Читать книгу Neuanfang oder so ähnlich - M. E. Wuchty - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеAlso stand ich trotz der Veränderung wieder am Anfang und bei der Frage: „Ist es das wirklich? Das Beste, was ich erreichen kann?“
Weder konnte, noch durfte die Antwort „Ja“ lauten! Abwechslung musste her und zwar pronto! Also begann ich, in einem Chor zu singen (keine Angst um ihre Gläser, ich strebte keine Solo-Karriere an, ich bin auch kein Sopran, also nix mit hohem C). Nun, ich hatte zwar keine musikalische Ausbildung, das einzige Instrument, das ich spielte, war mein mp3-Player, aber trotzdem machte es Spaß und ich zeigte sogar ein gewisses Talent! An dieser Stelle meinen innigsten Dank an meine Eltern, die mir ein gerüttelt Maß an Musikalität und ein gutes Gehör vererbt haben und an unseren Chorleiter, dass er mich nicht gleich wieder heimgeschickt hat.
Wir waren zwar samt und sonders Amateure – ich war sogar musikalische Anarchistin! Wie angedeutet, konnte ich nicht einmal Noten lesen, geschweige denn vom Blatt zu singen und manchmal sang ich auch etwas ganz Anderes – aber wir hatten den weltbesten Chorleiter und wir waren mit Herz und Seele dabei und dadurch waren wir auch wirklich gut! Darüber hinaus lernte ich einige Menschen kennen, die mir auf Anhieb sympathisch waren und mit ein paar von ihnen freundete ich mich sehr schnell an. Also gab es in meinem Leben ab sofort einen Abend, auf den ich mich mehr als auf jeden anderen freute.
„Mist“, dachte ich nach einem Blick auf die Uhr. Es war schon Viertel nach Sechs, die Straßenbahn brauchte noch vier Minuten, bis sie endlich kam und das hieß, ich kam gnadenlos zu spät zur Chorprobe. Mit einem Seufzen ergab ich mich in mein Schicksal. Es hätte auch nichts geändert, hätte ich mich darüber geärgert.
Raschen Schrittes eilte ich dann von der Haltestelle zum Probenlokal und stürzte die Stiegen in den ersten Stock hinauf. Eine Viertel Stunde Verspätung ist noch vertretbar. Möglichst leise versuchte ich, in den Probenraum zu schleichen, flüstere ein halblautes „Hallo!“ in Richtung Georg, unseren Chorleiter, und steuerte auf einen freien Platz bei den Tenören zu. In der letzten Reihe links außen, weil ich ersten Tenor sang. (Tenöre? Wie jetzt? Ja, tatsächlich, ich sang Tenorlage, bei Frauen heißt diese Stimmlage „Kontraalt“ und kommt in Amateurchören gar nicht so selten vor. Auslöser war Haydns „Die sieben letzten Worte unseres Herren am Kreuze“, bei dem die Tenorlage so hoch notiert ist, dass eine Frau zwar keine Probleme damit hat, die Herren sich aber sehr plagen müssen und teilweise auch abschmieren. Also „opferte“ ich mich und die anderen Tenöre empfanden es sogar als Verstärkung, weil ich eben locker nach oben kam und auch oben blieb. Danach bin ich bei den Knaben geblieben, weil sie sich leider nicht wundersam vermehrt hatten. Sie sehen, verwöhnt waren die Männer in diesem Chor wirklich nicht).
Auf dem Weg zu meinem Stammplatz winkte ich Rita zu und wurde danach von Adam mit einem leisen: „Hallo, schönste aller Tenörinnen!“ begrüßt.
„Habt Dank für den Rosenstrauch!“ flüsterte ich zurück und schaute nach links, um zu sehen, wer sonst noch da war. Eigentlich rechnete ich ja nur mit Wolfgang, Helmut und Franz, aber, siehe da! Ein neues Gesicht in unsrer illustren Runde! Ein Gesicht mit vielen dunklen Haaren darin und drumherum, aber schönen Augen. Überrascht lächelnd winkte ich ihm zu. Eigentlich hätte ich gedacht, dass diese Geste in ihrer friedfertigen Natur kaum missverstanden werden kann, aber er sah mich an, als wäre ich ein Geist. In diesem Moment rief der Chorleiter zur Ruhe.
„Heute sind eine Menge Leute entschuldigt, scheinbar geht´s in der Arbeit hoch her, aber wir haben auch einen Neuzugang bei den Männern!“ Georg deutete in die Richtung des noch Unbekannten. „Sebastian, der uns übers Internet gefunden hat, oder?“
„Yep.“
Wir begrüßten ihn mit einem durchaus ernst gemeinten Applaus.
„Schön, dass unsere Männer Unterstützung bekommen haben!“ sagte Christine hoch erfreut. Christa grinste mich ganz breit aus dem Alt an und ich grinste breit zurück. Dass ich Tenöse bin, sorgte auch nach ein paar Monaten immer noch für Erheiterung. Auch Tina machte sich mit einem Winken bemerkbar, das ich klarerweise erwiderte. Das war der Wermutstropfen bei meinem Wechsel – die Altistinnen in diesem Chor waren nicht nur wirklich, wirklich gute Sängerinnen, sondern auch eine lustige Truppe, die immer wieder für Gelächter sorgte, während die Tenöre leider viel zu beschäftigt damit waren, mitzuhalten. Manchmal vermisste ich die Mädels schmerzlich.
„Gut, dann fangen wir an. Wir machen heute etwas Neues, könnt ihr bitte die Noten austeilen?“
Wir gingen also gleich mitten rein, ich nicht nur in ein neues Musikstück, sondern auch in eine Mischung aus Frustration und Überraschung. Unser neuer Tenor war ein lyrischer Tenor reinsten Wassers und offensichtlich konnte der Mann auch Noten lesen und vom Blatt singen! Verdammich! Da klangen samtweiche Tiefen und glasklare, sichere Höhen und das Ganze auch noch in einer gut wahrnehmbaren Lautstärke, ohne aufdringlich zu sein. Hatte sich da am Ende ein Profi zu uns verirrt?
An Georgs Gesicht konnte ich die gleiche Überraschung ablesen und mehr als eine Dame drehte sich neugierig um, wer denn da die Ehre des Tenors so gekonnt rettete.
Da ich das Stück noch nicht kannte, brauche ich auch keinen Versuch zu machen, mitzuhalten und hörte meistens nur zu. In mir wuchs die Gewissheit, dass ich hier ziemlich überflüssig geworden war.
In der Pause dann, war ich schnell wie nie draußen und unten, zur Pausenzigarette (auch die Tiefe will gepflegt sein). Meine Frustration hatte ein erhebliches Ausmaß angenommen, ganz zu schweigen von den leichten Vibrationen in meinen Knien. Es wäre sinnlos, zu leugnen, wie sehr ich auf Klang reagierte. Eine schöne Sing- oder Sprechstimme geht über meine Ohren, in mein Gehirn und von da direkt in meine Physis. Gänsehaut, ein Kribbeln im ganzen Körper, ein tiefes Seufzen, das alles konnten Sie dann von mir haben und es ähnelt nicht umsonst den Anzeichen von Verliebtheit ... Vor den anderen wäre diese Reaktion allerdings aus meiner Sicht unangebracht gewesen, aber irgendwann musste es raus und da ich die einzige Raucherin war, war es mir vergönnt, mich für drei Minuten zu erholen und meine Contenance wieder aufzubauen; draußen, am Brunnen vor dem Tore – nein, kein Brunnen, kein Lindenbaum in jener Wiener Gasse, aber Sie bekommen das allgemeine Bild der Situation.
„Hey, ich dachte immer, rauchen sei schlecht für die Stimme“, sagte da plötzlich dieser neue Tenor neben mir. Ich blies eine Rauchwolke in die andere Richtung und drehte mich grinsend um. Gelobt sei der Herr, dass wenigstens die Optik nicht so ganz passte, das half mir beim Ruhig-bleiben.
„Kontraalt wird man nicht einfach so“, sagte ich einen Hauch arrogant. „Das ist ein großes Opfer, ich rauche hier ja nicht zum Spaß.“
Seine dichten, dunklen Augenbrauen schossen in die Höhe und für eine Sekunde formierte sich in meinem Gehirn die Vorstellung, wie die beiden eine unabhängige Konversation miteinander hatten. Dabei fiel mir auf, dass er wirklich schöne Augen hatte. Ein wenig schräg, in einer Mischung aus Bernstein und Grün, sehr exquisit. Allerdings wurden sie buchstäblich von seinem dichten Schopf, diesen etwas zu ausufernden Augenbrauen und einem etwas struppigen Vollbart in den Schatten gestellt. Und von der Tatsache, dass seine Hosen etwa zwei Zentimeter zu kurz waren. Erstaunlich, was einem in so kurzer Zeit alles auffallen konnte.
Sein Blick war meinem nach unten und wieder hinauf gefolgt und er sah etwas verwirrt aus.
„Soll das heißen …?“
„Dass sie dich pflanzt? Ja“, mischte sich da Tina ein und grinste sehr breit.
„Hey Süße“, begrüßte ich sie endlich richtig und wir tauschten Bussis auf die Wange und eine Umarmung.
„Hallo, ich bin die Tina“, sagte sie zu unserem Neuankömmling und hielt ihm die Hand hin.
„Sebastian, freut mich.“
Jetzt merkte ich erst, wie groß der Mann wirklich war. Tina überragte mit ihren 180 cm schon beinahe jeden im Chor, aber Sebastian war noch ein wenig größer als sie.
„Carmen, richtig?“ fragte er und lächelte.
„Richtig.“
Er betrachtete mich für circa fünf Sekunden, dann schüttelten auch wir einander artig die Pfötchen. In mein Gehirn schlich sich der Gedanke, dass er für einen Mann seiner Größe sehr schlanke Hände hatte. Normalerweise gehen meine eher schmalen, kleinen Hände in den Händen großer Männer ziemlich verloren, aber nicht bei ihm. Spannend, spannend. Der Gedanke, der gleich darauf folgte, war eine direkte Information von meinen Augen: Nicht nur die Hose war zu kurz, auch das Poloshirt, das er trug, hätte einen Nachfolger verdient gehabt. Was einstmals Schwarz gewesen sein musste, hatte jetzt nur noch die Anmutung von Anthrazit, etwas ungleichmäßigem Anthrazit. Hm.
Als wir uns nach der Pause wieder in die Arbeit stürzten, bemerkte ich zu meinem Entsetzen, dass Adam neben mir ausdauernd schwieg.
„Alles ok bei dir?“ fragte ich leise, während die Damen ihre Stellen probten.
„Der Neue nervt“, grummelte er, „Der singt viel zu laut und lenkt mich ab.“
Für eine Sekunde war ich irritiert. Dann ereilte mich die Erkenntnis. Hier ging es nicht um zu lautes Singen, das war ein klarer Fall von Eifersucht, weil Adam bis jetzt immer der beste Tenor gewesen war.
„Adam, bitte, du kannst mich doch nicht so im Stich lassen!“ flüsterte ich eindringlich. Er war meine Stütze, wenn ich Probleme hatte, oder mit dem Stück noch nicht so sicher. „Ich brauche dich dringend! Und der Rest vom Chor auch!“
Zum Glück fiel mein Hilferuf auf fruchtbaren Boden und nachdem er noch ein paar Sekunden weitergegrummelt hatte, war er wieder er selbst.
Nach dem Ende der Chorprobe gingen ein paar Leute traditionell noch etwas trinken und ich eigentlich fast immer traditionell nach Hause. Ich wohnte etwas ab vom Schuss und brauchte entsprechend lang, um öffentlich heimzukommen. Weil aber mein Wecker gnadenlos in aller Frühe los düdelte und ich meinen Schönheitsschlaf brauchte, zog ich es vor, zu einer halbwegs vertretbaren Zeit ins Bett zu kommen.
Sebastian machte einen vorsichtigen Versuch, mich zu überreden, doch mitzugehen, aber mir war an diesem Abend noch weniger danach, als sonst.
Als hätte ich es am Vorabend schon gespürt, wachte ich am folgenden Morgen, einem Donnerstag, mit leichten Kopfschmerzen auf und fühlte mich auch sonst nicht besonders. Ich war absolut unleidlich mit Kopfschmerzen. Schmerzen in den Knien, der Schulter oder auch Gastritis – damit konnte ich problemlos umgehen, aber wenn mir der Kopf weh tat, keine Chance. Da halfen nur noch Thomas und Pyrin, die Schutzheiligen der Schmerzgeplagten, am besten in doppelter Dosis.
Ich lief also etwas ferngesteuert in die Firma ein und hoffte auf einen ruhigen Tag.
Diese Hoffnung wurde in dem Moment zunichte gemacht, als ich meine Emails öffnete. Meine Vorgesetzte verlangte darin eine Erklärung von mir, warum ich den Vertragsentwurf eines Kollegen blockieren würde.
Wie bitte? Ich blockierte keine Vertragsentwürfe, das fiel nicht in meinen Aufgabenbereich. Kaum hatte sich der Gedanke in meinem trägen Gehirn manifestiert, stand sie auch schon vor mir, der Inbegriff aller nerv tötenden Personen.
„Guten Morgen! Geht´s euch gut?!“ flötete Lena, die ganzen 160 cm, zu denen sie sich strecken konnte, dekoriert mit 65 kg, strahlten vor Motivation, oder jedenfalls tat sie so.
„Noch“, antwortete ich.
„Ach ja, Carmen, kannst du gleich in mein Büro kommen?“
Das fing ja schon wieder gut an. Wie vermutet, sprach sie mich auf ihre zuckersüße Art auf den Vertrag an.
„Weißt du, du kannst nicht einfach Kommentare abgeben, ohne dich mit mir abzusprechen. So etwas muß über mich laufen.“
Mir schlief fast das Gesicht ein. Natürlich musste so etwas über sie laufen, sonst wäre sie überflüssig, es sei denn, die Arbeit interessierte sie gerade nicht, dann war ich gut genug, sie für sie zu erledigen. Wie in diesem Fall – das Mail inklusive Anhang war vor einer Woche an die Gnädigste gegangen, die es dann an mich weiterleitete, damit ich „Einen Blick darauf“ würfe, was ich auch getan hatte und dem Kollegen natürlich geantwortet hatte. Böser Fehler, Carmen, böser Fehler.
„Du hast mich gebeten, das Traktat durchzulesen und zu kommentieren und das habe ich getan“, erwiderte ich, noch ruhig.
„Aber Carmen“, sagte sie in einem Ton, als spräche sie mit einem grenzdebilen Kind, „Du hättest die Kommentare an mich weiterleiten sollen, damit ich das Mail beantworten kann.“
Ah, daher wehte der Wind! SIE machte die ganze Arbeit ganz allein, eh klar.
„Und?“ dachte ich, „Dann mach deinen Job, du dumme Kuh!“
Laut kamen die Worte: „Und? Was soll ich jetzt tun?“ über meine Lippen.
Wie erwartet, seufzte sie tief und entließ mich mit einem Winken. „Ich kümmere mich darum.“
Ach du armes angeschossenes Huhn! Hättest du es gleich gemacht, hättest du dir das alles ersparen können und mir auch!
Wortlos verließ ich ihr Büro, innerlich schäumend. Wir hatten diese Art der Auseinandersetzung inzwischen unzählige Male gehabt. Ich machte ihre Arbeit, weil sie mich darum bat und postwendend beschwerte sie sich, dass ich den Job machte, weil ich es wagte, selbständig zu denken und zu handeln und nicht zu apportieren, wie ein braver Hund.
„Alles ok?“ fragte mich Elisa. Sie kannte mich gut genug, um an meinem Gesicht ablesen zu können, wie es mir ging.
„Nein.“ Ich bemühte mich um eine möglichst ruhige Antwort, weil ihre Frage ja lieb gemeint war, konnte aber nicht verhindern, dass mein Ärger durchklang.
„Wer quält dich denn schon wieder?“
Auch Anita und Marie sahen mich inzwischen neugierig an.
„Ich will nicht darüber reden.“
Damit war für mich die Sache fürs Erste erledigt. Weder wollte ich jetzt meinen Gefühlen Luft machen, noch hätte es mir genutzt. Mit wissenden Blicken wandten sich meine Kolleginnen wieder ihren jeweiligen Tätigkeiten zu.
Es war eine dieser typischen Situationen, wie wir sie sonder Zahl hatten, immer wieder. Wenn ich mir die Konstellation in der Abteilung so ansah, kam mir unwillkürlich die Metapher mit der Schafherde in den Sinn: Alle rennen einem Leitschaf nach, das wäre dann ich, bäbä. Lena ist der Hirtenhund – nervend mit ihrem Gekläffe und dem zeitweiligen Schnappen nach unseren Beinen, aber im Großen und Ganzen harmlos. Bis zu dem Zeitpunkt, wo das Leitschaf den Hirtenhund ignorierte und seinen eigenen Weg ging. Das bedeutete die in Frage Stellung ihrer Position, bzw. ihrer Person und wenn wir eine Aufgabe hatten, dann die, sie zu unterstützen, vorbehaltlos und widerspruchslos, egal, wie unsinnig ihr Tun auch war. Alles lief bestens, solange Routine herrschte und keiner aus der Reihe tanzte. Solange wir brav nachmachten, was sie vorhüpfte. Das schien auch für den Rest der Abteilung in Ordnung zu sein, wollte mir scheinen. Wehe aber, etwas lief aus der Schiene, dann bekamen alle den großen Stress – nur ja nichts entscheiden, nur ja nicht exponieren!
Wie auch?
Unsere Abteilungsleitung und nicht nur die, machte es ja allen Tag für Tag vor!
Individualität war ein leeres Schlagwort ohne Bedeutung. Verantwortung fiel in die gleiche Kategorie und bitte nur ja keine Eigenverantwortung einfordern! Das war die berühmte heiße Kartoffel, die so lange hin und her geschossen wurde, bis sich die Entscheidung entweder erledigt hatte, oder bei jemandem landete, dem diese kindischen Spielchen zu blöd waren – wie mir. Ja, ich hatte keine Angst davor, eine Entscheidung zu treffen, Maßnahmen zu setzen und dafür einzustehen und das passte ihr nicht, weil ich nicht jedes Mal bei ihr stand und ihre Meinung dazu einforderte! Wie auch, wenn sie die halbe Zeit nicht da war! Aber langsam lehnte ich jede Verantwortung ab, ging zu Dienst nach Vorschrift über.
Wo war das Problem, werden Sie jetzt fragen?
Das Problem war, dass ich weder so arbeiten wollte, noch konnte. So ticke ich einfach nicht. Abgesehen davon, dass ich mir wirklich schön langsam verarscht vorkam, denn immer, wenn es passte, wurde ich an meine Stellung als die Stellvertretung der Abteilungsleitung erinnert und in die Entscheidungsverantwortung gesetzt; was dann auch postwendend widerrufen wurde, sobald ich wirklich Entscheidungen traf. Der Widerruf ging dann auch jedes Mal mit der „Erinnerung“ an meine Position als Laborleiterin einher.
Prinzipiell würde man einer solchen Person raten, die Arbeit Arbeit sein zu lassen und nicht ins Private mitzunehmen. Fakt war nur leider, dass diese Situation, die mich für viele Stunden jeden Arbeitstag begleitete, irgendwann auch begonnen hatte, mich persönlich zu beeinträchtigen. Verdammt. Ich verabscheute Jammern, ich war kein Opfer. Aber irgendwann musste meine Frustration auch raus und meine Freunde kannten inzwischen alle diese Geschichten und in meinen Ohren war es immer das gleiche Lied. Ich hätte mit Freude jeden der Jobs angenommen, die mir im Laufe der Zeit angeboten worden waren, wäre da nicht immer dieser kleine Haken gewesen: Ich kannte die Firmenstrukturen mehrerer Firmen inzwischen zu gut, aus eigener Erfahrung und aus den Berichten von Bekannten und Freunden, um nicht zu wissen, dass es woanders genauso gelaufen wäre. Anderes Orchester, gleiche Symphonie. Der einzige Unterschied wären also eine neue Umgebung und die Einarbeitungszeit gewesen. Somit auch keine Alternative. Mist, Mist, Mist.
Weder meine Laune noch meine Arbeitssituation besserten sich in den folgenden Tagen. Meine einzigen Lichtblicke waren Veronika, die mich immer wieder aufbaute und sich bei mir ausweinte (ich war nicht die Einzige mit einer grenzwertigen Vorgesetzten) und der Mittwoch. Tatsächlich war ich aber inzwischen zu nicht mehr in der Lage, als zu funktionieren. Bitte nicht ansprechen und nicht umarmen, sonst fange ich an zu heulen! Meine Frustrationsschwelle war weit überschritten. Am liebsten hätte ich mich manchmal in eine Ecke gehockt und geweint.
Rita reichte ein Blick und ein Kopfschütteln meinerseits und ihr war alles klar. Wortlos legte sie mir eine Hand auf den Rücken und beließ es dabei.
Das Singen tat gut, aber ich steckte so tief in meinem Tief, dass ich mich nur oberflächlich darauf einlassen konnte. Scheinbar war ich ganz gut darin, meine Stimmung unter Kontrolle zu halten, denn nicht einmal Tina schien in der Pause etwas zu merken – oder sie sprach mich einfach nicht drauf an, weil sie mich inzwischen zu gut kannte.
So gut es mir also gelang, funktionierte ich durch die Chorprobe hindurch, aber es wäre gelogen, zu sagen, ich hätte mich nicht auf ihr Ende gefreut. Ich wollte nur noch nach Hause und ins Bett.
„Fährst du heim?“ fragte Sebastian mich, als ich mir die Jacke anzog.
„Mhm“, antwortete ich einsilbig.
„Möchtest du mitfahren?“
Überrascht hob ich den Kopf, um ihn anzusehen. „Mitfahren? Wo fährst du denn hin?“
Sein Bart hob sich und um seine Augen bildeten sich Fältchen. „Wenn ich die Chorliste richtig gelesen habe, ganz in deine Nähe.“
Meine linke Augenbraue ging nach oben. „Und wo ist „ganz in meiner Nähe“?“
„Moselgasse.“ In seiner Stimme klang ein leises Lachen mit. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, wie Ute Sonja etwas zuflüsterte, die kurz in unsere Richtung sah, lächelte und nickte. Was hatten die zwei Grazien denn zu tuscheln, hm?
„Das ist in meiner Nähe“, bestätigte ich ihm trocken, dann lächelte ich mühsam. „Danke, ich fahr gerne mit.“
Ich verabschiedete mich noch von den anderen, bevor ich ihm auf die Straße folgte. Als er den Knopf an seinem Autoschlüssel drückte, blinkten die Lichter bei einem Jaguar X-Type auf. Zuerst dachte ich, das sei Zufall, wurde aber eines Besseren belehrt, als er mir die Beifahrertür aufhielt. Unwillkürlich warf ich ihm einen spöttischen Blick zu. Autos sind für mich Mittel zum Zweck – das Mittel, mich in erlebbarer Zeit von A nach B zu bringen und dafür muß die Schüssel unter meinem Hintern kein Vermögen kosten. Ganz zu schweigen davon, dass der Mann, der dieses Auto fuhr von seiner Aufmachung her so gar nicht dazu passte! Seine Hosen waren schon wieder zu kurz und sein Jackett hätte einem Mann um die sechzig gestanden – wobei ich mich an dieser Stelle stumm bei meinem Vater entschuldigte, der hätte das Ding definitiv nicht angezogen: Brauner Hahnentritt-Tweed mit Lederflecken auf den Ellenbogen, kantiger, etwas formloser Schnitt - aua.
„Du weißt schon, was man über Männer sagt, die so PS-starke Autos fahren?“ neckte ich ihn. „Baut Jaguar überhaupt irgendetwas, das weniger als 150 PS hat, außer möglicherweise die 1:25 Modelle ihrer Autos?“
Ohne eine Erwiderung ging er um seinen Boliden herum, stieg ein und startete.
So wenig ich ein so teures Auto brauchte, es war doch zugegeben ein erheblicher Unterschied, ob mein Skoda Diesel startete oder dieses schnurrende Kätzchen.
Sebastian schwieg so lange, bis wir auf den Ring einbogen.
„Du warst heute sehr ruhig“, stellte er fest. „Ist alles in Ordnung?“
Falsches Thema, ganz falsches Thema! Ich schluckte einmal, atmete tief durch und sagte dann sehr leise „Ja“ in Richtung meiner Knie.
Seine Erwiderung war ebenso leise: „Lügnerin.“
Ich warf ihm einen Blick von der Seite zu. Ganz kurz sah er mich an. Im dunklen Auto konnte ich seinen Blick weder richtig sehen, noch deuten.
„Du willst nicht drüber reden, oder?“
„Nein.“ Meine Stimme schwankte ein wenig und ich mochte mich nicht dafür. Ich mochte es nicht, so emotional zu sein, ich fühlte mich dann so verletzlich und angreifbar.
Sebastian tat mir den Gefallen, nicht weiter zu fragen oder irgendetwas zu sagen. Das gab mir Zeit, um mich wieder zu fangen.
„Darf ich dich etwas fragen?“ Ich hatte beschlossen, wenigstens ein bißchen Konversation zu betreiben.
„Sicher.“
Wir standen an der Ampel am Ende der Prinz-Eugen-Straße.
„Woher kommst du ursprünglich?“
„Was meinst du?“ Die Ampel sprang auf grün und wir bogen nach links auf den Gürtel ein.
„Du bist kein Österreicher, das hört man, aber ich weiß nicht, wo ich dich hintun soll, dazu ist dein Hochdeutsch zu sauber.“
Er lachte erheitert auf und beschleunigte auf die erlaubten 50 km/h. Bei diesem Auto fühlte es sich an, als schiebe eine Mutter einen Kinderwagen, sehr liebevoll.
„Ich bin Schweizer, aus Zürich.“
„Ein Schweizer?!“ Unwillkürlich musste ich lachen. „Normalerweise gehen die Österreicher in die Schweiz, nicht umgekehrt.“
„Ich hatte meine Gründe“, meinte er nur kryptisch.
„Und du willst nicht darüber reden.“
„Nein.“
Als wir an der letzten Ampel vor der Autobahn standen, sahen wir einander ein paar Sekunden lang an – und mussten grinsen.
„Gleichstand, würde ich sagen“, bemerkte ich.
Er nickte nur und bis wir zu Hause waren, hielten wir beide den Mund. Erst, als er an der Kreuzung Moselgasse/Urselbrunnengasse anhielt, fiel wieder ein Wort.
„Danke fürs Heimbringen“, sagte ich und machte Anstalten, auszusteigen.
„Warte noch kurz, Carmen.“
„Ja?“ Erwartungsvoll drehte ich mich in seine Richtung.
„Wenn du doch einmal drüber reden willst …“ Er ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen.
Ich rang mir ein Lächeln ab. „Danke, das ist lieb, aber das willst du nicht, glaub mir.“
Als ich wirklich ausstieg, vermeinte ich, ihn sagen zu hören: „Doch, ich will, glaub mir.“