Читать книгу Sozialfirmen - Lynn Blattmann - Страница 5

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Marktwirtschaftlich geführte

Sozialfirmen als Chance

Langzeitarbeitslosigkeit ist in der Schweiz ein relativ neues Phänomen. Ein Blick über die Landesgrenzen hinaus zeigt, dass sie andernorts eine längere Geschichte hat. In unseren Nachbarländern ist schon viel ausprobiert worden, um die Folgen langer Arbeitslosigkeit zu mildern. Unzählige Initiativen und Institutionen bieten Tagesstrukturen, Beschäftigung und Qualifikationen an. In Deutschland hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte eine eigentliche »Armutsindustrie« entwickelt, die jährlich sieben Milliarden Euro umsetzt. Auch in der Schweiz wird im Bereich der Arbeitsintegration viel Geld investiert, dennoch stehen heute zahlreiche Modelle und Initiativen unter massivem Spardruck und politischem Rechtfertigungszwang. Sie kämpfen ebenso gegen Resignation wie gegen schwierige, ausgeklügelte Regelungen, die ihnen kaum unternehmerische Freiheit lassen. Generell ist in diesem Bereich heute wenig Innovation zu spüren.

In der Schweiz ist die Situation in der Bekämpfung der Sockelarbeitslosigkeit heute offener und weniger klar. Arbeitslosigkeit war während Jahrzehnten ein Problem, das in Rezessionszeiten auftrat und danach wieder verschwand. Auch in der Sozialhilfe, die der Arbeitslosenversicherung nachgelagert ist, stiegen die Fallzahlen langsam und bis vor wenigen Jahren nur vorübergehend an; einer Periode von vermehrten Anträgen für finanzielle Unterstützung durch die Sozialhilfe folgte in der Regel ein Rückgang derselben. So konnte sich keine langfristige Arbeitslosigkeit verfestigen, das System blieb durchlässig. Wer in guter Konjunkturlage wieder eine Stelle finden wollte, fand auch eine. Für viele unbemerkt, änderte sich dieser Zustand in der Schweiz in den 1990er Jahren. Nach einer konjunkturell starken Phase sanken ab 2007 die Sozialhilfezahlen vorübergehend. Heute leben in einzelnen Städten über 6% der Bevölkerung von Sozialhilfe. 1Angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise und der stark abgeschwächten Konjunktur ist mit einem erneuten Anstieg der Fallzahlen zu rechnen.

In der Schweiz stellt sich jetzt die Frage, wie wir als Sozialstaat und als Bürgerinnen und Bürger dieser Entwicklung begegnen wollen. Wir müssen uns entscheiden, was wir als Mitglied einer Kommune, einer Sozialversicherung, eines Kantons, des Bundes oder als Einzelpersonen gegen die Gefahr unternehmen, dass sich die Strukturen derart verfestigen, dass Langzeitarbeitslosigkeit zu einem dauerhaften Ausschluss aus der Arbeitswelt führt. Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes kann schlecht beeinflusst werden. Aber es ist möglich, die sozialen Sicherungssysteme durchlässiger zu machen und die Übergänge zwischen finanzieller Unterstützung und selbständiger Existenzsicherung für die Langzeitarbeitslosen einfacher zu gestalten; außerdem können Arbeitsplätze geschaffen werden für Menschen, die arbeiten wollen, aber keine Stelle finden.

Die Stiftung für Arbeit St. Gallen hat sich aus unterschiedlichen Gründen für den sozialunternehmerischen Weg begeistert. Nicht, weil ihr der Glaube daran fehlt, dass auch von anderer Seite gute Lösungen gefunden werden können, sondern weil der unternehmerische Ansatz gerade im Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit viele neue Perspektiven eröffnet.

Langzeitarbeitslosigkeit verlangt nach anderen Modellen in der Arbeitsintegration als der Bereich der Invaliden oder Schwerbehinderten, wie diese Zielgruppe in Deutschland genannt wird. Während bei den meisten Behinderten die Beschäftigung im Vordergrund steht, ist im Zusammenhang mit Langzeitarbeitslosen die Reintegration in die freie Wirtschaft immer oberstes soziales Ziel. Arbeitsintegrationsmaßnahmen müssen also eine optimale Vorbereitung und ein Training im Hinblick auf eine reguläre Stelle in der freien Wirtschaft bieten. Angesichts der sich verfestigenden Sockelarbeitslosigkeit darf jedoch die Tatsache nicht vergessen werden, dass es in absehbarer Zeit nicht allen gelingen wird, wieder eine reguläre Stelle zu finden. Arbeitsintegration bedeutet deshalb nicht in jedem Fall eine Reintegration in die freie Wirtschaft; für viele muss sie auch so ausgestaltet werden, dass eine längerfristige Reintegration in die Arbeit möglich ist, auch wenn diese in einem teilsubventionierten Integrationsunternehmen stattfindet. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass die Arbeitsintegration nicht befristet ist und ein Arbeitsumfeld geschaffen werden kann, das zwar im Zweiten, also subventionierten Arbeitsmarkt angesiedelt ist, sich aber formal nicht von einer Stelle in der freien Wirtschaft unterscheidet. Es braucht also Unternehmen, die marktwirtschaftlich ausgerichtet sind und eine langfristige arbeitgeberische Verantwortung für die langzeitarbeitslose Belegschaft übernehmen können. Dies setzt reelle Kunden und Aufträge voraus. Reine Beschäftigung oder die Herstellung von Produkten, für die es keinen Markt gibt, erachten wir als demotivierend und entwürdigend.

Arbeit, die gebraucht wird, und ein leistungsgerechter Lohn sind wichtige Voraussetzungen für die Stärkung der Eigeninitiative. Diese soll auch der Kernpunkt einer Sozialfirma sein, wie wir sie propagieren. Genau genommen bieten Sozialfirmen schlicht Chancen für diejenigen, die sich aus eigener Kraft buchstäblich wieder aus ihrer Langzeitarbeitslosigkeit herausarbeiten wollen, und sie stellt sinnvolle langfristige Arbeitsplätze zur Verfügung, in denen auch leistungsbeeinträchtigte Arbeitnehmende einer befriedigenden Erwerbstätigkeit nachgehen können, die ihren Fähigkeiten angepasst ist. Die Verwirklichung dieser Vision erfordert Sozialunternehmerinnen und Sozialunternehmer, die den Mut haben, ihre Fähigkeiten, ihre Kraft und vielleicht auch ihre finanziellen Mittel in eine Firma zu investieren, die mit einer langzeitarbeitslosen produktiven Belegschaft am Markt operiert und Kundenaufträge erfüllt. Sie setzt Unternehmerinnen und Unternehmer voraus, die bereit sind, sich den Einschränkungen und dem Konkurrenzverbot der freien Wirtschaft zu unterwerfen, und die gleichzeitig immer wieder neue Regeln aushandeln für ein ergänzendes Nebeneinander von freier Wirtschaft und Sozialfirmen, die für die Erfüllung ihrer sozialen Aufgabe Zuschüsse bekommen. Es braucht aber auch Institutionen und Kommunen, die gewillt sind, die gesetzlichen Voraussetzungen und Vorschriften so zu gestalten, dass sozialunternehmerisches Handeln möglich ist und dass Arbeitsplätze geschaffen werden können, mittels derer die langzeitarbeitslose Belegschaft aus eigener Kraft wieder zu einer teilweise oder ganz existenzsichernden Beschäftigung zurückfinden kann.

Ein Sozialstaat, der seinem Namen gerecht werden will, soll es Sozialunternehmerinnen und Sozialunternehmern ermöglichen, Firmen aufzubauen, die Arbeitsplätze für langzeitarbeitslose Menschen schaffen. In diesen Unternehmen sollen Perspektiven entwickelt werden im Hinblick auf einen Wiedereinstieg in ein selbstbestimmtes Leben, in dem so viele Mittel wie möglich durch eigene Arbeit erwirtschaftet werden können. Sozialfirmen, die in privater und nicht öffentlich-rechtlicher Organisation mit unternehmerischen, marktwirtschaftlichen Mitteln am Markt operieren, sind ideale Institutionen für die Umsetzung dieser Idee.

Neue Maßnahmen für den Umgang mit Arbeitslosigkeit und ein Abbau alter ideologischer Vorstellungen sind dringend notwendig. Dabei geht es vor allem um zwei Dinge: Wir müssen die Grenzen zwischen der freien Wirtschaft und den Arbeitsintegrationsfirmen aufweichen, und es müssen neue Formen der Zusammenarbeit aller Beteiligten gefunden werden. Sinnvollerweise sollen bei der Ausarbeitung der neuen Regelungen auch die Gewerkschaften mit einbezogen werden. In Deutschland sitzen die Arbeitgeber, die Arbeitnehmerorganisationen und der Staat in der Bundesanstalt für Arbeit schon zusammen an einem Tisch, in der Schweiz haben sich dieselben Akteure in tripartiten Kommissionen zusammengefunden, die in Kooperation mit den lokalen Sozialfirmen vor Ort Regeln festlegen und diese bei Bedarf anpassen.

Sozialfirmen brauchen andere Regelungen als die freie Wirtschaft, und sie benötigen Vorschriften, die den örtlichen und wirtschaftlichen Umständen entsprechen. Es ist richtig, dass sie und ihr Tun besonders kritisch beobachtet werden, denn sie beschäftigen die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft, nämlich diejenigen, die nicht wählen können, ob sie eine Arbeit machen möchten oder nicht. Heute ist es jedoch so, dass nicht so sehr die Haltung und der Umgang mit den Langzeitarbeitslosen prüfend unter die Lupe genommen werden, im Vordergrund der Diskussion stehen rigorose Einschränkungen und Konkurrenzverbote. Es lohnt sich sicher, diese Fragen von Zeit zu Zeit neu zu überdenken und in Einzelfällen besondere Absprachen zu treffen. Allzu eng gefasste Konkurrenzverbote sind je nach Konjunkturlage und ökonomischem Umfeld jedoch wenig sinnvoll. Gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten können Sozialfirmen der freien Wirtschaft sogar unter die Arme greifen, wenn ihnen erlaubt wird, für ihre Arbeit weniger zu verlangen und leistungsangepasste Löhne zu bezahlen, auch wenn diese unter den Tariflöhnen liegen. Auch in diesem Zusammenhang gilt: Es gibt nicht eine Regelung für alles. Es lohnt sich, Einzelfälle zu prüfen und gemeinsam und pragmatisch nach neuen Wegen und Lösungen zu suchen.

Große Marktchancen für Sozialfirmen liegen im industriellen Bereich. Dort können auch nationalökonomische Überlegungen zu neuen Wegen führen. Wenn Sozialfirmen für die lokale Industrie ausgelagerte manuelle Arbeitsschritte ins Land zurückholen können, werden damit nicht nur die Wege verkürzt und mehr Leute im eigenen Land beschäftigt, auch die lokale Industrie wird gestärkt und flexibler. Dies ist jedoch nur möglich, wenn Sozialfirmen zu denselben Kosten arbeiten wie ausländische Anbieter. Deshalb muss ihnen erlaubt werden, leistungsangepasste Löhne für Teilleistungsfähige zu bezahlen. Dies kann von tripartiten Kommissionen ebenfalls überprüft werden. Solange die Löhne nicht existenzsichernd sind und unter den Ansätzen der Schweizer Sozialhilfe beziehungsweise dem deutschen Arbeitslosengeld II liegen, sollen sie aus diesen Kassen flexibel aufgestockt werden können. Wenn Arbeiten durch vollleistungsfähige Arbeitnehmende ausgeführt werden, sollen dafür Löhne bezahlt werden, die ungefähr denjenigen einer vergleichbaren Tätigkeit in der freien Wirtschaft entsprechen, auch wenn damit eine Ablösung von der Sozialhilfe verbunden ist. Sozialfirmen sind unternehmerisch tätig, weil sie die Grenzen zwischen den Stellenbesitzenden und den Stellenlosen durchlässiger gestalten wollen. Dies muss sich auch in der Lohngestaltung zeigen.

Die Einkommenssituation in den Industrieländern hat sich generell auseinanderentwickelt; während Einzelne viel mehr verdienen, gibt es eine wachsende Gruppe von Menschen, deren Einkommen auf lange Zeit auf dem Niveau des Zweiten Buches des Sozialgesetzbuches beziehungsweise in der Schweiz der individuell errechneten Sozialhilfe festgesetzt bleibt. Sozialfirmen sollen hier eine Brücke schlagen im Hinblick auf ein finanziell eigenständiges Leben. Wer in einer Sozialfirma arbeitet, ist ein »Working Poor«, wie Arme genannt werden, deren Arbeitseinkommen nicht zur Existenzsicherung reicht. Die Lohnausgestaltung soll aber derart sein, dass eine vollleistungsfähige und Vollzeit arbeitende Person auch in einer Sozialfirma so viel verdienen kann wie ein Arbeitnehmender in einem vergleichbaren Betrieb der freien Wirtschaft. Dies bedeutet, dass eine Sozialfirma die Möglichkeit bieten soll, dass jemand bei voller Leistungsfähigkeit von einem »Working Poor« zu einem Normalverdiener werden kann. Gerade in schlechten Konjunkturlagen gibt es viele Langzeitarbeitslose, die wieder ihre volle Leistungsfähigkeit erlangen können. Weil mit dem Eintritt der Langzeitarbeitslosigkeit meistens auch ein deutlicher Rückgang der Leistungsfähigkeit verbunden ist, muss die Sozialfirma die Chance bieten, das Leistungspotential wiederaufzubauen. Um dieses Ziel zu erreichen, muss es den Sozialfirmen möglich sein, für nicht vollleistungsfähige Arbeitnehmende leistungsangepasste Löhne zu bezahlen, die unter den Tariflöhnen liegen. Gleichzeitig müssen sie sich verpflichten, Perspektiven und Aufstiegsmöglichkeiten zu bieten, bis hin zu einer finanziellen Selbständigkeit. Sozialfirmen sind für dieses Unterfangen besser geeignet als Betriebe der freien Wirtschaft, da sie durch die Geldgeber und die Gewerkschaften einfacher kontrolliert werden können.

2009 leben in Deutschland knapp unter einer Million Langzeitarbeitslose2, 2007 lebten in der Schweiz 233 484 Personen oder 3,1% der Gesamtbevölkerung von Sozialhilfe. 3 Wenn wir davon ausgehen, dass mindestens ein Drittel dieser Personen arbeitsfähig ist, können wir erahnen, wie groß das Potential für Sozialfirmen ist. Dieses erstreckt sich sogar über die Gruppe der Sozialhilfeempfangenden hinaus: Die Idee könnte mit einigen gesetzlichen Anpassungen auch für Arbeitslose, die noch unter den Versicherungsschutz der Arbeitslosenkasse fallen, angewendet werden; ebenso besteht im Bereich der Invalidenversicherung ein Interesse an Lösungsmöglichkeiten, die einen besseren Anschluss an die freie Wirtschaft möglich machen.

Wir haben das vorliegende Buch geschrieben für angehende Sozialunternehmerinnen und Sozialunternehmer, die planen, eine Sozialfirma zu gründen oder einen bestehenden Betrieb in eine solche umzuwandeln; sie finden hier Informationen und Überlegungen, die ihnen das Anpacken dieser Aufgabe erleichtern. Das Buch richtet sich aber auch an die Verantwortlichen auf der Seite der Kommunen und Institutionen, die die Arbeitsintegration heute finanzieren. Darüber hinaus sollen unsere Überlegungen für Managementverantwortliche der freien Wirtschaft interessant sein, denn das Potential an Ideen für neue, einander ergänzende und befruchtende Formen der Zusammenarbeit zwischen der freien Wirtschaft und Betrieben des Zweiten Arbeitsmarktes ist bei Weitem noch nicht ausgeschöpft.

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