. »Dein Vater hat Schwerter bei mir bestellt. Ein paar habe ich schon fertig, aber natürlich längst nicht alle. Ihr seid zu schnell wieder hier gewesen.«
»Und womit wollte er die bezahlen?«, fragte Kjell.
»Mit Erz«, antwortete Mahin an Bryns statt. »Jeldrik hat uns niemals mit Münzen bezahlt, immer nur mit Erz. Ich glaube auch nicht, dass er große Münzvorräte in Saran gelassen hat. Zu gefährlich, selbst bei Sylja, selbst beim Sedat. Nein, mit Barschaft darfst du nicht rechnen. Euer Vermögen sind die Insel, die Schiffe, das Erz und das Land, allen voran das Hurenviertel.« Die Männer mussten grinsen, trotz ihrer Trauer.
»Trotzdem solltest du hierbleiben, Bjarne«, sagte Bryn. »Ich hatte eigentlich vor, Phorsteinn im nächsten Frühjahr nach Saran zu schicken, meine Schmiede dort wieder zu eröffnen.«
»Ich kann doch auch jetzt schon, Vater...«
»Du bist noch nicht soweit!«, blaffte Bryn ihn in einem Ton an, der den anderen zeigte, dass er das nicht zum ersten Mal zu seinem Sohn sagte.
»Pah! Besser als die Schmiede in Saran bin ich allemal!«
»Du sollst aber nicht besser, sondern hervorragend sein!«
»Hört auf!« Ganz leise kam es von Rana, aber ihre Worte wirkten sofort. »Eure ewigen Streitigkeiten haben hier nichts zu suchen. Geh nur, Bjarne, wenn du willst, und lasst euch von keinen Plänen abhalten. Ihr seid jetzt eure eigenen Herren.« Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab.
»Danke, Mutter.« Phorsteinn grinste seinen Vater frech an.
»Dich meinte deine Mutter nicht!« An Kjell gewandt fuhr Bryn fort: »Ich gebe dir mit, was ich habe. Sieh zu, dass du sie nicht unter Wert verkaufst, verstanden? Ich werde dir genau sagen, wem gegenüber du was verlangen kannst, aber die Preise werden steigen, je näher der Kampf rückt, also warte noch, klar?«
Mahin fügte hinzu: »Wenn die Leute nicht zahlen können, fordere Land oder Gefälligkeiten. So hat es dein Vater stets gehalten und dein Großvater auch. Lass dich nicht ausnutzen, auch wenn dir dann bald der Ruf eines Knauserers anhaften sollte.«
Aufmerksam hörte Kjell den beiden gewieften Händlern zu. Besonders Bryn hatte viele Einsichten in die saranische Händlerschicht, die Jeldrik aufgrund seiner Stellung und seiner langen Abwesenheiten nie gehabt hatte. In der Nacht lag er wach. Ihm schwirrte der Kopf, worauf er alles achten musste, um nicht in irgendwelche Fallen zu geraten. Wie einfach war dagegen das Leben in Gilda gewesen! Doch zum Glück waren da ja seine Großmutter Sylja und sein Großvater. Obwohl... der würde Kjells Unwissenheit zu seinen Gunsten nutzen. Also stand er doch allein. Verdammtes Erwachsensein!
Noch vor Sonnenaufgang brachen sie wieder auf. Nur Bryn und Rana und Verna und Mahin verabschiedeten sich von ihnen.
»Mögen die Götter euch im Kampf beistehen«, sagte Rana, als sie aufsaßen. Voller Sorge sahen sie den beiden Brüdern hinterher.
»Sie sind so jung«, flüsterte Verna.
»Wie ihre Eltern damals auch. Verdammte Geschichte!« Mahin seufzte. »Kommt. Es nützt nichts, Trübsal zu blasen.« Er nahm seine Frau beim Arm und Bryn und Rana kehrten in ihr Haus zurück, ohne noch einmal einen Blick in den Hof zu werfen. So fiel ihnen gar nicht auf, dass im Stall außer zweien noch ein weiteres Tier fehlte.
Kjell und Bjarne merkten es dafür gleich. Kaum dass sie die Siedlung verlassen und in den Wald geritten waren, stellte sich ein Reiter vor ihnen quer über den Weg. Sie brauchten nur einen Moment, bis sie Phorsteinn erkannten.
»Ich komme mit euch!«, rief er ihnen entgegen und lachte über ihre verdutzten Gesichter. »Ihr glaubt doch nicht, dass ich mir das entgehen lasse! Ein echter Kampf gegen tödliche Langeweile und Vater und Bruder, diesen Streber, die mich nur herumschubsen? Nein!«
Da mussten auch die Brüder lachen. »Na dann, willkommen!«, rief Bjarne übermütig. »Los, reiten wir zu, bevor sie uns noch einholen und aufhalten.« Johlend preschten sie davon.
Durch Phorsteinns Anwesenheit wurden sie regelrecht übermütig. Die Siedlungen flogen nur so dahin, und am Abend am Feuer unterhielten sie sich mit wahren und nicht ganz so wahren Geschichten aus ihrer Heimat. Besonders Gilda hatte es Phorsteinn angetan, merkte Kjell und staunte einmal mehr, welch Anziehungskraft die reiche Stadt auf die Leute ausübte. Für ihn war sie fast normal geworden, und er brauchte nicht zu übertreiben, um Phorsteinn in Staunen zu versetzen.
Als dieser von der Schlacht im Osten hörte, geriet er völlig aus dem Häuschen. »Du kannst kämpfen, richtig kämpfen?« Eifrig wie ein kleiner Junge sprang er auf und schnappte sich sein Schwert. Allein daran sah Kjell, wie jung Phorsteinn wohl noch war. Fünfzehn, vielleicht sechzehn. Auf einmal fühlte er sich steinalt.
»Sachte, sachte.« Er wischte sich in aller Ruhe den Mund und die Hände in einem Tuch ab. »Du willst mit mir kämpfen? Dann suchen wir uns ein paar Stöcke, keine scharfen Waffen, sonst verletzt du dich noch.«
»Ha! Das werden wir ja seh....aaaahh!!« Nur haarscharf fiel Phorsteinn neben seine nach oben stehenden Klinge ins Gras. Er hatte getan, womit Kjell gerechnet hatte, und war dermaßen schnell von den Füßen geholt worden, dass er gar nicht wusste, wie ihm geschah.
»Stöcke.« Grinsend sah Kjell auf ihn herab. »Stöcke. Bjarne?«
»Ich geh’ welche holen.«
Kjell verschränkte die Arme. »Beherrschung ist das Erste, was sie dir in Gildas Heerschule einbläuen. Disziplin das Zweite. Beherrschung das Dritte. Steh auf und leg dein Schwert weg. Wir üben, wie ich es sage.«
Es dauerte einige ziemlich harte Schläge und etliche Schweißtropfen, bis der Dickkopf Kjells Überlegenheit anerkannte. Bjarne stand grinsend dabei und sagte nichts. Er wusste, im Kampf würde keiner hier seinem Bruder das Wasser reichen können, selbst er nicht. Aber anders als früher piesackte Kjell nicht. Er reichte Phorsteinn symbolisch die Hand, und der schlug ein und leckte Blut, wollte wirklich lernen. Bis spät in die Nacht kämpften sie und verschliefen den Morgen, und auch am folgenden Abend bauten sie früh ihr Lager auf und übten und übten und übten, bis sie selig spät in der Nacht einschlummerten.
So kam es, dass ihr neuer Gefährte später mit Fug und Recht behauptete, er hätte ihnen das Leben gerettet.
Dass etwas nicht stimmte, merkten sie, als sie kurz vor der Grenze nach Saran waren. Plötzlich waren Tiere im Wald, kein Wild, sondern Haustiere, Schweine, Ziegen, Schafe und Rinder. Friedlich grasten sie auf einer Waldlichtung, als wäre dies das Natürlichste auf der Welt. Nur, dass hier weit und breit niemand lebte.
»Wo kommen die her? In der letzten Siedlung sah es nicht so aus, als fehlten welche«, sagte Phorsteinn.
»Außerdem liegt sie viel zu weit weg«, ergänzte Kjell. »Nein, die müssen über die Brücke gekommen sein. Los, treiben wir sie zusammen und wieder rüber, bevor die Temorer sie sich unter den Nagel reißen.« Was gar nicht so einfach war, denn die Tiere weigerten sich störrisch zurückzugehen, sodass sie sie regelrecht scheuchen mussten, und dahinter flohen sie den Berg hinauf, in Richtung Gletscher.
»Wie merkwürdig.« Am Ende der Brücke blieb Kjell stehen, die Zügel locker in der Hand. Auf einmal war es geradezu gespenstisch still. Kein Wind, keine Vögel, nichts. Nur das Rauschen des Wassers tief unten in der Schlucht.
»Was geht hier vor?« Bjarne flüsterte.
»Keine Ahnung, aber wir sollten die Waffen bereithalten und die... seht!!« Die anderen beiden fuhren herum in Richtung Wald. Dort war Nebel aufgestiegen, aber ein ganz und gar merkwürdiger Nebel, denn er kroch nur am Boden entlang, der Himmel über ihnen blieb klar. Wo kam der so plötzlich her und warum liefen die Tiere davor weg?
Vorsichtig gingen sie darauf zu, bis ihre Pferde plötzlich zu scheuen begannen. Da stieg auch ihnen ein beißender Geruch in die Nase.
»Das... he, das ist Feuer! Da vorne brennt es!« Phorsteinn wollte sich schon auf sein Pferd schwingen, aber Kjell packte ihn und zerrte ihn zurück.
»Warte! Hat es gestern nicht geregnet? Sieh doch, der Boden ist nass. Das ist kein Waldbrand! Nein, dort vorne brennt etwas Größeres. Sehen wir nach, aber vorsichtig. Setzt eure Kapuzen auf.«
Nach kurzer Überlegung banden sie die Pferde an der Brücke an und versperrten diese mit ein paar schweren Ästen, damit die Tiere nicht wieder fliehen konnten. Auch sein Schwert steckte Kjell wieder in die Scheide und griff stattdessen nach Pfeil und Bogen. Wenn das ein natürliches Feuer war, dann war das überflüssig, aber wenn nicht...
Im Schutz der Bäume schlichen die drei jungen Männer vorwärts. Der Wind drehte etwas, und schon war der Rauch wieder verschwunden. Das sagte Kjell, dass das Feuer weiter entfernt sein musste, sonst hätten sie auch etwas gehört. Aber es war immer noch unheimlich still.
»Das gefällt mir nicht«, flüsterte Bjarne.
Geduckt schlichen sie weiter. Das Gelände begann sich abwärts zu neigen, und durch die Bäume schimmerte es blau mit hellen Lichtpunkten darauf. Es war das Meer, noch weit entfernt, aber dann wurde es wieder von einer Rauchwolke verdeckt und sie selbst so schnell in dichten Qualm gehüllt, dass es ihnen fast den Atem nahm. Von weiter unten drang ein Geräusch, das sie erst nicht einordnen konnten, doch je näher sie kamen, desto lauter wurde es.
»Habt ihr das gehört?«, zischte Phorsteinn. Es klang wie ein lang gezogener Schrei.
»Sei still!« Kjell stieß ihn an. Er hatte etwas anderes gehört, ganz in der Nähe. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Ganz langsam spannte er seinen Bogen und sah sich um. Schräg hinter ihnen war ein dichtes Gebüsch und darin bewegte sich ein Schatten! Kjell schoss, ohne zu überlegen. Es folgte ein Schrei, es knackte laut, als jemand fiel, gefolgt von einem unterdrückten Fluch. Schon war Kjell ins Gebüsch gesprungen, packte zu und zerrte eine sich heftig wehrende Gestalt daraus hervor. Sie war groß und schlank, und als er den Umhang herunterriss, kam eine Fülle langer, ziemlich verfilzter Haare darunter zum Vorschein. Ein grünes Augenpaar blitzte ihn aus dem schmutzigen, bartlosen Gesicht heraus aus an. »Lass mich los!«
Überrascht tat Kjell, was sie verlangte. Das war eine hohe Stimme gewesen, eine Frauenstimme. Sofort war sie auf den Beinen, mit kampfbereit geballten Fäusten. Groß, wie sie war, brauchte er nur ein wenig nach unten schauen, eine Wohltat nach Jahren des gesenkten Hauptes in Gilda, wenn er mit jemandem reden wollte. Sie atmete heftig, hatte aber keine Angst, soweit er das sehen konnte, war eher wütend, sogar sehr.
»He, ganz ruhig. Wir tun dir nichts«, sagte Phorsteinn. Sofort schwand der feindliche Ausdruck in ihrem Gesicht, und sie nahm ihre Fäuste herunter.
»Ihr... ihr seid welche von uns!« Sie atmete auf.
»Ja.« Alle drei ließen sie jetzt ihre Bogen sinken und schlugen die Kapuzen zurück. »Wir waren auf Reisen und wollen nach Saran. Das sind Kjell und Bjarne, und ich bin Phorsteinn.«
Sie musterte sie misstrauisch. Es war nicht üblich, sich ohne vollständige Namen, also Jeldriksfalir und Brynsfalir, vorzustellen. Schließlich nickte sie knapp. »Hjordis. Ihr habt Glück gehabt. Ein paar Stunden früher, und es gäbe euch vermutlich nicht mehr.« Sie holte tief Luft und spie aus. »Saran ist überfallen worden, und diese Siedlung auch.«
»Bei den... wer?!«, riefen die Jungen alle durcheinander und wollten nach ihr fassen.
»Ich weiß nicht, wer!« Fauchend schlug sie ihre Hände fort und trat zurück, sie böse anfunkelnd. »Hätte ich sie gesehen, wäre ich jetzt nicht hier! Sie kamen, kurz nachdem alle Männer mit den Schiffen aufgebrochen waren. Ich wollte gerade nachsehen, ob die Frauen und Kinder in die Wälder fliehen konnten, habe aber niemanden gefunden. Deswegen will ich jetzt zur Siedlung hinunter.«
»Wir kommen mit.« Das war für Kjell keine Frage. »Hast du eine Waffe?« Sie schüttelte den Kopf. »Dann bekommst du eine von uns.« Wieder Kopfschütteln, was Kjell verwunderte. Lernten nicht alle Mädchen das Kämpfen von ihren Vätern?
»Ich nehme meinen Bogen. Ich bin eine gute Jägerin. Er liegt dort hinten.« Sie holte ihn, und Kjell gab ihr zur Sicherheit noch einen Dolch. Die Schwerter zu holen, das verwarf er jetzt. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass die Zeit drängte.
Immer wieder spürte er ihren Blick auf sich, während sie sich durch die Bäume vorwärts pirschten. Sie rätselte, wer er war, das merkte er. Als der Qualm dichter wurde und sie das Knacken und Prasseln von brennendem Holz hörten und dazwischen die hohen Schreie der Frauen und Kinder, stieß sie plötzlich aus: »Ihr beide, ihr seid die Söhne von Jeldrik Roarsfalir! Jetzt weiß ich, woher ich euch kenne!«
›Verdammt‹, dachte Kjell. Irgendwie hatte er gehofft, dass er noch eine Weile von seinem Erbe verschont bleiben würde. Er nickte nur knapp und sagte nichts darauf, sondern hieß sie mit einer Geste, still zu sein.
Im selben Moment erreichten sie den Rand des Waldes und blickten auf die Siedlung herab, oder vielmehr das, was von ihr übrig geblieben war, sofern sie das in dem Qualm erkennen konnten. Draußen in der Bucht sahen sie zwei fremde Schiffe vor Anker, im Hafen einige Beiboote liegen. Alle Gebäude standen in Flammen, bis auf eine große Scheune am Rande der Siedlung.
»Bei den Göttern, seht!«, rief Phorsteinn unterdrückt.
Kjell musste die Augen zusammenkneifen, um etwas erkennen zu können, doch da sah auch er es: Rings um die Scheune hatten Bewaffnete Aufstellung genommen, in je einer Hand ein Schwert und in der anderen eine brennende Fackel. Eben trieben ein paar Kämpfer eine Gruppe Frauen und Kinder hinein. Ein einzelner Kämpfer stand abseits und beobachtete das Geschehen mit verschränkten Armen. Eine knappe Handbewegung von ihm, und das Tor wurde verrammelt und die Fackeln flogen auf das Dach der Scheune, das sofort Feuer fing.
»Sie wollen sie bei lebendigem Leib verbrennen!«, schrie Hjordis auf.
»Still!«, fuhr Kjell sie an. Einen Moment lang verzog sich der Rauch in eine andere Richtung, und sie mussten sich ducken, damit niemand sie sah. Aber Kjell gelang es, einen freien Blick auf den Anführer zu erhaschen. »Das ist ein Ragai, seht doch! Der mit dem kahlen Schädel und den dunklen Malen!« Den würde er überall erkennen.
»Und Ethenier! Vater hatte recht!«, rief Bjarne. »Wir müssen sie befreien! Lange halten sie das nicht durch, hört doch!« Die gequälten Schreie der Frauen und Kinder wurden immer lauter.
»Seid still, verdammt nochmal, sonst hört man uns!« Kjell überlegte fieberhaft. »Wenn wir einfach nach unten stürmen, dann erreichen wir gar nichts. Nein, wir müssen zuerst den Ragai erledigen.«
»Aber wie? Gegen den bestehen weder du noch ich«, wandte Bjarne ein.
»Nein, werden wir nicht. Aber mit Pfeil und Bogen?«
»Dem entkommt er, so schnell, wie die Ragai sind. Denk doch daran, was Vater und Phelan erzählt haben!«
»Einem vielleicht, aber vier?«, ging Hjordis dazwischen. »Einer nimmt die Stirn, einer das Herz, einer den Bauch und einer die Schulter. Selbst wenn er abtauchen sollte, treffen wird ein Pfeil und das tödlich. Los, beeilt euch, sonst verbrennen sie noch!« Und sie stürzte davon, ehe Kjell sie aufhalten konnte.
Da blieb ihm gar nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. »Bleib’ stehen, verdammt nochmal!« Richtig grob zerrte er sie zurück und übernahm die Führung. Zum Glück wurde der Qualm jetzt so dicht, dass ihr leichtsinniges Handeln unentdeckt blieb.
An einer niedrigen Mauer hielt Kjell an und spähte geduckt hinüber. Als er die anderen hinter sich spürte, flüsterte er über die Schulter: »Wir erledigen sie ganz leise, bis wir den Ragai finden. Die beiden dort drüben zuerst.« Er deutete auf ein paar Ethenier, die dabei waren, die rückwärtigen Gärten zu plündern, und gar nicht merkten, was da über sie kam. Wie die Geister schlichen sich Kjell und Bjarne heran, überwältigten sie und schnitten ihnen die Kehlen durch, bevor sie einen Laut von sich geben konnten.
Die anderen beiden sahen stumm zu und wunderten sich, wie mühelos, wie beiläufig ihnen das gelang. Doch dann ließen sie sich nicht lange bitten. Zu viert schlichen sie von Hecke zu Hecke, von Mauer zu Mauer, in einem großen Bogen um die brennende Scheune und schreienden Menschen herum, und machten nieder, was sich ihnen in den Weg stellte.
Bis sie plötzlich eine regungslose Gestalt durch den Rauch erblickten. Kjell zögerte nicht. »Ich den Kopf, du das Herz, Bjarne, du den Bauch, Phorsteinn, und du, Hjordis, dorthin, wo er fällt.« Sie legten alle gleichzeitig an. Kjell holte tief Luft. »Jetzt!!«
Der Ragai besaß einen unglaublichen Instinkt. Blitzschnell tauchte er ab, entkam Kjells Pfeil und ebenso Bjarnes, und Phorsteinns prallte an seinem Schwertgurt ab. Aber Hjordis, sie traf, weil sie einen winzigen Moment länger gewartet hatte. Ein meisterhafter Schuss. Der Pfeil saß mitten in seiner Stirn.
»Sauberer Schuss!«, rief Phorsteinn und schlug ihr auf die Schulter, was sie mit einem bösen Blick quittierte.
Kjell beachtete ihr Geplänkel nicht. Es war nur noch eine Frage von Augenblicken, bis die Ethenier entdecken würden, dass sie angegriffen wurden. Blitzschnell warf er seine Strategie um. Er sah zu den Gebäuden, prüfte die Windrichtung, die wuselnden Schatten der Feinde und hörte die Schreie der Frauen und Kinder. Sie waren das Wichtigste.
»Hjordis, geh rauf auf den Verschlag dort und nimm unsere Bogen und Köcher mit. Du wirst uns den Rücken frei halten. Schieß alles ab, was uns zu nahe kommt. Wir drei kämpfen uns durch die Siedlung und locken die Feinde von der Scheune weg. Wenn der Weg frei ist, befreist du die Frauen und Kinder. Verstanden?« Er sah sie eindringlich an, und sie nickte und nahm ihre Waffen an sich. Kjell zog Schwert und Dolch. Noch nie hatte er mit dem Ragai-Schwert gekämpft, seine alte Heereswaffe wäre ihm viel lieber gewesen, doch sie war bei den Pferden geblieben, das war jetzt nicht mehr zu ändern.
Es dauerte, bis die Ethenier wirklich merkten, was in ihrer Mitte vor sich ging. Die Sicht war einfach zu schlecht, der Bogen schwieg. Die Jungen dachten nicht nach, wen sie töteten, irgendwie war ihnen klar, dass dort keine Frauen und Kinder mehr waren. Besonders Bjarne steigerte sich in einen richtigen Rausch hinein. Seine ersten Toten. Keine Reue, nur eine diebische Freude, gesiegt zu haben.
Die Schreie der Frauen und Kinder wurden immer erstickter und abgehackter, das Prasseln des Feuers nahm zu, und auf einmal hallten Alarmschreie durch die Siedlung.
»Schwärmt aus!«, schrie Kjell den anderen zu, und dann ging es plötzlich ganz schnell. Sie waren durch den Rauch hindurch, vor sich den Hafen und die zerstörten Lagerhäuser und Dutzende von Feinden, die alle gleichzeitig ihre Beute fallen ließen und nach ihren Waffen griffen. Und dann zischte es über sie hinweg, ein gewaltiger Schuss, welcher einen Bogenschützen fällte, der gerade auf sie angelegt hatte. Da gab es kein Halten mehr. Die jungen Kämpfer stürmten von drei Seiten heran, und unter den Etheniern, ihres Anführers beraubt, brach heillose Verwirrung aus. Hinterher sollte Kjell aufgehen, dass es nicht an ihnen selbst lag, sondern an den Schüssen, die in rascher Folge kamen und eine wesentlich größere Anzahl von Feinden vermuten ließen als nur einen einzigen Schützen und drei Fußkämpfer.
Kjell stürmte voran und machte alles nieder, was in die Reichweite seines Schwertes kam. Wie leicht, wie schnell es sich in seiner Hand anfühlte! Keiner der Ethenier konnte ihm etwas entgegensetzen, und er begann das erste Mal wirklich zu ahnen, welche Macht und Furcht von den Ragai ausgegangen war. Er war schnell und geschickt wie eine Schlange, aber er empfand nicht diese hämische Freude wie Bjarne oder solche Wut wie Phorsteinn, der sie laut herausbrüllte und die Feinde mehr mit seiner gewaltigen Stimme in die Flucht schlug denn mit seinem Schwert tötete. Zusammen aber war ihr Vorgehen verheerend, und es dauerte nicht lange, da wandten sich die verbliebenen Ethenier zur Flucht. Das war der Moment, da der Beschuss aufhörte und Kjell wusste, dass Hjordis von ihrem Dach heruntergesprungen war und auf dem Weg zur brennenden Scheune.
Die Ethenier rannten zu den Beibooten. ›Wir müssen sie aufhalten!‹, dachte er. Sofort wünschte er sich seinen Bogen herbei und verfluchte sich, ihn bei Hjordis gelassen zu haben. Im selben Moment spürte er eine Bewegung hinter sich und fuhr herum, das Schwert abwehrbereit erhoben.
»He!«, rief eine Silhouette, und im letzten Moment fing Kjell den Schwung seines Schwertes ab.
»Mann!«, schrie er voller Wut auf, was Hjordis aber nicht schreckte.
»Hier, dein Bogen. Halten wir sie auf!« Und weg war sie.
Kjell war so verblüfft, dass er einen Moment brauchte, bis er sich besann. Dann stürmte er hinter ihr her und schoss blindlings drauflos, voller Zorn darüber, dass sie ihn so überrumpelt und an seiner Statt die Führung übernommen hatte. Wütend schrie er sie an, aber das ging in dem Lärm unter. Auch Bjarne und Phorsteinn hatten ihre Bogen in der Hand und schossen, was ging. Da es hinter ihnen immer noch rauchte, konnten ihre Feinde nach wie vor nicht richtig ausmachen, wie wenige sie waren, und stießen in Panik die Boote vom Ufer ab. In ihrer Hast verkeilten sich die Ruder ineinander, genug Zeit für die Schützen, sie allesamt niederzumachen.
»Getroffen... getroffen... getroffen!! Schiieeeßt sie ab!« Phorsteinn brüllte sich die Kehle aus dem Leib. Er schoss und schoss und schoss und wagte sich dabei immer weiter aus der Deckung hervor.
»Was tust du?!«, schrie Kjell, hechtete hinter ihm her und riss ihn gerade noch rechtzeitig zu Boden, bevor ein Schütze auf ihn anlegen konnte. Den erledigte Hjordis, und auf einmal war es still. Die beiden anderen ließen ihre Bogen sinken und lauschten.
Kjell war sofort auf den Beinen und zerrte Phorsteinn hoch. »Bleibt hier. Gebt mir Deckung.« Vorsichtig und mit gespanntem Bogen näherte er sich den Beibooten. Nichts rührte sich. Doch, da ein leises Stöhnen. Kjell ließ Pfeil und Bogen fallen, zog sein Schwert und versetzte jedem der Feinde einen Schnitt über die Kehle, wie es ihn seine Onkel, allen voran Kiral von Branndar, gelehrt hatten. Wie betäubt war er dabei, und er wandte sich danach gleich der Siedlung zu und vollendete auch da, was noch nicht vollendet war.
Plötzlich fand er sich an der frischen Luft auf einer grünen Wiese wieder. Der Duft von Äpfeln war es, der ihn wieder zu sich brachte. Er blickte nach unten und sah, dass er mit seinen Stiefeln inmitten eines Haufens aus zertretenen Früchten stand. Rasch sah er sich um. Etwas weiter hinten lehnte Phorsteinn an einem Baumstamm und übergab sich. Neben ihm war Hjordis in die Knie gegangen, kreidebleich im Gesicht. Sie schwankte bedenklich, so, als wolle sie gleich ohnmächtig werden.
»He, alles in Ordnung?« Kjell hockte sich zu ihr und wollte sie festhalten, aber sie zuckte zurück. Seine Hände waren blutverkrustet, bemerkte er voller Ekel. Er stand auf und suchte sich die nächste Viehtränke, wo er sich reinigen konnte. Als er fertig war, kam sein kleiner Bruder gerade aus der Siedlung marschiert, in einer Hand seinen Köcher und Bogen, in der anderen einen länglichen Gegenstand, den Kjell bei näherem Hinsehen als ein Ragai-Schwert erkannte.
»Hier.« Er warf es vor Kjell auf den Boden. »Die anderen hatten keine Schwerter, nur Dolche und Äxte.«
»Du scheinst dich ja prächtig amüsiert zu haben«, stieß Kjell hervor.
Mit blitzenden Augen stand Bjarne vor ihm, noch immer außer Atem, und lachte ihn aus. »Und ob, und ob! Das war ein richtiger Kampf, eine Schlacht, und wir haben gewonnen!«
»Oh ja, durch Glück, Zufall und dass wir Hjordis getroffen haben.« Kjell hob das Schwert auf und wog es in der Hand. Ein echtes Ragai-Schwert, unendlich kostbar und begehrt, das wusste er. »Ich finde, Hjordis sollte es bekommen. Sie hat den Ragai getötet.« Er sah zu ihr. Sie schien sich wieder gefangen zu haben, rappelte sich gerade auf. »Hier«, er streckte ihr die Waffe hin, »diese Beute gehört dir.«
»Mir?!« Ihre Stimme klang brüchig. Sie machte keine Anstalten näherzukommen.
»Ja, dir. Nimm es. Du hast ihn getötet.«
»Getötet...«, stöhnte sie auf, sackte plötzlich zur Seite und rührte sich nicht mehr.
Hinterher war ihr das derart peinlich, dass Kjell ihren vollen Zorn abbekam. Nicht die Tatsache an sich, sondern dass er sie hinauf in den Wald zu den dort verborgenen Frauen und Kindern getragen hatte.
Fauchend schlug sie die nach ihr fassenden Hände fort und sprang auf wie eine Raubkatze. »Fasst mich bloß nicht an und lasst mich in Ruhe! Und du«, sie schlug nach Kjell, »dein Schwert kannst du dir sonst wo hinstecken, ich will keine Allmosen!« Sie warf es fast auf ihn, sodass er sich ducken musste, um nicht getroffen zu werden.
»He, Vorsicht!« Er fing es auf und wog es behutsam in der Hand. Da er sich nicht mit ihr vor allen andern streiten wollte, beschloss er, sie erst einmal zu ignorieren, und wandte sich an die anderen Frauen. »Sind alle wohlauf? Jemand verletzt?«
Stumm schüttelten sie die Köpfe. Der Schrecken stand ihnen allen noch ins Gesicht geschrieben, riesige Augen blickten aus rußgeschwärzten Gesichtern zu ihm auf. Kjell wusste, eigentlich müssten sie sie erst einmal versorgen, aber er spürte, wie die Zeit drängte. »Kann mir jemand sagen, was geschehen ist?« Er hockte sich vor sie und sah alle nacheinander an. Sie zuckten vor ihm zurück, als könne er ihnen gefährlich werden. Er konnte es ja nicht ahnen, wie er aussah, mit immer noch von Ruß und Blut verschmiertem Gesicht und den eisig blitzenden Augen.
»Lass sie!«, zischte Hjordis.
»Nein. Sagt uns, was geschehen ist.« Ganz bewusst suchte er sich eine der älteren Frauen heraus, ein kleines, verhutzeltes Weib, das sich augenscheinlich um die anderen kümmerte. »Wie ist dein Name?«
»Budicca Dagsfalan.«
Der Name sagte ihm etwas. Er meinte sich zu erinnern, dass sie mit dem Clansführer verwandt war. »Bist du die Clansherrin?«
Er sah, wie sie ihn genauso abzuschätzen versuchte. Sie richtete sich auf. »Die bin ich. Mein Enkel Skane ist der Clansführer.« Der verängstigte Ausdruck schwand, ihre Miene bekam einen Ausdruck, den er nicht ganz ausloten konnte. Irgendwie berechnend.
»Dann sag, was hier geschehen ist«, sagte er und richtete sich ebenfalls wieder auf.
Offenbar waren die Feinde in der Nacht gekommen und hatten als erstes die Siedlung beschossen. »Mit fliegenden Feuerbällen«, wisperte eines der Kinder in den Rock seiner Mutter.
»Große Bälle?«, hakte Bjarne nach.
»Jaaahh... riesengroße. Sie haben ganz weit geschossen.«
»Und wo kamen sie her?«, fragte Phorsteinn, was Hjordis zu einem Schnauben veranlasste.
»Na, woher schon? Von Süden natürlich!«
»Sind da noch mehr?«, fragte anderes Kind ängstlich.
»Das werden wir herausfinden müssen«, sagte Kjell. »Habt ihr in letzter Zeit Reisende aus Saran gesehen, Schiffe?«
»Nein.« Allgemeines Kopfschütteln. »Die Winterfahrer sind gerade aufgebrochen«, ergänzte die Clansführerin. »Die Männer sind allesamt mit ihnen auf See.«
»Und darauf haben sie gewartet, das möchte ich wetten. Das hat der Ragai ausgeheckt!«, spie Kjell grimmig aus. »Der hat nicht wirklich mit Widerstand gerechnet, hatte nicht einmal eine vollständige Rüstung an. Wir müssen nach Saran, so schnell wie möglich, und schauen, was dort vor sich geht.«
»Was könnt ihr schon ausrichten?«, fragten die Frauen mutlos.
»Mehr, als ihr denkt. Oder haben wir nicht zu viert gegen sie gewonnen?« Herausfordernd sah Phorsteinn in die Runde.
»Gib nicht so an!«, verpasste Hjordis ihm einen Dämpfer. »In Saran sind womöglich Hunderte von Feinden. Wie sollen wir gegen sie bestehen?«
»Wir könnten segeln«, sagte da Bjarne.
»Und wie willst du Hänfling das machen?« Auf einmal waren die Frauen nicht mehr so ängstlich, eher resigniert. Sie lachten ihn aus, es klang bitter. »Was für ein verrückter Einfall!«
»Glaubt mir, ich kann’s«, erwiderte Bjarne und verschränkte trotzig die Arme. »Urgroßvater hat es mir gezeigt. Ich habe nichts davon vergessen.« Das galt besonders Kjell, und der glaubte es ihm unbesehen.
»Meinst du, wir schaffen das allein?«
»Nun, wir brauchen schon etwas Hilfe. Von euch.« Bjarne wies auf die Frauen.
»Waas? Wir?!«, riefen diese entsetzt.
»Wer sonst«, stichelte Hjordis spöttisch. »Oder seht ihr hier sonst jemanden? Ich bin dabei. Das will ich sehen, wie ihr Landratten aus der Steppe euch so richtig schön blamiert!«
»Landratten? Steppe? Moment mal, wer seid ihr eigentlich?«, verlangte die Clansführerin zu wissen. »Von welchem Urgroßvater redest du, Junge?«
»Von Regnar.« Bei dem Namen schraken alle auf, und manch kleines Kind barg erschrocken das Gesicht im Rock der Mutter. Bjarne grinste gehässig, was Kjell zu einem Stoß veranlasste.
»Ich bin Kjell Jeldriksfalir, und dies ist mein Bruder Bjarne Jeldriksfalir und dies Phorsteinn Brynsfalir. Wir können es, glaubt es ruhig, und kämpfen, das können wir allemal. Wir haben Waffen, wir haben ihre Schiffe und ihre Katapulte und mit etwas Glück auch Teer für die fliegenden Bälle. Also«, Kjell sah herausfordernd in die Runde, »wer kommt mit? Wer kann mit einer Waffe, einem Bogen umgehen?«
»Ich. Wenn die da mitgeht, dann will ich nicht zurückbleiben.« Verächtlich sah eine junge Frau Hjordis an, und andere schlossen sich ihrer Meinung an.
›Nanu?‹, dachte Kjell und bemerkte bei einem schnellen Seitenblick, wie Hjordis’ Mund sich verschloss und sie ganz steif dastand. Die grünen Augen funkelten abwehrend.
»Und was ist mit uns?«, fragten die anderen Frauen. »Wo sollen wir hin?«
»Ihr könnt in meine Hütte, wenn ihr euch nicht zu fein dafür seid«, schnappte Hjordis. Es klang trotzig, als wolle sie sich beweisen.
»Waas? Wir in die Hütte einer Clanlosen?«, fauchte Budicca.
Kjell traute seinen Ohren nicht über die so ihr unvermittelt entgegenschlagende Feindseligkeit. Sie hatten gerade alles verloren und bekamen von Hjordis ein Obdach geboten, und das war ihnen nicht gut genug? Es machte Hjordis wütend und verletzte sie, das spürte er, obwohl sie das nicht zeigte.
»Dann schlaft doch in den Trümmern«, erwiderte sie bissig. »Nach Saran könnt ihr jedenfalls nicht.«
»Nein... warte.« Eine der älteren Frauen strafte die Clansführerin mit einem Kopfschütteln. »Wir«, sie zeigte auf die Umstehenden und sparte dabei Budicca bewusst aus, »nehmen dein Angebot an, bis wir uns dort unten wieder etwas herrichten können.« Danken tat sie Hjordis jedoch nicht.
Diese verschränkte die Arme. »Zu essen sollte genug für ein paar Tage in der Hütte sein. Aber wenn ich entdecke, dass ihr an die Vorräte gegangen seid oder etwas von meinen oder Vaters Sachen fehlt, dann schneidet er euch das Herz bei lebendigem Leibe heraus. Wenn ich das nicht schon vorher getan habe.« Sie riss dem überraschten Kjell das Ragai-Schwert aus der Hand. »Er gehört zu Regnars Männern«, fügte sie an die Brüder gewandt hinzu und strich beinahe liebevoll über die kunstvoll verzierte Schwertscheide. Dabei fletschte sie die Zähne in die Richtung der Frauen, die prompt zurückwichen.
Bevor sie noch ernsthaft aneinander geraten konnten, griff Kjell ein. »Zwei oder drei von euch bringen die Kinder hoch in den Wald. Die anderen kommen mit uns. Wir schauen, was noch zu retten ist.«
Das war wahrlich nicht viel. Während Phorsteinn und die Frauen die Trümmer durchstöberten und alles nicht Verbrannte in den einzigen heilen Verschlag in Sicherheit brachten, ruderten Kjell und Bjarne mit Hjordis zu den Schiffen hinaus. Dabei warf Kjell ihr immer wieder heimliche Seitenblicke zu. Sie war also eine Clanlose. Darauf hätte er schon allein wegen ihres wilden Äußeren kommen müssen. Das war an sich ja nichts Ungewöhnliches, aber eine solche Verachtung von Seiten der Frauen, das musste besondere Gründe haben. Sollte er sie danach fragen? Nicht jetzt, entschied er. Später vielleicht.
Auf den Schiffen war niemand mehr, alles andere hätte Kjell auch überrascht. »Warum nur haben sie keine Wachen aufgestellt?«, fragte sich Bjarne und sah sich unbehaglich um.
»Sie müssen genau gewusst haben, wann die Winterfahrer aufgebrochen sind«, vermutete Kjell.
»Ich glaube, es waren die Sklaven«, sagte Hjordis. »Sie haben so etwas wie ein... ein... wie nennt man das?«, fragte sie Kjell.
»Ein Kundschafternetz? Verdammt! Und Oren hat nichts bemerkt?«
»Das fragst du mich? Woher soll ich das wissen?« Schon war sie wieder wütend und wollte den Platz wechseln.
»Vorsicht, sachte!«, rief Kjell, weil sie das Boot gefährlich zum Schwanken brachte. Sie legten an und kletterten an Bord. Dabei ignorierte sie seine ausgestreckte Hand, was Kjell sich nicht länger gefallen ließ. »Jetzt hör mir mal gut zu!« Er riss sie herum und baute sich so dicht vor ihr auf, dass sie einander Aug in Aug gegenüberstanden. »Es ist mir egal, wer du bist oder wie deine Abstammung ist. In meiner Familie war das nie von Bedeutung, also tu nicht so, als würde ich dich mit jedem Wort niedermachen! Wenn man kämpft, dann muss einer Befehle geben, und das werde ich tun. Verstanden?« Er musste fast grinsen. Wenn diese Augen Dolche werfen könnten, er wäre längst tot. Er sah, wie sie mit sich rang, ihn zu schlagen oder einfach wegzugehen. ›Ja, schlag zu!‹, dachte er. Aber dann presste sie die Lippen zusammen und nickte knapp. »Gut.« Er holte tief Luft. »Bjarne, geh rüber auf den anderen Kahn und sieh zu, was du an Waffen, Teer und Geschossen findest. Und Vorräten. Die sollten wir an Land bringen. Wir beide sehen uns hier um.«
»Was hast du vor?« Wider Willen neugierig geworden, folgte Hjordis ihm unter Deck.
»Das weiß ich noch nicht so genau«, gab er offen über die Schulter zu. »Lass uns erstmal schauen, was wir hier haben. Dann entwerfen wir einen Plan.«
»Einen Plan?«, schnaubte sie belustigt, auch als kleine Rache für eben. »Hör dich doch mal an! Einen Plaaaan! Segeln wir doch einfach nach Saran und greifen sie an.«
»So wenige gegen vielleicht Hunderte von Kämpfern? Das schaffen wir nicht.« Im selben Moment trat sie in einen Lichtstrahl, und er sah in ihre Augen. Sie wusste es, wusste es ganz genau, wollte ihn nur ärgern. »Bist du hier, um Haarspaltereien zu betreiben oder um zu kämpfen und zu siegen?« Damit ließ er sie stehen und begann zu stöbern.
Wieder an Land, hatte Kjell nicht ein Wort mehr mit ihr gesprochen und sich seinen Plan zurechtgelegt. Sie hatten zwei volle Boote an Vorräten erbeutet und Bogen, Pfeile und mehrere der Geschosse.
»Sie wollten mit Sicherheit nach Saran zurückkehren und dort mit den anderen kämpfen«, sagte Kjell zu seinen Freunden. Sie hockten im Hafen beieinander, während die Frauen immer noch die Trümmer durchsuchten. »Also sollten wir tun, was sie erwarten, und erst im letzten Moment zuschlagen.«
»Zuschlagen?« Phorsteinn verstand nicht.
Da grinste Kjell. »Kannst du schwimmen?«
Sie mussten üben, das Manövrieren und das Schießen. Diese Schiffe waren ganz anders als die ethenischen Lastensegler, die sie sonst kannten, oder die schnellen saranischen Schiffe. Kjell glaubte sich aus den Erzählungen seines Vaters und Onkels zu erinnern, dass sie mehr wie ein Ragai-Schiff gebaut waren. Sie waren wesentlich höher als die saranischen Schiffe, auch schwerfälliger und sehr breit. Es gab ein richtiges Unterdeck mit Laderaum und einer doppelten Reihe Ruder, die Kjell aber nicht nutzen wollte. An Deck stand jeweils ein kleines Katapult. Bis sie sich damit vertraut und die Schiffe bereit gemacht hatten, war es Abend geworden. Die Toten hatten sie an Deck festgebunden, als Tarnung, damit es aussah, als würden die Ethenier ihre Schiffe immer noch selbst steuern. Kjell wusste nämlich nicht, wie lange man von hier nach Saran brauchte und ob sie dort im Dunkeln oder im Hellen ankommen würden. Sich selbst hatten sie mit Ruß eingeschmiert, damit man ihre helle Haut und Haarfarbe nicht von Weitem erkannte.
Bei Sonnenuntergang segelten sie los, er selbst und Hjordis auf dem einen, Bjarne und Phorsteinn auf dem anderen Schiff. Sie hatten jeweils ein halbes Dutzend Frauen, teilweise sogar noch Mädchen dabei. Während Phorsteinn mit ihnen schäkerte und Bjarne sie mit gutmütigem Spott bedachte, hatte Kjell nichts weiter als kalte Verachtung für sie übrig, und das lag daran, wie sie Hjordis behandelten. Kein gutes Wort hatten sie für ihre Lebensretterin übrig, ihre Hilfe, die Trümmer zu durchsuchen, war kalt abgelehnt worden, ja, sie hatten sogar so getan, als wolle Hjordis stehlen. Es war ein unschöner Einblick in die saranischen Sitten und Gebräuche, den er da erhielt, und er erkannte nicht zum ersten Mal, wie ungewöhnlich es in seiner Familie zuging und welches Erdbeben es ausgelöst haben musste, als sein Großvater Roar damals eine Clanlose zur Frau genommen hatte. Sie glaubten offenbar, eine Clanlose sei gleichbedeutend mit einer Hure und Diebin, und das gefiel ihm gar nicht.
Kjell hatte zunächst überlegt, ob er nicht die restlichen Schwerter holen und an die Frauen verteilen sollte, aber nach diesem Vorfall sah er davon ab. Irgendwie glaubte er zu spüren, dass er seine Waffen dann auf Nimmerwiedersehen verloren hätte, zumal kaum eine von ihnen mit einem Schwert richtig umgehen konnte. Sie nahmen sich lieber die Dolche und Äxte und Bogen der Ethenier. Sollten sie damit zurechtkommen, dachte er verächtlich.
Deshalb scheuchte er seine Frauen auch gnadenlos herum, wie beim gildaischen Heer, was sie nach erstem Protest – bis er drohte, sie ins Wasser zu werfen – auch widerstandslos und willig über sich ergehen ließen. Ganz im Gegenteil, im Laufe der Nacht kam sogar so etwas wie Bewunderung für ihn bei den Frauen auf, und je mehr es wurde, desto biestiger wurde Hjordis. Er wollte ihr nicht vor allen anderen helfen, also behandelte er sie genauso barsch wie die anderen, und wenn sie bockte, nutzte er ihre Schwäche gnadenlos aus: Sie konnte nämlich nicht schwimmen, und nichts hätte sie mehr vor den anderen in Gefahr gebracht. Die Frauen hätten sie mit Freuden über Bord gehen lassen. Mittlerweile konnte er deren Verhalten nur noch als Hass bezeichnen. Er fragte sich immer mehr, was da wohl vorgefallen war, hütete sich aber, Hjordis in Gegenwart der anderen danach zu fragen. Das würde er später tun. Oder nie. Je nachdem, ob sie überlebten oder nicht.
Je weiter sie südwärts segelten, desto dunkler wurde die Nacht und desto deutlicher wurde, dass etwas nicht stimmte. Der Horizont wurde heller, und bald war klar, warum.
»Saran brennt!« Wie eine verängstigte Herde Schafe drängten sich die Frauen und Mädchen aneinander.
»Dann wird es höchste Zeit, ihnen zu helfen!«, knirschte Kjell und legte das Schiff noch etwas härter an den Wind. Ein paar Befehle brachten die Frauen wieder auf Trab und lenkten sie von ihrer Furcht ab.
Nur Hjordis blieb bei ihm. »Kommen wir zu spät?«, fragte sie leise und gar nicht mehr so biestig.
»Das werden wir bald wissen. Hör zu, sobald wir die anderen Schiffe beginnen zu beschießen, schicke ich die Frauen von Bord. Dich aber brauche ich hier. Wir müssen das Schiff in Brand setzen und dann erst springen. Ich helfe dir an Land.«
»Ich nehme ein Brett, keine Sorge!«, schnappte sie und wandte ihm den Rücken zu. Kjell rollte nur mit den Augen und ließ sie in den nächsten Stunden in Ruhe.
»Seht euch das an, die ganze Festung steht in Flammen!«
Die Sterne verblassten langsam, und im Osten hinter den Bergen wurde es ein wenig heller. Dennoch war es auf dem Meer beinahe taghell. Die Feuer leuchteten weit auf die See hinaus.
»Hjordis, übernimm das Ruder. Das will ich mir ansehen.« Kjell wartete ihre Antwort nicht ab. Er ließ sie einfach stehen und kletterte den Mast empor. So etwas wie einen Ausguck besaßen die ethenischen Schiffe nicht, deshalb klammerte er sich dort oben mehr schlecht als recht an einem Tau fest.
»Ich sehe ihre Schiffe! Sie ankern weiter draußen auf dem Meer, alle auf einem Haufen!«, rief er schon bald und stieß einen triumphierenden Laut aus. Darauf hatte er gehofft.
»Was ist mit Saran?«, riefen die Frauen.
»Es brennt, aber nicht überall.« Nicht die große Halle, dachte er erleichtert.
»Was ist mit der Festung? Hält sie? Oder sind die Ethenier eingefallen?«, schrie Hjordis.
»Was glaubst du denn, dass ich Augen wie eine Nachteule habe?! Das kann ich noch nicht sehen!« Quälend langsam kamen sie näher heran, viel zu langsam in Kjells Augen. Seine Arme und Beine drohten einzuschlafen, nur noch mühsam hielt er sich fest. Erst als die ersten Bergspitzen in rotes Licht getaucht wurden, konnte er mehr erkennen. Rasch kletterte er wieder herunter.
»Sie hält. Die Feinde scheinen sich am Strand verschanzt zu haben.« Kjell schüttelte seine Beine aus und stampfte mit den Füßen auf, um wieder Gefühl in sie zu bekommen. Vor ihnen auf dem Wasser konnte man jetzt die aneinander vertäuten Schiffe gut erkennen. »Wir müssen weiter raus. An die Segel, Mädchen, und du hilfst mir mit dem Ruder«, wies er Hjordis an.
Gemeinsam drückten sie das Ruder herum und fuhren einen großen Bogen auf das offene Meer hinaus. Einen raschen Blick hinter sich, dass Bjarne ihm folgte, dann schickte er die Frauen unter Deck, das Feuer vorzubereiten. Er selbst machte sich daran, das Katapult zu spannen und eines der Geschosse hineinzuhieven.
Alles in ihm war angespannt, jeder Muskel, jede Sehne und seine Empfindungen. Er wusste es nicht, aber so hatte sein Vater auch stets vor einem Kampf ausgesehen, das Gesicht wie gemeißelt, die Augen wie tödliche Dolche. Keine der Frauen wäre auf den Gedanken gekommen, wie es in seinem Innern aussah, dass er Angst hatte zu versagen, Angst, dies alles nicht zu überleben.
»Jetzt gilt es. Wir wenden!«
Von da an war es Kjell, als vollzöge er eine Kampfesübung. Immer wieder war er den Ablauf im Geiste durchgegangen, hatte ihn verworfen, neu geordnet, angepasst. Jetzt musste alles stimmen, oder sie wären erledigt. Kjell wendete das Schiff und lenkte es direkt auf den dunklen Haufen Schiffsleiber zu. Kein Licht war an Bord. War dort niemand mehr? Das würde ihren Verdacht des Kundschafternetzes erhärten und es ihnen leichter machen, bis zum ersten Schuss unentdeckt zu bleiben.
»Jetzt??«, kam es gedämpft unter Deck hervor.
»Nein, wartet noch. Es ist noch zu früh.«
»Beeil dich, wir ersticken hier unten fast«, rief eine andere. »Es stinkt, das Zeug ist widerlich.«
»Du wirst bald noch viel Widerlicheres zu sehen bekommen, du dumme Ziege«, zischte Hjordis nur für Kjell hörbar.
»Lass sie«, mahnte er. »Wärest du in der Scheune eingesperrt gewesen, du könntest es dort unten auch nur schwer ertragen. Komm her, übernimm wieder das Ruder. Halte genau auf die Mitte zu.« Er selbst lief zum Katapult, überprüfte noch einmal die Spannung, zog sich dann an einem Seil hoch und maß die Entfernung zu den anderen Schiffen mit den Augen. »Fast da...«, murmelte er.
»Können wir?« Die Frauen husteten.
»Noch nicht!«, rief er über die Schulter. »Wartet... wartet... wartet... jetzt!!« Eine Klappe flog auf. Hustend und fluchend und begleitet von einem Rauchschwall sprangen zwei Frauen heraus, zwischen sich eine Feuerschale. Diese leerten sie auf das Geschoss, das sofort mit einer Stichflamme Feuer fing. Selbst Kjell sprang überrascht zurück. Mit einer solchen Wirkung hatte er nicht gerechnet. »Was haben die damit gemacht??«, fluchte er und spürte, wie ihm die Haare angesengt wurden. »Zurück mit euch!« Er fuhr herum, die Hand an der Verriegelung, und visierte das Ziel an. »Ein wenig mehr Backbord, Hjordis! Ja, gut so! Achtung, festhalten!«
Schon beim Üben im Hafen war ihr Schiff mächtig ins Wanken geraten, aber hier draußen auf hoher See brachte der Rückstoß es fast zum Kentern. Jetzt wusste er auch, warum das Schiff so breit war. Andernfalls wären sie gnadenlos abgesoffen. Sie wurden so durcheinandergeworfen, dass sie gar nicht sahen, ob sie trafen oder nicht. Hjordis’ Triumphschrei brachte ihnen die Antwort. Gleich darauf waren weiter vorne Alarmschreie zu hören. Also waren die Schiffe doch nicht unbewacht.
»Sie haben uns bemerkt!«, schrie Hjordis. »Los, Kjell, noch eins!«
In dem Moment zischte ein weiteres Geschoss über sie hinweg und traf. Die Wirkung war verheerend, und das erste Mal konnte Kjell den Schrecken in der Siedlung verstehen. Sobald es traf, zerplatzte es in tausend kleine Feuergeschosse und setzte alles um sich herum in Brand. Dunkle Gestalten hasteten hin und her und versuchten, die vielen Brandnester zu löschen. Am besten noch eines in die Mitte, entschied Kjell und trieb die Frauen an, ihm beim Spannen und Laden des Katapultes zu helfen. Doch sie waren schon zu dicht dran, als sie endlich fertig waren, ihr Geschoss streifte nur noch einen Mast, welcher unter lautem Getöse brach. Also hielten sie nur weiter auf die Mitte zu und holten das Feuerbecken herauf, in dem sie unter Deck das Feuer vorbereitet hatten.
»Wir müssen die Männer auf den Schiffen töten, sonst fallen sie uns in den Rücken!«, rief Kjell, als die Mädchen schon von Bord springen wollten.
»Wir sollen hierbleiben?« Entsetzt sahen sie ihn an.
»Und kämpfen!« Hjordis lachte sie aus. »Dazu seid ihr doch hier, oder nicht?« Sie griff sich ein Seil und band das Ruder fest. Unheimlich schnell kamen die Schiffe jetzt näher. Die Feinde darauf hatten noch gar nicht bemerkt, in welcher Absicht sie auf sie zukamen.
»Duckt euch und haltet euch fest!«, rief Kjell gegen den Lärm an und trat das Feuerbecken um. Dann schnappte er sich eine Fackel und warf sie nach unten in den Laderaum auf die Teer- und Brennstoffvorräte, sodass er sich schleunigst in Sicherheit bringen musste, denn eine Stichflamme schoss hinter ihm her aus dem Laderaum heraus. Jetzt waren auch Alarmschreie von den Schiffen zu hören. Pfeile zischten über sie weg, sodass sie sich schleunigst hinter die Reling ducken mussten.
Auch Hjordis schoss danach und traf, bis Kjell sie packte und runterzerrte. »Halt dich fest!« Sie rasten auf die Schiffe zu. Hinter ihnen wurde es heißer und heißer, beißender Qualm zog über sie hinweg und nahm ihnen den Atem. Sie duckten sich und warteten auf den Aufprall. Trotzdem traf sie diese Kraft völlig überraschend. Es gab einen Knall, das Schiff bäumte sich auf und schob sich mit dem Bug knirschend auf die anderen Schiffe. Hätte Kjell nicht zugepackt und Hjordis festgehalten, sie wäre über das Deck geschleudert worden. Zwei andere Frauen hatten nicht so viel Glück, sie prallten hart weiter vorne an die Bordwand. Aber auch die Feinde warf es durcheinander, sodass alle einen Moment brauchten, wieder auf die Füße zu kommen. Doch da war es schon zu spät, Kjell war von Bord gesprungen und mitten unter ihnen.
Hjordis dagegen hatte auf dem erhöhten Deck eine hervorragende Position zum Schießen. Sie scheuchte die anderen Mädchen hoch, während sie Pfeil um Pfeil abfeuerte. »Los, runter mit euch, macht schon!« Sie schoss wie eine Wahnsinnige, während alle Feinde sich auf Kjell stürzten. »Na los, helft ihm!« Sie schimpfte, keifte und schrie, jagte die anderen regelrecht von Bord, wütend darüber, dass sie Kjell so im Stich ließen. Und auch aus Angst, dass sie nicht schnell genug schießen konnte und er getötet würde. Aber das sollte ihr erst sehr viel später aufgehen. Es war ein einschneidender Moment in ihrem Leben.
Danach ging alles im Rauch und Geschrei unter. Es krachte wieder so fürchterlich, wieder verloren sie alle das Gleichgewicht und stürzten übereinander. Doch dann waren Bjarne und Phorsteinn da, und das gab auch den anderen Mädchen Mut. Plötzlich sahen sich die Ethenier von einer Horde kreischender Furien attackiert, und wenn sie diese abgewehrt hatten, war das letzte, was sie sahen, ein riesiger schwarzer Kämpfer mit Augen so leuchtend wie blaues Feuer, und sie dachten, die Götter seien über sie gekommen, und sprangen aus Furcht von Bord.
Er merkte nicht mehr den beißenden Rauch, die Hitze des Feuers. Alles, wonach er strebte, war, möglichst viele Feinde auf sich zu lenken und die anderen vor Schaden zu bewahren. Wurde eine der Frauen getroffen, fühlte es sich an, als wäre er selbst verwundet, er wusste auch nicht, weshalb das so kam. Nur bei seinem Bruder, Phorsteinn und Hjordis war das nicht so, bei ihnen wusste er einfach, sie kamen zurecht.
Doch im Rausch des Kampfes kam ihnen das Gespür für die Gefahren abhanden. Plötzlich krachte und knirschte es laut, der Boden sackte unter ihnen weg. Der ganze Trümmerhaufen geriet ins Wanken, sodass sie von den Füßen gerissen wurden. Hjordis, die von ihrem erhöhten Posten alles besser im Blick hatte, erkannte die Gefahr als erste: Die Schiffe brachen auseinander, auch sie war eine Mannhöhe nach unten gesackt.
»Runter von den Schiffen!«, schrie sie. »Sie sinken, schnell!«
Kjell war zuerst wieder auf den Beinen. Er packte das ihm am nächsten liegende Mädchen und zerrte es zu einer einigermaßen sicheren Stelle. »Spring!« Dann trieb er die anderen von Bord, erledigte dabei noch ein paar Feinde und sah mit raschem Blick, dass auch sein Bruder und Phorsteinn sich anschickten, den sinkenden Trümmerberg zu verlassen. Nur Hjordis stand oben an der Reling und klammerte sich mit schreckgeweiteten Augen daran fest. »Hjordis! Spring!« Doch sie schüttelte wild den Kopf, sodass Kjell nichts anderes übrig blieb, als zu ihr hochzuklettern.
Das Heck ihres Schiffes lag bereits bedenklich tief im Wasser, das Feuer war beinahe schon erloschen. Das machte es Kjell leicht, sie hatten eine richtige flache Rampe in die See. Er riss Hjordis’ verkrampfte Hände brutal von der Reling los, sodass sie schmerzhaft aufschrie, und zerrte sie hinter sich her ins Wasser. »Halt dich an mir fest!« Er legte ihre Arme um seine Schultern und stieß sich so schnell ab, dass sie gar keine andere Wahl hatte, als sich festzuklammern. Hinter sich hörten sie das Bersten von Holz und das Zischen verlöschender Flammen. »Halt dich an mir fest, sonst ertrinkst du!«, rief er überflüssigerweise und schwamm, so schnell er konnte, von den sinkenden Trümmern fort.
Das Wasser kam ihm nach dem Kampf und dem Feuer eiskalt vor und nahm ihm kurzzeitig den Atem. Einen Moment wollte Panik ihn überkommen, weil er seit vielen Jahren nicht mehr geschwommen war und ihn Hjordis’ Gewicht unter Wasser zog, aber was sein Körper einstmals gelernt hatte, verlernte er nie wieder, das merkte er sehr schnell. Sein Instinkt übernahm das Handeln, und er umrundete mit kräftigen Zügen die Trümmer und hielt auf den Strand zu.
»Alles in Ordnung?«, rief er über die Schulter.
»Ja!« Hjordis hustete und spuckte Wasser. »Los, schwimm zu!«
»Hilf mir, wenn du kannst!« Er legte sich mächtig ins Zeug, und tatsächlich, schon bald merkte er, wie sie von hinten schob. Sie wurden so schnell, dass sie die anderen bald eingeholt hatten und als erste wieder Grund unter den Füßen spürten. Er schwamm noch ein wenig weiter, bis die Brecher sie nicht mehr so umwerfen konnten, hockte sich hin und gestattete sich, einen Moment zu verschnaufen. Ungeübt, wie er war, war er völlig außer Atem. Dabei spähte er den Strand aus. Nun konnte er alles gut erkennen. Sämtliche Feinde hatten sich hinter ihren umgedrehten Beibooten verschanzt. Sie beschossen die Festung, aber nicht mit voller Kraft. Anzugreifen getrauten sie sich offenbar nicht mehr, aber es hatte Versuche gegeben, wie er an den umstürzten Leitern und den vielen Toten vor der Palisade erkannte.
»Da sind Bjarne und Phorsteinn und die anderen«, zischte Hjordis in sein Ohr. Sie schwammen zu ihnen und nutzten wie sie die Brecher und umherschwimmenden Trümmer als Deckung.
»Verluste?«, fragte Kjell sofort.
»Wir vermissen zwei Mädchen. Hoffen wir, dass sie woanders an Land gelangen konnten«, keuchte Bjarne. Er hatte eine tiefe blutige Scharte im rußgeschwärzten Gesicht und sah Regnar ähnlicher denn je.
Kjell kniff die Augen zusammen. »Ich glaube nicht, dass die dort vorne der Rest sind. Sonst wären ihnen ihre Kumpane auf den Schiffen doch längst zu Hilfe gekommen. Wir müssen ihre Nester ausheben, dann sehen wir weiter. Verbergt euch zwischen den Trümmern und bewegt euch im Wasser, bis ihr hinter ihnen seid, und passt auf, dass ihr nicht Ziel unserer eigenen Schützen werdet. Ich nehme das erste hier vorne, ihr die hinteren. Los, ab mit euch!«
Er wartete, bis Bjarne und Phorsteinn im Wasser bis auf Höhe der anderen Beiboote geschwommen waren. Sie verbargen sich gut, sodass weder die Feinde noch die Schützen auf der Palisade merkten, was vor sich ging. Unterdessen suchte Kjell fieberhaft den Strand ab. War da ein Ragai? Lebte er noch? Versuchte er auf der anderen Seite, in die Festung zu gelangen?
Als die anderen soweit waren, hatte Kjell einen Plan. »Hjordis!«, zischte er. »Ich will wissen, wo der Ragai steckt. Schieß einen von ihnen ab. Mal sehen, wo er zum Vorschein kommt!«
»Na, hoffentlich hat mein Bogen das Bad überstanden«, schnaufte Hjordis. Sie zog einen Pfeil hervor und spannte ihn probeweise, das Ganze immer noch bis zur Brust im Wasser. Es ging gut.
Kjell trieb die anderen an. »Schnappt euch ein paar Trümmer und schiebt sie vor euch her, dann habt ihr etwas Deckung, wenn ihr aus dem Wasser kommt. Los, los!« Er nickte Hjordis zu, und sie schoss.
Ihr Schuss hätte nicht verheerender wirken können. Wie aufgescheuchte Tiere stoben die Feinde auseinander und wurden so leichte Beute für die Schützen auf der Palisade. Kjell hielt seine Leute wohlweislich im Wasser in Deckung, damit sie nicht getroffen wurden. Nur wenn ihre Gegner sich wieder verkriechen wollten, kamen sie aus dem Wasser empor und trieben sie wieder aus ihrer Deckung. Ihre Handlungen wurden von immer lauter werdenden Triumphschreien auf der Palisade begleitet, doch Kjell empfand keine Freude, als der letzte der Feinde fiel. Sollten das etwa alle gewesen sein? Das konnte nicht sein, und er behielt recht.
Kaum waren sie alle aus dem Wasser gewatet, erklangen Alarmschreie von oben, und dann kamen sie, zu Dutzenden, aus den Dünen.
»Achtung!«, brüllte Kjell los. »In Deckung, hinter die Boote!« Jetzt waren sie es, die dort Schutz suchten, während von der Siedlung her ein Pfeilhagel auf die Feinde niederging.
Doch es half nicht viel. Die Saraner schienen grauenhafte Schützen zu sein, und außerdem wussten die Ethenier genau, wie weit ihre Pfeile reichten, und hielten sich am Saum des Wassers hinter ihren Schilden verschanzt, sodass keiner traf. Kjell beobachtete genau, wie sie sich verhielten, und wunderte sich über diese Präzision. Doch dann hatte er ihn gefunden, den Anführer. Kaum auszumachen in der dunklen Masse der Gegner, schritt er gelassen hinter den anderen her am Saum des Wassers entlang, als ginge ihn das alles gar nichts an. Nicht einmal seine Waffe hatte er gezückt. Er wusste, er war nicht in Gefahr.
»Bjarne, Phorsteinn!« Kjell rannte geduckt zu dem vordersten Boot, wo sein Bruder lag. »Seht ihr ihn? Können wir ihn von hier abschießen?«
»Zu weit weg! Wir müssen näher heran«, zischte Bjarne.
»Ohne Deckung? Das ist verrückt! Wir warten«, entschied Kjell.
Doch die Feinde waren nicht dumm, ganz besonders der Ragai nicht. Sie blieben gerade außerhalb der Reichweite der Pfeile, was auch die Schützen auf dem Wall erkannten und ihren Beschuss gänzlich einstellten. Es entstand eine Pattsituation, es ging nicht vor und nicht zurück.
Mittlerweile waren auch Hjordis und die anderen Frauen zu ihnen aufgeschlossen. Immer heller wurde es im Osten, und dann sandte die Sonne die ersten Strahlen über die Berge auf die rauchende Siedlung. Jetzt konnten sie erstmals erkennen, welche Schäden die Festung davongetragen hatte. Die Palisaden wiesen etliche zertrümmerte Stellen auf und waren notdürftig wieder versperrt worden. In der Siedlung rauchte es noch immer, wenn es auch keine meterhohen Flammen mehr gab.
»Sie müssen rauskommen und hier kämpfen!«, zischte Kjell. »Warum tun sie es nicht?«
»Vielleicht gibt es nicht mehr genug Kämpfer?« Phorsteinns Stimme klang dünn.
»Bei den Etheniern doch auch nicht. Es können nur noch ein paar Dutzend sein. Oder warten sie auf Verstärkung? Sind dort draußen noch mehr?« Bjarne hob die Kopf und spähte über das Boot, aber nichts rührte sich.
Da fasste Kjell einen Entschluss. »Dann müssen wir jetzt handeln, bevor es zu spät ist. Hjordis, gib mir Deckung!«
»Was hast du vor?!« Doch Bjarne gelang es nicht mehr, seinen Bruder aufzuhalten.
Kjell sprang hinter dem Boot hervor und zog sein Schwert. »Ragai! Ragai! Kommt her und stellt Euch mir zum Kampf!«, rief er laut auf Gildaisch und wiederholte es noch einmal lauter, dass es über den gesamten Strand schallte.
»Was tust du?! Du bist verrückt!«, rief Bjarne. »Das schaffst du nie! Denk doch an Vater, denk an Onkel Phelan. Selbst der konnte die Ragai nicht besiegen!«
»Ich weiß! Aber wenn er herkommt, könnt ihr ihn abschießen.«
»Das ist aber ehrlos«, hob Phorsteinn dümmlich an.
»Ach, und was ist das?«, fauchte Kjell ihn an und zeigte auf die verkohlte Palisade. »Ob mir das wohl egal ist?!« Dabei behielt er die Feinde genau im Auge, die sich jetzt zusammenrotteten und so etwas wie ein undurchdringliches Bollwerk bildeten mit ihren Schilden, immer noch außerhalb der Reichweite ihrer Pfeile. »Seid still und lasst mich machen! Ich will sie ablenken. Wenn der Ragai beschäftigt ist, haben die anderen vielleicht Gelegenheit, sie von der anderen Seite aus anzugreifen. Achtung!«
Im Pulk der Feinde bildete sich eine Gasse. An deren Ende stand eine einsame Gestalt, das Schwert locker in der Hand. Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne beleuchteten die Spitze seines kunstvoll verzierten Helmes. Dieser hier war also richtig gerüstet und zu allem bereit.
Kjell holte tief Luft ob seines eigenen Plans. Das konnte böse für ihn enden, er wusste es. Noch nie hatte er wirklich mit dem leichten Schwert seines Vaters gekämpft. Er war ungerüstet, es gab keine Deckung, die tief stehende Sonne war ungünstig, sie waren in der Unterzahl.
Das wusste auch der Ragai und griff zu einem gerissenen Mittel. Er ging langsam durch die Gasse hindurch auf sie zu, aber gerade noch außerhalb der Reichweite von Hjordis’ Bogen blieb er stehen. Woher wusste er das?, staunte Kjell.
»Ich werde weitergehen, wenn Ihr weitergeht«, rief der Ragai so laut über den Strand, dass man es auch oben hörte. »Wenn Eure Leute schießen, werden es meine auch. Dann sterben wir beide. Oder wir kämpfen Mann gegen Mann einen ehrenvollen Zweikampf. Ihr habt die Wahl!« Er hob eine Hand, und seine Leute spannten die Bogen und zielten auf Kjell.
»Verdammt!«, entfuhr es Bjarne.
Kjell schluckte. Jetzt hatte er keine Wahl mehr. »Nehmt die Bogen runter, niemand schießt«, rief er ebenso laut, damit man es auch auf der Palisade hörte. »Ihr auch«, sagte er leiser zu seinen Freunden. »Verteidigt nur euch selbst. Lebt wohl.« Ganz kurz nur sah er Hjordis an, doch das reichte. Ihre Augen waren schreckgeweitet, alle Biestigkeit war verschwunden. Fassungslos starrte sie ihn an, und er fühlte, wie ihn ein Stich durchfuhr, wie er ihn noch nie gespürt hatte.
»Denk an Mutter«, sagte Bjarne da. Der Moment war vorüber.
»Waas?!«, riefen die anderen fassungslos, aber Kjell nickte nur.
Während er sich umdrehte und langsam auf den Ragai zuging, leerte er seinen Geist und seine Empfindungen, richtete sie ganz auf den bevorstehenden Kampf. Er erinnerte sich daran, was er über die Ragai wusste, was sein Vater und sein Onkel Phelan ihn gelehrt hatten. Instinktiv entschied er sich, nicht anzugreifen, sondern abzuwarten und zu sehen, was sein Gegner vorhatte.
Dieser wurde sichtlich zornig, als Kjell nahe genug an ihn heran war, dass er ihn richtig erkennen konnte, vor allem, wie jung Kjell noch war.
»Ich pflege mich nur mit meinesgleichen zu schlagen«, schnarrte er und spuckte aus. »Mit Jungen habe ich nichts zu schaffen!«
Kjell lachte verächtlich auf. Damit hatte er gerechnet, es glich exakt der Reaktion des Ragais auf der Insel, als dieser entdeckte, dass Phelan kein Priester gewesen war. »Ha, das glaube ich gern! Allenfalls züchtet Ihr sie in Eurer verkommenen Bruderschaft und nehmt sie mit in Euer Bett! Aber Ihr werdet trotzdem gegen mich kämpfen, und wisst Ihr auch, warum?« Lässig drehte er sein Schwert in der Hand, das der Ragai natürlich sofort bemerkt hatte und mit zusammengekniffenen Augen beobachtete. Nichts verriet Kjells Anspannung. So hatte er auch immer seine Gegner in der Heerschule provoziert, bis diese unkontrolliert zuschlugen. Nur, dass dieser hier niemals unkontrolliert war, und deshalb war Kjell sehr, sehr vorsichtig. »Weil wir Euch bereits besiegt haben. Mein Urgroßvater machte Eure neue Festung jenseits des Meeres im Westen dem Erdboden gleich. Mein Vater und mein Onkel schickten Eure Flotte auf den Grund des Meeres und mein Onkel besiegte nochmals einen der Euren weit im Osten der Steppe. Solange ich denken kann, hat meine gesamte Familie die Euren bekämpft, und der Letzte von Euch vermodert jetzt in der Festung von Gilda, gebrochen in Körper und Geist, gepflegt von einer Handvoll... Frauen!«
Das letzte Wort ging fast unter. Er konnte fliegen. Jedenfalls kam es Kjell so vor. Blitzschnell hatte sich der Ragai auf ihn zubewegt und sein Schwert in tödlichem Schwung auf ihn niederfahren lassen. Nur Kjells bestens ausgeprägte Reflexe bewahrten ihn davor, gleich zu sterben. Einen Moment standen sie sich Auge in Auge gegenüber, nur die gekreuzten Schwerter zwischen sich. Die Augen des Ragais wurden groß und zwingend.
»Versucht es gar nicht erst«, knurrte Kjell. »In mir wohnt das Licht, das Licht der Erbin! Meiner Mutter! Eure Kräfte bewirken bei mir nichts!« Er sah, wie die Gedanken durch den Ragai rasten und er kombinierte, und er merkte genau den Zeitpunkt, als dieser begriff und er zornig aufschrie. Mit einem Schrei fuhren sie auseinander, und dann ging der Ragai wie ein Wahnsinniger auf ihn los, denn er hatte nichts mehr zu verlieren, er war der Letzte seiner Art.
Kjells Plan, ihn erst einmal nur abzuwehren und zu schauen, wo seine Schwächen lagen, ging nicht einmal ansatzweise auf. Der Ragai schlug in rasender Schnelligkeit zu, trieb ihn wie einen Hund, sodass Kjell alle Kraft brauchte, um überhaupt am Leben zu bleiben. Wie oft hatte er mit seinem Vater, mit Phelan, ja mit Currann und Farlan gekämpft! Nichts kam an dies hier heran. Jede Wendung, jeden Wimpernschlag schien der Ragai vorauszuahnen. Kjells Herz hämmerte wie verrückt, alles verschwand, der Strand, die Festung, das Geschrei der Kämpfer auf der Palisade wie auf dem Strand. Es gab nur noch ihn, das im Morgenlicht funkelnde Schwert seines Gegners und diese Augen, vor allem diese. Fast wollte er schon aufgeben, er konnte nicht mehr, bekam keine Luft, hatte keine Kraft, da fiel ihm Bjarnes letzter Rat ein und er rief sich seine Mutter und seine Schwester ins Gedächtnis, ihr Licht.
Es war, als wäre er abrupt in eine andere Richtung gezerrt worden. Er begriff es selbst nicht, aber auf einmal konnte er in den Augen des Ragais lesen, ahnte, was als nächstes geschehen würde. Als er das erste Mal seinen Gegner mit einem überraschenden Streich attackierte, war das wie ein Befreiungsschlag. Er bemerkte das Erstaunen des Ragais, konnte es förmlich spüren, und plötzlich bekam ihr Kampf eine Tiefe, wie Kjell es nie für möglich gehalten hätte. Jetzt glaube er den Schilderungen seines Onkels Phelan, es sei ein Gefühl, als würde man fliegen.
Die Zuschauer, Saraner wie ihre Gegner, waren verstummt. Noch nie hatten sie einen solchen Kampf gesehen, nicht in Gilda, nicht auf der Insel. Wie die schillernden Flügel einer Libelle sirrten die Schwerter im Licht der Morgensonne, und nur die Größe der einen Gestalt ließ erahnen, wer hier gerade was tat. Verwundert fragten sich die erschöpften Männer und Frauen auf der Palisade, wer das war, und zum ersten Mal begann Hoffnung in ihnen aufzukeimen, dass sie doch noch obsiegen würden.
Es gab einen unter ihnen, der begriff, dass dieser Kampf ihre allerletzte Chance war. Kommandant Oren, gezeichnet von Ruß, Schweiß und Blut, trieb seine wenigen verliebenden Männer zusammen. »Genug geglotzt, ihr Feiglinge, raus mit euch aus der Festung!«
Sie wählten einen geheimen Seitenausgang in den Dünen, der sie hinter den Feinden an den Strand brachte. Die Festung war wahrhaft schlau angelegt. An der Seeseite durch eine hohe Palisade geschützt, waren ihr im Landesinnern eine Vielzahl von Wassergräben, undurchdringliche Schilfgürtel und Fallen vorgelagert. Oren hatte diese in all den Jahren nach Fürst Bajans Fortgang und Tod in geradezu gildaischer Akribie erhalten, auch wenn manch ein Saraner ihn dafür verspottet hatte. Nur Dank dieses Irrgartens war es ihnen gelungen, eine solche Überzahl an Feinden abzuwehren und zu töten. Dennoch war die verbliebene Gruppe auf dem Strand zahlreich und auch gefährlich genug, sie immer noch ernsthaft in Gefahr zu bringen. Jetzt, da ihre Flotte versenkt war, hatten die Ethenier nichts mehr zu verlieren.
Klammheimlich führte Oren seine Kämpfer aus der Festung. Weit hinten schlichen sie sich an, rannten lautlos am Wassersaum auf die Kämpfenden und ihre wartenden Verbündeten zu. Niemand bemerkte sie, alle waren wie gebannt, und das wäre wohl auch so geblieben, hätte Kjell sich nicht einmal beiseite werfen und im Sand abrollen müssen. Einen winzigen Moment fiel sein Blick auf das Areal hinter den Feinden, und er kniff die Augen zusammen, genug für den Ragai, seinen Blick auch dorthin zu lenken. Er stieß einen Warnschrei aus, genauso wie Kjell, der seine Leute aufscheuchte. Dann war der Moment vorbei und die beiden Anführer stürzten sich wieder aufeinander. Alles andere verschwand erneut, und sie merkten nicht, wie hinter ihnen ein wüstes Gemetzel entbrannte. Von zwei Seiten attackiert, kämpften die verbliebenen Ethenier mit dem Mut der Verzweiflung, und wieder waren es Hjordis’ Pfeile, die manch einem das Leben retteten. Langsam aber sicher wendete sich das Blatt, und schließlich warfen die letzten der Ethenier ihre Waffen fort.
Doch die Saraner kannten keine Gnade. Zu viele Tote, zu viel Zerstörung hatte es gegeben. Sie streckten ihre Gegner einfach nieder. Plötzlich war es wieder still, und dies ließ auch die beiden letzten Kämpfer keuchend innehalten.
»Gebt auf!«, rief Kjell. »Ihr seid besiegt!« Noch einmal schrie der Ragai auf und stürzte sich auf ihn, aber Kjell war auf der Hut, wehrte ihn gekonnt ab. »Gebt es auf! Ihr werdet mich nicht besiegen!«
Blitzschnell sah der Ragai sich um, sah auf die Saraner, die langsam näherkamen, dann auf Kjell, dessen Augen wie Dolche aus dem rußgeschwärzten Gesicht leuchteten. Auf einmal brach etwas in ihm, Kjell sah es deutlich. Es war wie eine Mauer, die fiel. Plötzlich trat der Ragai zurück, hob sein Schwert. Kjell wusste, was jetzt folgen würde, und er nickte ihm zu, eine Ehrbezeugung für einen würdigen Gegner. Der Ragai verneigte sich, und dann, so schnell, dass die anderen gar nicht begriffen, was geschah, drehte er sein Schwert herum und stürzte sich hinein. Er war sofort tot, das erkannte Kjell, als er ihn mit dem Fuß herumdrehte und die Schwertspitze aus ihm herauszog. Nur entfernt hörte er den Jubel der anderen. Er stand stumm, versuchte, zu Atem zu kommen, und sah auf die reglosen Augen herab. Was für eine Vergeudung des Lebens, dachte er und fühlte sich auf einmal hundemüde und steinalt. Er schloss erschöpft die Augen.
Bis er unvermittelt ins Leben zurückgerissen wurde. Plötzlich hielt ihn jemand fest. Rauch, Schweiß, Meer registrierten seine Sinne als erstes und darunter ein ganz eigener Duft, doch das war nichts gegen die Wärme, die plötzlich durch ihn flutete. Einen winzigen Moment gestattete er sich, diesen Jemand festzuhalten und zu ruhen. Dann holte er tief Luft und trat zurück. Überrascht blickte er in Hjordis’ grüne Augen. Sie schwammen vor Tränen.
»Was... he, weinst du?«, flüsterte er, weil er hinter sich die anderen herankommen hörte.
Sofort war sie wieder die unnahbare Kratzbürste. »Nein! Ich hab’ Sand in den Augen! Bist du verletzt?«
»Nein. Du?« Sie konnte nur den Kopf schütteln, dann waren die anderen heran und rissen ihn von den Füßen.
»Ich glaub’s einfach nicht!«, rief Oren und drückte ihn, als wolle er ihm die Schultern brechen.
»Wo kommt ihr so plötzlich her?«
»Und wie...?«
Es prasselte nur so auf sie ein, bis Oren sie alle zur Ruhe rief und Kjell den Arm um die Schultern legte, kein leichtes Unterfangen mehr, wie er merkte. »Ich bin sicher, ihr habt viel zu berichten. Dank euch haben wir gesiegt!«
»Jaah, und einen Haufen hübscher Mädels habt ihr mitgebracht!«, rief einer der Wächter übermütig dazwischen und küsste diejenige, die er im Arm hielt, völlig ungeniert auf den Mund, was sie sich kichernd gefallen ließ.
»Danke, Oren. Gehen wir zur großen Halle und reden dort«, schlug Kjell vor.
Da wurden die Gesichter aller schlagartig ernst. »Das wird nicht möglich sein, fürchte ich. Sie ist teilweise abgebrannt. Und... dein Großvater ist tot.«
Alle Geräusche um ihn herum verstummten. Einen Moment lang hörte Kjell nichts weiter als das Hämmern seines Herzens. ›Großvater ist tot... Roar ist tot... ich bin Clansführer!!‹, jagte es durch seinen Kopf. Alle Meeresungeheuer auf einmal hätten nicht schlimmer sein können. Von weit entfernt hörte er Orens Stimme:
»...deshalb gut, wenn dein Vater nach Hause kommen würde.« Schlagartig war die Umgebung wieder da. Kjells Blick traf Bjarnes, und er schüttelte unmerklich den Kopf. Noch nicht. Zum Glück hielt auch Phorsteinn ausnahmsweise einmal den Mund.
Alle warteten darauf, dass er etwas sagte. »Ich...«, er hustete und spuckte aus, um seine Empfindungen zu verbergen, »wie ist das passiert? Ich will ihn sehen... und die Halle auch.«
Die Männer redeten durcheinander, während sie die drei Freunde und die Frauen in die Festung brachten. Alles, was sich noch auf den Beinen halten konnte, strömte zusammen, um sie zu begrüßen, sich mit ihnen bekannt zu machen und ihnen zu danken. Das wäre ihnen früher nie eingefallen. ›Jeldriks verwöhnter Welpen... Theas Muttersöhnchen‹, diese Rufe hatte er noch gut in Erinnerung. Deshalb schritt Kjell mit undurchdringlicher Miene neben Oren her, nickte nur oder schüttelte Hände, mehr nicht, nicht so wie Bjarne und Phorsteinn, die offen auf die Leute zugingen und sich lautstark bekannt machten.
Stattdessen nahm er die Umgebung in Augenschein. Neben den Schäden am Bollwerk gab es überall in der Siedlung beschädigte oder zerstörte Gebäude. Manche brannten immer noch und die Menschen hatten sie aufgegeben, achteten nur noch darauf, dass das Feuer nicht übergriff.
Auch den Hafen und das Hurenviertel hatte es böse erwischt. Das Haus ihrer Familie stand dagegen noch, und auch Bryns Hof hatte nichts abbekommen, wie Phorsteinn erleichtert feststellte. Von der Vorderseite der großen Halle war dagegen nur ein verkohlter Trümmerhaufen übrig geblieben.
»Die Wohnräume sind noch mehr oder weniger intakt«, sagte Oren, »genauso wie die Ställe und die Vorratsscheune. Viele andere haben ihre Wintervorräte komplett verloren, und die Ernte war eh nicht üppig. Es sieht düster aus für diesen Winter.«
»Und Roar?« Kjell blieb am Fuß des Hügels stehen.
»Er wollte bis zuletzt das Feuer löschen, nachdem wir ihn nicht haben mitkämpfen lassen. Er war zu alt und nicht mehr bei bester Gesundheit, verstehst du? Er hat es auch geschafft, aber ganz zum Schluss stürzte ein Balken herab und hat ihn erschlagen. Er liegt hinten in seiner Kammer. Sylja ist bei ihm.« Oren legte ihm die Hand auf die Schulter.
Kjell biss die Zähne zusammen. »Lasst uns... lasst uns einen Moment allein. Wir kommen dann wieder runter. Und Phorsteinn...« Er winkte ihren Freund mit sich. Verwundert folgte dieser ihm den Hügel hinauf.
Kjell blieb stehen und sah auf die neugierige wartende Menge hinab. »Ich wäre dir dankbar, wenn du die Nachricht von Vaters Tod mir überlassen würdest«, sagte er leise.
»Ist gut«, nickte Phorsteinn, »das habe ich mir bereits gedacht. Soll ich hierbleiben? Oder etwas tun?«
»Geh ruhig zu den anderen und lenke sie ab.« Kjell schlug ihm dankend auf die Schulter, holte tief Luft und machte einen zögernden Schritt den Hügel hinauf.
»Komm schon!« Bjarne packte ihn und zerrte ihn mit sich. Kjell riss sich los. Keuchend kamen sie beide oben an und standen gleich darauf in den Trümmern. »Oh Mann, sieh dir das an!« Das Dach war eingesackt, bis hinten durch. Sogar der Beratungsraum hatte etwas abbekommen, genauso wie der Gang zur Küche, sie lagen jetzt unter freiem Himmel. Man konnte auch erkennen, dass einiges in Sicherheit gebracht worden war, die Wände waren leer, wo einst die prächtigen Waffen gehangen hatten. Die umliegenden Gebäude schienen tatsächlich noch intakt zu sein, die Scheune, die Gästehütte, die Küche und das Sklavenquartier. Dort gähnte ihnen das Tor als leere Öffnung entgegen. Es war still hier, geradezu unnatürlich still.
»Wo sind all die Sklaven hin?«, rätselte Kjell, was Bjarne zu einem Schnauben veranlasste.
»Na, wohin schon! Entweder sie sind tot oder man hat sie eingesperrt, weil sie zu Beginn des Angriffes den Aufstand geprobt haben. Hast du den anderen nicht zugehört?« Aber auch er stand vor der großen Halle und traute sich nicht so recht weiter.
»Komm, bringen wir es hinter uns.« Langsam umrundeten sie das Trümmerfeld und gingen wie alle Bewohner durch die Küche in die Wohnräume des Gebäudes. Hier sah es eigentlich aus wie immer, nur dass alles völlig verlassen war und über allem noch immer der Brandgeruch lag. Bjarne folgte Kjell zu den weiter hinten gelegenen Schlafräumen.
»Sylja?« Kjell stieß vorsichtig die Tür zur Schlafkammer seines Großvaters auf.
Irgendwie kam sie ihm kleiner vor als einstmals. Die in seiner Erinnerung immer sehr imposante Frau schien geschrumpft zu sein. Die Haare schlohweiß, das Gesicht viel faltiger und die gebeugte Haltung ließen sie ganz anders wirken. Sie saß auf ihrem Bett, Roars Pranke in ihrer. Die Brüder waren erstaunt. Er sah eigentlich aus wie immer, nur der mächtige Brustkorb wirkte merkwürdig flach, und daran errieten sie, wo der Balken ihn getroffen haben musste.
Mit tränenblinden Augen sah sie auf, erkannte sie nicht. »Ich bleibe hier, ich gehe nicht!« Offenbar dachte sie, dass die Ethenier eingefallen waren und Saran verloren.
»Großmutter, keine Angst. Niemand wird dich zwingen. Wir sind es, Kjell und Bjarne.«
Sie zuckte zusammen. Schüttelte den Kopf, kniff die Augen zu und wischte sich mit dem Handrücken darüber. Dann riss sie sie weit auf. »Aber...«
Kjell hockte sich vor sie und nahm ihre freie Hand. »Keine Angst. Niemand muss irgendwo hingehen. Wir haben gesiegt!«
Nur langsam drang die Neuigkeit zu ihr durch, und es dauerte eine Weile, bis sie die Trauer soweit ablegen konnte, um sich über die Ankunft ihrer lang ersehnten Enkelsöhne zu freuen. Aber schließlich raffte sie sich in einer ungeheuren Kraftanstrengung auf und hieß sie willkommen.
Doch Kjell wusste, er musste ihr gleich den nächsten Schlag verpassen und ihr vom Tod seines Vaters berichten. Da war es mit ihrer Fassung gänzlich geschehen. Auch Kjell und Bjarne mussten schlucken, als ihnen einmal mehr der ganze Ernst ihrer Lage bewusst wurde. Auf einmal war ihre Zukunft ungewiss.
»Schlimme Zeiten, schlimme Zeiten«, stöhnte Sylja. »Hätten sie nur auf Roar gehört!«
»Wer, sie?«
»Die Männer. Es kam die Nachricht, dass die Ethenier die Insel angreifen wollten. Deshalb sind sie fast alle fort. Roar wollte nicht, dass sie fahren, er vermutete, das sei eine Falle. ›Das ist von langer Hand geplant, anders kann es gar nicht sein, und die Verräter sitzen mitten unter uns!‹, sagte er. Aber die Männer sahen das anders. Kaum waren sie fort, gab es einen Aufstand der Sklaven, und während Oren und seine Männer sie bekämpften, kamen die Schiffe und griffen uns an.«
»Was ist mit den Sklaven geschehen?«, fragte Kjell.
»Als unsere Männer merkten, was vor sich ging, haben sie alle getötet, derer sie habhaft werden konnte. Aber wie viele in die Sümpfe entkommen sind, das wissen die Götter. Ich kann nur hoffen, dass der Sedat sich mit den Seinen gut versteckt hat. Ihr werdet sie jagen müssen, sonst greifen sie uns wieder an.«
»Eine Menschenjagd«, flüsterte Bjarne, und in seinen Augen leuchtete es eigentümlich auf.
»Verdammt!«, fluchte Kjell. »Was tun wir jetzt?«
»Was wir tun? Na, diese Frage stellt sich wohl kaum, Junge. Du wirst Clansführer, so einfach ist das!« Das klang schon eher nach der alten Sylja, dachte Kjell. »Sieh nach, was von unserem Besitz noch übrig ist, und sieh zu, dass sich niemand daran vergreift. Lass dich zum Clansoberhaupt ausrufen. Sichere die Festung, hole...«
»Schon gut, schon gut!« Er unterbrach ihren Redeschwall, indem er sie in eine Knochen brechende Umarmung zog. »Bist du wieder bei uns, ja?« Fast musste er lachen. Jedenfalls war er ungeheuer erleichtert.
»Es nützt ja nichts, hier zu sitzen und zu jammern und zu klagen, mein Junge. Geh und tu, was getan werden muss. Wenn du Fragen hast, komm zu mir.«
Kjell holte tief Luft und ließ sie los. »Wir brauchen den Sedat und seine Männer, aber dazu müssen die Sümpfe erst einmal sicher sein. Bjarne, weißt du, wo man ihn finden kann?«
»So ungefähr, ja. Regnar hat es mir einmal erklärt.«
»Na, dann schlage ich vor, dass du deinem Erbe alle Ehre machst und wieder zum Sumpfjäger wirst. Hole ihn her und sieh zu, ob du nicht den einen oder anderen Sklaven wieder einfangen kannst. Großmutter, wo sind deine Frauen?«
»Wenn ich das wüsste! Undankbares Pack!«, grollte Sylja. »Da schützt man sie all die Jahre vor den Männern, und dann lassen sie uns bei erstbester Gelegenheit im Stich.«
»Wir werden sie schon finden.« Kjell drückte beruhigend ihre Hand. »Kommst du allein zurecht? Sollen wir jemanden schicken?«
»Nein, mein Junge, lass nur.«
»Gut. Dann sehe ich jetzt nach dem Rechten.«
»Geh du nur. Aber Kjell... rede als erstes mit Oren. Er sollte nicht von Dritten erfahren, dass sein bester Freund tot ist.«
»Ist gut, Großmutter, ich rede gleich mit ihm.« Die Zähne zusammenbeißend, machte Kjell sich auf den nächsten schweren Weg.
Auch Oren traf die Nachricht vom Tod seines Freundes wie ein Hammerschlag. »Oh verdammt, Junge, verdammt!« Er musste sich abwenden, und Kjell gönnte ihm einige Augenblicke der ungestörten Trauer. Aber schließlich wandte Oren sich um. »Du weiß, was das bedeutet?«
Kjell seufzte. »Ich beginne gerade ein wenig davon zu ahnen. Du musst mir alles sagen, was du weißt.«
»Darauf kannst du zählen!« Oren umarmte ihm und schlug ihm auf die Schulter. »Was hast du jetzt vor?«
Kjell legte ihm seinen Plan dar und holte seinen Bruder. Oren sah die Angelegenheit nicht ganz so locker wie er. Er gab Bjarne einen Trupp seiner Wächter mit, die Sümpfe zu durchkämmen. Außerdem sandte er einen Boten aus, Merte, die Heilerin, aus den Bergen zu holen. Sie war nach Altheas Fortgang immer noch die einzige Heilerin des Volkes. Es gab so viele Verletzte, das konnten sie niemals ohne ihre Hilfe schaffen. Auch Phorsteinn schickte Kjell los, um ihre Pferde und Waffen zu holen, während er selbst in Saran blieb.
Als nächstes kümmerte er sich um den Besitz seiner Familie. Er wusste, ohne ein schützendes Oberhaupt würde er binnen kürzester Zeit ein Fraß für die Ratten werden. Deshalb zeigte er sich in jedem Winkel der Siedlung, sichtete, was noch übrig war, von Gebäuden, Schiffen, Vieh und allem anderen. Ein Lagerhaus war abgebrannt, aber es schien, als sei es beinahe leer gewesen, die Ware auf den Schiffen. An den anderen hatte sich niemand zu schaffen gemacht, wie er erleichtert erkannte. Noch waren die Leute mit sich selbst beschäftigt.
Das Hurenviertel hatte einen Treffer abbekommen, war aber wie die große Halle nur auf der Vorderseite abgebrannt. Die Huren begrüßten Kjell wie einen lang vermissten Sohn, manche fielen ihm sogar um den Hals. Zu seiner Überraschung fand er Hjordis bei ihnen, sie half, die Trümmer aufzuräumen.
»Warum bist du hier? Kennst du sie?«, fragte er sie verdattert.
Statt einer normalen Antwort schnappte sie gleich zu wie ein bissiger Hund. »Ich helfe dort, wo es am meisten benötigt wird, da es ja kein anderer tut!«
»Schon gut, schon gut!« Er trat den Rückzug an. Sollte sie doch der Teufel holen!, dachte er. Er versprach den Huren, dass er ihnen alsbald Leute zum Reparieren der Schäden schicken würde, und sah zu, dass er fortkam.
Er fand schnell genug Ablenkung. Da die große Halle zerstört war, bot Kjell das Sklavenquartier als Raum für die Verletzten an. Es wurde dankbar angenommen. So viele waren verwundet worden, vor allem die Bewohner der Häuser, die von den Geschossen getroffen worden waren.
»Jaja, und wer versorgt sie dann?«, schimpfte Sylja Kjell aus, schon wieder ganz die Alte.
»Bald kommt doch Merte...«
»Papperlapapp, Merte! Die wird nicht reichen! Nein, sieh zu, dass du meine Frauen wieder herbringst, aber schnell!«
Fluchtartig verließ Kjell ihr Refugium. Er half, die Verletzten zu bergen und sorgte mit Oren und den anderen Männern dafür, dass die Toten zum Totengrund gebracht wurden. Ein einzelner Haufen verkohlten Holzes für jeden Saraner und ein großer für die Feinde. Sie konnten nicht riskieren, sie in der Siedlung zu lassen, sonst wären binnen kürzester Zeit ihre Brunnen verseucht.
Nach dieser harten Schufterei, die bis in den Nachmittag dauerte, ging er zum Hof seiner Eltern. Irgendwie hatte er das unbewusst vor sich hergeschoben, und er stand tatsächlich wehmütig davor und sah sich um. Beinahe wie eh und je lag er friedlich da, vielleicht ein wenig verwitterter und der Garten verwucherter. Die letzten Herbstblumen blühten dort, auf den Weiden dahinter graste ihr Vieh, Kühe, Ziegen und Schafe, alles noch da. Auch innen hatte sich seit seiner Kindheit nicht viel verändert. Alles lag an seinem Platz, sogar seine Schlaffelle, nur alt und staubig. Es waren die Erinnerungen seines Vaters, die hier lebten, das ahnte Kjell. Mutlos sank er auf die den Hauptraum umrandende Schlafbank. Auf einmal fühlte er sich sehr allein. Wie sollte er all das schaffen? Sein Bruder würde ihm auf Dauer keine Hilfe sein, denn er würde bei der erstbesten Gelegenheit auf einem Schiff verschwinden. Es gab niemanden...
Plötzlich hielt er inne mit seinen Betrachtungen. Er hatte ein Geräusch gehört. Es klang verdächtig nach einem unterdrückten Husten, und es kam aus Richtung Stall. Sofort hatte Kjell seine Waffe in der Hand. Er riss die Tür zu dem kleinen Nebenraum auf, der den Wohnraum mit dem Stall verband, doch dieser war leer. Vorsichtig näherte er sich der Tür zum Stall. Ein harter Stoß, und es zeigte sich, dass diese verriegelt war. Von der anderen Seite. Da war jemand drin! Die Außentür war mit einem massive Balken versperrt, wie jedes Mal, wenn sein Vater das Haus über den Winter allein ließ. Also musste der oder diejenige von innen dort hineingelangt sein.
Da blieb nur eine Möglichkeit übrig: Mit einem gewaltigen Tritt brach Kjell die Tür auf. Innen gab es einen vielstimmigen Aufschrei, und dann kam plötzlich der Schatten einer kleinen Frau aus dem Dunkeln, in der Hand einen langen Gegenstand.
Sofort machte Kjell einen Satz zurück in den Wohnraum, und sie kam hinterher. Kaum trat sie ans Licht, erkannte er sie. »Ho! Prinzessin!« Er wehrte ihren Schlag mit der flachen Schwertklinge ab und hebelte ihr den Knüppel aus der Hand.
Ihr entfuhr ein Schmerzensschrei, als er ihr Handgelenk verdrehte, und sie begann, sich heftig zu wehren. »Wir kommen nicht mit! Nirgendwohin! Niemand wird uns strafen, eher bringen wir uns um!«, schrie sie. Innen entstand Unruhe, das spärlich einfallende Licht ließ zahlreiche Augen aufleuchten und etliche kleine Klingen. Sie hatten sich bewaffnet und waren zu allem bereit.
»He, ganz ruhig. Ich bin nicht hier, um euch zu strafen.« Er packte ihre Handgelenke und zwang sie ruhig. »Erkennst du mich nicht?« Dass sie es nicht tat, merkte er an ihren schreckgeweiteten Augen. Wie konnte er auch ahnen, wie er aussah, immer noch völlig verdreckt? »Ich bin’s, Kjell. Ihr habt von mir nichts zu befürchten. Ich suche nach euch. Sylja auch.«
»Kjell?« Furchtsam sah sie ihn an, suchte in dem schmutzigen Gesicht nach dem kleinen Jungen von einst. Die Augen waren es schließlich, welche sie überzeugten. In welcher Familie gab es sie sonst?
»Kommt heraus. Ihr habt von mir nichts zu befürchten. Hat meine Familie euch nicht immer beschützt?«
Ein Laut der Erleichterung ging durch die Reihen der Verborgenen, durchbrochen von etlichen Schluchzern. Kjell lockte sie heraus, holte ihnen Wasser vom Brunnen, und als sie sich etwas beruhigt hatten, begannen sie zu erzählen.
»Sie haben es uns erst gesagt, unmittelbar bevor es losging. Vielleicht, weil sie ahnten, dass wir dagegen wären«, sagte die Prinzessin leise und warf Sylja einen scheuen Blick zu. Die Clansherrin stand mit verschränkten Armen an der Tür, sie hatte sich geweigert, sich zu ihnen zu setzen. »Sie wollten euch im Schlaf abstechen, Sylja. Das haben wir verhindert. Danach sind sie in die Siedlung, und als die Wächter alarmiert wurden, haben wir uns hier verschanzt. Sie hätten uns umgebracht. Töricht, töricht war es, was die Unsrigen getan haben! Die Yenenes wurden von einer bösen Macht unterworfen, anders kann es nicht sein, und die Männer fielen darauf herein.«
»Diese Macht hat einen Namen«, sagte Kjell da. »Es waren Ragai. Sie können den Geist schwacher Menschen unterwerfen, bei mir hat es auch einer von ihnen versucht. Womöglich sind in Ethenien immer noch welche. Das werden wir herausfinden müssen.« Innerlich fluchte er. Noch ein Punkt mehr auf seiner immer länger werdenden Liste.
»Dich hat der Ragai nicht unterwerfen können?« Alle sahen ihn groß an.
»Nein. In mir wohnt das Licht meiner Mutter, der Erbin. Ihre Macht ist größer als seine.« Er sah in die Runde und stellte so sicher, dass sie alle wussten, was das bedeutete. Legt euch nicht mit meiner Familie an, sollte das heißen. Wir sind die stärkste Macht, nach wie vor und mehr denn je. Denn jetzt bin ich hier. »Werdet ihr zu Sylja zurückkehren und ihr zur Seite stehen?«
»Das werden wir.« Die Prinzessin stand auf und verneigte sich. »Wir bedauern den Tod des alten Clansherrn. Er war ein harter Mann, aber er hat uns nie etwas zuleide getan. Nicht, wie manch anderer sich an uns vergriffen hat.« Diese kleine Spitze konnte sie sich nicht verkneifen. Denn Roar und Sylja war gerne mal die Hand ausgerutscht, auch bei ihren Enkeln war das so gewesen, Kjell wusste es aus eigener Erfahrung. Aber sie prügelten nicht, und Roar hatte sich auch nie an den Frauen vergangen, da hatte sie recht.
»Bist du jetzt fertig mit deinen Weisheiten, Prinzessin? Dann an die Arbeit, los, los, auf!« Und schon scheuchte Sylja sie in gewohnter Manier hinaus.
Der kurze Weg durch die Siedlung wurde zum Spießrutenlauf für die Sklavinnen. Nur Kjells Schwert verhinderte Schlimmeres, als sich besonders die Frauen auf sie stürzen wollten. Auf dem Fürstensitz konnten sie aufatmen, hier zählte allein Syljas Wort und Gesetz. Schon bald war wieder das geschäftige Hin und Her wie immer dort zu sehen und Kjell konnte sie beruhigt allein lassen.
Am frühen Abend stand plötzlich Merte im Tor der Sklavenunterkunft, eine ganze Reihe Helferinnen und Kisten voller Verbände und Heilmittel im Gepäck. »Wir haben alles zusammengepackt, was wir finden konnten, und sind sofort losgeritten, als wir das Feuer in der Ferne sahen«, begrüßte sie Kjell.
Er umarmte sie erleichtert. Merte war ja so etwas wie eine große Schwester für ihn, die Ziehtochter seiner Mutter, die sie auch zur Heilerin ausgebildet hatte. Aus der scheuen Clanlosen war eine resolute Frau und mehrfache Mutter geworfen, die weit über die Grenzen ihrer Siedlung hinaus anerkannt war.
»Wir haben unterwegs ein paar entlaufene Sklaven eingefangen. Sie wollten uns überfallen«, berichtete sie, während sie ihre Utensilien auspackte.
»Aber eure eigenen Sklaven sind ruhig geblieben?«, fragte er sofort.
»Ja. Merkwürdig, nicht wahr? Man sollte meinen, dass alle danach lechzten, sich die Freiheit zu erkämpfen, aber das haben sie nicht getan, wie eure Frauen auch nicht.«
»Pah!«, krächzte eine der verletzten Frauen, die sie gehört hatte. »Die stecken alle unter einer Decke. Wenn es nach mir ginge, dann...«
»Das glaube ich nicht!«, unterbrach Kjell sie rüde. »Warum sollten sie stumm ihrer Strafe harren? Nein. Das muss genau untersucht werden, sonst straft ihr womöglich die Falschen. Oder wollt ihr nächstes Jahr allein im Haus oder auf den Feldern schuften?«
So argumentierte Kjell auch am Abend auf einer provisorisch einberufenen Versammlung. Zu recht waren die Saraner zornig, aber was nützte es? »Wir müssen die Siedlung sichern, als allererstes, und dann sehen, wie wir über den Winter kommen. Wer hat noch welche Vorräte? Das sollten wir genauestens erfassen.«
›Erfassen‹, dieses Wort kannten die Saraner nicht, und sie schüttelten die Köpfe und bedachten den jungen Mann mit allerlei Spott. »Als allererstes warten wir auf den Sedat und halten die Totenzeremonien ab«, mahnte Oren Kjell, sich ja zurückzuhalten. Es war hier kein Raum für krude Ideen.
Kjell verstand und sagte nichts mehr, aber als er danach in den Fürstensitz zurückkehrte, war sein Entschluss gefasst. Er betrat die Kammer seines Großvaters und nahm sich dessen großes Buch vor.
Zunächst war für ihn völlig unverständlich, was dort geschrieben stand. Nicht nur, dass Roars Schrift ziemlich krakelig und voller Fehler war, auch begriff er das System der Eintragungen nicht. »Verdammt, alter Herr, was hast du dir nur dabei gedacht?«, brummte er.
Bei seinen Worten kamen Schritte draußen vor seiner Tür zum Stehen. Gleich darauf stand Sylja vor ihm. »Was tust du hier?«
Er sah auf. »Ich verschaffe mir einen Überblick.«
»Hast du nichts Besseres zu tun?«, fragte sie kopfschüttelnd. »Hast du überhaupt schon etwas gegessen? Und wie wäre es mal mit Waschen, bevor du die Seiten völlig verschmierst?!« Sie riss ihm das Buch unter der Nase fort und klappte es zu.
»Ähh...« Daran hatte er noch gar nicht gedacht. In der Tat hatte er seit dem letzten Tag nichts mehr gegessen und auch nur wenig getrunken. Gewaschen und in neuen Kleidern, die ihm ein wenig zu weit waren, denn sie stammten von seinem Vater, saß er später mit Sylja in der Küche an dem kleinen Tisch in der Ecke, wo die Familie schon immer zu speisen pflegte.
»Du brauchst mich nicht zu fragen, was in dem Buch steht, ich kann sein Gekrakel nicht lesen.«
»Hmm...«, machte Kjell mit vollem Mund. Wahrscheinlich konnte sie gar nicht lesen.
»Er hat halt jedes Jahr eine Liste gemacht, wer ihm was schuldete und wem er was schuldete, und hat dann eingetragen, wann das beglichen worden ist und womit. Glaube ich.«
Kjell schlug sich an die Stirn. »Ja, natürlich!« Und schon war er aufgesprungen und hockte wieder über dem Buch, das Essen war völlig vergessen.
Kopfschüttelnd trug Sylja ihm das Essen hinterher. So waren sie, die Männer dieser Familie, und Kjell bildete da keine Ausnahme. Es füllte sie mit Wärme und linderte ihre Trauer, und so schimpfte sie nur ein ganz klein wenig. »Junge, Junge, ein solch langes Elend wie du muss tüchtig essen, sonst halten dich alle für einen Hänfling! Hast du es?«, fragte sie und deutete auf das Buch.
»Ja! Es ist alles da, ich muss es nur auswendig lernen.« Kjell sah begeistert auf. »Weißt du, ob Vater auch so ein Buch hatte?«
Sylja stöhnte. »Bei den Göttern, Junge, es ist mitten in der Nacht! Keine Ahnung, aber du solltest jetzt ruhen. Morgen folgt der nächste Tag.«
Um des lieben Friedens willen ließ Kjell das Buch sein, aber er wusste, er würde keine Ruhe finden, solange er es nicht herausgefunden hatte. Deshalb ging er doch rüber auf den Hof seiner Eltern, um danach zu suchen, und erlebte dort eine böse Überraschung.
Die Tiere auf der Weide waren unruhig, das hörte er sofort. Als er das Haus umrundet hatte, sah er einen Schatten, der dort nicht hingehörte. »He!«, brüllte er und setzte über den Zaun. Doch der Schatten war schneller, es klapperte, dann verschwand er den Hügel hinab in der Siedlung.
»Das gibt’s doch nicht!«, schimpfte er und trat gegen den umgekippten Kübel, den er auf der Weide fand. Er roch noch einen Rest Milch darin.
Vielleicht sollte er lieber hier wohnen als auf dem Fürstensitz, überlegte Kjell, als er die gründliche Durchsuchung seines Zuhauses in Angriff nahm. Er fand zwar viele heimliche Verstecke, aber sie waren alle leer. Also hatte ihr Vater wirklich nichts zurückgelassen. »Klug von dir«, sagte er in den leeren Raum hinein. Er beschloss, tatsächlich hier zu schlafen, und ging in den Stall, wo er sich ein weiches Lager aus altem Stroh schuf und bei offener Tür in einen totengleichen Schlaf fiel.
Als er Oren am nächsten Tag von dem Vorfall berichtete, nickte der düster. »Solange es nur die Milch ist... das wird noch schlimmer, viel schlimmer, je länger der Winter ist und je hungriger die Leute werden. Und es sind beileibe nicht die Sklaven, die stehlen, auch wenn manch einer das behauptet.«
»Nein, dafür ist ihre Furcht viel zu groß. Was können wir tun?«
»Nicht viel. Sperre deinen Besitz so gut es geht weg, die Tiere am besten in den Stall. Lass alles bewachen. Ansonsten helfen da nur harte Strafen. Der Sedat muss kommen, so schnell wie möglich.«
Kjell sah ein, dass er jetzt nicht viel mehr tun konnte. Selbst die Arbeiten mussten ruhen, denn es gab keine Zimmerleute mehr in Saran. Merte schickte einen Boten in die Berge, die dort verbliebenen Männer zu holen, alle anderen waren auf See gefahren.
Deshalb nahmen sich Kjell und Oren ein halbes Dutzend Kämpfer und ritten nach Süden, die an der Küste lebenden Clans aufzusuchen und zu sehen, ob es dort Überlebende gab. Doch schon in der nächstgelegenen Siedlung, der von Harcons Clan, bot sich ihnen ein schlimmes Bild. Es war nichts mehr übrig, alles war verbrannt.
»Mutters Fluch ist wahrlich in Erfüllung gegangen«, sagte Kjell düster beim Anblick der geschändeten Frauen und getöteten Kinder. Es war keiner mehr am Leben, und so blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Toten zu verbrennen, das umherstreunende Vieh einzufangen und nach Saran zurückzukehren. Selbst die Kadaver getöteter und verbrannter Tiere nahmen sie mit, denn sie wussten, sie würden das Fleisch über den Winter bitter benötigen. Aber Kjell und Oren waren auch so klug, das Vieh zu kennzeichnen und es gleich den in Saran lebenden Leuten des Clans zu überbringen, damit hinterher niemand sagen konnte, sie hätten sich bereichert.
Den restlichen Tag verbrachten sie damit, die Palisade zu reparieren und den am schlimmsten betroffenen Familien eine provisorische Unterkunft zu errichten. Alle wussten, für den Winter mit all den Stürmen und dem endlosen Regen würde es niemals reichen, und deshalb warteten sie ungeduldig auf die Ankunft der Zimmerleute aus den Bergen.
Schon begann er wieder zu planen. Sie brauchten Holz, große, stabile Balken für die Häuser. In Saran selbst gab es davon fast nichts mehr, und frisches Holz aus den Bergen zu holen, dauerte zu lange und musste, wollte man es richtig machen, erst einmal abgelagert werden über mehrere Jahre, bevor man es verwenden konnte. Aber am Strand und im Wasser, überlegte Kjell, gab es davon mehr als genug. Sie mussten es nur bergen.
Sein Plan wurde von den erschöpften Männern erst mit Unglauben, dann mit Begeisterung aufgenommen, und so übernahm Kjell von ganz allein ein wenig von seiner Anführerschaft, wie Oren halb konsterniert, halb amüsiert feststellte. Aber das musste bei dieser Familie wohl so sein. Schon packten alle mit an und schufteten in den folgenden Tagen wie die Besessenen, und Kjell sicherte sich einen Großteil der Beute, da er die Schiffe auf den Grund geschickt hatte.
Abends saß Kjell hundemüde über seinen Büchern und versuchte, sich einen Überblick über das Geflecht ihrer Besitzungen zu verschaffen. Bis einige Abende später plötzlich Bjarne in der Tür stand, dreckstarrend und mit gefährlich blitzenden Augen.
»Komm besser mit. Wir bringen Gefangene und den Sedat und seine Männer.«
Kjell hatte sofort eine Waffe zur Hand, und richtig, als sie den Trupp erreichten, konnten sie gerade noch verhindern, dass die Männer gelyncht wurden.
»Ruhe!«, donnerte der Sedat über das Geschrei der Leute hinweg. »Hier wird niemand gerichtet, bevor Wir nicht über sie Gericht gehalten und ein Urteil gefällt haben!«
Als sich Protest erheben wollte, ging Kjell dazwischen. »Wollt ihr nicht erfahren, ob dort draußen noch mehr Feinde sind? Und ob uns vielleicht ein zweiter Angriff droht? Die Gelegenheit vergebt ihr, wenn ihr sie jetzt sofort tötet. Das Recht zu richten hat nur der Sedat, sonst niemand! Außerdem...«, er packte einen der Sklaven am Kinn und zerrte ihn brutal nach oben, sodass die Füße des Mannes in der Luft baumelten, »wäre das doch eine viel zu leichte und milde Strafe für euch Bastarde, nicht wahr?«
Das brachte auch den letzten zum Verstummen. Alle starrten ihn an, und mit zunehmendem Begreifen, was er damit gemeint hatte, wandelte sich ihr Zorn in Achtung für ihn. Den Ethenier immer noch festhaltend, fragte Kjell über die Schulter: »Oren, hast du einen Raum, wo man sie einsperren kann?«
»Nein. Binden wir sie an die Palisade, dort können wir sie ohne zusätzliche Männer bewachen.« Unter viel Geschrei und Beschimpfungen wurden die Gefangenen abgeführt.
Als die Menge sich verstreut hatte, entdeckte Kjell Hjordis’ im Schatten einer Hauswand, und er wollte gerade zu ihr rübergehen, da befahl der Sedat ihn zu sich.
»Du führst deine Zunge wie dein Schwert, scheint mir, Kjell Jeldriksfalir«, sagte er nicht ganz frei von Tadel. »Komm mit. Wir haben viel zu bereden.« Kjell blieb gar nichts anderes übrig, als ihm zu folgen, und als er einen kurzen Blick über die Schulter warf, war sie verschwunden.
»Dein Bruder schweigt«, eröffnete der Sedat unvermittelt, kaum dass die Tür der Gästehütte hinter ihnen zugefallen war.
Kjell fand sich plötzlich allein vor ihm und seiner Schülerschar wieder, und das war kein angenehmes Gefühl. Zwischen seinem Großvater und dem alten Sedat und auch dessen Vorgänger hatte so etwas wie Einigkeit geherrscht, genauso wie bei seinem Vater. Bei diesem hier war das nicht so, das spürte er sofort. Er kam sich vor wie bei einer Befragung.
Kjell verschränkte die Arme. »Weil ich ihn darum gebeten habe«, erwiderte er kühl und setzte sich ungebeten mitten unter sie. Er würde ums Verrecken nicht wie ein Angeklagter vor seinem Richter stehen.
»Und?«
»Ich habe ein Problem. Oder besser gesagt, wir haben es. Mein Vater ist tot.«
Das mussten selbst die hartgesottenen Sedatschüler erst einmal verdauen, und das sollte schon etwas heißen. Es waren immerhin Männer, die durch alle Arten von Streit und Kämpfen zwischen den Clans gegangen waren. Aber einen solchen Fall, dass der wichtigste Clan Sarans quasi führerlos war, das hatte es noch nie gegeben.
»Eine sehr bedenkliche Sache«, sagte der Sedat nach langem Schweigen. »Ich nehme nicht an, dass du dich wie einst dein Vater zum Clansführer wählen lassen willst? Denn die meisten kennen dich nicht. Du würdest wohl kaum Erfolg haben.«
»Das hatte ich auch nicht vor. Ich beanspruche mein Erbrecht. Von Euch würde ich gerne wissen, wie und wann ich das machen kann.«
»Ein Clansherr ohne Besitz? Denn nichts von alldem gehört dir, es gehört Sylja und deiner Mutter. Auch deine Person als solche ist nicht ohne Zweifel, was die Abstammung angeht.«
»Abstammung?« Kjell glaubte, sich verhört zu haben. »Aber... das verstehe ich nicht.«
»Du wurdest nicht vorgestellt, Kjell Jeldriksfalir, und bist deshalb nicht in den Clan aufgenommen.«
Hätte Kjell nicht gesessen, spätestens jetzt hätte er es getan. Dass es so schlimm ist, das hätte er nicht dedacht. »Muss ich bis zur Ankunft der Priester im nächsten Sommer warten? Nein, das geht nicht! Gibt es denn keinen anderen Weg?«
»Die Wege zum Ziel sind vielfältig«, begannen die Sedatschüler, und schon erhob sich ihr charakteristischer Singsang, wenn sie die Gesetze vieler Jahrhunderte rezitierten.
Kjell hatte zeitweise Mühe, ihnen zu folgen, obwohl er an der Seite seines Vaters endlose Winterstunden über den saranischen Gesetzen gesessen und diese studiert hatte. Und wie es seine Art war, hakte er bei allem, was er nicht verstand, nach. Das wiederum waren die Sedatschüler nicht gewohnt, und so wurde es ein lehrreicher Abend für beide Seiten. Erst war Kjell mehr als beunruhigt, wie ablehnend ihm der Sedat gegenüberstand, bis er erkannte, dass dieser ihn herausforderte, dass er lernen wollte, ihn einzuschätzen. Auch ihn beunruhigte dieser führerlose Zustand des wichtigsten Clans der Saraner, er sah die Einheit des Volkes gefährdet. Von da an stürzte Kjell sich mit zunehmender Faszination in die Sache, und die Sedatschüler mussten lernen, dass dieser junge künftige Clansherr ihnen in Geist und Schnelligkeit in nichts nachstand.
Am Ende, da war es spät in der Nacht, wusste Kjell: Er konnte sich zum Clansführer bestimmen lassen, auch ohne offizielle Vorstellung, wenn er die Mehrheit der Männer seines Clans hinter sich hatte und der Sedat dem zustimmte. Aber genau das war das Problem. Die meisten Männer waren auf See und hatten seinen Kampf und Sieg, ihren Kampf und Sieg, verbesserte er sich, nicht miterlebt. Für sie war er immer noch Jeldriks verwöhntes Söhnchen und musste sich erst einmal beweisen, und wer weiß, welche Bestrebungen es innerhalb des Clans gab, die Nachfolge von Roar zu übernehmen. Die abweisende Miene des Sedats sagte ihm doch so einiges.
Doch Kjells Fragen in diese Richtung schmetterte der Sedat ab. »Ich muss das Gleichgewicht zwischen allen Clans und deren Mitglieder wahren. Dir dies offenzulegen, würde es verschieben. Aber es gibt womöglich andere, die dir das sagen können.«
»Also Sylja. Ich danke Euch.« Kjell verneigte sich knapp auf gildaische Weise und ließ die Männer allein.
Seine Großmutter sprach er gleich am Morgen beim Frühmahl an.
»Sind wir hier bei einem Verhör? Hat das nicht Zeit bis später?«, schimpfte sie gleich los. Sie war angespannt, denn heute sollten die Totenzeremonien abgehalten werden.
Aber Kjell wischte ihren Einwand beiseite. »Ich muss wissen, was auf mich zukommt.«
»Junge, komm erst mal hier an. Bis die Männer zurückkehren, ist noch viel Zeit. Wir haben heute Besseres zu tun.« Ihre Stimme brach, und sie senkte den Kopf.
»Ich weiß. Verzeih mir.« Er beugte sich vor und drückte ihre Hand. »Es macht mich nur unruhig. Der Sedat hat da gestern Nacht so eine Andeutung gemacht...«
»Oh, das kann ich mir vorstellen. Er ist das wandelnde Orakel, ganz anders als sein Vorgänger. Und er ist unserem Clan nicht so wohlgesonnen wie die anderen.«
»Tatsächlich? Warum?«
Sylja überlegte. »Seinen Vater hat dein Urgroßvater Magnar seinerzeit aus dem Clan weisen lassen, zu Recht meiner Meinung nach, denn er hatte sich nicht nur an einer Frau vergriffen. Nein, von dem darfst du keine Unterstützung für neue Ideen erwarten. Deshalb werden wir genau überlegen müssen, wie wir vorgehen wollen.«
»Ist er mein Gegner?«
Sylja schüttelte den Kopf. »Nein. Aber so unterstützen wie sein Vorgänger deinen Großvater wird er dich niemals. Es hat Roars Kraft gekostet... viel zu viel Kraft am Ende.« Sie wischte sich ärgerlich eine Träne fort. »Dein Großvater war sehr krank im letzten Winter. Er war alt und müde. Jetzt ist es an dir, neue Zeiten anbrechen zu lassen. Versuche, dir den Sedat zum Freund zu machen. Aber nun komm, Junge. Begleiten wir deinen Großvater auf seinem letzten Weg.«
Wie erschreckend Wenige sie nur noch waren! Kjell wurde mehr als deutlich bewusst, dass sein Volk zu verschwinden drohte. Wie er so einen Blick über die Versammelten schweifen ließ, konnte er ein Schaudern nicht unterdrücken. Selbst die zahlreichen Seefahrer würden das nicht ausgleichen. Welch ein Vergleich zu dem Gewusel in Gilda! Und das, obwohl dieses Land viel fruchtbarer war als die Steppe Moranns. Nein, die Saraner befanden sich eindeutig in Gefahr.
Nach der Totenzeremonie, als die Feuer immer noch lichterloh brannten, schlichen sich alle gedrückt in die Siedlung zurück und kehrten in die wenigen verbliebenen Schenken ein, und anders als früher ging Kjell nicht seiner Wege, sondern schloss sich ihnen an. Das tat er nicht ohne Grund. Der Sedat hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass er etwas zu dem Verbleib seines Vaters sagen sollte, und das machte er gut, beobachtete Bjarne, als Kjell über die Art und Weise berichtete, wie ihr Vater und ihr Onkel Phelan ums Leben gekommen waren.
Stumm hörten alle zu, manche erschüttert, die allermeisten jedoch gleichgültig, was Kjell ziemlich bedenklich stimmte. Mit seiner Entscheidung, nach Gilda zu gehen, hatte Jeldrik sich aus der Gemeinschaft der Saraner herauskatapultiert. Er gehörte nicht wirklich mehr zu ihnen, wurde nur aufgrund seines Reichtums, seiner Stellung und der Handelsverbindungen nach Gilda wegen akzeptiert.
»Also wirst du dich ausrufen lassen«, stellte Oren noch einmal für alle fest.
»Bis im Sommer die Priester herkommen, will ich nicht warten.« Kjell nickte, und seine Miene ließ keinen Zweifel, dass er fest entschlossen war. »Es soll keiner glauben, dass es jetzt hier eine Menge clanlosen Besitz gäbe. Denn dem ist nicht so, weder bei uns, noch bei anderen, insbesondere den zerstörten Siedlungen. Alles wird strikt getrennt, bis der Sedat die Erbfolge anerkennt.«
»Meine Unterstützung hast du«, sagte Oren daraufhin und hob seinen Becher.
Die Wächter taten es ihm nach. »Auf Roar. Und auf Jeldrik und Phelan. Mögen sie Eingang in die Götterwelten finden.«
»Auf Roar!!«, riefen alle.
›Wenn ihr wüsstet‹, dachte Kjell und dachte an das Meer der Seelen und die angebliche Götterwelt, die keine war. Aber er sprach seinen Tost genauso aus wie alle anderen.
Die Saraner waren kein Volk von Traurigkeit. Sobald sich eine Gelegenheit zum Feiern ergab, taten sie das ausgiebig. Gemeinsam mit Oren drehte Kjell seine Runden durch die Schenken.
»Wenn du schlau bist, baust du als erstes das Hurenviertel wieder auf«, riet Oren ihm schon bald angesichts der Mengen an Met, die verkauft wurden. »Das hat deiner Familie seit eh und je die meisten Münzen beschert.«
»Ja, nur wie bezahlen?«, rief Kjell über den Lärm hinweg.
»Sprich mit Eryk oder noch besser mit seiner Frau. Sie steht dort drüben. Eryk schuldet deinem Vater noch eine Lieferung Holz für ein Schwert, das hatten die beiden vor seinem Aufbruch vereinbart. Stattdessen soll sie einen Teil der Lieferung in Leute umwandeln, Zimmerleute, die gleich mit der Arbeit beginnen.«
Kjell folgte seinem Rat sofort. Zwar nahm sie ihn zuerst nicht ernst, doch das änderte sich, als sich zeigte, wie hart er feilschen konnte, eine seiner vielen Lehren aus der Zeit in Gilda. Verwundert würden die Saraner in den nächsten Tagen feststellen müssen, dass das erste wiederhergestellte Gebäude die Hurenschenke war. Bei dem Gedanken musste Kjell in sich hineingrinsen, und sein Tag verging in etwas fröhlicherer Stimmung.
Je später der Tag wurde und der Abend hereinbrach, desto wilder wurde die Feierei. Kjell gingen die Ohren auf ob all der Geschichten, die die trunkenen Männer so von sich gaben, und es dauerte nicht lange, da rief irgendjemand nach den hübschen Mädchen, die sie aus dem Norden mitgebracht hatten. Auch die Huren ließen sich nicht lange bitten, und sie hatten eine Überraschung bei sich. Kjell musste dreimal hinschauen, bevor er sie erkannte. Die blitzenden grünen Augen verrieten sie. Auch die anderen erkannten sie nicht, mit den gewaschenen hochgesteckten Haaren und in einem schönen Kleid, was auch gut so war, denn als sie plötzlich vor Kjell stand, brachte er vor lauter Verwunderung keinen Ton heraus.
Hjordis dagegen verschränkte die Arme und blitzte ihn böse an. »Ich weiß nicht, warum ich überhaupt hierher gekommen bin!«, rief sie über den Lärm hinweg.
»Du.. wie siehst du denn aus?!« Wie dämlich, Kjell Jeldriksfalir, dachte er. Hättest du ihr nicht ein Kompliment machen können? Sie war einfach wunderschön, und, wie er zu seinem Schrecken feststellte, vermutlich sogar ein paar Jahre älter als er. Vorher hatte das der ganze Schmutz verdeckt.
»Lass mich bloß in Ruhe! Ich habe keine Lust, von dem Erstbesten ins Bett gezerrt zu werden!«
»Dann tanz doch mit mir!«, rief ein anderes Mädchen, das Kjell schon auf dem Schiff schöne Augen gemacht hatte, griff seine Hand und zerrte ihn mit sich fort in den Kreis der Tanzenden. Er hatte gar keine Wahl. Auf einmal stellte er fest, dass er von weiblicher Seite noch mehr Aufmerksamkeit bekam als von den Männern. Das war den anderen ein Dorn im Auge, was Kjell sehr wohl merkte und sich schon bald mit einem Krug Met nach draußen in Sicherheit brachte. Oren hatte recht, dachte Kjell, sie mussten das Hurenviertel so schnell als möglich wieder aufbauen, sonst entging ihm ein Vermögen. Schon wankten die ersten mit einer Hure im Arm davon.
Kopfschüttelnd steckte sich Kjell eine Pfeife an. Diese hatte er im Studierraum seines Großvaters gefunden. Langsam schlenderte er in Richtung Palisade, um dort hustend seine ersten Züge zu tun. Besser, das bekam niemand mit. Angewidert betrachtete er das rauchende Ding in seiner Hand. Wie konnten die Männer und manch eine der Frauen das als wohlschmeckend empfinden? Er jedenfalls nicht! Aber wenn er eingeladen wurde, musste er notgedrungen annehmen, und deswegen tat er tapfer Zug um Zug. Am Ende war ihm schlecht. Fluchend klopfte er das Ding aus und beschloss, den Rest des Abends lieber über seinen Büchern zu verbringen, bevor er noch in irgendein Bett gezerrt wurde.
Zurück in der Siedlung machte er einen großen Bogen um die Feiernden. Vielleicht war es Schicksal, aber ohne diesen Umweg hätte er wohl nicht die Geräusche gehört, die aus einem verwitterten Lagerschuppen drangen: ein unterdrückter hoher Aufschrei gefolgt von einem männlichen Fluch.
»Na warte, du Biest! Dir werde ich’s zeigen!« Es klatschte, jemand schrie, eine Frau, und dann waren ganz eindeutig Kampfgeräusche zu hören.
Sofort hatte Kjell seinen Dolch gezogen und trat die Tür auf. Von den beiden Kontrahenten sah er nur ein wildes Knäuel aus Armen und Beinen. Stoff riss, die Frau schrie, eindeutig schmerzhaft diesmal. Der Mann schien bärenstark zu sein, viel zu stark für sie, obwohl sie sehr groß war und ganz schön austeilen konnte.
Kjell zögerte nicht lange, denn sie konnte sich nicht befreien, niemals. Er schnappte sich den nächstbesten Knüppel und hieb mit aller Kraft zu. Wie ein Sack Mehl brach der Mann auf der Frau zusammen. Sie begann sofort, ihn fluchend und würgend von sich zu schieben, vermochte es aber nicht. Ihre Kräfte hatten sie schlagartig verlassen.
»Komm mit!« Kjell zerrte den Mann von ihr runter und half ihr auf. »Schnell, hauen wir ab. Wer weiß, ob er noch Kumpane in der Nähe hat.« Er zog sie einfach mit sich und führte sie festen Schrittes zum Hügel des Clansführers.
Erst als es bergan ging, kam sie wieder zu sich und begann, sich heftig zu sträuben. »Nein! Lass mich!«
An dieser Abwehr erkannte er sie. »Hjordis?!«
»Lass mich in Ruhe!«, schluchzte sie auf. »Es war ein ganz dummer Einfall, zu bleiben und zu glauben... nichts hat sich geändert, rein gar nichts!« Die letzten Worte schrie sie fast.
»Du bist verletzt. Das sollte sich jemand ansehen.« Selbst im schwachen Licht der Fackeln waren die dunklen Flecken auf ihrem Gesicht deutlich zu erkennen.
»Ich gehe ganz gewiss nicht zu Sylja!«
»Aber Hjordis... hier tut dir niemand etwas. Wenn du nicht zu Sylja willst, dann lass mich dich doch zu Merte bringen... sie sieht sich das an.«
Sie schwieg schwer atmend, schien abzuwägen. Dabei weinte sie, das sah er deutlich, und er hätte vor Wut am liebsten auf etwas eingeschlagen. Das kam völlig überraschend für ihn, und er mochte sich nicht mit dieser Regung beschäftigen, sondern schritt lieber zur Tat. »Komm. Ich bringe dich zu Merte und den anderen Frauen, da kannst du dich ausruhen.«
»Also gut.« Es klang erschöpft.
Ihr zuliebe brachte er sie in die Vorratsscheune, ohne dass es jemand mitbekam, und holte Merte dorthin. »Ach herrje!« Merte beleuchtete ihr Gesicht mit einer kleinen Lampe. »Mit wem bist du aneinandergeraten?« Hjordis zuckte nur mit den Schultern und schwieg. »Hol mir etwas warmes Wasser und ein Tuch, Kjell, und meinen Korb. Das sieht böse aus.« Unter Mertes gutem Zureden ließ sich Hjordis versorgen und auch ins Heu betten, damit sie ruhen konnte. Kjell drückte sich derweil am Scheunentor herum und ließ sie nicht aus den Augen.
»Warum bist du nur allein unterwegs gewesen?«, schimpfte Merte leise. »Du weißt doch, was geschieht, wenn sie feiern!«
»Ich war mit den anderen... au! Aber plötzlich waren sie alle weg und ich wollte auch verschwinden, aber da hat mich jemand gepackt und in einen Verschlag gezerrt. Ich habe nicht gesehen, wer es war.« Sie stöhnte leise, während Merte ihre Wunden auswusch.
»Ich hätte das nicht getan. So viel musst du doch noch von früher her wissen, dass das nicht gut geht, gerade mit dem Kleid. Schade drum. Jetzt ist es zerrissen.«
Angestrengt sah Kjell nach draußen, während Merte Hjordis ein weites Hemd überstreifte. Dass ihr Oberkörper nahezu entblößt gewesen war, hatte er auf dem Weg nach oben nicht bemerkt.
»Schlaf jetzt. Ich schaue im Laufe der Nacht noch einmal nach dir. Und hab keine Angst, hier hast du nichts zu befürchten.« Sie deckte Hjordis fest zu, packte ihre Sachen zusammen und ließ sie allein. Als sie Kjell im Tor entdeckte, schüttelte sie nur den Kopf, rollte mit den Augen und ließ ihn wortlos stehen.
Auf leisen Sohlen schlich sich Kjell hinein. »Lass mich in Ruhe!«, kam es schwach unter der Decke hervor.
»Nein!« Er setzte sich in gebührendem Abstand ins Stroh. »Was hat Merte damit gemeint, du müsstest es eigentlich wissen?«
»Lass – mich – in – Ruhe!« Sie drehte sich fort.
»Ich weiß gar nicht, was du hast. Meine Mutter lebte jahrelang als Clanlose in den Wäldern Temoras, meine Großmutter war eine Clanlose, mein Urgroßvater ist der schlimmste Clanlose aller Zeiten. Wofür schämst du dich denn nur?«
Als keine Antwort kam, stand er auf und ließ sie allein. Im Laufe der Nacht, als er über seinen Büchern saß und sich doch nicht konzentrieren konnte, gab ihm ihr Verhalten immer weiter Rätsel auf. Irgendwann schlummerte er dann doch ein, und als er am Morgen nach ihr sehen wollte, war sie fort.
»Wo ist sie hin?!« Wütend stand er in der Küche vor Merte und ignorierte Syljas fragende Miene.
Merte blieb ganz gelassen. »Sie ist gegangen. Glaube mir, das ist auch besser so. Sie hat niemanden, der sie schützt. Ihr einziger Schutz ist der Wald, die Einsamkeit.«
»Aber du kennst sie?« Widerstandslos ließ er sich von Sylja auf einen Schemel drücken und bekam einen Becher und einen Teller vorgesetzt. Merte faltete in aller Seelenruhe weiter Tücher zusammen. Sie zögerte ihre Antwort hinaus, um ihn zu ärgern, das spürte er, deshalb aß er erst einmal etwas.
»Ihre Mutter kam zu den Huren, als Hjordis noch ein Säugling war«, sagte Merte nach einer Weile. »Warum, das weiß ich nicht genau. Ich war ja selbst noch sehr jung damals, etwa zwei Jahre, bevor deine Mutter mich aufnahm und du geboren wurdest.«
Sylja setzte sich zu ihnen. »Sie wurde aus ihrem Clan verbannt. Der hat Hjordis nie anerkannt, hat behauptet, sie sei die Tochter eines Clanlosen.«
»Von wem?«, fragte Kjell mit vollem Mund und verschluckte sich.
Sylja schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Von Einar.«
»Einar?! Aber der ist doch steinalt! Genauso wie Urgroßvater.«
»Ja, aber ihm gefallen nach wie vor die ganz jungen Dinger«, spie Merte aus. »Jedenfalls, ich denke, er bot sich als Sündenbock an.« Sie hob einen Finger. »Erstens ist er nie da«, sie hob den zweiten Finger, »zweitens hat er einen gewissen Ruf«, sie hob den dritten Finger, »und drittens hat er eine Hütte in der Nähe der Siedlung, wo Hjordis’ Mutter herstammt.«
»Lass mich raten«, Kjell schluckte runter, »es ist diejenige, die überfallen worden ist? Im Norden?«
»Genau die.« Beide Frauen nickten, und Sylja fuhr fort: »Ich denke, die ganze Geschichte stinkt zum Himmel. Einar behauptet, er war zum Zeitpunkt der angeblichen Zeugung lange Zeit auf See.«
»Die Frauen in der Siedlung begegnen Hjordis mit großem Hass. Besonders die Clansführerin.«
»Budicca.« Sylja nickte. »Die ist mit Vorsicht zu genießen, ein ganz durchtriebenes Miststück. Das Mädchen tut gut daran, sich von ihr fernzuhalten. Die bringt es fertig und stachelt ihre Leute auf, Hjordis zu vertreiben.«
Kjell knallte seinen Becher auf den Tisch. »Das soll sie schön bleiben lassen! Sie hat ihnen das Leben gerettet.«
»Pah!« Sylja schnaubte. »Das kümmert Budicca nicht. Für sie zählt nur ihr eigener Vorteil.«
»Hmm... warum ist Hjordis nicht mehr bei den Huren?«
Merte hob die Schultern. »Ich kann es gut verstehen. Als sie sieben oder acht Jahre alt war, starb ihre Mutter. Ein paar Jahre später begannen sich die Kerle für sie zu interessieren. Du weißt, wie das ist! Da ist sie davongelaufen und lebt seither in Einars Hütte.«
»Er duldet es«, ergänzte Sylja knapp.
»Gegen Gefälligkeiten?« Die Frage rutschte Kjell sofort heraus. Er biss die Zähne zusammen.
»Wenn dem so ist, spricht sie gewiss nicht darüber«, erwiderte Merte scharf. »Und du solltest sie auch nicht danach fragen. Er sagt, sie hält seine Hütte in Ordnung, passt darauf auf und darf deshalb bleiben. Glauben wir es einfach.«
Kjell sprang auf. »Ich werde nach ihr suchen!«
»Bleib hier, Kjell!« Merte hielt ihn fest. »Du wirst sie nicht finden. Hjordis gilt als beste Jägerin weit und breit. Die weiß sich zu verbergen und ungesehen nach Hause zu gelangen. Nein, du hast Wichtigeres zu tun. Oder wolltest du nicht das Hurenviertel wieder aufbauen lassen?«
»Vielleicht wissen die älteren Frauen ja mehr über sie«, fügte Sylja nicht ganz ohne Berechnung hinzu. Da hatte sie Kjell, wo sie ihn haben wollte. »Oh je«, entfuhr es ihr, kaum dass er hinaus war, »das Mädchen ist ihm ja gehörig unter die Haut gefahren! Hoffentlich schlägt er nicht denselben Weg ein wie sein Großvater.«
»Ich hoffe es doch sehr.« Merte stand abrupt auf. »Und dass endlich einmal jemand etwas an diesem verfluchten Zustand der Clanlosigkeit ändert!«
»Eher geht die Welt unter«, bemerkte Sylja daraufhin, und beide kehrten zu ihrem Tagewerk zurück.
Sylja hatte recht, Kjell konnte wirklich nicht fort, so viele Pflichten hielten ihn in Saran fest, das wusste er selbst. Deshalb ging er schnurstracks zu den Huren in der Hoffnung, sie unauffällig aushorchen zu können. Doch den Frauen machte er nichts vor. Sie lachten ihn aus, und schließlich nahm ihn die Älteste beiseite.
»Ich weiß nicht, was zwischen Hjordis’ Mutter und Budicca vorgefallen ist. Sie hat nie darüber gesprochen, hatte aber regelrecht Angst vor ihr. Ich glaube, dass sie etwas über Budicca weiß, was der sehr gefährlich werden kann, und dass Budicca ihr gedroht hatte, sollte sie es ausplaudern. Womit auch immer. Der Ausschluss aus dem Clan war jedenfalls sehr merkwürdig, und mal ganz ehrlich, Hjordis ähnelt Einar kein Bisschen.«
»Aber warum haben sie sie dann ausgeschlossen? Das wäre doch nicht nötig gewesen, solche Geschichten kommen vor. Nein, du hast recht, da stimmt etwas nicht.« ›Und ich werde es herausfinden‹, lautete der unausgesprochene Zusatz.
Am Nachmittag erlebte Kjell eine böse Überraschung. Er half gerade bei der Bergung des versenkten Holzes und dem Transport auf den Platz vor der großen Halle, als ihn ein Schrei auf den Hügel hinaufholte. Er umrundete den großen Haufen gestapelten Holzes und fand dahinter die Männer des Sedats in einem Kreis versammelt. In der Mitte kniete eine kleine dunkle ´Gestalt. Alarmiert trat Kjell hinzu, und richtig, dort kniete die Prinzessin. Sie hatte flehend die Hände erhoben.
»Habt Erbarmen!«
»Nein!« Der Sedat stieß sie grob mit seinem Stock an. »Sag mir, wer ist mit wem verwandt?«
Kjell zögerte. Was sollte diese Frage? Und warum weinte sie? »Was geht hier vor?«
Der Sedat fuhr zu ihm herum. »Du hast hier nicht die Fragen zu stellen, Kjell Jeldriksfalir!«
Dieser verschränkte die Arme. »Das sehe ich ein wenig anders. Meine Sklavin, mein Land! Also?« Bereits jetzt ging ihm die Art des Sedats gegen den Strich.
»Befragung der Gefangenen«, erwiderte der Sedat knapp, holte aus und schlug brutal zu. Stöhnend ging die Prinzessin zu Boden. »Immer noch nicht?« Sie presste schützend die Hände auf den Kopf. »Holt eines der Mädchen. Ein möglichst junges.«
»Nein!!« Sie schrie auf.
»Dann sprich endlich! Wer ist mit wem verwandt und wie?«
Sie schluchzte auf. »Der... der Jüngste ist der Sohn des... des Anführers. Alle... alle anderen sind nicht verwandt. Glaube ich. Ich kenne sie nicht so gut.«
»Ah, und womöglich auch mit dir, was?«
Ihr Blick unter den schützend erhobenen Armen hindurch war verzweifelt. »Das reicht.« Kjell ging dazwischen. Er zog sie hoch und aus der Reichweite des Sedats. »Geh!« Er stieß sie fort, aber da er gleichzeitig den Sedat im Augen behalten wollte, sah er ihr nicht nach, wie sie davonstolperte. Er verschränkte die Arme. »Ihr habt jetzt, was ihr wolltet. Das nächste Mal kommt vorher zu mir. Ich bin sicher, es gibt schnellere und einfachere Methoden, sie zu befragen.«
»Der Befragung des Sedats ist nicht zu widersprechen«, schnappte dieser sofort.
Kjell zog die Augenbrauen hoch. Was für ein Spiel spielte dieser hier? »Ich meine mich zu erinnern – korrigiert mich, wenn ich mich irre – dass eine Befragung im Beisein des Clansführers oder des Besitzers erfolgen muss.«
»Der du nicht bist!« Der Sedat richtete drohend seinen Stock auf ihn, aber Kjell meinte zu spüren, wie sich unter seinen Schülern eine gewisse Unruhe breitzumachen begann. Nanu, dachte er. Das kannte er so gar nicht. Wer provozierte hier wen? Und konnte er sich das leisten, den Sedat zu provozieren? Nein, konnte er nicht! Er beschloss, ein wenig zurückzurudern. »Nein, bin ich nicht, aber Sylja. Ich finde, ihr solltet sie zumindest als Herrin des Hauses fragen und ihr einen Tag der Totenruhe gönnen. Ist das zu viel verlangt?«
»Dieses Ansehen ehrt dich«, ging einer der Schüler beschwichtigend dazwischen. Das war ein krasser Gegensatz zum Verhalten seines Meisters.
Kjell wunderte sich immer mehr und erwartete sofort die Rache des Sedats, die prompt folgte: »Jetzt«, er sah in die Runde und bohrte seinen Blick besonders in denjenigen, der eben dazwischen gegangen war, »beginnen wir mit der Befragung der Gefangenen. Und du, Kjell Jeldriksfalir, wirst vor allen anderen mit dabei sein und sie durchführen. Dem Sieger gebührt diese Ehre.«
Das sollte eine Falle sein. Kjell wurde ganz kalt, aber er hatte keine Wahl. So ungefähr wusste er um die Verhörmethoden der Sedats in der Vergangenheit, und auch er hatte in der Heerschule alle möglichen Methoden kennen gelernt. Zumindest in der Theorie. Wie die in der Praxis aussahen, das hatte er nur bei den Cerinn erlebt, daran, wie sie mit seinem Freund Orban und seinen Cousinen Janida und Tabitha umgegangen waren.
Augenblicklich rief der Sedat alle verbliebenen Männer Sarans zu sich und befahl Oren und den Wächtern, die Gefangenen zur Richtstätte zu bringen. Das war ein Dünengrund ganz in der Nähe der Totenstatt, aber möglichst weit von der Siedlung entfernt.
Aus gutem Grund. Dort war ein weiter Kreis aus Pfählen entstanden und in der Mitte ein weiterer Pfahl, der am oberen Ende schmal und spitz zulief. Neben dem Pfahl gab es eine Plattform und einen schwenkbaren Galgen, wozu, das konnte sich Kjell unschwer vorstellen. Jetzt wurde ihm wirklich flau im Magen, und genau darauf hatte es der Sedat angelegt, das mochte er wetten. Ganz am Rand strömten auch immer mehr Frauen und Kinder zusammen. Eine solche Hinrichtung wollte niemand verpassen, sie war seit ewigen Zeiten nicht mehr vorgekommen.
Der Sedat ging auf Kjell zu. »Du weißt, was du zu tun hast.«
»Oh ja.« Kjell atmete unmerklich tief ein. »Bringt den Sohn in die Mitte«, befahl er laut. Unter den Gefangenen entstand Unruhe, es steigerte sich in lautes Geschrei, als die Sedatschüler einen jungen Mann in die Mitte zum Podest zerrten. »Bindet die anderen an die Pfähle. Den Vater zu mir.«
Sie zerrten einen kleinen älteren Mann hinter sich her und stießen ihn Kjell vor die Füße. Alle Empfindungen verschloss Kjell tief in seinem Innern, er wusste, was jetzt kam, würde ihn auf ewig in seinen Träumen verfolgen.
Er zerrte den kleinen Mann am Kragen seines fadenscheinigen Hemdes hoch. »Ihr werdet alle sterben«, seine Augen blitzten kalt, »an dir liegt es nur, wie ihr sterben werdet. Sage uns, wer hinter dieser Verschwörung steckt und wo eure Kundschafter, wo eure Verbindungsleute auf euch warten. Wie viele Kämpfer sind noch in Ethenien?«
»Fahr zur Unterwelt!«, schrie der Mann auf, als Kjell ihn immer höher zog, bis er baumelte.
Da ließ Kjell ihn abrupt fallen und stieß ihn zu dem Pfahl in der Mitte herum. »Sieh hin, sieh nur gut hin. Dein Sohn wird jetzt gerichtet. Du hast die Wahl: Entweder du gibst mir, was ich verlange, oder er wird gepfählt. Das dauert lange, sehr lange, dafür sorgen die Männer des Sedats. Es sei denn...« , er packte das Kinn des Mannes und drehte seinen Kopf zu sich herum, dass die Wirbel bedenklich knackten, »...du redest.«
Der Gefangene atmete schwer und hatte Tränen in den Augen. »Mögest du auf ewig für deine Tat verflucht sein, dein ganzes Volk für Unterdrückung und Sklaverei!!«
Kjell lachte kalt auf. »Flüche bewirken bei meiner Familie gar nichts, sie dient einer weitaus stärkeren Macht, und außerdem, waren es nicht eure Vorfahren, die uns wiederholt überfallen haben, bis mein Großvater Roar dem ein Ende setzte?« Verächtlich ließ Kjell ihn los. »Fangt an!«, rief er den Männern zu und trat zurück. »Mal sehen, wann er zu singen beginnt.«
Spätestens jetzt schickten die Frauen ihre Kinder nach Hause, und auch Kjell wünschte sich mit einem Mal, er wäre wieder klein und sein großer starker Vater und Großvater beschützten ihn und ließen seine Welt heile. Doch das war sie nicht mehr. Dieser Anblick schlug sie in Trümmer.
Sie rissen dem Gefangenen die Kleider vom Leib und zerrten ihn das Podest hinauf. Oben angekommen, legten sie ihm die Schlinge um den Hals. Mit brennenden Augen sah Kjell zu. Er durfte sie nicht schließen, durfte nicht fort schauen, denn dann hätte er vor allen das Gesicht verloren. Darauf lauerte der Sedat, das spürte er. Die Gildaer hätten von ihm erwartet, dass er eingriff, dass er ihre hohe Vorstellung von Moral verteidigte. Von ihm als halbem Gildaer und als Offizier ihres Heeres. Bei den Saranern zählte das nichts. In diesem Moment, da der Gefangene hochgezogen wurde und gurgelnd auf den spitzen Pfahl geschwenkt wurde, entschied Kjell, dass er nicht zwei Völkern dienen konnte, er wollte nicht zerrissen sein wie sein Vater oder heimatlos wie seine Mutter. Er war Saraner, und seine Loyalität gehörte seinem Volk. Mit allem, was dazu gehörte.
Der Gefangene stöhnte, als zwei Sedatschüler seine zuckenden Beine packten und ihn mit dem Hinterteil genau über der scharfen Spitze des Pfahles platzierten. Die auf der Plattform verweilenden Sedatschüler ließen daraufhin das Seil ein wenig herab. Sofort bekam der junge Mann etwas mehr Luft, was sich in einen gellenden Schmerzensschrei wandelte, als die Spitze langsam in ihn fuhr. Er bäumte sich auf, ein Ruck ging durch das Seil, und plötzlich drang die Spitze ein gutes Stück in ihn ein. Die Schreie waren kaum mehr zu ertragen, und je mehr er sich wehrte gegen das Unvermeidliche, desto schlimmer wurde es. Es war ein grauenvolles Schauspiel, und nicht nur die Frauen wandten sich schaudernd ab, auch manch einer der Männer hatte mit sich zu kämpfen. Doch dann war Schluss. Die Sedatschüler zogen das Seil um seinen Hals wieder an und auch seine Beine wurden an den Pfahl gebunden, sodass er sich nicht mehr rühren konnte.
Kjell dagegen versperrte sich jedweden Gefühlen, er beobachtete den Sedat. ›Der genießt es regelrecht‹, dachte er voller Verachtung und erkannte, dass der Mann – anders als seine Vorgänger – von seiner Macht regelrecht berauscht war. Dabei war Bescheidenheit das oberste Gebot eines jeden Sedats, und er mochte wetten, dass auch die Sedatschüler die Fehler ihres Meisters längst erkannt hatten. Sonst hätten sie niemals so unruhig reagiert.
Der Sedat wandte sich ab und näherte sich dem gebundenen Vater. »Die Kunst«, seine Augen glitzerten boshaft, »ist es, das perfekte Gleichgewicht zwischen Schlinge und Pfahlspitze zu halten. Er wird Tage brauchen, bis er tot ist, und jeden Moment bei Bewusstsein sein, jede Wendung, jede Bewegung mitbekommen. Es sei denn... du redest!«
»Möget ihr verflucht sein für eure Tat!«, schrie der Ethenier auf.
»Das bezieht sich wohl auf eure, denn schließlich habt ihr uns überfallen! Also? Sprich!« Er stieß brutal mit seinem Stab zu. »Wie viele sind noch in Ethenien? Wo ist der Rest der Flotte?«
Er rechnete mit noch mehr Schiffen?, dachte Kjell und schalt sich sofort einen Narren. Natürlich tat er das. Was für ein schlecht geplanter Feldzug war das, die Hauptstreitmacht des Gegners fortzulocken und sich nicht für den Fall abzusichern, da diese überraschend zurückkehrte?
»Kein Wort zu ihm, Vater, kein Wort!«, schrie der Gemarterte.
»Nun«, der Sedat trat zurück, »wir werden sehen, wir werden sehen.« Mit diesen Worten kehrte er dem Richtgrund den Rücken zu und winkte seine Schüler mit sich. Nur zwei Wächter blieben zurück und stellten sicher, dass die Gefangenen sich nicht irgendwie befreien konnten.
Zwei qualvolle Tage vergingen, bevor der erste aufgab. Das war nicht der Vater, oh nein, es war einer der engsten Freunde des Sohnes. Er mochte es nicht mehr mit ansehen. Mittlerweile hatte sich der Gemarterte heiser geschrien und versuchte alles, seinen Leidensweg zu verkürzen, aber die Seile waren unerbittlich. Sie erlaubten ihm keinen Fingerbreit Bewegung, und die Männer des Sedats taten ihr übriges, fütterten, mästeten ihn geradezu, damit der stete Strom aus Blut und seinen Ausscheidungen, der mittlerweile den ganzen Pfahl und den Boden darum herum besudelte, nicht versiegte.
Doch diesmal war es Kjell, der die Befragung übernahm und es überraschend geschickt verstand, alles aus dem gefangenen Freund herauszuholen. Der Sedat hatte wohl gehofft, dass er ihn damit bloßstellen konnte, aber Kjell hatte das Befragen in der Heerschule von Gilda gelernt, es war ihm ein Leichtes, den verzweifelten jungen Mann, der zitternd vor ihm kniete, auseinanderzunehmen.
Nur, dass dieser nicht allzu viel wusste. Wie hatten sie die Botschaften nach Ethenien geschickt? Und wie viele Kämpfer waren noch dort? Es stellte sich heraus, dass sie, wie Hjordis es schon vermutet hatte, über ein richtiges Kundschafternetz verfügten, und wie es bei einem solchen üblich war, wusste das eine Rädchen nicht, was die vielen anderen Rädchen taten. Da für die Saraner das Wesen eines solchen Netzes völlig fremd war, musste Kjell ihnen das erklären. Vor den versammelten Männern hielt er eine Lehrstunde ab, wie es einst nur Bajan vermocht hatte.
»Und woher weißt du das alles?«, verlangte der Sedat zu wissen.
Kjell verwünschte ihn aus tiefster Seele. Gerade das, so hatte er gehofft, würde hier nie zur Sprache kommen, weil alle dann dachten, er wolle angeben. Deshalb sagte er nicht: ›Ich bin ausgebildeter gildaischer Offizier‹ oder ›Wie ihr vielleicht wisst, müssen alle gildaischen Jungen die Heerschule besuchen‹, sondern: »Von meinem Onkel Phelan. Ihm unterstand das Kundschafternetz Moranns. Und glaubt mir, alle anderen Gefangenen wissen auch nicht mehr als dieser hier. Nein, wir müssen dort ansetzen, wo dieser hier aufgehört hat. Bei seinem Gewährsmann im Sumpf. Denn durch die Sümpfe wurden die Botschaften überbracht, jeder wusste, wo sein nächster Mann wartete.«
»Die müssen wir uns greifen!«, stieß Oren hervor, kaum dass der Gefangene fortgebracht worden war.
»Ja, und zwar sofort, sonst bekommen sie noch Wind von der Sache.« Das war für Kjell keine Frage. Bjarne war sich indes sicher, dass sie bei ihrer Suche nicht einmal in die Nähe dieses Postens gekommen waren, sodass dieser womöglich noch immer ahnungslos seiner Pflichten harrte.
»Dann sollten wir schleunigst eine kleine, schlagkräftige Gruppe bilden und ihre Spur verfolgen. Bis nach Ethenien.« Das beschlossen alle Kämpfer, und sie wollten noch in derselben Nacht aufbrechen. Die Gelegenheit war günstig, den nächsten Posten noch vor dem Sonnenaufgang zu erreichen.
Wieder war es Bjarne, der sich am besten für diese Sache zu eignen schien, und mit ihm ein paar seiner neuen Freunde. Kjell und Oren jedoch entschieden sich, in Saran zu bleiben. Sie wurden hier gebraucht.
»Und jetzt«, Kjell sah in die Runde, »werde ich Wort halten und den Gepfählten erlösen.« Er nickte dem Sedat zu, der ihm mit regungsloser Miene zuhörte. »Die anderen Gefangenen jedoch... ich habe euch einen Vorschlag zu machen. Sie müssen bestraft werden, so viel ist sicher, aber wenn Bjarne und die anderen Männer in die Sümpfe aufgebrochen sind, haben wir noch weniger Leute für all die Arbeit. Lasst die Sklaven erst einmal den entstandenen Schaden mit den eigenen Händen beseitigen. Richten können wir sie immer noch, zum Beispiel auf der Clansversammlung im nächsten Frühjahr.«
»Ein guter Vorschlag«, sagte einer der Wächter, der sich schon den gesamten Winter hatte verkohlte Balken schleppen sehen, und auch viele andere Männer schlossen sich ihm an.
Dass Kjell damit sozusagen die Rechte des Sedats aushebelte, war ihm herzlich egal. Er hatte erreicht, was er wollte, hatte die grausamen Hinrichtungen ausgesetzt, und er hielt augenblicklich Wort und brach auf zum Richtplatz. Das wollte natürlich niemand verpassen. Eine große Menschenmenge folgte ihm dorthin. Kjell empfand nichts, als er dem Gemarterten den Todesstoß versetzte, allenfalls ein gewisses Bedauern ob so viel verschwendeten Lebens. Alle anderen Gefangenen wurden in Fesseln zurück in den Ort geschleift und gleich an die Arbeit geschickt. Die Bewohner schienen sehr zufrieden mit dieser Lösung zu sein, ja, sie kämpften regelrecht um ihre Sklaven, bemerkte Kjell. Sollte der Sedat doch schmollen!
Als er sich auf den Weg zurück zum Fürstensitz machte, erwartete ihn eine handfeste Überraschung. Phorsteinn kam ihm entgegen, er war zurück und mit ihm eine junge Frau und mehr Tiere, als sie bei der Brücke im Westen zurückgelassen hatten.
›Nanu‹, dachte Kjell, besonders als er Phorsteinns grimmige Miene sah. Auch die anderen Frauen aus dem nördlichen Clan hatten das Mädchen entdeckt und liefen mit besorgten Rufen auf sie zu.
»Was ist passiert?!« Kjell zog Phorsteinn von dem Geschnatter fort.
»Oh, diese Budicca ist ein ganz ausgekochtes Weibsbild!« Er schnaufte empört. »Als ich an der Brücke ankam, waren unsere Pferde fort und die Schwerter noch dazu. Die gesamte Gegend habe ich abgesucht und bin schließlich in die Siedlung. Erst tat sie so, als wüsste sie von nichts, aber das haben die anderen Frauen mitbekommen und mir gezeigt, wo die Tiere und die Waffen sind.«
»Sie hat sie einfach einkassiert?! Und dann getan, als wüsste sie von gar nichts?!« Kjell verschränkte die Arme.
»Ob du’s glaubst oder nicht, sie fing an zu keifen, sie hätte diese Tiere auf ihrem Land gefunden und nun Anspruch darauf, und außerdem hätte ich als Clanloser dort nichts zu suchen und die Finger davon zu lassen!«
»Waas?!« Kjell glaubte, sich verhört zu haben. »Die wusste doch ganz genau, wo wir unsere Tiere angebunden hatten! Wir haben es ihr gesagt, damit sie nach ihnen sieht. Sie hat sie sich einfach unter den Nagel gerissen!«
Phorsteinn schnaubte wieder. »Ganz offensichtlich, und das dachten auch die anderen Frauen. Sie haben sich gegen Budicca gewandt, gesagt, es sei eine Schande, wie sie sich verhielte. Da ist sie richtig ausfallend geworden, wie sie es wagen könnte, sich gegen sie zu stellen, gegen ihre Clansführerin, und ob sie lieber fortgehen und wie die Hure in den Wäldern leben wollten. Und stell dir vor, eine hat es sogar getan!« Er drehte sich um und zog ein schmales Mädchen mit rotblonden Haaren aus dem Pulk der schnatternden Frauen heraus. »Dies ist Diss Angarsfalan.«
»Diss?« Kjell zog die Augenbrauen hoch. »Wofür steht das?«
Sie errötete bis unter die Haarwurzeln. »Das ist mein richtiger Name. Dafür kann ich auch nichts.«
»Du bist also gegangen? Wo willst du leben? Die Häuser deines Clans hier sind zerstört worden.« Er fragte das nicht ohne Grund. Alle würden sie über den Winter enger zusammenrücken müssen.
»Sie kann bei mir schlafen«, sagte eine der anderen.
»Ja, aber ihr wollt doch sicher bald nach Hause, oder nicht?«, fragte Kjell.
»Diss wohnt bei mir«, ließ sich Phorsteinn da vernehmen. »Sie hält mir als Gegenleistung Haus und Hof in Ordnung.«
»Als... ahh... ja.« Kjell unterdrückte ein Grinsen. Den anderen gelang das nicht annähernd, sie kicherten los.
»Hört auf!«, rief Diss verlegen. »Es ist wirklich nur das. Ich will nicht...«
»Schon klar.« Kjell schlug Phorsteinn auf die Schulter und zerrte ihn mit sich in Richtung der Schmiede.
»Sie tut mir einfach leid«, wehrte Phorsteinn verlegen ab, kaum dass sie um die nächste Ecke gebogen waren, »das war so mutig, wie sie...«
»Hast du alle Schwerter wieder mitgebracht?«, unterbrach Kjell ihn einfach.
»Nein, aber das wollte ich dir vor den anderen nicht sagen. Zwei fehlen. Die übrigen sind in meinem Hof. Du solltest Beschwerde vor dem Sedat einlegen, bevor sie es tut.«
»Ich glaube, dass ihre eigenen Leute ihr derart in den Rücken gefallen sind, wird ihr mächtig zu denken gegeben haben. Nein. Wenn sie nichts tut, werde ich auch nichts tun. Ich verstehe mich mit dem Sedat nicht so gut.«
»Warum das?«, fragte Phorsteinn und stieß sein Hoftor auf.
»Ist nicht wichtig. Wir haben jetzt ganz andere Probleme. Bjarne geht mit ein paar Männern auf einen Feldzug in die Sümpfe. Willst du mit?«
»In die Sümpfe?« Phorsteinns Augen leuchteten auf.
Kjell konnte seine Freude nicht teilen. »Du musst es wissen. Einerseits können Bjarne und die Wächter dich sicherlich gut gebrauchen, aber andererseits fehlt uns hier ein Schmied. Überlege es dir. Dir würde ein Vermögen entgehen, wenn du nicht hierbleibst.« Was Kjell indes nicht sagte: Er hielt Phorsteinn für bei Weitem nicht gut genug im Kampf, um mit den Wächtern und Bjarne mitzuhalten. Zudem beschlich ihn auf dem Weg nach Hause das Gefühl, dass es hier auch um eine Freundschaft ging. Er mochte Phorsteinn, denn der hatte so eine Art, im Handumdrehen seine düsteren Gedanken zu vertreiben, und Kjell hätte es als ziemlich bitter empfunden, wenn wieder einmal Bjarne den Kampf um diese Freundschaft siegreich davongetragen hätte. Auf den Gedanken, Phorsteinn einfach zu bitten hierzubleiben, kam er jedoch nicht.
»Hast den Rest der Sklaven gerettet, was?«, empfing Sylja ihn barsch. Es war ihre Art, ihm mitzuteilen, dass sie seine Handlung begrüßte.
»Vorerst. Sollen sie schuften. Vielleicht kann ich die anderen ja im Laufe der Zeit überzeugen, dass sie als Arbeiter wertvoller sind.«
Wie es schien, hatten die Götter Syljas Orakelspruch ernst genommen. Kaum war Bjarne mit den Wächtern in die Sümpfe aufgebrochen, öffnete der Himmel seine Schleusen, und es hörte wochenlang nicht mehr auf zu regnen. Es machte die Lage der Menschen ohne Obdach noch ärger, als sie es sich hätten vorstellen können. Viele flohen zu ihren Verwandten in die Berge, obschon auch dort, so sagte es ihnen Merte, die Ernte nicht üppig gewesen war. Für die Übriggebliebenen begann ein zäher Kampf ums Überleben. Kjell war klar, dass sie mit ihren jetzigen Vorräten nicht einmal bis zur Mitte des Winters kommen würden. Selbst wenn sie alle Vorräte zusammentrugen und gleichmäßig unter allen verteilten – ein Gedanke, den die Saraner geschlossen als fremdländischen Unsinn ablehnten – es würde nicht reichen.
Und Kjell dachte auch gar nicht daran, einfach so zu teilen. Wenn er etwas gab, notierte er das penibel in seinem Buch. Ein Gildaer hätte an sein Gewissen, an seinen Anstand appelliert. Hier zählte das nicht. Kjell war klar, dass jeder Saraner ihn bedenkenlos übers Ohr hauen würde, hätte er nur die Gelegenheit dazu, und deshalb machte er sich hart, erlaubte er sich keine Schwäche. Er hielt seinen Reichtum unter Verschluss.
Stattdessen warf er seinen Einfallsreichtum in die Waagschale. Von seiner Mutter und vor allem von seinem Onkel Kiral wusste er, welch Nahrung es in den Sümpfen zu holen gab. Wurzeln und Knollen, Samen und Tiere, alles wurde geborgen und erjagt. Die wenigen verbliebenen Männer fuhren raus zum Fischen, kamen aber mit wenig Beute zurück. Die Zeit der großen Schwärme waren vorbei. Wie das erst im Winter werden würde, in der Zeit der großen Stürme, daran mochte er noch nicht denken.
Seine Unruhe betäubte Kjell mit Arbeit. Überall war er dabei, trieb die Leute an, machte Vorschläge, so viele, dass manch einer schon entnervt die Augen verdrehte. Aber so machte er sich mit allen richtig bekannt, und sie lernten ihn zu akzeptieren, diesen unnachgiebig vorwärts drängenden jungen Mann, der früher als Muttersöhnchen und Streber verschrien war, nicht zu schätzen, aber zu akzeptieren. Kjell war klar, dass manch einer nur darauf lauerte, dass er einen Fehler machte, und arbeitete geradezu besessen daran, dass er keine machte. Nächtelang hockte über seinem Buch, so sehr, dass Sylja damit drohte, es ihm wegzunehmen und ins Feuer zu werfen. Natürlich tat sie es nicht, denn sie wusste genau, das war ihre Sicherheit zum Überleben. Wie gut Kjell das gelang, das würde er auf der Frühjahrsversammlung vor dem Sedat sehen.
Mitten im stürmischsten Herbstwetter, in dem sich Menschen und Tiere am liebsten am warmen Feuer verkrochen, stapfte Kjell durch Matsch und Schlamm. Er war auf dem Weg zu Phorsteinn, der tatsächlich in Saran geblieben war. Warum, das hatte Kjell ihn nie gefragt. Sei es wegen der vielen Aufträge, die ihm ein stattliches Einkommen bescheren würden, sollten die Saraner irgendwann in der Lage sein, ihre Schulden zu begleichen. Aber Kjell beschlich das Gefühl, dass es auch an der stillen jungen Frau lag, die ihm den Haushalt führte. Phorsteinn hatte zwar nichts gesagt und Kjell nicht gefragt, aber die Blicke, die sich die beiden heimlich zuwarfen, wenn sie dachten, der andere sähe nicht hin, sprachen Bände. Kjell hatte das schon oft beobachtet und amüsierte sich im Stillen darüber. Er verbrachte so manchen Abend bei ihnen, wenn er nicht mit Phorsteinn durch die Schenken zog, und er tat es gerne. Wenn Diss einmal den Mund aufmachte, dann kam immer Erstaunliches daraus hervor. Weil sie so still war, wurde sie kaum beachtet und hörte deshalb eine Menge. Ein wenig erinnerte ihn das an seine Schwester Faye, nur nicht auf eine so übersinnliche Art und Weise.
Mit dem Gedanken bog er um die nächste Ecke, wich einem von einem Dach herabschießenden Wasserstrahl aus und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Vor ihm im Schlamm standen drei kleine Gestalten, die Gesichter tief verborgen in den Kapuzen ihrer Umhänge. Sie hatten eine ganze Reihe Pferde und Packpferde dabei.
Kjell brauchte einen Moment, bis er sie erkannte. »Mutter!«
Syl rannte los, den Matsch nach allen Seiten spritzend. »Kjell, Kjell!«
Lachend fing Kjell sie auf und schwang sie herum, und es störte ihn gar nicht, dass er dabei über und über dreckig wurde. Er klemmte sich seine kleine Schwester unter den Arm und umarmte mit seinem freien erst Faye und dann Althea. »Wo kommt ihr her?«
»Ich habe eine Schlacht gesehen und euch mittendrin«, sagte Faye, ernst wie immer. Sie hielt weiterhin seine Hand umfasst, sie spürte nach, ob es ihm gut ging, das merkte er daran, dass sie ganz warm wurde.
»Es geht mir gut, kleine Fee. Bjarne auch. Zumindest, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Kommt. Bleiben wir nicht hier im Regen stehen. Sylja wird sich freuen, euch zu sehen.«
»Wo ist Bani?«, wollte Syl wissen.
»In den Sümpfen, Verräter jagen. Es ist eine Menge geschehen, Mutter.«
»Oh ja, das haben wir gesehen.« Schweigend legten sie den Weg zum Clansführersitz zurück.
»Sylja!«, rief Kjell quer über den Platz. Schon liefen ein paar Sklavinnen herbei, die Pferde der Gäste in Empfang zu nehmen. Als sie Althea erkannten, blieben sie jedoch zögernd stehen. Sie wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten.
»Bringt die Pferde in den Stall«, wies Kjell sie an. »Wo ist Sylja?«
»In der Küche. Ich grüße Euch, Herrin Althea.« Die Prinzessin trat vor und verneigte sich.
»Prinzessin.« Althea nickte ihr zu und sagte dann zu Kjell: »Wie ich sehe, habt ihr auch hier schwere Zeiten hinter euch.«
»Lasst uns drinnen reden. Ihr müsst völlig durchnässt sein.« Er scheuchte die Sklavinnen mit einer Handbewegung fort, eine Geste, deren grobe Beiläufigkeit Althea verwunderte, und führte sie um den zerstörten Teil der großen Halle herum zur Küche.
Sylja hätte sich wohl nie träumen lassen, wer da so unvermittelt in ihr Reich hereingeschneit oder besser geregnet kam. Es machte sie regelrecht fassungslos, als die kleine Syl ihr ohne viele Umstände um den Hals fiel und gar nicht mehr von ihrer Großmutter fortzubringen war. Als dann auch noch Merte hereinkam und ihre lang entbehrte Ziehmutter in die Arme schloss, war endgültig etwas Licht in die düsteren Tage zurückgekehrt.
»Ich bin so froh, dass du da bist, Thea«, gab Merte voller Erleichterung zu. »Zwei der Verletzten habe ich bereits verloren, und um ein paar andere steht es schlecht. Ich müsste eigentlich schnellstens in die Berge zurück, nach meinen Leuten sehen.« Dabei warf sie einen raschen Blick auf Altheas Hände.
Diese wusste genau, was ihr einstiger Schützling dachte. »Ich glaube nicht, dass ich mehr tun kann als du. Wir werden sehen. Einstweilen bringe ich Vorräte und Kleidung mit, alles, was ich erwerben konnte.«
»Erwerben?« Kjell zog die Augenbrauen hoch.
Sylja verpasste ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. »Natürlich erwerben, du Dummkopf, oder glaubst du, die Leute geben diese Dinge einer reichen Frau wie deiner Mutter umsonst?«
Merte grinste spöttisch und auch Althea musste lachen, doch sie wurde gleich wieder ernst. »Der Überfall auf euch ist in Nitrea in aller Munde. Die Leute sind alarmiert, sie befestigen ihre Siedlungen, lassen Wachen aufstellen. Und sie halten ihre Vorräte unter Verschluss, denn die Ernte ist nicht üppig ausgefallen. Wenn sie etwas hergeben, dann nur zu sehr teuren Preisen. Mit Mahin konnte ich etwas handeln, aber südlich davon, besonders vor der Grenze, sah es schlecht aus.«
»Hmm...«, machte Kjell und nickte. »Was habt ihr jetzt vor?«
»Wir bleiben hier und helfen«, antwortete Faye an ihrer Mutter Statt.
»Ich wollte nicht zwischen dem Wohl meiner Kinder entscheiden müssen«, sagte Althea. »Als Faye ihren Traum hatte und wir dann noch von Roars Tod hörten, war mir klar, was ich tun musste. Du brauchst meine Hilfe. Nein, Temora, wie ich es ursprünglich geplant hatte, kann warten.«
Sylja stand auf, ruhelos wie eh und je. Sie ging an den Herd und schürte das Feuer. »Es ist gut, dass ihr hier seid, und es ist gut, dass ihr eure eigenen Vorräte mitgebracht habt. Noch drei Esser mehr hätten wir nicht vertragen können«, meinte sie lakonisch, worauf Althea erwiderte:
»Und was macht ihr, wenn die Männer zurückkehren?«
»Mögen die Götter sie noch lange auf See halten und ihnen reichlich Beute bescheren«, erwiderte Sylja darauf.
Ein Wunsch, der nicht in Erfüllung gehen sollte.
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