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Kapitel 2

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Am Abgrund


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Die Winterliche Ruhe hatte sich über Gilda gesenkt, und doch war sie ganz anders als in den Jahren zuvor.

Das Land war wie gelähmt, die Königsfamilie war es, zutiefst erschüttert von den vorangegangenen Ereignissen. Noch nie hatte es einen Mord in der Herrscherfamilie gegeben, noch nicht einmal in der dunklen Anfangszeit ihres Reiches, sah man einmal von dem schrecklichen Ende Aietans ab, dahingerafft durch das Böse. So viele verschiedene Machtbestrebungen es gab, dies widersprach zutiefst der Kultur ihres Volkes. Die Königsfamilie war heilig.

Wie oft ertappte sich Currann dabei, dass er abwesend in einer Ratssitzung saß und gar nicht mitbekam, was gesprochen wurde, und stattdessen auf Phelans leeren Platz starrte. Er fehlte ihm. Niemals hätte Currann das gedacht, nicht in diesem Ausmaß. Phelans spöttische, manchmal auch nervtötende Bemerkungen, seine Gelassenheit und ja, auch ihre Streitereien. Eigentlich, so musste Currann sich eingestehen, hatte er niemanden, den er nun mit heiklen Missionen betrauen konnte. Weder Farlan in seiner Überkorrektheit noch Nathan in seiner eigenbrötlerischen Verschlossenheit konnten ihn ersetzen. Iovan wäre vielleicht der Richtige gewesen. Vielleicht.

Natürlich fiel die Schweigsamkeit des Königs auf. Natürlich bemerkten die Leute, dass man Althea und ihre Kinder nicht mehr in der Stadt sah. Trotz aller Geheimhaltung der wahren Gründe um Phelans und Jeldriks Tod, die Gerüchteküche brodelte, und irgendwer redete immer. Von unerhörten Vorfällen in der Königsfamilie war die Rede. Drei Tote binnen kürzester Zeit, das warf einfach Fragen auf, und die Leute zogen sehr schnell die richtigen Schlüsse. Die Wohlwollenderen sprachen von einem Komplott, von Verrat. Die nicht so Wohlwollenden von Wahnsinn, von einem Fluch, und sie fragten sich, was die hohen Herren wohl verbrochen haben mochten, ein solches zu verdienen. Die Tatsache, dass nichts nach außen drang, kein Täter offen vor allen schuldig gesprochen war, machte es nicht besser. Es offenbarte die gesamte Hilflosigkeit des Königshauses.

Farlan war zunehmend beunruhigt über die Starre seines Vaters und die Stimmung im Volk, ganz gleich, was die anderen sagten, egal, wie sehr die Würdenträger ihre Anteilnahme am Tod der geschätzten Persönlichkeiten bekundeten und jede erdenkliche Hilfe zusicherten.

Plötzlich lag die Position als Oberhaupt des Reiches in seinen Händen. Mehr und mehr Aufgaben übernahm er im Rat, was von den übrigen Ratsherren, allen voran von Sinan, der rechten Hand des Königs, befürwortet wurde. Es blieb natürlich nicht aus, dass auch die eine oder andere Freiheit, was Currann vorher streng unter Kontrolle gehalten hatte, von ihm gewährt wurde. Farlan kannte die Schwäche seines Vaters, auf allem die Hand halten zu wollen, und nahm sich jetzt heraus, einige Dinge zu ändern und anders zu entscheiden als er.

Die Rolle als Familienoberhaupt fiel Farlan da wesentlich schwerer. Seine Mutter lag geschwächt darnieder, dieses Kind, das sie erwartete, raubte ihr alle Kraft, und niemand war da, der sie stärken konnte. Seinen Geschwistern fehlte plötzlich die leitende Hand der Mutter und des Vaters, etwas, das er nicht ersetzen konnte. Dementsprechend drunter und drüber ging es zunächst, bis Farlan genug hatte und alle in ein strenges Tagewerk einband, angefangen vom Unterricht bei ihrem Großvater Thorald über die Heilerinnen bis hin zur Heerschule für die Jungen und die Haushofmeisterin für die Mädchen, welche sie auf ihre künftige Stellung als Herrin eines großen Haushaltes vorbereiten sollte.

Unterstützt wurde Farlan dabei, so verwundert er darüber war, von seiner künftigen Gemahlin. Anfangs hatte er sie beinahe vollkommen ignoriert, Shoona, diese fremde Schönheit aus dem Osten, aber das wollte ihm nun nicht mehr so ganz glücken. Sie besaß einen messerscharfen Verstand und war – auf ihre Weise – sehr gebildet und zielstrebig. Ihre Fragen, am Anfang noch zögernd und in seinen Augen ziemlich naiv, hatten eine zunehmend kluge und vorausschauende Note. Sie vergaß niemals etwas und brachte mittlerweile sogar ihre eigenen Vorschläge mit ein.

Irgendwie – Farlan wusste auch nicht, wie ihr das gelungen war – hatte sie es verstanden, alle seine jüngeren Geschwister, die Bediensten des Haushalts und sogar Sinan sich zum Freund zu machen. Dabei war sie von einer selbstbewussten Bescheidenheit, die ihr einiges an Bewunderung bei Hofe eingebracht hatte. Und genau deshalb traute er ihr immer noch nicht so recht über den Weg. Diese ewig gleiche freundliche, demütige Maske nahm er ihr einfach nicht ab.

Jedenfalls meinte er sie nun immer besser zu verstehen, was sie trieb, wie ihre Gedanken beschaffen waren. Mehr Licht ins Dunkel gebracht hatte dabei auch die lang ersehnte Antwort seiner Schwester Amaya, die ja seit dem Herbst mit Shoonas Bruder Shaun verheiratet war und bei seinem Volk, den Shouh, lebte. Nun wusste er, dass die Frauen der Shouh gewichtige Rollen innerhalb des Stammes innehatten, sie waren Heilerinnen, Richterinnen und Schamaninnen. Eine vielfache Mutter, Großmutter und Urgroßmutter wurde mehr verehrt als ein Fürst. Deshalb galt Shoonas Herz vor allem ihren künftigen Untertaninnen. Wann immer es eine Entscheidung über das Gesuch einer Frau zu fällen galt, ergriff sie Partei für diese. Aber dabei durfte sie nicht die Interessen der übrigen Untertanen, also der Händler und aller anderen Männer außer acht lassen. Das musste sie noch lernen, aber hatte sie es erst einmal, würde sie eine äußerst gute und beliebte Königin werden.

Deshalb konnte er sich mittlerweile auch vorstellen, sie zu heiraten und mit ihr eine Familie zu gründen. Nur sein Herz, das hatte sie nicht. Und würde es auch niemals haben.

Das schlug in der kleinen Höhle unterhalb der Festung für ein oder zwei Stunden am Tag. Die restliche Zeit war es wie betäubt, weggesperrt, eingeschlossen von einer harten Schale, die seine Beherrschung war.


Wie schon so oft in den dunklen Winternächten schlich sich Farlan, wenn der Rest der Familie schlief, aus den Räumen der Herrscherfamilie. Zum Glück wohnte sein älterer Bruder Nathan immer noch im Haus des Wissens, dachte er. Der wäre ihm binnen kürzester Zeit auf die Schliche gekommen. So aber schlummerte die königliche Familie, ahnungslos darüber, wohin er sich aufmachte. Trotzdem fühlte er sich dabei immer irgendwie beobachtet wie ein kleiner Junge, der etwas Verbotenes tat, oder ein Dieb in der Nacht.

Leider hatte Farlan nicht dasselbe Gespür wie sein Bruder Nathan oder seine kleine Cousine Faye. Denn in der Tat wurde er von zwei verborgenen Augen beobachtet, jede Nacht, die er davonschlich, wie auch alles andere beobachtet wurde.

Lange hatte der Verräter Goran gebraucht, die Festung zu erforschen, die vielen geheimen Schlupflöcher und Kanäle. Nachdem ihm erst einmal klar geworden war, wie die verborgenen Türen aufgingen, war es ihm wesentlich leichter gefallen, im Palast unterzutauchen. Endlich hatte er es warm, genug zu essen, Kleidung, Decken, Waffen, so viele er wollte. Die Vorstellung, dass die königliche Familie von dem Wasser trank, worin er sich gerade gewaschen hatte, bereitete ihm hämisches Vergnügen. Er hätte auch reinpinkeln können, aber das war ihm zu riskant.

Sein Lieblingsbeobachtungsposten war ein Warmluftschacht am königlichen Bad. Schon oft hatte er sie beobachtet, Siri, ihre Frauen und Töchter, und sich dabei vorgestellt, was er mit ihr, mit ihnen allen tun könnte. Was er mit Sicherheit mit ihnen tun würde. Bald schon, sehr bald. Oder mit der kleinen Freundin von Siris Ältestem. Das war allerdings eine Überraschung, die er vielleicht noch für sich nutzen wollte. Der Thronfolger hatte eine Geliebte! Naja, zumindest fast. Was für ein verklemmter kleiner Streber, redete nur in einem fort mit ihr, anstatt endlich einmal zur Sache zu kommen! Sollte er selbst es ihr besorgen? Der Wahnsinnige fletschte die Zähne. An der Zeit wäre es, denn dank der Hexe war ihm seine Gefährtin genommen worden, seine willige Gespielin. Gleich gesinnt waren sie gewesen, ganz anders als die Mutter, die ihn immer verachtet hatte und versucht hatte zu lenken. Aber seine Gespielin war fortgesperrt worden, auf ewig verdammt, die gelähmte Mutter im dunklen Verlies zu pflegen. Da brachte sie sich besser gleich um.

Nein. Noch nicht. Noch war nicht die Zeit dafür. Erst musste er den Rhythmus der Wachen auszukundschaften, ihre Runden, die Gewohnheiten der Familie. Dann, wenn er sie bis ins Detail kannte, konnte er planen. Denn was nützte ihm sein Triumph, wenn sie ihn gleich gefangen nahmen und er ihn nicht auskosten konnte?

Dass Winter war und kaum Besucher kamen oder Ratssitzungen abgehalten wurden, war von Vorteil. So war der Hof in eine ruhige Trägheit verfallen, die es ihm erlaubte, alles gründlich zu erforschen und genauso sorgfältig seine Falle aufzustellen. Für sie. Nur für sie!


Wie sehr Farlan seine kleine zukünftige Frau unterschätzte, das sollte er bald erfahren. Eines Nachts lag er in der Dunkelheit der Höhle mit dem Kopf auf Laras Schoß. Sie hatten warme Felle um sich gewickelt, denn von draußen fegte ein kalter Wind herein. Eingehüllt in ihre Wärme und ihren ganz eigenen Duft nach Kräutern konnte er seine Anspannung ablegen und sich alles vom Herzen reden, was ihn bedrückte.

»Heute hat sie mir das erste Mal offen vor allen widersprochen.«

Lara gluckste leise. »Und? Was ist so schlimm daran, dass sie dir widerspricht?«

»Was so schlimm daran ist?! Sie schwächt damit meine Stellung! Stell dir mal vor, sie macht das vor dem versammelten Rat! Wie würde das bitte aussehen?«

»Aber deine Mutter widerspricht doch deinem Vater auch manchmal, kann ich mir vorstellen.«

»Ja, schon, aber das ist etwas ganz anderes.« Er sah zu ihr auf und entdeckte ein Funkeln in ihren Augen. Sie amüsierte sich. Er schnaubte erbost, was sie veranlasste, ihn anzustoßen und weiter nachzubohren.

»Inwiefern? Das verstehe ich nicht. Und sie vermutlich auch nicht.«

»Herrje! Weil...«, Farlan rieb sich über das Gesicht, »...weil es sich nicht gehört. Mutter macht das nur, wenn wir alleine sind, Vater, Sinan, sie und ich und eben... Shoona. In der Öffentlichkeit stehen sie stets zusammen, sie sind unverbrüchlich.«

»Hmm... vielleicht erkennt sie den Unterschied nicht? Hast du es ihr denn erklärt?«

»Was gibt es da zu erklären?!« Er runzelte die Stirn.

»Fal.« Sie strich ihm liebevoll über die Wange und wünschte sich gleichzeitig, sie würde endlich den Mut zu mehr aufbringen. »Wenn du ihr nichts erklärst, kann sie nichts lernen. Wenn du ihr keine Grenzen aufzeigst, kann sie diese nicht verstehen und respektieren. Sie stammt aus einem anderen Volk, schon vergessen?«

Lange sagte er nichts, doch schließlich seufzte er. »Das muss ich wohl.«

»Gleich morgen früh. Bevor die anderen es mitbekommen. Geh einfach in ihr Schlafgemach und überrasche sie. Das erhöht die Wichtigkeit deines Anliegens.«

»Du meinst, ich soll...?« Er richtete sich auf. Die Felle rutschten herunter, und sie wurden von einem Schwall kalter Luft getroffen.

Das war für Lara das Zeichen zum Aufbruch. »Himmel, Fal«, spottete sie, »was ist schon dabei? Du sollst doch bald das Bett mit ihr teilen!« ›Manchmal bist du wirklich schlimmer als jeder Mönch‹, hätte sie am liebsten noch hinzugefügt, doch dann hätte er mit Sicherheit viel mehr herausgehört, als ihr lieb war. Konnte er denn nicht einmal seine inneren Mauern überwinden, und sei es um des lieben Friedens willen?

Da hatte er etwas zum Grübeln, dachte sie, während sie durch die Gänge zurück zum Wasserfall und den dahinter liegenden Gärten der Heilerinnen ging. Wie üblich hatte sie seine Begleitung zurück abgelehnt. Es zuzulassen, schien ihr, das Schicksal herauszufordern. Nein, lieber ging sie allein und in völliger Dunkelheit. Selbst wenn jemand ihre Abwesenheit entdecken sollte, dann war sie halt im Garten spazieren gegangen, weil sie nicht schlafen konnte.

Mittlerweile konnte sie gelassen über all das nachdenken. Seit Kjells Fortgang war die Unsicherheit fort und sie ruhte in sich selbst. Wäre da nicht diese verräterische Sehnsucht nach ihm gewesen, sie hätte sogar glücklich sein können. Sie hatte eine anspruchsvolle Aufgabe, war rund herum beschäftigt, hatte Freunde, nicht nur ihn, sondern auch die anderen Frauen und ihre weit verstreut lebenden Freundinnen der königlichen Familie, zu denen sie regen Briefverkehr hielt. Warum also? Weil die Menschen nie genug bekommen können, belehrte sie die Stimme der Ehrwürdigen Mutter Meda in ihrem Kopf. Das war selbst bei den Schwestern und Mönchen so, die ja alles Streben nach Besitz und Familie aufgegeben hatten.

Aber eben nicht nach Macht. Und Lara hatte Macht, sogar sehr viel, da machte sie sich nichts vor. Dadurch, dass sie sich mit Farlan traf, mit ihm redete, seinen Problemen zuhörte und selber ihre Erkenntnisse aus der Stadt beitrug – wie viel bekam sie durch ihren Dienst dort mit! – begann auch sie ganz unmerklich die Geschicke des Königreiches zu lenken. Und seine künftige Ehe gleich mit, dachte sie mit einem innerlichen Stich und griff sich einen Schild, um trocken durch den Wasserfall zu gelangen.

Da hörte sie hinter sich ein Knirschen.

Sie fuhr herum. »Fal?« Sie lauschte in die Dunkelheit. War er ihr wider aller Abmachungen gefolgt? »Bist du das?«

Stille antwortete ihr. Lara kroch es kalt den Rücken herunter. Was war das gewesen? Ratten gab es in den Gängen des Palastes nicht. Hatte sich ein Stein gelöst? Das musste es gewesen sein, dachte sie, drehte sich wieder um und machte einen hastigen Satz durch den Wasserfall. Auch wenn sie sich selber eine Närrin schalt, so war sie doch erleichtert, als sie sicher in den mondbeschienen Gärten stand. Sich immer in Deckung der vielen Büsche haltend – Kjell hatte ihr den Weg damals gezeigt, um sich heimlich mit ihr treffen zu können, welch Ironie! – schlich sie sich zurück in ihre Kammer, nur um dort schlaflos den Rest der Nacht zu verbringen.


Shoona spielte tatsächlich die Unschuldige! Farlan kochte fast vor Wut, als er sie verließ. Sie tat ganz arglos, dabei wusste sie genau, was sie getan hatte, das könnte er schwören! Nun, heilsam war diese Begegnung allemal gewesen. Für ihn. Jetzt wusste er, woran er war, und er hatte ihr deutliche Grenzen aufgezeigt. Sollte sie dergleichen noch einmal tun, würde das das Ende ihrer Anwesenheit im Kreis der Beratungen sein. Das hatte er auch seinen Eltern gesagt, und als sie wie erwartet erstaunt ob seiner Entscheidung gewesen waren und ihn wegen seines groben Verhaltens rügten, tat er etwas, das er noch nie getan hatte: Er zog auch ihnen eine deutliche Grenze und steckte sein Hoheitsgebiet ab. Endlich, wie Noemi hinterher sehr treffsicher anmerkte, als Siri ihr ihr Leid klagte. Sie sollten sich aus den Angelegenheiten seiner Ehe heraushalten, ein für alle Mal. Darüber ärgerte er sich noch mehr, denn nun hatte Shoona erreicht, was sie wohl (so dachte er) damit bezweckt hatte: die Abspaltung von seinen Eltern. Doch dazu kam es nicht. Nichts zeigte mehr die Tatsache, dass sie ihn als Erwachsenen respektierten, als dass sie seine Entscheidung annahmen und sich daran hielten.

Shoona wurde daraufhin noch undurchschaubarer denn je. Siri und Noemi versuchten alles, sie einmal zu einem wirklich persönlichen Gespräch zu bewegen, doch die ewig freundlich-demütige Maske blieb an Ort und Stelle. Sie drangen einfach nicht zu ihr durch.

»Es beunruhigt mich«, gestand Siri eines abends im Kreis ihrer Freundinnen ein. Die Kinder waren im Bett, die Männer außer Haus, und sie hatten sich in ihrem Schlafgemach versammelt, nur die vier Frauen der Familie, Siri, Königsmutter Naluri, Noemi und Nuria, Siris Vertraute und Zofe.

»Sie muss sehr einsam sein«, meinte Naluri mit leiser Wehmut in der Stimme. Wie sehr erinnerte sie das an ihre erste Zeit in Gilda, und dabei hatte sie Freunde hier gehabt, ihre Schwester Amaya, nach der Siris älteste Tochter benannt war, und Ioanna, Fürst Bajans erste Frau. Und Thorald, nicht zu vergessen. Shoona dagegen war ganz allein, hatte keine Freundinnen, keine Bediensteten mitgebracht, ein Umstand, der nicht nur der Königsfamilie merkwürdig vorgekommen war. Sollten nicht die wichtigen Familien ihres Volkes danach streben, ihre Töchter nahe dem Zentrum der neuen Macht unterzubringen, sprich, zu verheiraten?

›Amayas Brief über die Stellung der Frauen in Shoonas Volk war zwar sehr aufschlussreich, aber das erklärt nicht ihr Verhalten‹, zeigte Noemi. ›Warum spielt sie uns immer noch etwas vor? Was ist dort im Gefangenenlager passiert? Und warum schreibt Amaya nichts darüber?‹

»Du hast recht. Warum ist sie, ohne eine Regung zu zeigen, von dort fort, von ihrem Bruder, ihrem letzten Halt? Und warum ist kein anderes Mädchen mit ihr gegangen?«, fragte Naluri.

»Ich wünschte, Naja würde darüber sprechen«, seufzte Siri. Die Fürstentochter aus dem östlichen Hirtenvolk lebte nach wie vor in den Häusern der Heilerinnen. Der Weggang ihrer Schwester Irun, die ja Farlans jüngeren Bruder Iovan geheiratet hatte und mit ihm wieder in den Osten gezogen war, hatte alle Verbindungen in die reale Welt gekappt. Anfangs hatte sie nur da gelegen, in einem ewig währenden Dämmerzustand, musste sogar gewaschen und gefüttert werden, und selbst jetzt, nach so langer Zeit, erholte sie sich nur langsam und war nicht belastbar.

»Es nützt nichts, darüber zu spekulieren. Solange wir nicht Amaya in aller Deutlichkeit fragen – und wer weiß, wer den Brief zu lesen bekommt! – werden wir es wohl kaum erfahren.« Naluri stand auf. »Es ist spät. Lasst uns zu Bett gehen. Gute Nacht, meine Liebe.« Sie küsste Siri auf die Stirn, und auch Noemi verabschiedete sich.

Während Naluri eine Wache rief, sie in das Haus des Wissens zu begleiten, ging Noemi allein durch den Palast in ihre Gemächer. Sie fühlten sich sicher im Palast, dachte der Schatten und unterdrückte ein Schnauben. Wie von selbst blieb er an Ort und Stelle und beobachtete weiterhin die Tür von Siris Schlafgemach. Die kleine Taubstumme interessierte ihn nicht, war ihm sogar ein wenig unheimlich. Sie hatte sich schon mehrmals in seine Richtung gedreht, als er ihr gefolgt war. Besaß sie etwa die gleiche übernatürliche Gabe wie das Hexenweib und deren Tochter? Oder der Bastard der Königin? Da ging er ihr lieber aus dem Weg.

Vielleicht kam Siri ja noch einmal heraus, mit gelösten Haaren, nur im Nachtgewand. Da, da war sie! Welch ein Anblick! Sie gehörte ihm! Wie ihre Freundin seinem Vater gehört hätte, wären da nicht die verdammten Kameraden gewesen, damals in Branndar. Er wollte sie, und er würde sie bekommen!

Nur, sie war niemals allein. Immer war jemand bei ihr, sei es eine Wache, ihre Zofen, ihre Kinder, die Kinderfrauen, die Freundinnen, ihr Mann und ihre Söhne, diese riesige Familie. Wie sollte er je an sie herankommen, verdammt!?

Sie ging ins königliche Bad. Ah, das war ein krönender Genuss dieses Tages! Als Siri sich das Gewand abstreifte und vorsichtig mit der Hilfe ihrer Zofe ins Wasser stieg, schaute er zu und steigerte sich in eine derartige Erregung hinein, dass er sich tief unter die Festung zurückziehen musste, sonst hätte man ihn gehört.


Im selben Moment schloss Nathan, der einen letzten Kontrollgang durch den Palast machte, die Augen. Wieder hatte er dieses Gefühl, einen Schauder der Gefahr wie schon so oft in diesem Winter. Nur fand er einfach nichts! Seit Altheas Fortgang hatte er sich angewöhnt, diese Kontrollgänge zu machen, er wurde einfach das Gefühl nicht los, dass etwas in der Festung lauerte. Er hatte sie schon so oft von oben bis unten durchsuchen lassen, auch wenn das seinem Ansehen bei den Männern sehr geschadet hatte. Die zweifelten nämlich langsam an seinem Verstand und schüttelten die Köpfe über ihren jungen Kommandanten, wenn sie auch Verständnis für seine Furcht als solche hatten. Schließlich waren Angehörige der Königsfamilie durch Verrat getötet worden, und einer der Verräter lief noch immer frei herum, soviel wusste die Leibgarde des Königs im Gegensatz zum Volk. Da war natürlich Vorsicht geboten, doch sie hätten es nie für möglich gehalten, dass sich jemand unbemerkt an ihnen vorbei in die Festung einschleichen könnte.

Nun, wie sehr sie sich damit irrten, das sollte sich bald zeigen.


Danach war er ganz ruhig. Er saß dort in der Dunkelheit und überlegte. Noch war der Winter lang, aber er musste sich sputen, wollte in aller Sorgfalt seine Falle aufstellen. Er musste etwas tun, was sie alle vom Hof fortlockte oder sie derart beschäftigt hielt, dass die Königin endlich einmal unbewacht war. Vor allem den Bastard der Königin mit seinen übernatürlichen Sinnen. Ein Unfall, etwas weiter entfernt, ein Brand oder... er hielt inne mit seinen Betrachtungen.

Er hatte noch einen Trumpf, nein, sogar mehrere. Hämisch lachte er auf. Oh ja, das waren Dinge, welche die Gesellschaft Gildas wirklich erschüttern konnten. Und Nathan, diesen Bastard, vom Hofe gleich noch dazu verbannen.

Gerüchte verbreitete man aber nur, wenn man sie an den richtigen Stellen platzierte, sprich dort, wo sich alle trafen und die Königsfamilie ausgiebig beklatscht wurde: in der Wirts- oder vielmehr Hurengasse. Aber es war riskant. Aus seinen langjährigen Beobachtungen wusste er, dass die Huren für die Königsfamilie spionierten. Deshalb hatten er und seine Kumpane niemals ein Wirtshaus betreten, sondern sich immer an einem der offenen Stände mit Bier und Wein versorgt und stets die eigenen Becher benutzt. Denn der Bastard der Königin war bekannt dafür in gewissen Kreisen, dass er Gegenstände nur zu berühren brauchte und wusste, wo derjenige war, der sie zuletzt benutzt hatte. Ein Hexer eben, der verbrannt gehörte.

Also, wie sollte er das anstellen, mit den Leuten reden, ohne dass diese wussten, wer er war, so lange, dass er unauffällig die Gerüchte platzieren konnte? Sich eine neue Identität zuzulegen, das kostete Zeit, Zeit, die er nicht mehr hatte. Er würde lange nicht mehr in die Gänge zurückkehren können, nicht mehr wissen, was vor sich ging, nicht mehr die geheimen Dinge des Königs hören und, vor allem, nicht mehr Sie sehen. Sie und ihre Mädchen. Also musste er einen anderen Weg finden.


Es begann ganz unmerklich. Ein Pergamenthändler meldete einen Einbruch in seinem Lager und den Diebstahl eines großen Stapels Pergaments bei den Stadtwachen. Das war an sich schon ein Ereignis, denn dergleichen kam dieser Tage nicht mehr besonders häufig vor. Aber es war halt nicht genug, als dass es die Kundschafter oder die Männer der Königsfamilie erfuhren.

Das änderte sich jedoch sehr schnell. An einem verschneiten und sehr windigen Markttag regnete es plötzlich Pergamentstreifen mitsamt dem Schnee vom Himmel. Sie segelten in alle Winkel der Stadt, landeten in Gassen, auf Dächern, in Ständen und gelangten sogar in die äußeren Handwerkerviertel. Sie bekamen hinterher nie heraus, von wo der Verräter diese ausgeschüttet hatte.

Nathan platzte an jenem düsteren Morgen mitten in das Frühmahl der Königsfamilie hinein. »Seht euch das an!« Er warf ein Bündel Pergamentstreifen zwischen seinen Eltern und Farlan auf den Tisch. Alle Kinder reckten die Hälse und Hände, um etwas erhaschen zu können, aber Farlan brachte diese rasch in Sicherheit und gab sie seinem Vater.

Die Frauen und Kinder beobachteten Currann genau, als er einen Streifen aufnahm und zu lesen begann. Sogleich lief er dunkelrot an. Steile Zornesfalten erschienen auf seiner Stirn. Die Kinder hielten den Atem an, manches der jüngeren duckte sich sogar in Erwartung dessen, was da jetzt kam, wie sie alle genau wussten.

Currann sprang auf. Sein Stuhl flog zurück und krachte dumpf an die Wand. »Wo kommt das her?!?« Er donnerte die Faust auf den Tisch, dass Becher und Teller schepperten. Die Kinder zuckten zusammen.

»Was steht da drin?« Siri wollte nach einem der Pergamentstreifen greifen.

»Nein, du liest das nicht!« Currann schlug mit der flachen Hand auf das Bündel und hielt es fest.

»Aber Currann...«

»Lass mich lesen, Vater«, ging Farlan dazwischen. »Komm. Gehen wir nach nebenan.« Nur mühsam gelang es ihm, seinen wutschnaubenden Vater samt der Pergamente hinauszubugsieren. Alle atmeten auf, als die Tür hinter ihnen zu fiel.

»Was stand da drin?!«, riefen alle Geschwister durcheinander, kaum dass sie hinaus waren.

Dieselbe Frage stellte Farlan nebenan seinem Bruder. Es war klar, dass er aus ihrem Vater keine vernünftige Antwort herausbringen würde. Noch nicht.

»Lies.« Nathan gab Farlan ein Stück Pergament, das er vorsorglich in der Hand behalten hatte.

»›Die Königin ist eine unreine Frau. Sie hat einem Bastard das Leben geschenkt, in Branndar, vor der Heirat mit dem König‹.« Farlan stockte der Atem, als er das las. »Wo kommt das her?!«

»Das weiß ich nicht«, presste Nathan hervor. »Aber noch schlimmer ist dies. Hier werde ich namentlich genannt und hier steht... hier steht...«

»Sprich es nicht aus!« Plötzlich legte sich die Hand seines Vaters auf seine Schulter. Curranns heilloser Zorn war sofort in den Hintergrund getreten, als er sah, wie sein Sohn litt.

»Das muss ich, Vater.« Nathan holte tief Luft. »Hier steht, dass ich Ioanna umgebracht habe. Als ich herausfand, dass sie ein Bastard ist. Der Bastard von Fürst Bajan und Meda. Der Frau«, er sah auf das Pergament herab, »›die sich jetzt die Ehrwürdige Mutter nennt.‹ Aber das ist noch nicht alles.« Nathans dunkle Augen richteten sich auf Farlan. »Du sollst eine Geliebte haben. Iovan wird ein Sodomit genannt, Amaya die Tochter einer Hure.«

»Das... das...« Currann rang nach Luft und bekam keinen Ton mehr heraus.

»Setz dich, Vater. Setz dich!«, rief Farlan und drückte ihn auf den nächstbesten Sitz. Seine Gedanken rasten, noch mehr als die seines Vaters, aber er konnte sich beherrschen, man sah es ihm in keiner Weise an. Blitzschnell konnte er die Lage folgerichtig einschätzen. »Das ist ein Anschlag auf die Königsfamilie und unser Reich in Gänze. Wir müssen sofort reagieren, und zwar offen, sonst sähe es so aus, als wollten wir etwas vertuschen.«


Die eilig einberufenen Ratsmitglieder sahen das genauso. »Diesem Verräter müssen wir mit aller Härte begegnen!« Ratsherr Sinans Gesicht war ganz weiß vor Wut. Mittlerweile waren noch mehr furchtbare Dinge im Umlauf, solche, die auch ihn selbst und die alten Kameraden des Königs betrafen. Er solle Schuld am Tod seiner Mutter sein und seine Familie bestohlen haben. Letzteres stimmte zwar, aber seine Mutter war durch einen Unfall, durch die Unachtsamkeit seines älteren Bruders zu Tode gekommen. Aber es kam noch besser. Seine Frau Daria wurde als Hure des alten Königs genannt, ebenso wie Curranns verstorbene Schwester Leanna, welche bei der Eroberung Gildas ums Leben gekommen war. Fürst Tamas von Nador als Mörder eines gewissen Mädchens Mari, dass er entehrt und dem Tode überlassen haben sollte. Auch das stimmte nicht. Das Mädchen, Siris Cousine, war in einer stürmischen Winternacht in Branndar gestorben, nach einem Streit in ihrer Familie. Das alles war derart mit Details gespickt, teils Wahrheit, teils Wahn, dass es nur eines bedeuten konnte: Goran steckte dahinter, Siris Beinahe-Cousin aus Branndar, der Verräter, den sie seit Jahren suchten.

Obwohl Currann alles versucht hatte, seine Frau vor diesen furchtbaren Neuigkeiten zu schützen, hatte Siri davon erfahren und sich seitdem in ihr Schlafgemach eingeschlossen und niemanden mehr an sich herangelassen. Danach war Currann kaum mehr zu bändigen gewesen, und es hatte mehr als deutliche Worte seiner Söhne und seines engsten Freundes Sinan bedurft, ihn zur Räson zu bringen. Sie hatten ihn zu Siri geschickt, damit die beiden sich gemeinsam beruhigen und gegenseitig trösten konnten.

Andere jedoch, die nicht zum engsten Kreis der einstigen Kameraden gehörten, verhielten sich ganz anders. Es war ja nicht so, dass die Ratsherren alle zu den Günstlingen des Königs gehörten. Sie waren samt und sonders gewählt, Vertreter ihrer Zünfte und ganz gewiss nicht dumm. Als solche konnten und wagten sie, ihrem Herrscher – oder seinem Sohn – zu widersprechen.

»Woher kommen diese Anschuldigen? Und, mit Verlaub, Hoheit«, er wandte sich an Farlan, »woher hat der- oder haben diejenigen derart detaillierte Kenntnisse über die königliche Familie?«

Es wurden immer mehr Stimmen laut. »Was verschweigt Ihr uns? So ist es doch, oder nicht?« Plötzlich, so schnell konnte man gar nicht schauen, taten sich tiefe Gräben in der versammelten Ratsherrenschaft auf.

Farlan musste sehr schnell eine instinktive Entscheidung fällen, denn sein Vater wäre auf keinen Fall in der Lage, hier vermittelnd einzugreifen. »Es stimmt«, sagte er knapp. Es wurde still in der Runde, als langsam diese Worte in die erregten Gemüter sickerten. »Ihr habt recht, wir verschweigen etwas, schon seit Jahren. Aber das aus guten Gründen. Sehr guten Gründen, um den Feinden unseres Reiches nicht noch mehr Angriffsfläche zu bieten.« Er entschied, dass sie eine ehrliche Antwort verdient hatten. Also klärte er sie auf, über die Verräter, die Anschläge auf die Familie, die Morde an Ioanna, Phelan und Jeldrik. »Sie versuchen uns zu treffen, ganz tief hier drinnen!« Zur Verdeutlichung schlug er sich auf die Brust.

»Verzeiht, Hoheit, das erklärt aber noch nicht diese ungeheuren Anschuldigungen gegen Ihre Majestät.«

»Jedes Gerücht hat auch eine Grundlage«, fügte ein anderer hinzu.

»Ja, das ist richtig, aber was...«

Farlan wurde von dem Geräusch eines sich öffnenden Tores unterbrochen. Alle wandten sich um. Herein kamen Siri und Currann, Seite an Seite, und hintendrein schritt eine Frau in einem weißen Vollschleier. Es war die Ehrwürdige Mutter Meda. Als die Ratsherren sie erblickten, verstummten alle und verneigten sich. Ehrfürchtig, fast schon furchtsam, beobachtete Farlan, denn vom Anblick des Königspaares konnte einem unheimlich werden, so bleich waren seine Eltern. Alle erwarteten einen Ausbruch des Königs, doch sie wurden überrascht, denn es war nicht Currann, der das Wort ergriff, sondern Siri. Er selbst blieb im Hintergrund genauso wie Meda, während Siri in die Mitte der Versammlung trat.

»Die Grundlage dieser Gerüchte bin ich, ich allein.« Sie sah in die Runde, begegnete jedem Ratsherrn Auge in Auge. »Jener Mann, der Uns auf so schändliche Weise verraten hat, der auch für den Mord an Phelan und Jeldrik und an unserer Schwiegertochter Ioanna verantwortlich ist«, bei dem Wort ›Mord‹ ging ein Raunen durch die Runde, »jener Mann wollte mich einst mit Gewalt in eine Ehe zwingen. Er betrachtete das als Geschenk, weil ich in seinen Augen keine Wahl hatte. Und die hätte ich auch nicht gehabt, wären da nicht mein Mann und seine Kameraden gekommen, uns zu beschützen. Mich und meinen Sohn.« Sie bedachte Nathan mit einem liebevollen Blick, und nur wer sie sehr genau kannte, konnte ahnen, wie viel Kraft sie dieser Blick kostete.

Siri fuhr fort: »Dieser Feigling, der Ziehsohn meiner Tante, und sein Vater, der ein noch viel größerer Feigling war, hatten sich verkrochen und uns Frauen und Kinder schutzlos in dem Angriff der feindlichen Goi zurückgelassen. Wir schützten unsere Kinder vor dem Tode und bezahlten einen hohen Preis dafür. Nur, dass sich mein Preis in ein Geschenk wandelte in Gestalt dieses stattlichen jungen Mannes, der jetzt über unser aller Sicherheit wacht. Mein Gemahl hat mich damals gerettet, er und seine Kameraden, uns alle in Branndar. Sie lasteten mir nicht an, was geschehen war, und er gab mir seine Hand, anstatt wie jener Verräter über mich Gericht zu halten und mir eine Schuld zuzusprechen, die seiner eigenen Feigheit entsprang.«

»Es ist ein Schicksal«, nun erhob Meda ihre Stimme und trat in den Kreis, »das auch mich ereilt hat, als ich noch ein junges Mädchen war, schutzlos und allein in der Steppe.« Sie hob ihre Hände und schlug ihren Schleier zurück. Nie, niemals hatte dies eine Ehrwürdige Mutter in der Öffentlichkeit getan. Die Ratsherren starrten sie an. Diesen Anblick würden sie nie wieder in ihrem Leben zu sehen bekommen, das wussten alle, und es verging ein Augenblick des unschicklichen Starrens, bevor sie betreten, wie ertappt, den Blick senkten. Meda war sich dieser Wirkung wohl bewusst, und sie wusste auch, weshalb sie das tat. »Dieser Mann ist ein Lügner, der es darauf anlegt, alles zu zerstören, was uns lieb und teuer ist. Er nimmt Rache an der Königin, die ihn einst zurückwies, und an allen, die seinerzeit den Widerstand gegen die Feinde unseres Reiches aufrecht hielten. Und wenn man sich die Schmähschriften genau anschaut, fällt einem eines auf: Die Beschuldigten und angeblichen Opfer sind entweder tot oder aber sie sind Frauen. Weil Frauen sich nicht verteidigen können. Sie haben keine Rechte.«

»Es muss aufhören, es muss endlich aufhören.« Siri trat an ihre Seite. »Ich will, dass es den Frauen erlaubt ist, Klage zu erheben, vor Gericht zu ziehen, wenn ihnen ein Unrecht geschehen ist, und ich bringe hier und jetzt ein Gesetzesersuchen ein. Unrecht sowohl materieller, als auch... nun, körperlicher Art.«

»Wenn das geschehen ist, sollen Frauen und Mädchen, aber auch Knaben bei uns im Orden vorstellig werden und sich untersuchen lassen können. Das soll der Sicherung der Zeugenschaft dienen«, ergänzte Meda.

»Und ich nehme dieses Gesuch als mein eigenes auf und gebe ihm statt«, sagte Currann und betrat nun endlich den Kreis. Er bot Siri den Arm und geleitete sie zu ihren Sitzen.

Aber sie setzte sich nicht, sie blieb stehen. »Was auch immer der Verräter geplant hat, er darf keinen Erfolg haben.«

»Er sucht, die Grundlagen unseres Volkes zu erschüttern. Doch das wird ihm nicht gelingen. Ich habe Siri zur Frau genommen und Nathan als meinen Ziehsohn anerkannt. Damit ist sie über jede Verurteilung erhaben.«

»Niemand urteilt über Euch, Hoheit«, brach es aus einem der Handelsherren hervor. Es war nicht Sinan, der hielt sich bewusst zurück, sondern einer der frei Gewählten. »Wir wollten Euch keine Pein bereiten, wir wollten es nur verstehen. Ich bin sicher, jeder hier und jede Eurer Gemahlinnen hätte genauso gehandelt, wären sie in eine solche Lage geraten. Verzeiht uns, Hoheit.« Er verneigte sich vor Siri.

»Die Pein habt nicht Ihr mir bereitet, sondern der Verräter«, erwiderte Siri. »Lasst uns nun über unsere Eingabe beraten«, fügte sie hinzu und setzte sich.


Es war eine Sensation. Nicht nur, dass die Königin sich öffentlich geäußert und ihr tiefstes, dunkelstes Geheimnis enthüllt hatte, nein, es war die Tatsache, dass sie, eine Frau, ein Gesetz eingebracht hatte. Das Ziel des Verräters, Siri in Misskredit zu bringen, wandelte sich ins Gegenteil. Vorher war sie bewundert und verehrt worden. Jetzt wurde sie zur lebenden Legende.

Aber ein Ziel erreichte der Verräter doch: Hinterher brach Siri zusammen. Niemand wusste, wie viel Kraft es sie gekostet hatte, diesen Schritt zu tun, und vor allem, ihren Mann im Zaum zu halten und durchzusetzen, dass sie allein vor den Rat treten und sprechen konnte und er sich im Hintergrund hielt. Jetzt war ihre Kraft verbraucht. Meda verordnete ihr strenge Bettruhe, denn sie war nicht mehr jung und erwartete zudem ein Kind.

Fortan ruhte Siri wirklich, nur in Gesellschaft ihrer Frauen. Selbst die Angehörigen und Bediensteten des Haushaltes bewegten sich nur noch auf Zehenspitzen durch die Räume und suchten sich außerhalb der königlichen Gemächer Beschäftigung, um sie nicht zu stören. Es war das, was sich der Verräter erhofft hatte. Jetzt war sie allein, fast allein!

Der Hof und das Heer, ja die ganze Stadt fiel statt in winterliche Schläfrigkeit in Geschäftigkeit. Die Soldaten suchten wieder einmal vergebens, die Leute hatten etwas, das sie ausgiebig betratschen konnte. Dass die Königin einen Bastard geboren und ihr der König dennoch die Hand gereicht und sie und ihr Kind vor dem Tode bewahrt hatte, das war ein Stoff, der mit einem sehnsüchtigen Seufzer von den Frauen und heimlicher Bewunderung von den Männern erzählt wurde, und niemand, wirklich niemand verdammte sie dafür, auch die Mönche nicht.

Das neue Gesetz wurde in bemerkenswerter Schnelligkeit verabschiedet. Nicht, weil die Männer des Rates besonders hinter diesem Vorschlag standen, wie Farlan eines Morgens sarkastisch seiner Braut gegenüber bemerkte, die schon vor lauter Freude in die Hände klatschte, sondern weil keiner der hohen Herren sich traute, sich gegen Königin und König zu wenden.

»Du wirkst überrascht und enttäuscht?«, fragte Farlan mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Nun, ich...« Shoona schaute rasch zur Seite.

Das tat sie immer, wusste Farlan mittlerweile, wenn ihr spontan keine passende Antwort einfiel und sie fieberhaft nach einer suchte. Das sollte sie sich abgewöhnen, sonst wäre sie auf Dauer zu durchschaubar, dachte er. »Hast du gehofft, dass sich der Sinn der hohen Herren wandelt? Da verlangst du zu viel. Du kannst Jahrtausende altes Denken nicht einfach so ändern.«

Ihr Kopf fuhr hoch. »Wenn die Frauen erst einmal...«

»Die Frauen?« Er seufzte ungeduldig. »Es wird sich keine der öffentlichen Schande aussetzen. Gesetz hin oder her, ich rechne nicht damit, das es jemals zu einer Anklage kommt. Das wird keine Frau über sich ergehen lassen.«

Damit war ihr die Freude genommen. In seiner gewohnten kühlen Art hatte er ihr die Grenzen dieser Gesellschaft aufgezeigt, und Shoona schluckte, wie sie schon vorher so vieles geschluckt hatte. Aber innerlich wurde sie stetig rebellischer. Sie wollte etwas ändern, komme, was wolle!


Unterdessen streifte Nathan ruhelos durch den Palast. Er spürte, wie es sich dichter um sie herum zusammenzog. Gefahr, Dunkelheit, alles zusammen. Seit Fayes Fortgang hatte er wüste Träume von Messern, von Blut. Es war, als hätten sich alle seherischen Strömungen auf ihn konzentriert. Er wusste, dass er kurz davor war, den Rückhalt seiner Männer zu verlieren, aber er konnte es nicht ändern, getrieben, wie er war. Alles hatte er mit angehört, die Ratssitzungen, Siris Offenbarung. Dass seine Herkunft jetzt offen lag, störte ihn wenig. Seit jeher war er der fremde Sohn gewesen, der merkwürdige Sonderling, was änderte das jetzt noch? Nein, ihn störte, dass seine Mutter seit dem Vorfall geschwächt darniederlag. Er hätte vor Wut die Wände hochgehen mögen. Genau das hatte der Verräter beabsichtigt, da war er sich sicher, und daher ließ er die königlichen Gemächer niemals unbeaufsichtigt und ordnete auch an, dass immer mindestens zwei Frauen bei seiner Mutter wachten, wenn der König nicht zugegen war, trotz aller Proteste Siris, die meinte, in ihrem eigenen Schlafgemach bräuchte sie keine Hilfe.


Doch da täuschte sie sich. Er beobachtete alles, Tag und Nacht.

Und er fluchte. Dieser Bastard offenbarte nun immer mehr seine übersinnlichen Fähigkeiten. Keine Gelegenheit, in das königliche Schlafgemach vorzudringen. Im Gemach selbst hatte er keinen Beobachtungsposten, die Schächte waren zu schmal, aber davor. Er hatte gelernt zu zählen. Welche Frau war gerade bei ihr, welche nicht? Wirklich geschickt angestellt, dachte er. Mit einer allein würde er fertig werden, aber nicht mit zwei oder drei. So dumm war er nicht zu glauben, dass Frauen sich nicht wehren konnten, und ihr Geschrei hätte im Nu die Wachen alarmiert. Nein, er musste sich im Gemach verbergen, direkt vor ihrer Nase, und dann zuschlagen, wenn sie am wenigsten damit rechnete.

Je näher die Gefahr kam, desto dichter und öfter hielt sich Nathan in der Nähe der königlichen Gemächer auf und war schließlich kaum noch davon wegzubringen. Er wachte und wurde stetig müder, und mit der Müdigkeit kam ihm sein Gespür abhanden. Zu lenken hatte er es noch nie vermocht, wenn er keinen Gegenstand berührte, und er war nun erst recht nicht in der Lage, dem Wust der Bedrohung eine Gestalt oder einen Zeitpunkt zu geben. Es machte ihn hilflos, genauso wie seine Familie, allen voran Currann, der dieses Wissen am liebsten aus seinem Ziehsohn herausgeprügelt hätte. Nathans Sohn, Klein-Bajan, strapazierte ihre Nerven zusätzlich, denn er fragte unentwegt nach seinem Vater und war kaum zu bändigen und mischte die Schar der Cousins und Cousinen derart auf, dass Thorald keinen anderen Ausweg sah, als ihn zu seinen anderen Großeltern, zu Bayram und Tabea, zu schicken.


Es kam der Tag, da Shoona der Familie ihre neu eingerichteten Gemächer zeigen wollte, die sie nach der Eheschließung mit Farlan beziehen wollte. Er hatte ihr dabei fast völlig freie Hand gelassen, nur festgelegt, was es kosten durfte, und den Wunsch nach einem eigenen Studierraum geäußert. Auf das Ergebnis war er selbst gespannt, denn Shoona hatte nicht erlaubt, dass sie vorher in die Räume schauten, sehr zum Vergnügen der jüngeren Kinder, die sich einen steten Wettkampf mit ihr geliefert hatten, ob es ihnen nicht doch gelang. Aber wie es schien, war seine künftige Frau Siegerin in dem Wettstreit geblieben, dachte Farlan milde amüsiert und auch ein wenig verächtlich darüber, wie wenig seine jüngeren Geschwister den Palast kannten. Aber sie hatten ihn ja auch nicht beim Wiederaufbau erlebt wie er und Nathan und Iovan damals, einen riesigen Spielplatz voller geheimer Schlupflöcher und verschütteter Kammern. Und mordsgefährlich, erinnerte er sich.

Nein, es war besser so, dachte er und nickte Shoona zu. »Heute nach der Ratssitzung und dem Mittagsmahl werden wir sie besichtigen, einverstanden?«

»Ooch, warum nicht jetzt schon?«, protestierten die Kinder.

»Weil ihr jetzt Unterricht habt. Abmarsch!«, befahl Farlan barsch, was seinen Vater, der gerade ein Pergament las, zu einer hochgezogenen Augenbraue veranlasste und Farlan etliche hinter seinem Rücken rausgestreckte Zungen und Grimassen einbrachte, die er nicht sah, aber Shoona zu einem feinen Lächeln brachte.

»Was ist?«, fragte Farlan. Currann ließ das Pergament sinken und runzelte die Stirn.

»Nichts.« Shoona stand auf und verbarg ihr Amüsement hinter Geschäftigkeit, und die Kinder sahen zu, dass sie fortkamen.

Currann versenkte seinen Blick wieder in das Pergament, aber insgeheim dachte er bei sich, wie sehr Shoona schon von den Kindern ins Herz geschlossen worden war. Sie war wie eine ältere Schwester für sie, ein Ersatz für Amaya und Tabitha, die beide verheiratet und fort waren. Wie oft hatte er schon beobachtet, dass sich Shoona in einem heimlichen Pakt mit den Kindern gegen Farlan zusammenschloss und seinen störrischen Ältesten so zu etwas bewegte, was er eigentlich gar nicht wollte? Wäre es nicht so bitterernst gewesen, er hätte sich darüber amüsiert. Würden die beiden eine gute Ehe führen ähnlich wie er und Siri oder nur ihre Pflicht erfüllen wie so viele in eine arrangierte Ehe gedrängte Paare? Es machte ihm Sorge, wie kühl Farlan immer noch mit seiner Braut umging, wie scheinbar interesselos er ihr die Einrichtung seines neuen Heims überließ. Liebe konnte man nicht befehlen, aber was wünschte er, er könnte es als Vater und König tun!


Sie wollten also heute Mittag die neuen Gemächer besichtigen, das hieß, sie waren fast alle fort!, frohlockte der Verräter. Das war die Gelegenheit! Er musste es einfach hinbekommen, sich einzuschleichen, er musste einfach!

So nutzte er den turbulenten Aufbruch der Königskinder, um sich in einen engen Heizschacht zu quetschen, von dem er wusste, dass sich das Gitter am anderen Ende genau gegenüber der Tür zum Schlafgemach der Königin befand und sich ganz leicht aufdrücken ließ. Dort verharrte er in dieser unbequemen Lage und lauerte darauf, dass die Königin endlich allein gelassen wurde.

An diesem Vormittag wurde der Wachplan mehrmals umgeworfen. Nathan war rastlos wie nie, aber da er Dienst hatte und nicht einfach seinen Posten verlassen konnte, um sich zurückzuziehen und in Ruhe diese Ahnung der Gefahr zu ergründen, blieb ihm nur, seine Männer herumzuscheuchen und sie den Palast mehrmals durchsuchen zu lassen. Vergeblich, wieder einmal.

»Ich möchte wissen, was das soll«, hörte Farlan eine der Wachen sagen. Er sah, dass die anderen Ratsmitglieder auf dem Weg zur großen Halle waren, zählte durch und erkannte, dass er noch ein wenig Zeit hatte. Noch waren nicht alle dort. »Entschuldigt mich einen Moment«, sagte er zu seinem Vater und Sinan. Er ging rasch davon, bevor noch jemand fragen konnte, und suchte Nathan auf. »Ist etwas?«, fragte er rundheraus.

Nathans schwarze Augen wurden stechend, so sehr fuhr er auf. »Ich weiß es nicht! Ich... ich weiß es einfach nicht! Ich spüre... Gefahr.«

»Wo?!« Farlan sah sich um.

»Ich kann es nicht sagen! Irgendwo hier... verdammt!« Nathan rieb sich rastlos über das Gesicht, als wolle er die Gedanken vertreiben. »Es ist...« Hilflos zuckte er die Schultern.

»Ja.. nur wann?! Und wie? Himmel, Nat!«

»Ich weiß. Meine Männer halten mich schon für verrückt. Was soll ich nur tun?«

»Soll ich dich heute von deinem Posten freistellen?« Farlan sah über die Schulter und zog seinen Bruder in eine uneinsehbare Nische. »Ehrlich, Nat, das würde dir helfen und uns auch.«

»Um dann entehrt und allein mit meinen Gedanken da zu hocken? Nein!« Nathan ballte die Fäuste. »Ich stelle die Wachmannschaft noch einmal um, sodass ich mich allein auf Erkundigungsrundgang begeben kann, und ziehe sie um die große Halle herum zusammen. Denn wo sollte er sonst zuschlagen als dort?«

Es war der größte Irrtum seines Lebens.


Die Kinder waren fort. Die Männer auch, mit Sicherheit im Rat, um seine Schriften zu begutachten. Wie viele Stunden er darüber zugebracht hatte!

Jetzt kamen zwei Zofen aus dem Gemach der Königin. Wie viele waren denn dort noch drin? Der Verräter zischte böse und so laut, dass eine der Frauen einen Satz machte und sich umdrehte.

»Was ist?«, fragte die andere.

»Hast du das nicht gehört?«

Der Mann im Schatten hielt die Luft an. Sie brauchte sich nur zu bücken und sie wären sich Auge in Auge gegenüber.

»Es klang wie eine Schlange.«

»Eine Schlange? Du bist verrückt. Hier gibt es keine Schlangen!« Die beiden lauschten noch eine Weile, aber als nichts mehr zu hören war, zuckten sie mit den Schultern und gingen weiter.

Der Verräter stieß die angehaltene Luft aus. Das war knapp gewesen! Er sah zur Tür. Sollte er jetzt...? Doch da ging sie schon wieder auf, und anhand der Stimmen von innen konnte er hören, dass dort noch mehrere Frauen und kleine Kinder waren. Verdammt! Das hieß wieder warten, warten, warten! In dieser unbequemen Lage wurde seine Geduld und seine Ausdauer auf eine harte Probe gestellt. Nicht nur, dass die Königin beschlossen zu haben schien, ihre Mägde mit allerlei Besorgungen hin- und herzuschicken, plötzlich war da auch der Bastard, direkt vor der Tür, hielt inne, lauschte. Ahnte er etwas? Der Verräter war kurz davor zu verschwinden, machte sich ganz klein. Keine Bewegung, nicht einmal einen Atemzug wagte er. Würde er ihn spüren? So nahe waren sie einander noch nie gewesen. Er bräuchte nur die Hand auszustrecken und er würde ihn berühren. Doch da seufzte Nathan, hob die Hand und klopfte an die Tür seiner Mutter. Eine kurze Nachfrage, ob alles in Ordnung sei, dann stapfte er davon.

Still vor sich hinfluchend lockerte der Verräter seine verkrampften Muskeln. Würde er denn nie die Gelegenheit bekommen?

Zum Mittagsmahl war er mit seiner Geduld am Ende. Lange konnte er nicht mehr in dieser Haltung ausharren, sonst würde er sich nie wieder bewegen können. Jetzt kamen sie auch noch alle wieder herein, selbst die Kinder, die sonst bei dem Temorer außerhalb des Palastes speisten! War er denn von Pech verfolgt? Er wollte sich gerade leise zurückziehen, da hörte er eines der jüngeren Kinder nach den neu eingerichteten Räumen fragen und ob denn alle mitkommen würden.

Ja! Bitte sagt ja! Die Neugier war die größte Schwäche aller Menschen. Jetzt würde sein Wunsch in Erfüllung gehen! Dann wäre sie ganz allein und sein! Endlich sein!


Nathan öffnete die Augen. Wieder fühlte er diesen Stich. Er scheuchte seine Untergebenen auf eine neue Wachrunde und übernahm höchst persönlich die Kontrolle der königlichen Gemächer. Aber die vielen Kinder, die aufgeregt durcheinander wuselten, machten es ihm unmöglich, sich zu konzentrieren. Am liebsten hätte er sie angeschrien zu verschwinden. Er wusste, dass etwas nicht stimmte, hier, in diesem Augenblick. Stattdessen hockte er stumm da und rührte sein Essen kaum an.

»Nat.« Shoona berührte ihn leicht am Arm. Überrascht schaute er auf und bemerkte, dass alle anderen fertig gegessen hatten und bereits aufgestanden waren. »Willst du nicht mitkommen? Unsere künftigen Räume hast du ja noch gar nicht inspiziert.« Dabei lächelte sie ihn an und verbarg kaum ihre damit verbundene Sorge.

»Ach, komm doch mit, Nat!«, riefen die Kinder.

»Dann bist nicht mehr so traurig, Vater«, fügte der kleine Bajan hinzu, der eigens für diesen Tag wieder hier sein durfte, und griff seine Hand.

Es zerriss Nathan fast das Herz bei den Worten seines Sohnes. Wahrlich, er war viel zu wenig für ihn da gewesen in letzter Zeit! »Also gut. Es kann ja nicht schaden, auch dort nachzusehen.« Bereitwillig ließ er sich mitziehen und warf Shoona einen dankbaren Blick zu, den sie mit einem stillen Lächeln beantwortete.

In dem Moment klopfte es an dem Tor zu den königlichen Gemächern. Herein kam der Herold. »Die Ehrwürdige Mutter Meda wünscht nach der Königin zu sehen«, verkündete er.

»Ich hoffe doch sehr, dass ihr eure Mutter nicht mit auf diesen Rundgang nehmen wollt«, rügte Meda sofort, als sie den Grund für den Trubel erfuhr. »Sie muss ruhen.«

»Natürlich nicht«, antwortete Shoona und knickste vor ihr, wie es sich gehörte. »Ich werde ihr die Räume ein andermal zeigen.«

»Danke, Meda«, sagte Siri kurz darauf, als die Meute verschwunden war. Sie ruhte in einem Berg aus Kissen und Decken und sah ganz klein und blass darin aus und zerfurcht von Kummer. Meda machte sich ernsthaft Sorgen um sie. Diese Schwangerschaft verlief nicht gut, gar nicht gut. Sie wünschte, Althea und Faye wären hier, Siri zu helfen, doch das stand nicht zur Wahl.

Siri ahnte, weshalb Meda gekommen war, deshalb befahl sie die beiden Zofen, die bei ihr geblieben waren, hinaus, nachdem Meda mit ihren Untersuchungen fertig war.

»Hoheit.« Die Frauen knicksten und verließen den Raum.

Draußen vor der Tür sahen sich die beiden an. »Los, komm, wir gehen zu den anderen. Das wird eine Zeit dauern da drinnen.« Sie kicherten und eilten davon.

In seinem unbequemen Versteck begann der Verräter zu frohlocken. Sollte das ein Fingerzeig des Schicksals sein? Er lauschte auf die sich entfernenden Stimmen der Frauen. Plötzlich war es still in den königlichen Gemächern, so still wie selten über Tag. Er hob die Hand und drückte langsam das Gitter vor dem Schacht nach außen.

In Siris Gemach sprachen die beiden Frauen leise miteinander. Schließlich konnte man nie wissen, ob nicht doch jemand in der Nähe war, und Gerüchte verbreiteten sich genauso schnell aus dem Palast in die Stadt wie von jedem anderen Ort.

»Nach Euch hat niemand mehr gefragt. Es ist wie ein Wunder«, berichtete Siri. Meda hielt ihre Hand und drückte sie. »Sie waren so schockiert von dem, was ich ihnen offenbart habe, dass ihnen der Rest komplett entfallen ist, auch diese abscheulichen Dinge, die über Nathan und Ioanna verbreitet wurden. Und über die anderen... aber vielleicht werden sie in der Stadt gestellt.« Siri runzelte die Stirn, und eine unendlich kleine Zahl an Fältchen breitete sich darauf aus.

»Nein, werden sie nicht. Davon hätten wir gehört.« Meda seufzte. »Natürlich werden sie darüber tratschen, aber ich glaube, niemand nimmt den Rest der Schmähungen noch sonderlich ernst. Weil es in ihren Ohren...«, sie holte tief Luft, »einfach ungeheuerlich klingt. Ihr dürft Euch davon nicht angehen lassen, wir dürfen es nicht! Denn dann hätte er gewonnen. Das will er doch, Siri!« Meda drückte bekräftigend ihre Hand. »Das will er doch, und ich...« Sie stockte, denn aus den Augenwinkeln hatte sie eine Bewegung wahrgenommen. Sie wandte den Kopf.

Siri richtete sich auf. »Was ist?«

»Ich...« Meda ließ ihre Hand los und erhob sich. Sie trat fort von dem Bett. Wie so viele Gemächer im Palast hatte auch dieses viele Durchgänge und Nischen und Winkel, alle getrennt durch Vorhänge. Meda wusste auch nicht genau, aber auf einmal hatte sie das deutliche Gefühl von Gefahr. »Ich glaube, da war jemand. Lasst mich nachsehen.«

Siri ließ sich in die Kissen zurücksinken. »Wer soll da schon sein? Sie sind alle mit Shoona gegangen und außerdem...«

Weiter kam sie nicht. Ein Schatten sprang hervor, packte Meda und warf sie zu Boden, hob sein Messer und stach mehrmals auf sie ein.

Siri presste sich wie erstarrt in die Kissen. Sie bekam nicht einmal den Mund auf zum Schreien, als der Angreifer sich schwer atmend erhob und sich mit blutverschmiertem Messer zu ihr herumdrehte. Das Gesicht unter der Kapuze konnte sie nicht erkennen, aber die wie wahnsinnig glimmenden Augen und das zähnefletschende Lächeln sagten ihr auch so, wen sie da vor sich hatte.

»Darauf habe ich all die Jahre gewartet. Jetzt bist du mein!!«, rief er und stürzte sich auf sie.


Die Königsfamilie schritt andächtig durch die neu gestalteten Räume. Farlan gefielen sie, und das sagte er Shoona auch. Aus den alten, noch aus Aietans Zeiten prunkvoll eingerichteten Räumen waren helle, gemütliche Zufluchten geworden. Sie hatte sogar an einen Studierraum für ihn gedacht, »und an zwei Dutzend Kinderkammern«, unkte Currann und zwinkerte Shoona zu.

»Danke, Hoheit«, sie knickste leicht, »und hier, dachte ich, können wir alle die Mahlzeiten einnehmen, wenn...« Sie stockte.

Vor ihr stand Nathan, plötzlich kreidebleich. Er fiel auf die Knie, die Fäuste geballt, und plötzlich schrie er auf. »Nein! Mutter!«


Hinterher wussten sie nicht mehr, wer schneller gehandelt hatte. Currann, der sofort losstürzte, Nathan, der nach den Wachen brüllte, oder Farlan, der den Frauen zurief, sie sollten sich und die Kinder hier einschließen, und ihnen hinterher rannte.

Die gellenden Schreie hörten sie schon von weitem.

»Siri!!« Currann spürte, wie es ihm das Herz vor Furcht zerriss. Er strauchelte, fiel beinahe hin, krachte gegen das Tor zu ihren Gemächern. Mit letzter Kraft stieß er es auf und stolperte zu der Tür ihres Schlafgemachs, die weit offenstand. Ein blutiger Handabdruck prangte darauf, wie ein Zeichen des Hohns. »Siri!!«

Als erstes entdeckte er eine zusammengesunkene Gestalt in einem weißen Gewand auf dem Boden. Sie stöhnte, aber er beachtete sie gar nicht, sprang über sie hinweg und war mit wenigen Sätzen bei seinem Ehebett angekommen. Zunächst sah er sie gar nicht, nur ein Gewirr aus blutigem Stoff, zerfetzten Kissen und Decken. Doch dann, ganz langsam, setzte sein gelähmtes Hirn die einzelnen Eindrücke zu einem furchtbaren Ganzen zusammen.

Ein unmenschlicher Schrei hallte durch die Gemächer.

»Nein, nicht!« In der Tür fing Farlan seinen Bruder ab und bedeutete den Wachen, draußen zu bleiben. Er ahnte, wenn sie jetzt dort reingingen, dann würde sie der Anblick an nichts anderes mehr denken lassen.

»Lass... mich...!!« Sie rangen miteinander.

»Nat! Hör auf!« Farlan schüttelte ihn. Er hatte etwas entdeckt und wollte unbedingt, dass Nathan sich das ansah. »Reiß dich zusammen! Sieh dorthin!« Er zeigte auf Meda. Schwer atmend folgten beide Brüder mit den Augen ihrem ausgestreckten Arm in eine Ecke des Raumes. »Da! Ein Messer! Nimm, es Nat! Er muss noch in der Nähe sein. Sag mir, wo er ist!«

Das letzte Wort schrie er fast, und es brachte Nathan wieder zu sich. Mit schweren Schritten ging er dorthin, während Farlan sich über Meda beugte. Sie blutete, aber nicht sehr stark. Sie konnte warten, entschied er.

»Nat?« Er sah zu seinem Bruder. Der stand mit geschlossenen Augen da, das blutige Messer in der Hand. »Nat!« Er machte eine abwehrende Handbewegung in Richtung eines Hauptmannes, der durch die Tür schaute. »Was siehst du?«

»Er... er ist in einem dunklen, engen Gang. Jetzt... mehr Licht... ein Durchgang... Gras... eine Tür... Treppen... es ist einer der Türme! Und er... verflucht! Er kennt die Geheimtüren! Er ist im Gang!« Nathan riss die Augen auf.

»Welche Möglichkeiten hat er? Denk nach, denk nach!«

»Die anderen Türme, die Häuser der Heilerinnen, das Haus des Wissens, die Heerschule und die beiden Gasthöfe! Hauptmann!!« Nathan stürmte los brachte seine Untergebenen auf Trab, Farlan dicht auf den Fersen. Ihnen war klar, wenn sie jetzt zum Turm liefen, wäre der Verräter längst über alle Berge. Also schickte Nathan seine Leute zu allen möglichen Ausgängen, während er mit dem Messer in der Hand einer nicht sichtbaren Spur folgte. Seite an Seite rannten die beiden Brüder die Straße in die Stadt hinab, gefolgt von den Soldaten. Zwischendrin bogen immer wieder ein paar ab und verteilten sich auf die verschiedenen Ausgänge.

»Er ist im Keller!«, schrie Nathan, als sie das untere Stadttor passierten. »Schneller!« Sie hasteten um die nächste Ecke und in die Gasse, wo der Gasthof lag, und sahen weiter hinten eine Gestalt in einem langen Umhang aus dem Hof stürzen.

»Halt! Im Namen des Königs! Stehenbleiben!« Sie verfolgten ihn durch die Gassen, kreisten ihn langsam ein. Diesmal entkam er ihnen nicht, das schwor sich Nathan. Die Wachen hatten die Hauptstraße und die Tore abgeriegelt, die die Stadt teilte wie eine gerade gespannte Schnur.

»Warum gibt er nicht auf?«, rief Farlan. Es musste ihm doch klar sein, dass er nicht entkommen konnte. Nathan dirigierte seine Leute, weiter auszuschwärmen, hinauf auf die Dächer und auf die verschiedenen Abschnitte der Stadtmauer.

Bis sie erkannten, dass er es genau darauf anlegte. Er wollte die größtmögliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und das erreichte er, denn mit den Soldaten liefen jede Menge Leute zusammen.

»Halt! Bleib stehen, du Verräter, und ergib dich!«, brüllte Nathan, doch dann hielten die Brüder so plötzlich mit ihrem Lauf inne, dass die Soldaten hinter ihnen auf sie aufliefen. Sie waren auf einem relativ großen Platz zwischen den Häusern angekommen. Marktstände drängten sich dort und jede Menge Menschen, angelockt vor dem Lärm.

Der Verräter war stehen geblieben und hatte die Arme ausgebreitet. Die Leute reckten die Hälse, glotzten. Es war die perfekte Bühne für seine Absichten, erkannten sie. Zu spät.

»Wollt ihr mich jetzt gefangen nehmen?« Er war den Kopf zurück und lachte. Dabei rutschte seine Kapuze nach unten und entblößte ein hässliches, von Narben und einem harten Leben verhärmtes Gesicht, das Nathan nur noch entfernt an seinen einstigen Onkel Goran erinnerte. Bis zur Unkenntlichkeit verändert, in der Tat. »Jaah, nehmt mich ruhig gefangen, das nützt euch jetzt auch nichts mehr. Ich!« Er zeigte auf seine Brust und fletschte die Zähne. »Ich habe sie getötet, eure Mutter, die Hure, die sich Königin nannte.« Er lachte, kreischte geradezu vor hämischem Vergnügen. »Und wollt ihr wissen, wie ich dorthin gekommen bin, in euren ach so gut bewachten Palast?! Na?! Euer Bruder hat es mir gezeigt, dieser kleine Sodomit. Auf dem Weg von seinen nächtlichen Vergnügungen war es ganz leicht, ihm zu folgen und mir zu nehmen, was mir zustand, mein Recht! Das, was mir eurer Vater vor mehr als zwanzig Jahren fortgenommen hat!«

»Schweig still!« Etwas zerriss in Nathan und ließ etwas Dunkles, Gefährliches frei. Er riss sein Schwert aus der Scheide und wollte sich auf den Verräter stürzen, doch gleichzeitig mit Farlans Hand, die ihn packte, geschah etwas anderes: Die Menschen, im ersten Moment wie gelähmt von dem, was sie eben gehört hatten, begannen zu begreifen, was geschehen war und wen sie dort vor sich hatten.

»Verräter!«, schrie eine Männerstimme. Ein Kohlkopf kam angeflogen, zielsicher geworfen von einer kräftigen Frauenhand. Er traf den Mörder am Kopf, und er fiel zu Boden.

»Schweigt still!« Eine Frau stürmte vor, in der Hand eine mächtige Schöpfkelle. »Die Königin ist keine Hure, sie ist unser aller Mutter! Die – mutigste – Frau – die – ich – kenne!!!« Mit jedem Wort zog sie ihm eins über, demütigte ihn vor aller Augen.

»Haaaa... alle Frauen sind Huren, Huuuren!!«, kreischte er.

Seine Worte führten zu einem empörten Aufschrei hoher Stimmen. »Verräter!«

»Mörder!«

Nathan, Farlan und die Soldaten konnten gar nicht so schnell schauen, wie sich die Weiber auf ihn stürzten und mit allem auf ihn einschlugen, was sie aufbieten konnten, und sei es mit bloßen Händen. Die Männer ließen sich nicht lange bitten. Der Zorn des Volkes entlud sich auf das Haupt des Verräters. Jetzt fielen alle Schranken, für all die Ungeheuerlichkeiten, die in den letzten Wochen geschehen waren, fanden sie jetzt einen Schuldigen. Moral, Anstand, Rechtschaffenheit, alles war vergessen. Die Luft war erfüllt von Zornesschreien, Kreischen und vom irren Gelächter des Mörders, der sich am Boden wälzte. Es ging über in erst laute, dann gurgelnde schmerzhafte Schreie, und dann war es still.

Wie auf Kommando zogen sich alle zurück, flohen geradezu vom Platz, entsetzt darüber, was sie getan hatten. Zurück blieb ein blutiger Haufen dessen, was einmal ein Mensch gewesen war. Oder ein Monstrum? Ein Mörder auf jeden Fall, dachte Farlan und stieß die angehaltene Luft aus. Sein Herz hämmerte in der Brust, alle Soldaten standen wie erstarrt. Er hatte nicht geahnt, dass es so um das Volk bestellt war, wie sehr es in seiner Ehre gekränkt war. Das hatten sie gründlich unterschätzt. Er musste etwas tun, damit es nicht außer Kontrolle geriet.

»Das Volk hat sein Urteil gefällt!«, rief er laut. »Schafft ihn weg. Und verkündet überall in der Stadt, dass ich eine Ansprache auf dem Markt halten werde. Jetzt gleich!«

Nathan fuhr zu ihm herum, die Augen weit aufgerissen, und nicht nur er. »Jetzt!? Bist du von Sinnen?!«

»Ja. Ganz sicher bin ich das!« Grimmig presste Farlan die Lippen zusammen und stapfte davon, seinen entsetzten Bruder und verwunderte Soldaten zurücklassend. Er wusste, er musste es jetzt tun, bevor ihn die Trauer überwältigen oder ihn allzu viele Einwände davon abbringen konnten.

An diese Rede sollten sich die Menschen in Gilda noch lange erinnern. Sie markierte in vielerlei Hinsicht eine Wende im Volk, deren Tragweite sie alle noch gar nicht überblicken konnten. Als der Thronfolger den Tod der Königin öffentlich machte, brach großes Wehklagen aus, sodass er sich kaum noch Gehör verschaffen konnte. Alle Wachen waren in Alarmbereitschaft, sollte sich der Zorn des Volkes unkontrolliert Bahn brechen, doch das geschah nicht.

Es war schwer für Farlan, er hatte eine Menge zu sagen. Wie ein auswendig gelerntes Gedicht spulte sein Gedächtnis die Schritte zur Bestattung eines Königs oder einer Königin ab. Er mahnte die Bewohner der Stadt, Frieden zu halten, und erinnerte sie an die Gebräuche der Trauer und legte den Zeitpunkt der Bestattung fest. Der Heilige Vater Peadar, der zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg in den Palast war und dessen Aufgabe das eigentlich gewesen wäre, verzieh ihm später diese eigenmächtige Handlung. Es war reiner Selbstschutz, zur Tat zu schreiten, um nicht in Trauer zu versinken.

Als er von dem Podest herunterkam, geschah etwas, was noch nie geschehen war: Die Menschen strömten zusammen, auf ihn zu. Alle wollten ihn berühren, ihre Trauer bekunden, ihn trösten. Es war ein Bad in der Menge, und Farlan, der sonst immer so unnahbar wirkte, bekam für sie menschliche Züge, den auch ihm liefen die Tränen herunter, auch er kämpfte jetzt, da die Anspannung nachließ, mit seiner Fassung. Er spendete Trost und ließ sich trösten. In diesem Moment wurde er zum ersten Mal zu einem Mann des Volkes.


Oben im Palast standen die Dinge schlecht. Die Frauen und Kinder hockten verstört in den von Shoona neu eingerichteten Räumen. Die Männer der Familie hatten sich mit den Mönchen und den Heilerinnen in den Gemächern der königlichen Familie versammelt. Selbst Meda war da, notdürftig versorgt mit Verbänden und kaum in der Lage, sich aufrecht zu halten. Alle stürzten sich auf Farlan und Nathan, als sie heimkamen, als seien sie die letzte Rettung.

Was wohl auch so war.

»Wir haben ihn erwischt. Er ist gerichtet worden.« Farlan wehrte alle Hände ab und auch ihre Fragen. »Wo ist Vater?«

»Da drin. Er lässt niemanden an sich heran, hat sich verbarrikadiert«, antwortete Thorald. »Ich...« Er rieb sich die Augen. »Ich kann ihn verstehen.«

»Geben wir ihm Zeit, meine Kinder.« Peadar hob die Hände. »Da sind andere, die unseres Beistandes bedürfen.«

Da hatte er recht. Als sie die neuen Gemächer betraten, stürzten sich alle Geschwister auf ihn. »Nat! Fal!« Die Kinder umdrängten sie.

»Ist dir auch nichts geschehen?« Plötzlich hatte Farlan eine schmale Hand in seiner. Es war Shoonas, eine Geste, die sie sich noch nie erlaubt hatte. Es erfüllte ihn merkwürdigerweise mit Wärme. Dankbar drückte er sie.

»Ihr braucht keine Angst mehr zu haben. Wir haben ihn gefasst. Es ist niemand mehr übrig, der uns noch nach dem Leben trachtet.«

»Wo ist Mama? Wo ist Papa?«, riefen die Kleinsten. Die älteren Kinder brachen in Tränen aus, als sie das hörten.

›Himmel, hilf mir!‹, dachte er und warf den Frauen einen hilflosen Blick zu.

»Ihr Kinder kommt jetzt mit mir!«, sagte Naluri und streckte die Hände aus. Sie und Thorald brachten sie in ein Nebengelass und schlossen die Tür mit Nachdruck hinter sich.


Sie wollten dem König seine Zeit geben, aber als Currann am nächsten Morgen immer noch nicht aus dem Schlafgemach hervorgekommen war, sahen sie sich gezwungen, die Tür aufzubrechen. Sie alle hatten sich gewappnet, doch nichts konnte sie auf den Anblick vorbereiten, der sich ihnen bot. Farlan war es, der sich als Einziger getraute, den Raum zu betreten.

Auf dem Bett war alles voller Blut. Siri lag dort, in ein ehemals weißes Laken gehüllt. Nur ihre Haarflut schaute daraus hervor. Farlan mochte es nicht anheben und darunter schauen, er wusste, den Anblick würde er niemals vergessen. »Vater?«, rief er leise. Sie hörten es rascheln und wie jemand Luft holte. Es kam aus einer Nische weiter links. »Vater?« Farlan trat vorsichtig in das Halbdunkel. Dann sah er ihn. Currann hockte mit angezogenen Knien in der Ecke, ein kleines Bündel aus einem zerrissenen Stück Stoff auf dem Arm. Mehrere umgestürzte Becher und ein Weinkrug lagen neben ihm und hatten den Boden ebenso blutrot getränkt wie das Bett.

Farlan hockte sich vor ihn. »Vater!« Er streckte die Hand aus und berührte seinen Arm.

Blitzschnell packte Currann zu und zerrte ihn zu sich heran. Ein metallener Geruch nach Blut stieg Farlan aus dem Bündel in die Nase, sodass er seinen Vater am liebsten zurückgestoßen hätte. Dessen kohlschwarze Augen starrten ihn mit einem derartig wahnsinnigen Ausdruck an, dass ihm ganz kalt wurde. »Mach nicht so einen Lärm! Sei leise! Du weckst deine Mutter.«

»Aber Vater...«

»Sie schläft!« Currann ließ ihn los. Sein Kopf sackte nach unten, er krümmte sich um das Bündel und wiegte sich vor und zurück. »Sie schläft...« Dann, so plötzlich, dass Farlan fast hintenüber kippte, fuhr Currann wieder hoch. »Wir brauchen eine Amme! Hast du eine besorgt?«

»Aber Vater!« Entsetzt fuhr Farlan zurück, die ganze Zeit auf das Bündel starrend. Jetzt erst wurde seinem müden Hirn klar, was das war. Ihm wurde schlecht, er musste hier raus! Stolpernd wich er zur Tür zurück, wo die anderen immer noch standen. »Der Himmel stehe uns bei. Er hat den Verstand verloren!«

Letztendlich mussten sie Currann gewaltsam das Bündel abnehmen, ihn binden und in eine Kammer einsperren, denn er begann zu toben, schrie immer wieder, dass Siri schliefe, dass sie eine Amme bräuchten. Es war einer jammervoller Anblick, diesen großen starken Mann so außer sich zu sehen, und es machte die furchtbare Lage der Kinder noch schlimmer. Schließlich fanden sie keinen anderen Ausweg, als sie im Haus des Wissens unterzubringen, wenigstens für ein paar Tage, damit sie ihren Vater nicht hörten und nicht mitbekamen, wie ihre Mutter und ihr totes Geschwisterchen fortgebracht und die Räume gereinigt wurden.


Die nun folgende Zeit war wie ein lebendiger Albtraum für die Königsfamilie, aber vor allem für Farlan, auf dem plötzlich die Hauptlast der Verantwortung lag. Tagsüber war er wie betäubt, es kam ihm vor, als liefe er unter einer dicken Nebelschicht umher. Alles erledigte er wie mechanisch, sah nur wie eine lange Perlenschnur die unmittelbar anstehenden Aufgaben, und ließ sonst niemanden an sich heran. Nachts lag er schlaflos da und sehnte sich nach Lara, aber sie hatte er nicht aufgesucht, obwohl sie sicherlich auf ihn wartete, denn er wusste, wenn er es tat, dann würde er zusammenbrechen. Das wollte er erst tun, wenn...

Stattdessen traf er in einer beängstigenden Geschwindigkeit Anordnungen, wann was zu erledigen war. Eine Aufgabe jedoch, die wollte, die musste er persönlich übernehmen: die Botschaft an ihre Freunde und Verwandten, was geschehen war. Er wollte nicht, dass sie vorher irgendwelche Gerüchte erreichten, und wollte auch vorgeben, was sie offiziell verlautbaren sollten und was nicht. Das war fast mehr, als er ertragen konnte. Wie ein klaffender Abgrund lagen die leeren Pergamente vor ihm und wollten sich nicht füllen lassen.

Als er sich dann doch aufraffte, kam ihm jedes dieser kühlen sachlichen Worte vor wie eine Ohrfeige. ›Es muss der Ehrwürdigen Mutter gelungen sein, dem Angreifer das Messer aus der Hand zu schlagen, sodass Nat es finden, in die Hand nehmen und den Täter aufspüren konnte. Wir haben ihn in der Stadt gestellt, aber bevor wir ihn ergreifen konnten, erfuhr das Volk von seinen Taten, und er wurde von einem wütenden Mob gelyncht. Wahrlich, das Volk hat gesprochen...‹

Ungeduldig knüllte Farlan das Pergament zusammen, warf die Feder fort und rieb sich über das müde Gesicht. Einen solchen Tatsachenbericht, den konnten sie vom Heer bekommen, das wäre ihnen gegenüber abschätzend und beleidigend.

Nein, er wollte schreiben, wie es ihnen wirklich ergangen war, wie sie litten und dass er eine nicht geringe Genugtuung im Augenblick bei der Hinrichtung des Täters empfunden hatte, derer er sich hinterher in Grund und Boden schämte. Aber wie? Ungeduldig wischte er sich über die feuchte Wange. Wie sollte er schreiben über etwas, das er selbst nicht einmal ansatzweise begreifen konnte?

Wie er so da saß und auf das nächste leere Pergament starrte, spürte er plötzlich jemanden hinter sich. Als er sich umwandte, stand da Noemi. Sie hob die Hand, strich ihm sanft über die Wange, eine Geste, bei der er schlucken und die Augen zusammenkneifen musste, denn das hatte seine Mutter auch stets bei ihm getan.

›Ich helfe dir‹, zeigte sie und setzte sich.

Schließlich taten sie es zu fünft, Farlan, seine beiden Großeltern Thorald und Naluri, Noemi und auch Nathan, den sie förmlich dazu befohlen hatten.

»Ich werde meinen Abschied vom Heer nehmen«, sagte Nathan plötzlich und wollte das auch gleich schreiben. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte er kein Wort mehr gesprochen, deshalb waren sie ganz erstaunt, auf einmal seine tiefe Stimme zu hören.

Farlan packte seine Hand und entwand ihm die Feder. »Warum? Du hattest doch recht! Die Männer begegnen dir mit Ehrfurcht seitdem, doch, Nat, ich habe es gesehen! Sie wollten dir nicht glauben, haben hinter deinem Rücken über dich hergezogen, aber du hattest recht, die ganze Zeit. Ich bitte dich, gehe nicht. Vater würde das auch nicht wollen. Das wird er dir auch selber sagen, wenn es ihm besser geht.«

Also blieb er und half, und bald machten sich ganz und gar ungewöhnliche Briefe auf den Weg, Briefe mit fünf unterschiedlichen Handschriften in einem und an etlichen Stellen von Tränen verschmiert, überbracht von Eilboten des Heeres. Selbst in den weit entfernten Osten zu Amaya und in den Westen, nach Nador und Branndar, machten sie sich auf, obwohl es tiefer Winter war. Sie sollten aus erster Hand erfahren, was geschehen war. Nur Altheas Brief, den schrieb Noemi allein, in ihrer Geheimschrift und mit allen Details, und zwar auch solchen, die der Familie nicht bekannt waren. Die Heilerinnen hatten nämlich Dinge an Siri entdeckt, welche so entsetzlich waren, dass sie sie nur Noemi anvertraut hatten. Noemi wusste einfach, dass ihre Herzensfreundin bereits die furchtbare Wahrheit kannte, es sicherlich miterlebt hatte in ihren Träumen, genauso wie Faye. Da brauchte sie mit nichts zurückzuhalten.


Nach der vorgeschriebenen Zeit der Einbalsamierung und Vorbereitung auf die Zeremonie wurde die Königin in einer riesigen Trauerprozession zu Grabe getragen. Vorläufig würde Siri in einem Sarkophag in Phelans Grabhügel bestattet sein, bis sie ihr ein eigenes Grabmahl errichtet hatten, das größer und prächtiger werden würde als alles bisher da Gewesene. So hatte es Farlan verfügt, denn sein Vater, der König, war immer noch nicht aus seinem Dämmerzustand erwacht. Im Gegenteil, es wurde immer schlimmer mit ihm. Irgendwie musste er gemerkt haben, dass Siri für immer fort war, und seitdem tobte er, sobald er auch nur irgendjemanden in seiner Nähe hörte, dass es weit durch den Palast schallte.

Um ihn, die Kinder und die Familie zu schützen, blieb ihnen schließlich nichts anderes übrig, als ihn in einen der Türme zu sperren, in eben jenen Raum, der einst den gefangenen Ragai beherbergt hatte. Er musste mit Gewalt zum Essen und Trinken gezwungen werden, und da er eine Gefahr für sich und andere war, mussten sie ihn in Ketten legen. Bitterkalt war es dort oben, sie stellten im Untergeschoss Wärmeschalen auf, auf dass die warme Luft nach oben steigen konnte und er nicht erfror. Aber es half nicht viel. Binnen kürzester Zeit fiel der einst so prachtvolle Mann in sich zusammen, wurde dünn und schwach. Schließlich wussten sie sich nicht anders zu helfen, als die Schwestern um Hilfe zu bitten. Es war Lara als Freundin der Familie, die ihn fortan versorgte.

Es lief immer gleich ab. Sie gaben ihm sehr wenig zu trinken und hielten ihm morgens eine Schale mit einem Betäubungstrank vor die Nase, der dafür sorgte, dass er beinahe sofort einschlief. Erst dann konnten sie ihn versorgen, waschen, neu einkleiden, das Stroh wechseln.


Obschon sie verhindern wollten, dass der Zustand des Königs öffentlich wurde, wimmelte es in der Stadt nur so vor Gerüchten. Seit Siris Tod lag alles öffentliche Leben brach, aller Handel, alle Geschäfte. Da blieben nur Klatsch und Tratsch übrig, die Menschen beschäftigt zu halten.

Mit regungsloser Miene schritt Farlan dem Trauerzug voran, Shoona an seiner Seite, wie sie dort schon so oft in den letzten Tagen gewesen war. Ganz still hatte sie sich dorthin begeben, und er stützte sich auf sie, nicht auf Naluri, nicht auf Noemi oder gar Siris Zofe Nuria, die selbst noch viel zu sehr in ihrer Trauer gefangen war. Shoona drängte nicht, tat nichts, was er nicht befahl. Sie verstand, dass das Volk diese Geste brauchte, dass es weiterging, dass das Königreich Bestand hatte. Sie wusste, dass sie in ihrer Eigenschaft als künftige Königin vor das Volk trat, und sie machte ihre Sache gut, musste er widerwillig eingestehen. Aber sein Herz, das hatte sie deswegen noch lange nicht.

So regungslos der Thronfolger wirkte, so offen zeigte das Volk seine Trauer. Geschrei und Wehklagen erklang überall in der Stadt, aber besonders auf dem Weg des Trauerzuges. Das war für die Kinder der Familie kaum zu ertragen, sonst ein Musterbeispiel an Disziplin. Sie drängten sich verstört an die Erwachsenen und ihre älteren Geschwister, die selbst Mühe hatten, ihre Fassung zu wahren.


Erst in dieser Nacht suchte er Lara auf und fand sie, wie sie schon all die Nächte auf ihn gewartet hatte. Er hatte sie gesehen, hatte ihre Blicke gespürt, selbst über den weiten Platz vor der großen Halle hinweg, selbst unter dem blauen Vollschleier, der sie genauso aussehen ließ wie alle anderen Schwestern. Er wusste einfach, wo sie in der Menge der blauen Gewänder zu finden war, und er wusste auch, dass er ihr nichts zu erklären brauchte. Jetzt erst konnte er all das herauslassen, was er tagsüber mühsam unterdrückt hatte. Endlich konnte er weinen, schreien, in seinem Zorn auf etwas einschlagen und seine Schuldgefühle zugeben. Hinterher war er wie befreit, und das erste Mal seit Tagen ruhte er völlig entspannt, den Kopf auf Laras Schoß. Was für ein Luxus, jemandem seinen Kummer aufladen zu können, jemandem, der ihn selbstlos annahm und ertrug!, dachte er. Es war ein Luxus, den die anderen nicht besaßen, seine Geschwister nicht, Nathan nicht, sein Vater schon gar nicht.

Lara sagte zunächst einmal nichts, sondern ließ ihn in Frieden, bis er sich wieder beruhigt hatte. Erst da ging ihm auf, dass sie untypisch schweigsam war. »Was ist mit dir? Haben dich... haben dich die Schwestern etwa zusehen lassen, wie sie Mutter...?«

Lara hob die Hand und brachte ihn damit zum Schweigen. »Ich habe sie mit versorgt, ja, natürlich, wie es meine Pflicht und weil es mein Wunsch war. Fal, da ist etwas...«

»Was?« Er richtete sich auf, drehte sich um und legte ihr die Hand an die Wange. »Was... was habt ihr entdeckt?« Er wusste sofort, dass sie etwas verschwieg.

»Fal, ich... wir glauben, dass der Mann sie geschändet hat.«

Seine Hand fiel kraftlos nach unten. Er zog scharf die Luft ein, schloss die Augen und stieß sie zischend wieder aus. Dann nickte er geschlagen. »Das... das hat er in der Stadt schon geschrien. Nicht direkt, aber... er sagte, er hätte sich genommen, was ihm zustand. Nicht nur sie, sondern auch ihr Leben. So habe ich ihn verstanden.«

»Nein. Ihr Leben hat er nicht genommen, zumindest nicht...«

Er riss die Augen auf und starrte sie an. »Was willst du damit sagen?«

»Nun...« Lara zögerte, aber er kannte kein Erbarmen, packte sie bei den Schultern und schüttelte sie sogar.

»Sag es mir!«

»Wir... wir sind uns nicht sicher, woran sie eigentlich gestorben ist. Fest steht, die Stichwunden, sie waren nicht tief genug, um sie...«

Farlan stieß ein entsetztes Keuchen aus. Er sprang auf, schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als das eiskalte Grauen, das er gerade überwunden zu haben glaubte, zurückkehrte. »Du meinst, Vater hat... sie ist wegen Vater gestorben?! Weil er das Kind geholt hat?? Lara! Das kann... das darf nicht wahr sein!«

»Wie gesagt, wir sind uns nicht sicher. Fal, ich... ich habe lange mit mir gerungen, ob ich dir das wirklich sagen soll. Aber ich fand, dass du als Oberhaupt der Familie die Wahrheit erfahren solltest. Außer dir haben wir es nur Noemi gesagt, als ranghöchster Frau. Sie soll entscheiden, was sie mit diesem Wissen anfangen soll.«

»Gar nichts werden wir mit diesem Wissen anfangen!«, stieß er hervor. Heißer Zorn schoss in ihm hoch. »Was hat er getan, was hat er nur getan?!«


Alles dahin. Farlan spürte eine bittere Endgültigkeit bei dem Gedanken an seinen Vater. Ihm war klar, dass dort noch mehr vorgefallen sein musste, das war es nicht. Sein Vater war kein gewissenloser Mörder. Aber so langsam ging ihm auf, dass er nicht nur entsetzt war über dessen Tat, sondern wütend war auf ihn, sogar sehr wütend. Wie konnte er sich nur derart gehen lassen und seine Familie verraten? Wie konnte er sie nur so im Stich lassen? Schließlich hatte er Kinder, so viele, die ihn alle brauchten und die er mit seinem Verhalten noch mehr verstörte, als sie es durch den Tod ihrer Mutter eh schon waren. Ganz zu schweigen davon, dass der Rat, die Stadt, das ganze Reich führerlos waren und wie eine Herde aufgescheuchter Tiere umherrannten. Farlan wusste nicht, was tun. Wie oft suchte er ihn im Turm auf, schrie auf ihn ein, stieß ihn sogar und hätte am liebsten mit den Fäusten auf ihn eingetrommelt.

Grübelnd lag er nächtelange wach. Wie sollte er die Lücke, die sein Vater gelassen hatte, füllen? Er selbst hatte nicht dieses offene, oft überschäumende und sehr dominante Wesen seines Vaters, der seine Gedanken, seine Gefühle immer offen zeigte. Ihm selbst begegneten die Leute höflich, aber mit wesentlich mehr Vorsicht. Weil sie ihn nicht einschätzen konnten, das war Farlan klar, und plötzlich fand er das gar nicht so schlecht. Sein Vater war in seiner Art allzu durchschaubar und auf seine Weise auch lenkbar. Das würde ihm selbst nicht passieren.


Also übernahm er, um nicht selbst völlig wahnsinnig in der Trauer zu versinken, in Abwesenheit seines Vaters die Führung des Reiches. Innerhalb der Familie vermochte er das jedoch nicht. Er konnte seinen Geschwistern keinen Trost spenden, konnte es einfach nicht, es war nicht seine Art. So fiel diese Rolle Shoona zu, und sie nutzte sie, um endgültig die Herzen aller Kinder zu erobern. Sie tröstete, lief nachts hin, wenn eines weinte oder in Albträumen schrie, und blieb, bis es wieder eingeschlafen war. Bald war sie selbst völlig übermüdet, so sehr, dass es sogar Farlan auffiel und er sie beiseite nahm und darauf ansprach.

»Dafür haben wir doch die Kinderfrauen«, sagte er leise und betrachtete besorgt ihr blasses Gesicht.

»Sie rufen aber nach mir. Sonst schlafen sie nicht. Was soll ich denn tun?«

»Verzeih mir.« Er nahm ihre Hand. Es war die erste spontane vertraute Geste seinerseits überhaupt. Überrascht hob sie den Kopf und sah ihn an. »Ich kann kaum ermessen, was du für sie tust.«

Trauer trat in ihre Augen. »Ich mochte deine Mutter, sehr sogar. Sie... dieser Familie fehlt das Herz, jetzt, da sie fort ist. Die Kinder brauchen ihren Vater. Hoffentlich ist er bald wieder gesund.«

Farlan ließ sie los, als hätte er sich verbrannt. »Ja... Vater. Hoffen wir, dass sich bald etwas tut.«


Aber es wurde nicht besser. Nach Wochen musste Farlan sich eingestehen, dass sein Vater vollkommen wahnsinnig geworden war und eben nicht nur an einer vorübergehenden Krankheit litt. Niemand kam an ihn heran.

»Welch ein Jammer«, flüsterte Lara und strich ihm sanft über die graubärtige, eingefallene Wange. Seine Lider begannen, unruhig zu zucken.

»Er wird wach. Die Wirkung des Trankes lässt nach.« Nathan zog sie zurück und legte seinem Vater wieder die Ketten an. Zwei Holzschalen mit etwas zu essen und einen Becher mit Wasser stellten sie in seine Reichweite. Meisten fanden sie den Inhalt am nächsten Morgen im Stroh verschüttet oder an die Wand geworfen vor. Tongeschirr verwendeten sie daher schon lange nicht mehr, er hatte sich damit verletzt. Rasch deckten sie ihn noch mit warmen Fellen zu, was ihm aber auch nicht lange helfen würde gegen die bittere Kälte, und gingen ins Untergeschoss, wo zwei Soldaten warteten.

Lara schnürte die verdreckte Wäsche und Felle in ein Bündel. »Schafft das schmutzige Stroh fort und bringt neues. Haltet die Glut tüchtig in Gang, heute ist es kälter als gewöhnlich«, wies Nathan die Wachen an, die seinem Befehl ohne mit der Wimper zu zucken folgten. Eigentlich wäre das Aufgabe der Knechte und Mägde gewesen, aber für sie war dieser Dienst an ihrem König eine Sache der Ehre, so krank er auch war. Genauso eine Ehre, wie sie Dritten gegenüber Stillschweigen über seinen Zustand bewahrten.

»Ich wünschte, es gäbe einen Weg, ihn anders zu versorgen, irgendwo, wo er es wärmer hat«, seufzte Lara. »Aber so... da drin ist es einfach immer noch zu kalt. Hoffen wir, dass es bald besser wird.«


Als die Tage länger wurden und nicht mehr ganz so eisig waren, mussten sie sich eingestehen, dass der König in einen immerwährenden Dämmerzustand gefallen war und in Lebensgefahr schwebte. Immerhin verließen ihn jetzt seine Kräfte, sodass sie die Ketten fort lassen und ihn richtig versorgen konnten. Unverständliche Worte vor sich hin murmelnd, siechte er dahin und schwand so schnell wie draußen das Eis in der immer kräftiger scheinenden Sonne. Die Heilerinnen sagten zwar, dass er noch Jahre so überleben konnte, aber was nützte es, wenn er sich so quälte? Farlan stand manches Mal vor der Tür und hörte dem Gebrabbel zu und dachte so bei sich, es wäre besser, sein Vater wäre tot. Hinterher schämte er sich in Grund und Boden für diesen Gedanken.

Abseiten der furchtbaren Folgen für die Familie hatte Farlan durch das Fehlen seines Vaters auch im Rat ein Problem. Es gab zwar Regelungen für die vorübergehende Abwesenheit des Königs oder eine Krankheit, aber eine dauerhafte Umnachtung hatte es in der Geschichte Moranns noch nie gegeben, sah man von seinem Großvater, dem alten König Aietan, einmal ab.

Es gab einfach Dinge, die Farlan nicht allein entscheiden konnte, grundlegende Gesetzesänderungen zum Beispiel, denen der König immer zustimmen musste. Auch Bündnisse einzugehen würde schwierig werden, wenn der Handel im Frühjahr wieder aufleben würde. Je mehr Eingaben und Bitten mit den Reisenden bei ihnen eintrafen, desto prekärer wurde seine Lage. An seine geplante Heirat mit Shoona, die unaufhörlich näher rückte, und dem damit verbundenen Eintreffen vieler Fürsten und Würdenträger des Reiches, mochte er noch gar nicht denken.

Aber er bekam auch Hilfe. Nach Bekanntwerden des Todes der Königin waren nach und nach fast all ihre treuen Freunde eingetroffen und hatten ihre Stadthäuser bezogen, um ihnen beizustehen. Doch Tamas und Nel brachten beunruhigende Kunde aus dem Westen mit. Eine Schlacht soll es gegeben haben, Saran soll überfallen worden sein. Nichts Genaues wusste man, nur die von Mund zu Mund weiter getragene Botschaft der Hirten, bevor die Wege unpassierbar geworden waren. Es war ein weiterer Grund der Unsicherheit, denn er wusste nicht, was er tun sollte, sollten die Saraner ihn um Hilfe bitten. Da bot Tamas an, dies für ihn zu übernehmen, denn er ahnte, dass Farlan all seine Kraft in Gilda brauchen würde.

Und er behielt recht. Nur wenig später kündigten die Kundschafter Besucher aus dem Osten an. Farlan wusste einfach, dass es sich bei diesen um seine Geschwister handeln musste, und ritt ihnen mit Nathan entgegen. Es waren Amaya, Shaun und Iovan, letzterer allerdings ohne Begleitung.

»Wir sind sofort losgeritten, als eure Botschaft bei uns eintraf.« Amaya umarmte ihre Brüder nacheinander. Tränen standen in ihren schwarzen Augen. »Wie geht es Vater?«

»Du kannst ihn nachher sehen«, sagte Farlan. Mehr nicht. Die Geschwister verstanden, dass er in der Öffentlichkeit nicht mehr sagen wollte, und fragten nicht weiter.

Stumm schritten sie durch die Stadt und betrachteten einander verstohlen. Farlan sah müde aus, befand Amaya, regelrecht abgekämpft. Aber es hatte sich auch etwas verändert. Die Leute grüßten ihn sehr viel herzlicher als früher, und er grüßte zurück, hatte sogar das eine oder andere Wort für die Entgegenkommenden übrig. Er hatte sich dem Volk angenähert, dachte sie und war froh, das zu sehen.

Farlan befand dagegen, dass seine Schwester schöner war denn je. Den langen Ritt hierher sah man ihr nicht an, allenfalls an der trotz des Winters braun gebrannten Haut bemerkte man, dass sie ihre Tage nicht mehr in einem vornehmen Palast verbrachte. Ihre Kleidung, eine exotische Mischung aus gildaischer Robe und fremden Stoffen und Fellen, war jedenfalls aufwendig genug, sie als Fürstin von weit her auszuweisen. Sie hatte sich mit den wenigen Mitteln, die sie dort draußen besaßen, etwas einfallen lassen, und die Wirkung war einfach umwerfend. Shaun jedenfalls trug seine junge Frau sprichwörtlich auf den Händen, das merkte man bei jeder Bewegung und jedem Wort.

Iovan hatte sich noch mehr verändert. Auch sein Gesicht war braun gebrannt, die feinen Züge hatten Ecken und Kanten bekommen, aber das war es nicht nur. Es hatte sich etwas Entschlossenes, Kämpferisches in seine Züge gegraben, sodass sie älter und härter wirkten. Was wohl alles dort draußen vorgefallen war? Farlan musste seine Ungeduld zügeln, ihn nicht gleich auszufragen.

Ihrer aller Zurückhaltung hielt aber nur so lange, bis sie die Tür der königlichen Gemächer hinter sich geschlossen hatten. Sofort stürzten sich die jüngeren Geschwister auf sie, und sie feierten ein bewegtes Wiedersehen.

»So, und jetzt werdet ihr mir endlich erzählen, was wirklich geschehen ist!«, rief Amaya über den Lärm hinweg. Sie verlangte hoch erhobenen Hauptes eine Antwort und schob ihre Geschwister von sich.

»In meiner Kammer.« Farlan schickte die Kinder streng fort. »Nur wir.« Damit schloss er auch Shaun aus. Amaya musste schlucken, denn nun wusste sie, dass es wirklich ernst war. Sie bat ihren Mann mit einem entschuldigenden Blick um Verzeihung folgte ihrem Bruder in seine Kammer.

Leise, fast im Flüsterton, berichtete Farlan seinen Geschwistern, und noch ein wenig mehr, Dinge, die er den anderen verschwiegen hatte und die er nur von Lara wusste. Vor allem, was Goran ihrer Mutter angetan hatte. »Er hat sie genommen, bevor er sie tötete. Das haben die Heilerinnen entdeckt, aber ich habe sie zum Stillschweigen verpflichtet. Was auch außer mir und Nat niemand weiß, ist, dass es Vater war und nicht der Mörder, der das Kind aus ihr herausgeholt hat. Dabei... oder davor... muss er den Verstand verloren haben.« Er verschwieg ihnen bewusst, dass er ihren Vater für Siris Tod verantwortlich machte. Mit diesem Wissen wollte er sie nicht belasten, und die Reaktion seiner Geschwister gab ihm recht.

»Himmel, Fal!« Amaya entfuhr ein gequälter Laut. Sie krümmte sich zusammen.

»Ich finde, du solltest das wissen, bevor du es von Lara oder der Ehrwürdigen Mutter hörst.« Farlan drückte sie an sich. Sie konnte er trösten, vielleicht, weil sie sich im Grunde ihres Wesens sehr ähnlich waren. »Ihr könnt ihn sehen, morgen früh, wenn er betäubt ist. Vorher halte ich das nicht für ratsam.« Bei diesen Worten wurden beide Geschwister blass. Er ließ seine Schwester los und sagte betont aufmunternd: »Ich habe Tibbi und Orban die Botschaft von eurer Ankunft geschickt. Sie werden bald hier sein. Sie hat eine Überraschung für dich.«

Amaya schniefte. »Und ich für sie. Oh, wie sehr wünschte ich, sie wären schon hier!«


Es wurde ein trauriges Wiedersehen, und wie eh und je trafen sie sich nachts in der kleinen Höhle. Shaun war mit Farlan und Nathan mit anderen Dingen beschäftigt, sodass sie wieder im alten Kreis dort saßen. Fast.

Lara umarmte ihre Freundinnen fest, und sie merkte auch gleich, wie es um Amaya stand. »Du bekommst ein Kind, nicht?« Im Gegensatz zu Tabitha, der man das schon deutlich ansah, war bei ihr noch fast nichts zu sehen. »Solltest du nicht derart lange Ritte vermeiden?«, rügte Lara denn auch gleich.

»Ich hatte gehofft, Thea oder Faye könnten sich meiner annehmen, aber das geht ja nun nicht mehr. Aber ich wäre auch so gekommen«, fügte Amaya mit Tränen in den Augen hinzu. »Ich musste einfach mal dort raus und mit jemand anderem reden.«

Sie sahen sie alle an und entdeckten mit einem Mal etwas in ihren schönen Zügen, das sie beunruhigte. »Sind sie nicht gut zu dir?«, fragte Tabitha erschrocken.

»Doch, sind sie, aber...« Amaya suchte nach Worten. Sie rang die Hände. »Den ganzen Winter in diesen engen Hütten, kaum etwas zu tun, kaum jemand, mit dem man reden kann und wo jede deiner Handlungen genau beobachtet wird. Es ist... irgendwie anders als hier. Ich dachte, es wäre wunderbar, dass die Frauen mehr Macht hätten, aber... sie müssen... ich kann’s kaum erklären. Hier kannst du dich in dein schützendes Heim zurückziehen, aber dort... so etwas kennen sie nicht. Türen zum Beispiel. Es gibt eigentlich nur eine Tür, die zu ihrem Allerheiligsten. Sonst keine. Versteht ihr, dort, wo die Shouh herkommen, gibt es keine Winter, sie brauchen so etwas einfach nicht, und es gilt als sehr unhöflich, eine Tür zu schließen. Wir...«, sie schluckte, »als wir nach der Heirat dort ankamen, gab es eine öffentliche Zeremonie. Wir mussten uns zueinander legen, vor aller Augen, stellt euch das vor, und ein Ritual vollziehen.«

»Ihr habt... und alle haben zugesehen?!«, rief Tabitha entsetzt. Die Männer hatten ihr offenen Mundes zugehört.

»Das weiß ich nicht, denn soweit ist es nicht gekommen. Wenn es nur die Fremden gewesen wären... aber all die gildaischen Soldaten... ich habe mich geweigert, habe die Hoheit gespielt, habe gesagt, das sei einer gildaischen Prinzessin unwürdig.« Amaya schloss die Augen und ließ den Kopf hängen. »Danach... hatten wir das erste Mal Streit, richtig Streit. Er hat durch meine Weigerung das Gesicht verloren, und hinterher tat mir das entsetzlich leid. Aber«, sie machte die Augen wieder auf, einen kämpferischen Ausdruck in ihnen, »hätte er mich denn nicht darauf vorbereiten können? Dann hätte ich gewiss anders reagiert. Und so ging es weiter, bei vielen Dingen. Vor allem bei ihrem Glauben. Als Fürstin hätte ich dort gewisse Pflichten. Aber ich bin nicht übergetreten.«

»Aber lieben, das tut ihr euch noch?«, fragte Tabitha erschrocken.

Amaya errötete. »Oh ja. Sehr sogar. Und die Shouh beginnen mich zu achten für meine Haltung, denn sie legen es als Stärke aus. Das ist es, was für sie zählt, vor allem für die Frauen. Ich kümmere mich vorrangig um die von den Cerinn misshandelten Mädchen, auch das anfangs gegen Shauns Willen. Ihr müsst wissen, dass sie als unrein gelten und ein elendes Dasein fristen, kaum besser als Sklavinnen. Ich habe sie in meine Dienste genommen, ihnen ein Heim und eine Aufgabe gegeben. Zwei von ihnen sind übrigens in den Schoß des Tempels eingetreten. Sie wurden von ihren Sünden gereinigt und sind vor dem Gesetz geheilt. Eine wird im Frühjahr einen unserer Soldaten heiraten.« Amaya lächelte traurig. »Aber es wird noch ein langer Weg, bis beide Völker ineinander aufgehen. Nicht wahr, Iovi?«

Damit hatte sie geschickt von ihren eigenen Problemen abgelenkt und ihrem Bruder die Karten herübergeschoben. Der sprang sofort auf und begann, unruhig auf und ab zu laufen. »Dass Vater nicht... es... für uns ist das eine Katastrophe. Versteht mich nicht falsch, aber wir brauchen ihn dort draußen. Oder Fal.«

»Rebellieren sie?« Die Mädchen merkten auf.

»Seid ihr gescheitert?«, fragte Orban.

Iovan zog die Schultern ein. »Das weiß ich nicht wirklich. Es ist... als wichen sie uns aus. Wir haben so viel in die Wege geleitet, aber von ihnen kommt einfach... nichts. Wir können sie nicht festnageln, und deshalb brauchen wir eine Versammlung, um endgültig klare Tatsachen zu schaffen.« Sie konnten hören, wie frustriert er war.

»Vater würde dir aber sagen, dass du es allein schaffen musst«, mahnte Amaya. Sie war erbost, dass er damit erst jetzt rausrückte, anstatt ihr das bereits auf der Reise hierher zu erzählen.

»Ich weiß!«, stieß er hervor.

»Lad sie ein und sauf mit ihnen«, meinte Orban gedehnt. »Das würde Großvater sagen. Er hat es stets so gehalten.«

»Ein Fest?« Iovan blieb stehen.

»Brot und Spiele. Und die Peitsche, wenn es sein muss.« Orban zog die Augenbrauen spöttisch hoch. Und schon waren sie wieder in ihre alten Streitereien verwickelt, die sie alle so liebten und sehr vermisst hatten.


»Also soll ich reisen?«, fragte Farlan am nächsten Morgen seinen kleinen Bruder, die Stirn gerunzelt. »Und wenn sie nicht kommen? Steckt Kaleem dahinter?«

»Das wissen wir nicht, das heißt, Irun denkt ganz sicher, dass er es ist.«

Farlan stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch. »Und was planen sie? Hast du jemanden, der dir zuträgt?«

»Nein.« Iovan hob die Schultern.

»Verdammt nochmal, Iovi, hast du denn gar nichts in der Heerschule gelernt? Wie würde es wohl aussehen, wenn ich jetzt dorthin ginge, um dich zu unterstützen?!«, herrschte Farlan seinen Bruder an. »Du stündest da wie ein feiges, schwächliches, verwöhntes Muttersöhnchen! Nein, Bruder, das Problem wirst du schön selbst lösen. Ich kann hier eh nicht weg, nicht, solange Vater in diesem Zustand ist. Nein, du wirst ihn festnageln müssen. Kehre dorthin zurück, und zwar schleunigst, und überbringe Kaleem eine Botschaft. Sein Verhalten betrachten Wir,« und damit meinte er den König, »nicht mit Wohlwollen. Finde Verbündete, Bruder, und Zuträger. Wir müssen etwas finden, womit er gegen unsere Abmachungen verstößt, und sobald wir das haben, greifen wir ihn uns. Gewarnt wurde er genug.«

Iovan war während seiner Worte unruhig auf und ab gelaufen. Jetzt blieb er stehen, die Fäuste geballt. »Wenn die Alten erfahren, dass Vater hinfällig ist, könnte das unsere Stellung entscheidend schwächen. Du hast ja jetzt schon ein Problem damit, Dinge gegenüber unseren eigenen Leuten durchzusetzen. Wie ist es dann erst mit denjenigen, die erst seit kurzem im Reich verweilen?«

Das wollte Farlan aber partout nicht hören. »Für mich klingt das eher so, als seid ihr nicht die Herren der Lage«, schob er den Ball wieder seinem Bruder zu.

»Wage es ja nicht!«, fuhr Iovan ihn an. »Wir haben, weiß der Himmel, genug Kämpfe ausgestanden und schon so viel erreicht! Alle sind uns dankbar, denn plötzlich gibt es wieder Handel und all die Dinge, die sie so lange entbehren mussten.«

»Aber es reicht nicht!«, unterbrach Farlan ihn wieder. »Stell dir vor, Vater stünde vor dir. Was hätte er zu dir gesagt? Mit dir gemacht?«

»Mich in Grund und Boden gestampft, ich weiß.«

»Also, warum bist du dann hier?«

Iovan blitzte ihn böse an. »Weil Mutter tot ist und ich unbedingt ihr Grab sehen wollte? Wegen Maya, wegen Tibbi?«

Das traf Farlan, denn damit unterstellte Iovan ihm indirekt, er würde ihm unlautere Motive für seine Reise nach Gilda vorwerfen. Sofort nahm er Rache. »Du bist der Letzte, der ihr Grab besuchen darf!«, rief er außer sich. »Weißt du denn nicht, wie es dem Verräter gelungen ist, in den Palast zu gelangen?«

»Nein.« Iovan biss die Zähne zusammen, um nicht einfach zuzuschlagen.

Zornig sah Farlan auf ihn herab. »Er hat dich verfolgt, dich und deinen … Freund, damals bei der Fürstenvereidigung. So fand er den Zugang.«

»Waas?!« Iovan wurde blass.

»Ah, das wusstest du nicht? Denk mal darüber nach. Deine Leichtsinnigkeit hat uns dies eingebrockt! Und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass du lieber den leichten Weg gehst und zu mir gekrochen kommst, anstatt das Übel an der Wurzel zu packen. Oder von dort fliehst?!« Farlans Spitze war treffsicher, und sie riss bei Iovan eine Schranke herunter.

»Was bildest du dir eigentlich ein?! Dass ich dort draußen nur meinem Vergnügen gefrönt habe?« Jetzt liefen Iovan die Tränen herunter, er konnte sich nicht mehr beherrschen, und Farlan ging beschämt auf, was sie drauf und dran waren zu tun.

Zum Zeichen des Friedens hob er die Hände. »Entschuldige. Mir geht so viel im Kopf herum, dass deine Schwierigkeiten einfach ein bisschen zu weit fort für mich sind. Ich soll Entscheidungen treffen, die ich laut Gesetz nicht treffen kann, solange Vater noch lebt und ich nicht König bin.«

»Und deine Hochzeit...?«

Ungeduldig winkte Farlan ab. »Bis zu dem geplanten Zeitpunkt sind es noch Wochen. Mensch, Iovan, du glaubst doch nicht, dass ich so kurz nach Mutters Tod ein riesiges Fest feiern will? Das habe ich Shaun bereits gesagt.«

»Und Shoona nicht?«, fragte Iovan berechnend und rächte sich damit für Farlans Anfuhr von vorhin. Damit hatte er ins Schwarze getroffen, denn der Entschluss war in Farlan erst in den letzten Tagen gereift. Er konnte einfach nicht heiraten, als sei nichts geschehen.


»Jetzt sind sie verärgert und gekränkt, Shaun und seine Schwester«, sagte Farlan in der Nacht. Er saß neben Lara und hielt ihre Hand. »Zum ersten Mal hat sie mir Vorwürfe gemacht, warum ich ihr das nicht zuerst gesagt, warum ich sie vor ihrem Bruder so bloßgestellt habe.«

»Zu Recht.« Lara ließ seine Hand los und verschränkte die Arme. »Er ist bestimmt hinterher zu ihr und hat sie mit Fragen und Vorwürfen überschüttet, und sie wusste von gar nichts. Ich wäre auch verstimmt. Und sehr, sehr wütend.«

»Was soll ich denn tun?!«, fuhr er auf. »Seit Mutters Tod war die Hochzeit aus meinen Gedächtnis wie verbannt. Als er dann plötzlich anfing, von dem Fest zu reden, da war es mir, als würde ich in einen Abgrund blicken. Ich kann es einfach nicht. Nicht jetzt.«

»Das kann ich mir vorstellen, und jeder wird Verständnis dafür haben.« Lara griff wieder seine Hände und drückte sie tröstend.

»Und jetzt erwartet er, dass ich ihr trotzdem den versprochenen Status verschaffe! Sind sie denn alle verrückt geworden?!«

»Naja...«, Lara runzelte die Stirn, »vielleicht fürchten sie, dass du die Hochzeit ganz absagst, jetzt, da dein Vater darniederliegt. Schließlich war er es, der dich gedrängt hat, eine Frau zu suchen. Ich denke, Shaun sorgt sich um das Wohl seiner Schwester.«

»Ich frage mich nur, warum? Habe ich dazu Anlass gegeben? Es ist doch nur verschoben! Oder verbergen sie etwas? Hat Shaun seine Schwester aus gutem Grund letzten Herbst mit nach Gilda gebracht?«

»Das wäre allerdings ganz schön durchtrieben. Besser, du findest es heraus, bevor du sie heiratest.«

»Das kannst du vergessen. Ich dringe einfach nicht in sie... ich meine... ach, verdammt!«

»Ich dachte dabei nicht an Shoona. Frag doch einfach Maya. Sie muss etwas mitbekommen haben, anders kann es gar nicht sein.«

»Maya? Das wäre eine Möglichkeit. Ich werde sie fragen.« Aber es klang abwesend, als wäre er mit seinen Gedanken ganz weit fort. Er ließ sie los, stand auf und ging an die Öffnung der kleinen Höhle, sah hinaus in die Nacht. Finster war es, ohne Mond. So finster wie in seinem Herzen, und jetzt kam auch noch der Schmerz hinzu. Er wusste, dass er Lara wehtat, indem er ihr ständig sein Herz ausschüttete, es konnte gar nicht anders sein. Selbstlos ertrug sie es, war ganz für ihn da. Er konnte gar nicht ermessen, wie viel Kraft sie das kostete, wie viele Tränen sie womöglich hinterher vergoss, erst recht, wenn er erst verheiratet war und Kinder bekam. Warum nur, warum gab es keinen Weg für sie? Schon spürte er ihre Nähe, ganz dicht hinter sich »Ich werde sie heiraten müssen. Wenn es Vater wieder besser geht.«

»Ich weiß«, flüsterte sie, und dann war sie fort.


Seinen Plan setzte Farlan gleich am nächsten Morgen in die Tat um. Es war zwar ganz schön schwierig, Amaya zu sprechen, ohne dass ihr Mann es mitbekam, aber er hatte gehört, dass sie Iruns kleine Schwester Naja in den Häusern besuchen wollte, und passte sie daher auf dem Gang zu den Heilerinnen ab und führte sie in einen Wachraum, ohne dass es jemand mitbekam.

Stumm hörte Amaya seinen vorsichtig gewählten Worten zu, dann seufzte sie. »Du weißt, dass du mich mit deiner Frage nach Shoonas Schicksal in einen Konflikt bringst? In den Konflikt zwischen der Loyalität zu meinem Mann und meiner Familie, also euch.«

»Also hast du etwas mitbekommen?«, fragte er.

Sie fühlte sich sofort angegriffen. »Warum fragst du sie nicht einfach?«

Farlan schnaubte. »Wie stellst du dir das vor?! Soll ich etwa fragen: ›Hör mal, Shoona, es ist recht merkwürdig, wie du dich verhältst, hast du etwas zu verbergen?‹ Das ist nicht dein Ernst! Dann wiegelt sie doch noch mehr ab, als sie es eh schon tut.«

»Du hast sie noch nicht gut kennen gelernt, nicht wahr?« Das klang nicht überlegen oder triumphierend, sondern ehrlich besorgt, und das ließ Farlans Widerstand in sich zusammenfallen.

Er lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme, als fröstle er. »Sie… sie ist eine Fremde für mich. Keiner dringt zu ihr durch, sie lässt sich einfach nicht … hinter ihre Maske schauen. Sie kommt mir vor wie ein … ewig lächelnder Spiegel. Das ist mir ein wenig unheimlich.« Jetzt war es raus. Nicht einmal Lara hatte er das eingestanden.

»Du meinst …?«

»Ich habe das Gefühl, in eine Falle zu laufen, Schwester. Als lauere dahinter etwas. Aber Shauns Reaktion auf meine Ankündigung, ich wolle keine Feier anlässlich unserer Vermählung ausrichten, zeigt mir, dass ich sehr vorsichtig sein muss, wie ich in Bezug auf sie agiere. Ich will vor allem dich nicht in Misskredit bringen und auch nicht unser Bündnis gefährden, natürlich. Also, du hast etwas gehört, nicht wahr?«

Amaya zögerte, aber schließlich seufzte sie. »Ich wusste, dass du mir früher oder später diese Frage stellen würdest, schon als dein Brief im Winter eintraf. Nein, besser wäre die Frage nach dem, was ich nicht gehört habe.« Sie setzte sich auf einen Mauervorsprung und sah ihren Bruder offen an. »Shoona wurde in dem letzten halben Jahr, das ich bei den Frauen der Shouh verbracht habe, nicht einmal erwähnt. Keine Frage, keine Geschichten, nichts.«

»Gar nichts?!«

»Ja, merkwürdig, nicht? Wenn ich mal etwas über Shoona wissen wollte oder von unserer Zeit hier erzählte, war es, als ginge bei den Frauen ein Vorhang herunter. Sie … dieses freundliche Lächeln. Jetzt geht es mir auf! Das sehe ich auch bei ihnen, immer, wenn sie etwas nicht wollen. Ich habe Irun gefragt«, gab sie zu. »Weil ich das so merkwürdig fand. Ich habe sie gefragt, was sie über die Shouh Frauen denkt und was im Lager vorgefallen war, aber außer, dass es bei den Frauen der Shouh eine riesige Aufregung gab, als es darum ging, welches von den Mädchen zu den Cerinn geschickt werden sollte, hat sie nichts mitbekommen. Sie sagt, dass beide Gruppen meistens für sich blieben und erst zum Schluss, als alle so krank wurden, sich näherkamen.«

Farlan hatte mit gerunzelter Stirn zugehört. Eine Frage drängte sich ihm auf, aber es fiel ihm schwer, sie zu stellen. Aber es nützte ja nichts. »Denkt sie, dass Shoona … zu denjenigen gehört, die zu den Cerinn geschickt worden sind?«

»Dieselbe Frage habe ich Irun auch gestellt. Im Lager nicht, das weiß sie genau, aber sie weiß nicht, was davor vorgefallen war. So oder so, Bruder, Vater würde dir sagen, du wirst sie heiraten müssen. Denn sonst gefährdest du das Bündnis mit den Shouh und mich auch, denn die Shouh Frauen kennen keine Schranken, wenn es darum geht, Verräter in ihren Augen zu bestrafen. Ich aber sage«, sie nahm seine Hand und drückte sie, und auf einmal fühlte er sich so an seine Mutter erinnert, dass er schlucken musste, »Bündnis hin oder her, Bruder, es ist dein Leben. Wenn du sie nicht willst, dann entscheide zu deinen Gunsten und nimm Rücksicht auf niemanden. Nicht auf das Reich, nicht auf mich. Keine Sorge, ich halte das aus.«

Er presste die Lippen zusammen, ließ ihre Hand aber nicht los. »Und dann? Dann stehe ich vor demselben Problem wie vorher, mit einem verärgerten Bündnispartner und ohne Frau und ganz vielen Fürstentöchtern, die sich mir an den Hals werfen oder geworfen werden. Nein, danke. Ich denke, ich werde versuchen, einfach ein wenig mehr Zeit mit ihr zu verbringen. Wie auch immer ich das anstellen soll.«


Der Frühling näherte sich mit Macht und damit der Zeitpunkt, an dem er eigentlich Shoona hätte heiraten sollen. Immer mehr Händler bevölkerten die Stadt, die ersten Delegationen kamen und immer mehr Fürsten, Bittschriften trafen ein, mehr als in den Jahren zuvor, oder kam ihm das nur so vor? Sie alle befanden sich in Wartestellung. Nur worauf? Das vermochte keiner zu sagen.

Er hatte das Gefühl zu ertrinken. Ohne seinen Vater und seine Mutter an seiner Seite war er verloren. Ratsherr Sinan half ihm, so gut er konnte, aber auch er trauerte selbst noch und war über Nacht merklich grauer geworden. Sein Großvater Thorald war auch kein Ersatz, zu weltfremd war seine Art. Nein, er brauchte einen Freund, einen Helfer. Nur, wen? Shoona? Nein. Ihre Kenntnisse des gildaischen Rechts waren mangelhaft, und er hatte weder Zeit noch Muße, sie zu lehren. Orban? Tabitha? Die waren in Marann beschäftigt, die Herrschaft über ihre Siedlung zu festigen, denn Orbans Großvater wurde langsam zu alt für seine Pflichten. Noemi? Politik war ihr fremd. Yemon? Bei dem Namen musste Farlan die Stirn runzeln. Der alte Kamerad seine Vaters, der ja auch so etwas wie sein Ziehonkel war, war seit Siris Tod in tiefe Betrübnis verfallen und kaum noch im Rat zu gebrauchen. Auch traute Farlan ihm nicht über den Weg, warum, das vermochte er nicht zu sagen. Mit Nathan hatte er darüber gesprochen, und der teilte seinen Eindruck. Am besten wäre es, Yemon würde zurück in sein Fürstentum Mukanir kehren und einen Vertreter in Gilda lassen. Nur, dann hockte er dort draußen alleine, ohne Frau, ohne Kinder, ohne Freunde. Farlan konnte ihn verstehen, dass er nicht fort wollte.

Also, wer dann? Schließlich machte Lara einen Vorschlag. Warum teilte er die Aufgaben nicht einfach auf und gab jedem einen Bereich zu tun? Zum Beispiel den beiden Prinzessinnen Noemi und Shoona die Belange der Frauen, Sinan die Belange des Handels, Thorald der fremden Völker und sich selbst die des Heeres?

Daraufhin starrte Farlan sie lange an, bis er sich vor den Kopf schlug. Ja, natürlich! Warum sollte er überall seine Hand draufhalten wie sein Vater? Etwas, das ihn und zugegebenermaßen auch andere immer mehr gestört hatte in den letzten Jahren? Etwas, das seine Eltern derart überlastet hatte? Wollte er so enden wie sie? Nein!

»Du bist meine Rettung!«, rief er aus und umarmte sie fest. Wie gut sie roch, wie Balsam, Balsam für seine Seele! Ganz fest wollte er sie halten und nie mehr loslassen. Wie er sie so hielt, spürte er auf einmal ihren schlanken Körper, fühlte, roch ihre Haut, und es wallte in ihm auf. Erschrocken ließ er sie los. Nein, das dufte nicht sein! War er denn so mit seinen Nerven fertig, dass er sich nicht mehr zu beherrschen vermochte? Er stieß sie fast von sich, als hätte er sich verbrannt.

»Ich danke dir«, presste er in seiner gewohnten steifen Förmlichkeit hervor.

Lara stand vor ihm, den Blick gesenkt, und schluckte. Auch ihre Beherrschung wurde dünner unter diesen ständigen schmerzhaften Stichen, die ihr sein Verhalten beifügte, aber das konnte er nicht ahnen und sollte er schon gar nicht erfahren. Stets trafen sie sich im Dunkeln, sodass ihm ihre müden Züge, die dunklen Ringe unter den Augen nicht auffielen. Sie schlief nicht genug, jetzt, da Amaya und Iovan da waren, erst recht nicht, und wenn sie sich nachts mit niemandem traf, lag sie schlaflos da, weil ihre Gedanken sie wach hielten.

Aber etwas musste er ahnen, denn plötzlich spürte sie, wie seine Hand sanft ihr Kinn umfasste und es anhob. »He, was ist denn?«

»Ach, nichts. Ich bin nur... müde. Ich schlafe zu wenig.«

Er ließ sie sofort los. »Und daran bin ich schuld. Verzeih mir.«

Sie trat sofort einen Schritt zurück, bevor er noch mehr erahnen konnte. »Lass uns gehen.« Schon war sie wieder fort, und er fragte sich, warum nur plötzlich ein Gefühl der Leere zurückblieb, so, als hätte er etwas verloren.


Letzten Endes wurde ihm die Entscheidung, was aus dem Reich und seiner geplanten Ehe werden sollte, abgenommen.

Ein einzelner Reiter näherte sich Gilda. Gekonnt hatte er sämtliche Posten auf dem Weg hierher umgangen, denn er war Steppenbewohner und kannte den Weg nach Gilda genau. Doch an der Stadtgrenze war dann Schluss mit der Heimlichkeit. Wenn die Wachen Gildas eines aus den Vorfällen rund um die Königsfamilie gelernt hatten, dann darauf zu achten, wer sich ihrer Stadt näherte und was genau in und um sie herum vorging.

Gleich der erste Posten, den er traf, erkannte ihn. »Fürst Cem! Was verschafft uns die Ehre Eures Besuches?« Der Kundschafter schaute über Cems Schulter, aber da er dort kein Gefolge entdecken konnte, zog er fragend die Augenbrauen hoch.

›Verdammt!‹, dachte Cem. So viel zu seinem schönen Plan, erst einmal Iovan allein sprechen zu wollen. Jetzt musste seine Ankunft offiziell verkündet werden. »Ich wünsche, meinen Schwager Iovan und Ihre Hoheiten, König Currann und Prinz Farlan, in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen«, sagte er und fluchte innerlich aus vollstem Herzen. Das kam einer Vorladung vor dem Rat gleich, doch später sollte Cem aufgehen, dass es so besser gewesen war, denn alles andere hätte so ausgesehen, als hätten sie etwas zu verbergen.

Der Wachposten deutete eine Verneigung an. »Folgt mir. Seine Majestät, der König, ist derzeit nicht zu sprechen, da er sich in Trauer um die Königin befindet. Sämtliche Gesuche sind an seinen Sohn und den Rat zu richten.« Das war die offizielle Version, welche an alle Soldaten und Bediensteten herausgegeben worden war.

Falls Cem sich wunderte, so zeigte er das nicht. Er bat lediglich darum, nicht in der Stadt ausgerufen zu werden, wie es die Fürsten für gewöhnlich bei ihrer Ankunft zu halten pflegten, sondern folgte dem Wachposten stumm durch die Stadt, das Gesicht unter seiner Kapuze verborgen, sodass ihn niemand erkannte.

Dementsprechend entgeistert begrüßte Iovan seinen Schwager. »Was machst du hier?!« Sie umarmten sich auf die brüske Art der Männer, die mit einem Schlag auf die Schulter einherging. Niemand, so beobachtete Farlan, wäre auf den Gedanken gekommen, dass die beiden weit mehr verband als eine reine Männerfreundschaft, und das musste auch so bleiben, dort draußen noch weit mehr als in Gilda.

»Ich bin so schnell hergeritten, wie ich konnte. Es gibt Schwierigkeiten.« Cem nahm dankbar einen Becher mit Wasser entgegen, den Farlan ihm reichte, und stürzte ihn in einem Zug hinunter. Er war wie der Teufel geritten, Tag und Nacht. »Vor ein paar Tagen kam die Botschaft zu uns, dass euer Vater darniederliegt und nicht mehr fähig ist, die Königswürde zu tragen. Stimm das? Ist er nicht nur in Trauer, wie mir die Wache vor der Stadt erklärte?«

»Warum stellst du diese Frage?« Farlan war nicht gewillt, etwas preiszugeben, solange er nicht den Grund dafür kannte.

Sein Bruder dagegen hatte sofort begriffen. »Nein! Sagt nicht, dass Kaleem und die anderen...«

Cem nickte grimmig. »Sie haben sich von uns losgesagt und sind in die Steppe aufgebrochen und... er hat Irun mitgenommen, sie einfach entführt, am helllichten Tag.«

»Waas?!«, rief Iovan und packte ihn am Kragen seines verschmutzten Umhanges.

Cem wischte seine Hand weg. »Die Alten haben versucht, alle ihre Töchter und Enkelinnen zu entführen, aber die meisten konnten sich wehren und in Sicherheit bringen. Nur Irun... du weißt, was geschieht, wenn sie vor ihrem Vater steht, wie sie ganz still und hilflos ist.«

»Immer noch?«, fragte Farlan dazwischen. »Man sollte meine, sie hätte allmählich gelernt...«

»Schweig still!«, fuhr Iovan ihn an. »Meine Frau hat ihr Leben lang nur Leid von Männern erfahren. Nur bei mir fühlt sie sich sicher.«

»Und warum hast du sie dann nicht mit hergebracht?« Diese Frage konnte sich Farlan nicht verkneifen, und er tat es bewusst, um die beiden zu provozieren, auf dass sie mehr preisgaben als bisher. Diese Heimlichkeiten, diese Hilflosigkeit, sie gingen ihm gründlich gegen den Strich.

»Weil sie nicht reisen wollte. Ich sollte auf sie aufpassen, aber das habe ich nicht getan. Es war eine Falle, sie luden uns zur Jagd ein, und währenddessen haben andere zugeschlagen.« Cem ließ sich auf den nächstbesten Sitz fallen. Er sah zu Farlan auf. »Du hast recht, das tut jetzt nichts zur Sache.«

Dieser Satz zeigte Farlan, dass er Cem nicht unterschätzen durfte. Iovan zischte empört, doch Cem hob nur unmerklich den Kopf, und Iovan hielt sich sofort zurück. Dem aufmerksam beobachtenden Farlan kam es bedenklich an. Sie verstanden sich ohne Worte. Eine enge Freundschaft, sehr eng für diejenigen, die genau hinschauten, und es war auch klar, wer das Sagen hatte. Eine bittere Pille für das Königshaus, das ja gewohnt war, stets die Oberhand zu behalten. Er hätte seinen kleinen Bruder erwürgen mögen für seine Schwäche.

»Wie viele sind es?«

»Vielleicht fünfzig Männer mit etwa einem Dutzend Geiseln. Wir können es nicht genau sagen, denn nicht alle Männer scheinen freiwillig mitgekommen zu sein. Die Alten haben genauso wie mein Onkel ihre Schwiegertöchter und deren Kinder entführt und so ihre Söhne gezwungen mitzukommen.«

»Und warum bist du nicht hinter ihnen her?!«, fragte Farlan scharf. Iovan, dem dieselbe Frage auf der Zunge gelegen hatte, klappte seinen Mund wieder zu.

»Weil die restlichen Männer beschlossen haben, dass ich als Fürst zu dir und dem König gehen muss, um die Gildaer um Hilfe zu bitten. Die anderen beobachten derweil die Alten heimlich und stellen sicher, dass sich ihre Spur nicht verliert.«

»Du willst also, dass wir mit dem Heer ausrücken?« Farlan stand mit gerunzelter Stirn da und hatte die Arme verschränkt.

»Das dürfen wir nicht!«, rief Iovan. »Irun ist die erste, die das zu spüren bekommen würde. Der Herr weiß, was sie jetzt nicht alles schon...«

»Ruhe!« Mehr brauchte Farlan nicht zu sagen. »Ich gebe dir recht, aber aus anderen Gründen, Iovan. Es ist keine Lösung, mit dem fremden gildaischen Heer dorthin zu marschieren und mit Gewalt etwas zu erzwingen. Nein, das muss aus euren eigenen Reihen kommen, damit sich endlich das Denken der Menschen ändert. Wache!«, rief er laut in Richtung Tür.

Gleich darauf erschien der vor der Tür postierte Wachmann und entbot ihm einen Heeresgruß. »Hoheit!«

»Holt mir Heerführer Derkan und Kommandant Nathan her. Wir brauchen ihren Rat in einer dringenden Angelegenheit.«

»Hoheit!« Der Wachsoldat eilte davon.

Später saßen sie alle zusammen über der Karte des von Cem regierten Gebietes.

»Es nützte nichts, dort mit unserem Heer aufzumarschieren und sie mit Gewalt zu bezwingen«, wiederholte Farlan und sah in die Runde, »denn das stiftet nur Unfrieden. Wenn dein Vater erschlagen wird, wirst du selbst zum Gegner seines Mörders, egal, wer er war. Wenn du aber ihn selbst erschlägst, weil er ein grausamer Mensch war, erlangst du die Achtung aller, die unter ihm gelitten haben. Nein, das Heer wird nicht eingreifen.«

»Fal! Wie kannst du...«

»Schweig!« Farlan brauchte nicht einmal die Stimme zu heben.

Iovan verstummte sofort. So hatte er seinen Bruder noch nie erlebt, so bedingungslos, so hart. ›Der Himmel weiß, was er alles erdulden musste in letzter Zeit‹, dachte er und hielt fortan den Mund.

»Aber«, fuhr Farlan fort, »wir werden euch unterstützen und vorher alle Frauen dort herausholen. Heerführer, welche Männer sind geeignet für diese Aufgabe?«

»Es gibt nur eine Gruppe, die geeignet ist: Prinz Phelans Kundschafter. Sie haben den Winter über mehr oder weniger untätig herumgesessen und werden froh sein, etwas zu tun zu bekommen. Und vielleicht Nadims Leute, wenn wir sie denn ausfindig machen können.«

»Die Rosenträger?«, merkten die Brüder verwundert auf. Das war ein Begriff, der seit Jahren im Heer verwendet wurde für die alten vereidigten Widerständler gegen die Schreckensherrschaft des Einen Tempels. »Die sind doch uralt!«, fügte Iovan hinzu.

Heerführer Derkan schüttelte den Kopf. »Einige ja, aber nicht alle. Hoheit, es fehlt immer noch ein Kommandant über die Kundschafter, und ebenso jemand, der Nadim beerbt. Er war seit Jahren nicht hier«, erinnerte er an eines der vielen ungelösten Probleme, die Farlan derzeit hatte.

»Kein Wunder, er ist weit über sechzig Jahre alt. Wir werden schnellstens jemanden finden müssen«, seufzte Farlan.

»Schicke doch Nadim eine Botschaft und frage ihn, er kennt alle«, warf Nathan ein.

Farlan war ihm nach kurzer Überlegung dankbar für diesen Vorschlag, denn darauf war er noch nicht gekommen. Er wusste nur, dass sein Vater dem alten Kundschafter mit einem gewissen Misstrauen gegenübergestanden hatte, was aber auf den Rest der Familie, insbesondere auf Nathan nicht zutraf. »Wenn dieses Problem gelöst ist, reitest du zu ihm und leitest das in die Wege«, entschied er.

»Also sollen wir die Frauen herausholen, damit Cem und seine Männer dann zuschlagen können?«, fragte Iovan.

»So ist es«, nickte Farlan und ging gleich zum nächsten Angriff über, seine ganz persönliche Rache an seinem Bruder und dessen Freund, für ihre Feigheit und Unfähigkeit. »Gleichzeitig aber wird Kommandant Belan sich mit seiner Truppe an der Grenze bereithalten und unsere Truppen auf der anderen Seite ebenfalls. Solltet ihr scheitern, wird euer Volk erobert und eure Herrschaft enden, ohne Wenn und Aber.«

Damit waren sie entlassen, das merkten die beiden jungen Männer deutlich, und sie entfernten sich.

Kaum waren sie fort, sah der Heerführer den jungen Thronfolger ernst an. »Ihr wisst, dass eine derartige Aberkennung der Fürstenwürde und die Einverleibung eines Fürstentums nur der König befehlen kann, mit der Zustimmung des Rates.«

»Das wird er aber nicht, Heerführer, nie wieder«, erwiderte Nathan und schaute seinem Bruder direkt in die Augen, etwas, das er für gewöhnlich vermied, denn er wusste, was für eine lähmende Wirkung seine Blicke hatten.

»Ich weiß, verdammt!« Farlan presste die Lippen zusammen.

»Dann überlege dir etwas Bruder, und zwar schnell.«

»Das sehe ich genauso«, nickte der Heerführer und seufzte. »Ohne den Niedergang unseres Königs wären sie wohlmöglich nie auf den Einfall gekommen, sich zu erheben.«


»Verdammt, was soll ich nur tun?!«, rief Farlan in der Nacht.

Lara saß auf der Schlafstätte in der kleinen Höhle und sah seinem unruhigen Marsch im Mondlicht zu. »Hast du denn eine Wahl?«

»Waas?!« Er fuhr herum. »Wie meinst du das?«

»Nun«, Lara hob die Schultern, kaum auszumachen in der Dunkelheit, »das Reich, so, wie dein Vater es erschaffen hat, bricht gerade in atemberaubender Schnelligkeit auseinander, merkst du das nicht? Bisher sind es nur die neu hinzugekommenen Fürstentümer, die aufbegehren – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen wie Shaun – aber wie lange wird es dauern, bis es auch andere tun? Du weißt doch, dass die Fürsten deinem Vater seine Art, immer alles unter Kontrolle zu haben, verargen. Und du erlaubst ihnen jetzt schon mehr Freiheiten. Manch einer mag das als Schwäche auslegen und sich viel mehr herausnehmen.«

Farlan starrte auf sie herab. »Das sollen sie nicht wagen!«

»Sie werden es, denn weißt du, was ich heute im Heilerhaus gehört habe?«

»Was?« Es war nur noch ein unterdrücktes Zischen. Farlan fühlte einen Zorn wie noch nie in seinem Leben.

Lara tat es in der Seele weh, ihm das zu berichten, aber es musste sein. »Zwei Soldaten unterhielten sich über dich, leise zwar, sodass die anderen Wartenden das nicht hören konnten, aber ich hatte im Lager hinter ihnen zu tun und bekam jedes Wort mit. Die Schwester des einen ist Dienstmagd im Haushalt eines der Fürsten und hat ihm berichtet, dass die Fürsten sich von Zeit zu Zeit dort treffen.«

»Und dann was tun?« Farlan ballte die Fäuste.

»Sie beraten, welche Haltung sie dir gegenüber einnehmen sollen. Viele der Fürsten halten dich für schwach, für ein Muttersöhnchen, für das, was du immer befürchtet hattest. Weil du bisher keine Entscheidungen getroffen hast, nicht treffen konntest, ich weiß! Und jetzt diese in andere Hände legst. Selbst auf dem Feldzug letztes Jahr hatten andere das Kommando inne, dein Onkel, der Heerführer. Sicherlich, und das erkennen sie an, du hast dich tapfer geschlagen und hast Rückhalt im Heer und im Volk. Aber für die Herren Fürsten zählen nun einmal nur Strenge und rücksichtslose Stärke. Jemand, der das Reich zusammenhält, und das tust du derzeit nicht. Sie sagen, du hängst wie ein Fähnlein im Wind der stürmischen Zeiten.«

Farlan war wie gelähmt ob dieser Eröffnungen. »Und, denkst du das auch?«, flüsterte er heiser.

Sie erhob sich mit einer fließenden Bewegung und umfasste sein Gesicht. »Nein. Ich denke, dass du stark bist und das Richtige tun wirst. Du wirst es ihnen allen beweisen, sie alle überraschen. Und wenn du einmal genau nachdenkst, dann weißt du auch, was du jetzt tun musst.« Ihr Herz hämmerte hart in ihrer Brust bei diesen Worten. Das kam einer heimlichen Macht im Königreich gleich, sie wusste es genau, denn es gab eigentlich nur eine Lösung daraus. Sie sah zu ihm auf, ihre Augen schimmerten. Man hätte es für Triumph halten können, aber in Wahrheit waren es Tränen.


An Schlaf war für Farlan in dieser Nacht nicht mehr zu denken. Er wusste, nun musste er handeln, und das schnell. Noch waren alle Verwandten und Freunde da. Er musste etwas tun, bevor sie sich wieder in alle vier Winde zerstreuten, musste handeln, solange seine Freunde und die Vertrauten seines Vaters ihm den Rücken stärken konnten.

Deshalb ging er früh am Morgen, noch vor Sonnenaufgang, als allererstes zu Nathan und bat ihn, seinen Schwiegervater Bayram aufzusuchen. Dieser war einer der Vertrauten Nadims, das wusste Farlan von Nathan, und musste am ehesten wissen, wo die geheimen Kundschafter, die Rosenträger, zu finden waren.

Am Ende des Tages im Geheimen hatte Farlan nicht nur ein genaues Bild von den Ansichten und Absichten der Fürsten, sondern auch zahlreiche Eide erneuert. Diesmal auf sich selbst. Er wusste, dass er damit quasi Hochverrat beging wie sein Vater einst, und hatte deshalb den Eid nur unter gewissen Bedingungen gefordert, solange sein Vater nicht fähig war zu regieren, und er war ihm ohne zu zögern gewährt worden. Ja, es schien, als seien die Kundschafter froh, dass es endlich wieder voran ging, und manch einer hatte sogar einen Vorschlag parat, wer denn ihr neuer Anführer werden sollte. Da jedoch zögerte Farlan. Das war eine sehr mächtige Position, und er wollte sie nur an jemanden vergeben, dem er absolut vertraute. Deshalb ließ er sich Zeit mit dieser Entscheidung und erst einmal nur sich selbst berichten.

Mit einer anderen Entscheidung jedoch nicht. Lara hatte nur die Spitze des Eisberges erfahren, die Abwanderung der Fürsten ging tiefer, viel tiefer. Manch einer war sogar schon dabei, eigene Gesetze in seinem Fürstentum einzuführen. Gesetze, mit denen er viele Änderungen der letzten Jahre, die nur zähneknirschend mitgetragen worden waren, wieder rückgängig machen wollte. Das konnte und wollte Farlan nicht tolerieren.

Noch am Abend rief er seine engsten Vertrauten zusammen. Nathan, seinen Großvater Thorald, Sinan und die alten Kameraden seines Vaters. Und den Heerführer, natürlich. Nicht Iovan, Amaya und ihre neuen Familien. Keine eigenen Freunde. Er hatte keine, denen er genug vertraute. Das war ihm noch nie so bewusst wie jetzt.

»Nat, sei so gut und schicke die Wachen vor der Tür fort. Lass sie alle Zugänge zu diesem Trakt bewachen und niemanden sich uns nähern.« Ernst sah er in die Runde und begann schließlich zu berichten.

Sinan seufzte nur, als er von Farlans Erkenntnissen hörte. »Ich habe so etwas befürchtet. Vor allem merke ich es daran, was die Leute mir nicht erzählen. Was hast du jetzt vor?«

Farlan schaute in die Runde dieser müden Gesichter. Das waren sie alle, alt und müde. Zeit, dass sich die Dinge gründlich änderten, dachte er grimmig. Er selbst fühlte eine Kraft wie noch nie, den Drang, vorwärts zu gehen. »Ich berufe den vollständigen Rat ein. Morgen. Und dort verkünde ich Vaters... Abdankung. Und meine Übernahme der Herrschaft. Wir haben keine Wahl.«


Die Verkündigung des folgenden Tages erschütterte das gildaische Reich bis in seine Grundfesten. Nicht so sehr die Fürsten, denn die ahnten schon, dass etwas Derartiges folgen würde, als sie und nicht ihre Vertreter vollzählig vor den Rat gerufen wurden, sondern das Heer und das Volk. Die Würdenträger der Stadt, die Schwestern, die Mönche, die Händler, Handwerker und Hirten, die Soldaten, eben alle, die eine feste Aufgabe in diesem lebendigen und so schaffenskräftigen Volk hatten.

Er stellte den Rat vor vollendete Tatsachen und übernahm im Handstreich die Macht. Nur ein paar Wochen später, als er alle noch fehlenden Fürsten zusammengerufen hatte, ließ er sich an einem sonnigen, aber sehr windigen und kalten Tag zum König krönen und heiratete auch gleich Shoona in derselben Zeremonie.

Nach dem anfänglichen Schock zeigten sich alle erleichtert, dass die Zeit der Unsicherheit und des Wartens vorbei war und sie endlich wieder wussten, woran sie waren. Mit dieser Tat stieg der junge Thronfolger erheblich in der Achtung der Fürsten und gab ihnen gehörig zu denken, vor allem, als sie beim anschließenden Empfang eine Vorladung für den nächsten Tag erhielten und ihren Eid persönlich und nicht in der großen Versammlung wie sonst üblich ablegen mussten.

Farlan fühlte eine Mischung aus wildem Triumph und tiefer Trauer, als dieser lange Tag zu Ende ging und es nur noch eine Pflicht zu erfüllen galt. Eben hatten die Frauen Shoona fort geführt, jetzt erhob er sich unter den verhaltenen Scherzen seiner Brüder und Kameraden. Feiern taten sie nicht, es hatte nur einen kleinen Empfang, der immer noch die halbe Halle füllte, gegeben. Shaun postete ihm zu, die dunklen schmalen Augen blitzend vor... ja, was? War es Freude? Triumph? Auf einmal beschlich Farlan wieder das Gefühl, dass er in eine Falle lief. Die Anwesenden hoben ihre Becher und tranken auf sein Wohl, während er seinen Krönungsumhang umlegte und von einer Ehrengarde aus dem Raum eskortiert wurde.

Das war der Moment, vor dem er sich insgeheim gefürchtet hatte. Dies gestand er sich aber erst ein, als er vor dem Tor zu ihren neuen Gemächern stand und die Frauen mit einem unterdrückten Kichern vor ihm knicksten und an ihm vorbei schlüpften. Keine Trauer um keine Königin der Welt konnte das Vergnügen schmälern, eine Braut zu Bett zu bringen, das wusste er wohl. Zum Glück, dachte er, hatten sie nicht solche Bräuche wie die Shouh. Er wüsste dann nicht, was er jetzt getan hätte.

Im Hauptraum ihrer Gemächer lag ihr Hochzeitsgewand ausgebreitet, ein Symbol, dass sie nun bar aller Kleidung sein war. An dem Kleid musste sie schon Monate vorher gearbeitet haben, denn diesen Aufwand, die vielen kleinen aufgestickten Perlen und Ziermuster hätte sie niemals in diesen wenigen Tagen bewerkstelligen können. Keine Frage, sie hatte darin wunderschön ausgesehen, wie eine wahre Prinzessin und künftige Königin. Doch nun zählte nicht mehr die Pracht, sondern nur noch sie selbst. Sie beide.

Mit einem Mal war Farlan nervös. Dem Brauch der Offiziersanwärter, bei jeder sich bietenden Gelegenheit durch die Hurenhäuser der Wirtsgasse zu ziehen, war er nie gefolgt, weshalb er sich nicht unbedingt Freunde unter ihnen gemacht hatte. Seine Erfahrungen mit Frauen beschränkten sich auf das allererste Mal in der Wirtsgasse, danach war er nie wieder dorthin gegangen. Nun wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte und was sie von ihm erwartete. Schön, wie sie war, sollte man meinen, sie ziehe ihn an, aber das war nicht der Fall.

Farlan holte tief Luft, bevor er ihr künftiges gemeinsames Schlafzimmer betrat. Es war nur eine weitere Pflicht in einer ganzen Reihe. Das zumindest redete er sich ein. Doch kaum schaute er durch die Tür, wurde er vollkommen überrascht. Er hörte sie hastig Luft holen, und dann sah er sie in ihrem künftigen Ehebett, klein und schmal und leichenblass. Ihre Augen erschienen ihm riesig in dem von der schwarzen Haarflut umrahmten Gesicht, die Kieferknochen traten deutlich hervor, so sehr biss sie die Zähne zusammen. Das war nicht nur Unsicherheit, erkannte er. Sie hatte Angst. Nur warum? Langsam ließ er seinen schweren Umhang zu Boden gleiten und ging auf sie zu.

»Was ist mit dir?«

Sie schluckte. »Ich... ich...« Ihre Worte klangen erstickt. Sie zog die Decke noch ein Stückchen höher.

Dieses Bild passte so wenig zu der ruhigen, würdevollen Prinzessin, die er kannte, dass er sich fragte, ob er überhaupt dieselbe Person vor sich hatte. Oder bekam die Maske endlich Risse? Jetzt, da sie ihr Ziel erreicht hatte? Dieser Verdacht drängte mit Macht in ihm hoch. Er setzte sich auf die Brettkante. »Spuck’s aus, Shoona. Wir sind jetzt Mann und Frau. Was kann dir noch geschehen?«

»Eine Menge«, flüsterte sie, und eine einzelne Träne rann ihr die Wange herab. Sie holte tief Luft. Ihr Blick irrte zur Seite.

Das kannte Farlan nur allzu gut. Er beugte sich vor. »Shoona! Sieh mich an! Hast du mir etwas zu sagen?« Sie schloss die Augen und barg das Gesicht in den Händen.

Da wurde Farlan wütend. Er packte ihre Hände und riss sie herunter, so brutal, dass sie erschrocken die Augen aufriss. »Haben die Cerinn... haben sie dich bekommen? Antworte mir!«

Sie starrte ihn furchtsam an. Er packte sie am Kragen ihres Nachtgewandes. »Ant-wor-te mir!« Jede Silbe unterstrich er mit einem Ruck, dass die Nähte knackten. Ihr Blick flackerte, doch dann, ganz unmerklich, nickte sie. Farlan sah rot. ›Hereingelegt!‹, schoss es durch ihn. Angewidert stieß er sie von sich. Er wusste genauso wie sie, dass ihre Ehe nicht mehr aufgelöst werden konnte, es sei denn, durch den Tod.


In der kleinen Höhle lag Lara auf der Schlafstätte und starrte mit vor Müdigkeit brennenden Augen in die Dunkelheit. Tränen hatte sie schon lange keine mehr, seit der Nacht, da sie Farlan klar gemacht hatte, was er zu tun hatte. Bei den heutigen Zeremonien mussten alle Schwestern anwesend sein, und sie hatte mit ansehen müssen, wie er für immer an die Seite einer anderen gebunden wurde. Das war ein Anblick, kaum für sie zu ertragen. Farlan war ihr wie von einem Feuer ergriffen erschienen, einem zornigen Feuer. Nicht, dass ein Außenstehender darauf gekommen wäre, aber sie hatte es deutlich gesehen.

Lara schloss die müden Augen. Vielleicht konnte sie ja jetzt endlich... da hörte sie ein Geräusch. Sie war mit einem Satz von der Schlafstatt herunter und duckte sich in eine Nische neben dem Durchgang. Farlan konnte das nicht sein. Hoffentlich kamen Nathan oder Iovan und sein Freund Cem – über die beiden wäre sie nicht nur in einer Nacht beinahe gestolpert – nicht auf den Einfall, die kleine Höhle aufzusuchen.

Es waren schwere, hastige Schritte, beinahe stolpernd. Lara hielt die Luft an, als eine große Gestalt an ihr vorbei fegte und keuchend an der Außenöffnung stehen blieb. Sie richtete sich langsam auf und schluckte. »Fal?«

Er hob den Kopf. Ballte die Fäuste. Aber noch drehte er sich nicht um. »Fal? Was ist geschehen?« Ohne dass sie es wollte, war sie an ihn herangetreten und hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt.

»Nicht!« Mit einem Ruck entzog er ihr seine Schulter, doch sie ließ sich nicht beirren, strich ihm sanft den Arm herab, meistens eine todsichere Methode, ihn zu beruhigen. Doch diesmal geschah das Gegenteil.

Er fuhr herum, packte sie, drückte sie an sich, als wolle er ihr alle Knochen brechen, und dann war da plötzlich sein Mund auf ihrem. Er küsste sie wie ein Ertrinkender. Sie taumelten zur Bettstatt, fielen auf die Felle. Lara nahm nichts mehr wahr außer diese Berührungen und das Hämmern ihres Herzens, das direkt in ihrem Kopf zu schlagen schien im Takt ihrer Gedanken. ›Endlich... Endlich... Endlich!‹ Stoff riss, seine Hände wühlten sich unter ihre Kleider und fanden, was sie suchten. Es machte nichts, dass er ihr wehtat, sie wollte es ja so sehr, schon so lange. Also stürzte sie mit ihm in die Flammen, und der Schmerz verging in reiner Freude.

Doch mit einem Mal ließ er sie los, so plötzlich, wie er über sie hergefallen war. Als Lara ihre Sinne soweit wieder beisammen hatte zu begreifen, dass er nicht mehr bei ihr, in ihr war, entdeckte sie ihn zusammengekrümmt in einer Ecke der Höhle.

»Verzeih mir... verzeih mir!«, stöhnte er in einem fort und schlug auf sich ein.

»Fal, hör auf!« Lara stand auf. Dabei glitten die letzten Kleidungsschichten zu Boden. »Sieh mich an!«, befahl sie, und es lag etwas in ihrer Stimme, dass ihn sofort gehorchen ließ.

Ihm stockte der Atem. Nackt und mit gelösten Haaren stand sie dort im Mondlicht und war ihm noch nie so schön vorgekommen wie jetzt. Er schluckte hart und stand langsam auf.

»Wofür schämst du dich nur so?«, fragte sie leise.

»Ich habe dir weh getan.«

Sie reckte stolz das Haupt, konnte gar nicht anders. »Liebe und Schmerz und Erfüllung liegen manchmal sehr dicht beieinander. Du hast mir das gegeben, was ich mir schon so lange gewünscht habe. Denn ich liebe dich, Farlan von Morann, und es ist mir egal, ob der Orden oder deine Familie oder das ganze verdammte Königreich zwischen uns steht! Komm her!« Sie streckte die Hände aus. Er konnte sich diesem Befehl nicht entziehen. Wie von selbst nahm er sie in seine.

Diesmal war sie es, die ihn entkleidete, ganz sanft und behutsam. Es heilte im Nu alle Wunden in ihm. Hinterher konnte er auch über seine Braut sprechen, über das, was er herausgefunden hatte, und sie war stark genug, ihm das Richtige zu raten: »Kehre zu ihr zurück, noch heute Nacht. Mache sie zu deiner Frau. Sei sanft zu ihr, sie wird es dir ewig danken, den sie ist voller Furcht.«

Also stand er Stunden später wieder in seinem neuen Schlafgemach und sah auf Shoona herab. Sie schlief, das verweinte Gesicht in seinem Krönungsumhang vergraben. Das Bild rührte ihn irgendwie an, er wusste auch nicht, weshalb. Mitleid überkam ihn, und da er seinen Zorn und seine Leidenschaft an Lara abreagiert hatte, war er in der Lage, sehr sanft mit ihr zu sein. Er musste ja nicht mehr fürchten, ihr Schmerzen zuzufügen. Leise zog er sich aus und schlüpfte unter die Decken. Erschöpft, wie sie war, merkte sie nicht gleich, was er begann, und als sie so wach wurde, dass sie es begriff, hatte er sie bereits so erregt, dass sie sich ihm willig hingab und er sogar Vergnügen dabei empfand, ihr Freude zu bereiten.

Hinterher lagen sie nebeneinander und sahen sich an. Keine Masken mehr und keine Verstellung. »Erzähl mir, was geschehen ist.«

Sie schluckte und schloss die Augen. Farlan zog sie zu sich heran und nahm sie fest in seine Arme, auch ein Zeichen dafür, wohin sie jetzt gehörte und wem sie Loyalität schuldete.

Sie hatte verstanden. Leise begann sie schließlich zu sprechen: »Es ist alles meine Schuld, was mit den Frauen dort draußen geschehen ist. Ich war es, die die Cerinn überhaupt auf den Gedanken gebracht hat.«

»Inwiefern?«, fragte er leise.

»Als...«, sie stockte und wischte sich die Tränen weg, die unwillkürlich wieder liefen, »als die Cerinn uns zu bedrängen begannen und die Männer zu binden, da bin ich zu Yanuk gegangen, um für meine Leute zu bitten. Versteh doch, das war meine Pflicht als ranghöchste Tochter und angehende Priesterin.«

»Moment mal, du solltest Priesterin werden?« Er sah sie erstaunt an, und sie lächelte bitter.

»Hohepriesterin, wie alle ältesten Töchter der Fürsten unseres Volkes. Es ist die höchste Ehre für eine Shouh-Frau. Aber das... ging dann ja nicht mehr.«

»Was ist geschehen?«, fragte er und wischte ihr behutsam die Tränen ab. Er ahnte, was nun kommen würde, und biss innerlich die Zähne zusammen.

»Ich sagte ihm, dass er mich als Geisel haben könne, dass ich mich in seine Hände begeben würde, wenn er dafür mein Volk ziehen ließe. Er hat...«, sie schluckte, holte tief Luft und sprach dann mit brüchiger Stimme weiter, »er hat mich ausgelacht. Und dann hat er seinen Sohn und seine Kumpane herbeigerufen und mich ihnen zum Fraß vorgeworfen. Danach hat er mich gepackt und an den Haaren zu den anderen Shouh Frauen geschleift und... und ihnen gesagt, dass ich ein großes Vorbild für sie sei und sie ihnen genauso dienen müssten wie ich, damit ihre Männer am Leben blieben.«

»Und das haben sie dir zum Vorwurf gemacht?!« Er mochte es kaum glauben.

»Zum Vorwurf? Sie hätten mich am liebsten umgebracht, weil ich sie so entehrt hatte. Nur meine hohe Stellung hielt sie davon ab. Was dann folgte, in dem Lager, weißt du. Als ihr uns befreit habt, sollte man meinen, dass alles wieder gut wurde, aber dem war nicht so. Die Frauen haben in unserem Volk zwar ganz andere Rechte, aber mit einer solchen Geschichte giltst du auch bei uns als endgültig entehrt. Deshalb war ich froh, als Shaun nach Gilda aufbrach und mir anbot, mich mitzunehmen. Ich hatte vor, Zofe deiner Mutter oder deiner Schwester zu werden oder Tibbis, oder vielleicht auch in den Orden einzutreten, aber nachdem du deine Entscheidung kundgetan hast, konnte ich nicht einfach zu deinen Eltern gehen und gestehen... gestehen...«

»Denn dann wäre hier alles genauso geworden. Ich verstehe.« Das war eine bittere Pille, die er da schlucken musste. »Amaya sagt, die Shouh Frauen reden nicht über dich.«

»Ja. Das ist ihre Art, jemanden aus ihrer Gemeinschaft auszustoßen. Es zählt nicht einmal, dass ich Königin geworden bin. Was ich mit meiner Reise hierher niemals beabsichtigt hatte, das schwöre ich, Farlan, du musst es mir glauben! Aber hätte ich deinen Antrag abgelehnt, dann hätte Shaun mich mit zurück nehmen müssen. Dann hätte ich nicht hierbleiben können...«

»...denn einen Königsantrag lehnt man nicht ab, ohne für alle Zeit vom Hofe verbannt zu sein oder hart bestraft zu werden, ich weiß. Oh verdammt! Und deshalb hast du geschworen, allen Frauen in Not zu helfen?«

»Oh ja. Ich will, dass diese Dinge sich ändern, dass sich eine Frau nie wieder verstecken muss. Weder in deinem Volk noch in meinem. Was deine Mutter getan hat, war so mutig und...«

»Es hat sie zerstört«, unterbrach Farlan sie knapp. »Sie ist eine gebrochene Frau danach gewesen. Nein, du wirst keinen Dank ernten, wenn du diese Dinge an die Öffentlichkeit rührst.«

»Aber...«

Er legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Würden deine Frauen an die Öffentlichkeit gehen, sich vor alle stellen? Überleg mal.«

Sie war lange still daraufhin, und Farlan war schon fast eingeschlummert, als sie endlich flüsterte: »Nein. Du hast recht, das habe ich wohl nicht bedacht.«

»Wenn dir ein Weg einfällt, diesen Frauen zu helfen, dann überlegen wir uns gemeinsam etwas. Lass uns nun schlafen. Morgen wird ein langer Tag.«

›So, Lara‹, dachte er in einem Anflug von Grantigkeit, ›mehr kann ich nicht tun, sie mir zum Freund zu machen.‹ Während er ihren ruhiger werdenden Atemzügen lauschte und selbst allmählich weg dämmerte, ging ihm auf, dass es gar nicht so ein unangenehmes Gefühl war, mit einer jungen schönen Frau im Arm langsam ins Reich der Träume hinüberzugleiten.


Am Morgen, bevor die Diener und Shoonas Frauen kamen, besiegelten sie das letzte Kapitel ihres Paktes. Er sah sie an. »Wir brauchen Blut.«

Sie zuckte kurz zusammen, bevor sie verstand und nickte. Er lächelte leicht. »Am besten meins, denn dich werden die Frauen ankleiden.« Er zückte seinen Dolch und ritzte sich mit einem raschen Schnitt die Haut an einer Stelle an seinem Arm ein, die gewiss kein Diener zu sehen bekommen würde. Sie schmierten ein wenig Blut auf ihr Nachtlager, und auch eine Schale mit Wasser und ein Tuch und Shoonas Nachtgewand vergaßen sie nicht.

Fröstelnd zog Shoona ihren Nachtumhang fester um sich und betrachtete ihr Werk. »Sie werden darüber tratschen.«

»Sicher. Deshalb tun wir das ja. Besser, du gewöhnst dich dran. Du kannst dem nur entkommen, wenn du dir eine Zofe, eine Vertraute suchst, der du bedingungslos vertrauen kannst. So hatte es Mutter immer gehalten. Wenn sie sich zurückzog, hatte niemand mehr Zutritt zu ihr außer Nuria. Du solltest dir genauso jemanden suchen.«

»Ja, nur wen?«, fragte Shoona ratlos.

»Sprich mit Nuria. Vielleicht weiß sie Rat.«

Was Shoona auch gleich nach dem Frühmahl tat, wo sie wieder von der ganzen Festgesellschaft freudig begrüßt worden waren. Während Farlan sich auf die Vereidung der Fürsten vorbereitete, nahm Shoona Nuria beiseite.

Nuria nickte, als sie Shoonas Anliegen hörte. »Eigentlich hatten wir damit gerechnet, dass Ihr jemanden aus dem Osten mitbringen würdet. Aber das habt Ihr nicht getan, Hoheit.«

An diese Anrede musste sich Shoona erst einmal gewöhnen. »Nein. Das ging nicht, die anderen Mädchen wollten nicht fort von ihren Familien nach der Zeit im Lager.« Diese Ausrede hatte sie sich zurecht gelegt, falls diese Frage kommen würde.

»Ich kann Euch nicht wirklich helfen, Hoheit. Ihr solltet einen öffentlichen Aufruf machen und Euch Zofen suchen. Sie werden sich in Scharen bewerben.«

»Ja, das werden sie. Aber sie werden Fremde für mich sein, und ich...«

»Vielleicht«, Nuria legte nachdenklich die Finger an die Lippen, »vielleicht solltet Ihr es bei Naja versuchen. Sie hat sich ja schon ein wenig erholt und fürchtet, dass man sie als Last empfinden könnte. Was denkt Ihr?«

»Wenn sie denn kräftig genug ist... warum nicht? Sie wird Angst haben, Fehler zu machen. Das müssen wir ihr ausreden.«

»Ach, da macht Euch mal keine Sorgen. In diesen Zeiten des Umbruchs gibt es vielerlei neue Dinge, sodass vermeintliche Fehler nicht ins Gewicht fallen. Ihr solltet es mit Naja versuchen und Euch noch ein paar andere anstellen.«

»Und... was ist mit Euch?«, fragte Shoona zögernd.

»Ich...« Nuria schloss die Augen. »Ich werde zusammen mit der Herrin Noemi für die Kinder da sein, bis sie größer und aus dem Haus sind. Außerdem hat Farlan mich gefragt, ob ich nicht seine Haushofmeisterin werden will.« Nuria seufzte.

»Eine hohe Ehre. Das lenkt Euch von Eurer Trauer ab.«

»Oh ja.« Nuria musste sich kurz abwenden. Als sie sich wieder umdrehte, lächelte sie zittrig. »Der Gedanke muss auch anderen gekommen sein. Gestern habe ich gleich zwei Anträge bekommen, stellt Euch das vor.«

»Nein!« Shoona riss die Augen auf. »Von wem?«

Nuria errötete leicht. »Von Nathans Hauptmann und von... Heerführer Derkan. Ihr wisst, er ist nicht verheiratet, war es nie. Deshalb hat es mich vollkommen überrascht. Der Hauptmann war ja schon immer sehr freundlich zu mir, aber der Heerführer? Wir haben kaum jemals ein Wort miteinander gewechselt. Ihr seht, mir stehen alle Möglichkeiten offen.«

»Ja, das stimmt, und nach Königin Siris Tod wollt Ihr keiner neuen Königin dienen. Nein, lasst nur, Nuria«, sagte Shoona schnell, als Nuria protestieren wollte, »ich kann das verstehen. Also, wen rufe ich als meine Zofen an den Hof?«


Fortan war Shoona als Königin an seiner Seite. Daran musste sich Farlan erst einmal gewöhnen, denn vorher war er stets allein gekommen und vergangen, hatte sich nur zufällig seinen Eltern angeschlossen, meistens jedenfalls. Das ging nun nicht mehr. Aber, so stellte er amüsiert fest, es hatte auch eine ganz andere Wirkung, wenn sie gemeinsam ihre Auftritte hatten. Die Ankündigungen, der Einzug, das ganze Zeremoniell. Plötzlich verhielten sich die Leute ihnen gegenüber ganz anders, irgendwie... ehrerbietiger. Das ging schon mit den Eiden los. Farlan ließ es sich nicht nehmen, die Fürsten nach den Eiden auch mit seinen Erkenntnissen zu konfrontieren. Die meisten waren regelrecht erschrocken, auch wenn sie das gut verbargen. Sie hatten ihn unterschätzt, und zwar gründlich. Er legte ihnen Zügel an, zurrte sie fest, und er machte es gut, wie alle in seiner Umgebung beobachten. Ohne sie zu beleidigen und sie in Grund und Boden zu verdammen oder als unmündige Kinder dastehen zu lassen.

Es war, als ginge ein Aufatmen durch das Reich. Die Zeit der Unsicherheit war vorbei, endlich wurden wieder Pläne geschmiedet, endlich ging es voran. Gleich am Tag nach den Eiden leitete Farlan den Feldzug in die Wege, schickte Bruder und Soldaten mit genauen Anweisungen aus. Dann plante er eine Staatsreise mit seiner neuen Frau und seinen älteren Geschwistern und Cousinen, jedes noch so kleine Fürstentum ihres riesigen Reiches zu besuchen, ein Unterfangen, was einen enormen Aufwand bedeutete. Er wollte die Königsfamilie von ihrem Schmerz ablenken und, so gestand er mit einem leisen Lächeln, die Grundlage für künftige Ehen und Bündnisse legen. Was gab es schließlich Besseres, als jemanden zu ehelichen, mit dem man bereits fest befreundet war?, dachte er mit einem leisen Stich.

Denn seine Vertraute war eben nicht seine Frau, so sehr sie auch einen Pakt geschlossen hatten. Mit seinem neuen Haushalt war es sehr schwierig für ihn, einfach nachts zu verschwinden, und so wurden die Zusammentreffen mit Lara seltener, dafür aber umso intensiver. Er fand bei ihr eine Erfüllung, die er sich nie zu träumen gewagt hatte. Aber Shoona vernachlässigte er auch nicht, denn er wollte so schnell als möglich einen Erben, und sie nahm seine Aufmerksamkeiten dankbar und mit zunehmender Leidenschaft an.

Je mehr sein Leben einen Rhythmus bekam und er sich darin zurecht fand, desto zufriedener wurde er. Ein wenig versöhnte es ihn mit den schlimmen Ereignissen des vergangenen Jahres. Und bei all den Pflichten vergaß er beinahe, dass da ja noch jemand war, der unter unwürdigen Umständen dahin dämmerte und sein neu geschaffenes Leben mit einem Schlag zum Einsturz bringen konnte...


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Trägerin des Lichts - Vergangen

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