Читать книгу Neuanfang oder so ähnlich - M. E. Wuchty - Страница 6
Kapitel 3
ОглавлениеMühsam hielt ich die letzten eineinhalb Arbeitstage bis zum Wochenende durch. Inzwischen brauchte ich diese Auszeiten, wie einen Bissen Brot! Ausschlafen, in Ruhe die Dinge tun, zu denen unter der Woche die Zeit fehlte und wenn ich in einem so miesen Zustand war, wie im Moment, eine ganze Menge Eigenmentaltraining. Am Freitagmittag freute ich mich darauf! Dummerweise machte ich mir selbst einen Strich durch die Rechnung.
Am Samstagmorgen nämlich beschloss mein Körper einfach um halb Acht, er hätte jetzt genug geruht und ich möge doch meinen Kadaver gefälligst aus meiner Bettstatt heraus bewegen. Das hätte ja prinzipiell noch nicht der Untergang des Abendlandes bedeutet, wäre da nicht noch eine Nebenwirkung gewesen: Es war wieder einer dieser Tage. Ich war so unrund, dass ich mich selbst nicht mochte. Eine innere Unruhe machte unkonzentriert und unentschlossen, ich wollte nichts anfangen, obwohl ich weiß Gott genug zu tun gehabt hätte: Zum Beispiel Haushalt und die Diplomarbeit für meine Ausbildung zur Mentaltrainerin schreiben, um nur zwei zu nennen.
Seufzend rang ich mich dazu durch, wenigstens das Geschirr abzuwaschen. Danach stand ich wieder unschlüssig herum. Soll ich laufen gehen? Mag nicht, zu faul. Bäh.
Mein Handy düdelte los, Nummer kannte ich nicht.
„Royner.“
„Hallo? Carmen? Hier spricht Sebastian.“
„Hallo!“ Hm? Woher hatte unser Neuzugang denn meine Telephonnummer? Ah ja, Chorliste, alles klar.
„Hi! Ich wollte fragen, ob du heute schon etwas vorhast. Ich … ja … ich bin ja noch nicht so lange in Wien und hätte gern einen Spaziergang gemacht … in der Stadt vielleicht oder so etwas in der Art und brauche einen Location Guide.“
Mühsam unterdrückte ich ein Seufzen. An jedem anderen Tag, nur nicht heute.
„Sebastian, tut mir leid, ich …“
„Nein, nein, mir tut´s leid“, unterbrach er mich, „Ich dachte, weil ich nichts vorhabe, haben auch andere nichts vor. Verzeih.“ Er klang schrecklich enttäuscht.
„Das ist es nicht. Ich bin nur entsetzlich unrund und unleidlich und wäre dir heute eine furchtbar schlechte Gesellschaft“, erwiderte ich, mit ein wenig schlechtem Gewissen.
„Unrund? Was bedeutet das?“
Unwillkürlich musste ich lachen. „Kennst du das Gefühl völliger innerer Ruhe und Gelassenheit? Wenn du mit dir und der Welt völlig im Reinen bist?“
Ein leises Lachen drang an mein Ohr. Bei diesem Geräusch stellten sich die Haare auf meinen Armen auf. Was für eine Stimme …
„Ja, manchmal.“
„Du Glücklicher. Unrund ist das genaue Gegenteil.“
Für eine Sekunde war es still in der Leitung. „Oh und warum bist du so … so unrund?“
„Wenn ich das wüsste“, seufzte ich und schalt mich gleich darauf eine dumme Nuss. Ich musste ja nicht gleich alle neuen Bekannten vergrämen mit meiner Jammerei! Ganz zu schweigen davon, dass ich es ja erst vor wenigen Tagen erfolgreich vermieden hatte, mit ihm über meinen Gemütszustand zu reden.
„Vielleicht kann ich ja bei einer Fact finding Mission behilflich sein“, schlug er vor.
„Danke, das ist lieb von dir, aber ich fürchte, das ist eine one woman show.“
Er seufzte leise. „Dann wünsche ich dir viel Erfolg dabei.“
„Danke, ich tue mein Bestes. Schönen Tag wünsche ich dir noch.“
„Dir auch, trotz unrund.“
Phantastisch, jetzt hatte ich auch noch ein schlechtes Gewissen. Grummelnd vergrub ich mein Gesicht in einem Polster. Und weil ich schon so schön auf mein Sofa drapiert war, blieb ich auch gleich da.
Am frühen Nachmittag reichte es mir dann endgültig. In meiner Unruhe würde ich noch die Couch durchwetzen! Da erschien es mir doch vernünftiger, ein paar Kilometer auf die Sohlen meiner Sportschuhe zu bringen, auch gegen das laute Protestgeschrei meines inneren Schweinehundes.
Nach ca. zwanzig Minuten, ich wurde gerade warm, kam mir eine männliche Gestalt in kurzen Laufshorts entgegen. Was ich aus der Entfernung erkennen konnte, rief in meinem Gehirn ein höchst unreifes Wort der Beschreibung hervor: Lecker! Groß, schlank, lange Beine – mmm! Als wir uns einander näherten, begann mein Gehirn noch etwas zu melden: Kenne ich, diese Gestalt!
„Hi!“ rief Sebastian und winkte mir.
„Hallo!“ Ein bißchen atemlos blieb ich stehen. „Ich dachte, du wolltest in die Stadt!“
Er joggte locker auf dem Stand weiter, er atmete nicht einmal schneller – Angeber.
„Du bist ja nicht mitgegangen.“
„Na super, jetzt bin ich wieder schuld!“
Für einen kurzen Moment stoppte er und hob die Hände. „Nein! Das war doch nur ein Scherz!“
„Oh ja, das sagen sie alle!“ Jetzt war ich dran mit „scherzen“.
„Nein, ehrlich …“ Seine Stimme verebbte, als er merkte, dass ich ihn auf den Arm nahm. Dann stützte er die Hände in die Seiten und senkte lachend den Kopf. Auf meinen Armen stellten sich schon wieder die Härchen auf. Ich musste meinen Körper irgendwie dazu bringen, diese Reaktionen einzustellen!
„Trotz allen unrund Seins bist du aber trotzdem rausgegangen.“
„Erschien mir die bessere Alternative … zum Durchwetzen der Couch … zu sein. Ist auf Dauer billiger.“ Langsam kam ich wieder zu Atem.
Mein Tenorkollege kicherte erheitert, ob wegen meiner Atemlosigkeit oder etwas Anderem blieb mir verborgen. „Vielleicht kann ich ja doch noch etwas beitragen, um dein Wohlbefinden zu steigern.“
Überrascht zog ich die Augenbrauen hoch.
„Ich biete eine Dachterrasse, gemütliche Möbel, wahlweise alkoholische und nicht-alkoholische Getränke und etwas zu essen“, zählte er an den Fingern auf. Schlanken, langen, sehr gepflegten Fingern. Himmel Herrgott! Carmen, was ist los mit dir?! Kaum hatte ich mich selbst wieder einigermaßen unter Kontrolle, kam eine leichte Brise auf und wehte mir aus seiner Richtung ins Gesicht. Sogleich stieg mir sein Geruch in die Nase. Unwillkürlich wollte ich die Luft anhalten, aber da trafen die Moleküle schon auf meinen Riechkolben. Sebastian roch ein wenig nach frischem Weichspüler, ein wenig süß, wie Vanille, aber auch Sandelholz und noch etwas anderem, das ich nicht erkannte. Bevor ich mich zu sehr ihn diesem Geruchserlebnis verlor, zwang ich mich dazu, mich wieder auf das zu konzentrieren, was er sagte.
„Verzeihung?“ fragte ich und schüttelte kurz den Kopf.
Er grinste geradezu unverschämt. „Du wirkst abgelenkt.“
„Unrund-sein bringt das so mit sich“, sagte ich, dankbar für diese wunderbare Ausrede, „Sebastian, ich bin im Moment wirklich nicht die ideale Gesellschaft und ich will dir dein Wochenende nicht verderben, also …“
„… ich biete eine Dachterrasse mit Aussicht, gemütlichen Möbeln und Getränken nach Wahl. Vertreibt Unleidlichkeit und Unrund-sein“, unterbrach er lächelnd. Langsam verwirrte er mich, aber das war ja nichts Neues. Ich seufzte tief, woraufhin er den Kopf schief legte.
„Willst du immer allein sein, wenn es dir schlecht geht?“
Mir entkam schon wieder ein Seufzen, das er offensichtlich als „Ja“ deutete. Schildkrötentaktik nannte meine Mutter das, tut sie noch.
„Auf meiner Terrasse wäre es aber gemütlicher“, beharrte er.
Lachend schüttelte ich den Kopf. „Du gibst wohl nie auf.“
„Nope“, erwiderte er mit einem breiten Grinsen, „Nicht, wenn ich das Gefühl habe, dass es gut wäre, mich durchzusetzen. Also?“
„Ok“, gab ich schließlich nach, „Aber ich will noch meine Runde fertig laufen und dann brauche ich noch ein wenig Zeit, um mich wieder zivilisationsfähig zu machen. Hm … eine Stunde?“
„Perfekt.“
„Ähm, wo genau wohnst du eigentlich?“ Wusste ich doch nicht, war ja nie vor seiner Haustür ausgestiegen.
„Oberes Ende Moselgasse, linkes Haus neben dem Spielplatz, Top 26.“
„Alles klar, bis später dann.“
Mit einem Winken verabschiedeten wir uns für die nächste Stunde.
Zur verabredeten Zeit stand ich mit einer Flasche Wein vor seiner Wohnungstür. Wie üblich hatte ich nichts Besseres zu Hause, um es mitzubringen.
„Hi! Komm rein!“ begrüßte er mich und trat beiseite, um mich hineinzulassen. Irgendetwas war anders an ihm, ich konnte aber nicht genau sagen, was.
„Hallo!“ Wie zur Verteidigung hielt ich die Flasche hoch und drückte sie ihm in die Hand.
„Also Alkohol“, stellte er grinsend fest.
„Nicht notwendigerweise, aber ich hatte nichts Anderes zu Hause“, stellte ich richtig und zog meine Schuhe aus.
„Da wäre ich auch unrund.“ Er grinste noch immer, diesmal war es unverschämt. „So ganz ohne Essen.“
Ich schnitt ihm eine Grimasse. Meine Ernährungsgewohnheiten gehörten zu den Dingen, die ich nicht diskutierte. Kichernd wies er mit dem Arm in Richtung Wohnzimmer, von wo aus eine offene Terrassentür nach draußen führte.
„Also, was darf´s sein?“
„Mm? Saft?“ Mal schauen, was der Mann so zu bieten hatte.
„Orange, Apfel, Weichsel-Kirsche, Birne, Guave, Mango?“ zählte er auf.
„Holla, hast du eine Saftbar überfallen?“ Ich war ehrlich überrascht.
„So ungefähr. Ich bin ein Fruchtsaftjunkie“, erklärte er zwinkernd und stellte die Weinflasche auf einen kleinen Tisch im Vorzimmer, bevor er nach rechts in die Küche ging. Neugierig warf ich einen Blick in den Raum. Schön, stellte ich fest, sehr klassisch in hellem Holz, mit silbergrauen Arbeitsplatten, hellgrauem Fliesenboden und einem großen Fenster. Dazu noch sehr aufgeräumt und sauber. Ein ziemlicher Gegensatz zur Küche meines Ex, die er nur alle heiligen Zeiten einmal zu putzen pflegte und da er keine Putzfrau bezahlen wollte, sah es dort auch entsprechend aus. Sebastian hatte offenbar eine Putzfrau oder er selbst griff regelmäßig zu den Reinigungsutensilien.
„Guave bitte“, sagte ich, als er mich fragend ansah.
Für einen Moment räumte er im Kühlschrank herum, bevor er mit einer Saftpackung wieder auftauchte und begann, zwei Gläser zu befüllen.
„Mit Wasser oder Sprudel oder pur?“
„Sprudel!“ dachte ich amüsiert. „Wasser bitte.“
„Warum lächelst du so versonnen?“ fragte er, obwohl ich hätte schwören können, dass er mich gar nicht richtig angesehen hatte.
„Kein besonderer Grund.“
Mit den Saftgläsern in der Hand drehte er sich wieder um und da fiel es mir auf: Er hatte seine Haare ganz aus der Stirn gekämmt, seine Augenbrauen ein wenig unter Kontrolle gebracht, wodurch seine Augen besser zur Geltung kamen, seinen wuchernden Bart gestutzt und er trug helle Chinos, die die richtige Länge hatten und ein weißes, makelloses Poloshirt. War ich paranoid oder hatte der Mann zwei „Stylingpersönlichkeiten“?
„Gehen wir raus?“
Ich machte zwei Schritte zur Seite, damit er vorgehen konnte. Als er an mir vorbei ging, beugte er sich ein wenig in meine Richtung und schnupperte. „Du riechst nach Schwimmbad und Urlaub“, stellte er leise fest.
„Sonnencreme, Sebastian, Sonnencreme“, sagte ich, so ruhig es mir möglich war. Heilige Maria Mutter Gottes, was war nur los mit mir? Es stimmte schon, dieser Mann hatte eine außergewöhnlich schöne Stimme, aber warum brachte er mich damit so aus der Fassung, dass mir die Knie weich wurden? Abgesehen von seiner Stimme, seinen Augen und Händen fand ich ihn ja nicht besonders attraktiv. Vielleicht, na ja, seine Größe und Statur – groß und athletisch schlank, wie ich es bei Männern mochte. Oh Gott, ich tat es schon wieder!
Fragend zog er die Augenbrauen hoch.
„Was soll ich machen? Meine Melaninerzeuger sind eine stinkfaule Partie und bescheren mir sogar im Frühherbst noch einen Sonnenbrand, wenn ich nicht aufpasse. Die Jungs stehen mehr auf Mitternachtssonne und solche Scherze.“
Von einer Sekunde auf die andere brach er in schallendes Gelächter aus. „Ich liebe deinen Humor!“
„Danke“, erwiderte ich trocken.
Noch immer kichernd zeigte er auf die Terrassentür, die am anderen Ende des Wohnzimmers offen stand. „Geh schon einmal vor, ich komm gleich. Nimmst du mein Glas auch mit, bitte?“
Nickend nahm ich die beiden Gläser und ging auf die Terrasse, wo ich sie auf einem Holztisch, der zwischen zwei Liegestühlen stand, abstellte.
Er hatte wirklich nicht zu viel versprochen, der Ausblick war wunderschön, direkt auf den Laaer Wald, dahinter die Stadt. Alles war in strahlendes Sonnenlicht getaucht und schien zu leuchten. Ich lehnte meine Ellenbogen auf das Geländer und stützte den Kopf in die Hände.
„Und? Wie gefällt dir die Aussicht?“ fragte er plötzlich von der Seite. Erschrocken zuckte ich zusammen.
„Bist du des Wahnsinns knusprige Beute?“ keuchte ich und atmete einmal geräuschvoll aus.
„Verzeih, war keine Absicht.“
Ich atmete noch einmal tief durch, dann drehte ich mich zu ihm um. „Darf ich mein Zelt auf deiner Terrasse aufschlagen? Ich gieße auch die Pflanzen.“
Derer gab es genug auf dieser Außenfläche.
Sein Bart hob sich und um seine Augen bildeten sich Fältchen. „Ich habe ein Gästezimmer, aber wenn du das Campingfeeling vorziehst, gerne.“
„Wo ist die Gießkanne?“
Er lachte leise und auf meinen Armen stellten sich wieder die kleinen Härchen auf.
„Erzähl mal, warum hat eine Frau wie du am Wochenende nicht ein Date nach dem anderen?“
Wie bitte? Das war eine abrupte Änderung des Themas und sehr direkt gefragt, etwas zu direkt für die Tatsache, dass wir einander so wenig kannten. Verwundert sah ich ihn an. So hätte ich ihn nicht eingeschätzt.
„Verzeihung.“ In einer entschuldigenden Geste hob er die Hände. „Ich … ich wundere mich nur. Im Chor gibt es so viele tolle Frauen ohne Partner und ich verstehe es nicht.“
Mein linker Mundwinkel hob sich in einem spöttischen Lächeln. „Nun, ich auch nicht. Aber wenn ich raten soll, liegt es vermutlich daran, dass wir etwas zu toll sind.“ Zu meinem Lächeln gesellte sich die linke Augenbraue. Verstand er die Andeutung?
Sebastian schüttelte den Kopf. „So gesehen sind wir Männer irgendwie blöd.“
Ich musste laut lachen.
„Willst du nicht … ich meine, magst du keine Männer?“ fragte er vorsichtig.
What the heck? War das wirklich seine Art, oder wurde ich hier gerade Opfer der versteckten Kamera? Auf der anderen Seite – war es nicht völlig egal?
„Meinst du, ob ich auf Frauen stehe?“ fragte ich zurück und lehnte lässig einen Arm auf die Brüstung.
„Mhm.“ Ebenso lässig spiegelte er meine Haltung. Irgendwie hatte ich das dumme Gefühl, dass es bei ihm besser aussah.
„Nein.“ Trotzdem dieses Gespräch immer persönlicher zu werden schien, irgendwann ging meine Zurückhaltung einfach über Bord. „Ich mag Männer durchaus, allerdings habe ich festgestellt, dass die meisten Männer mich nicht mehr mögen, wenn sie feststellen, dass ich mehr Mann sein kann, als so mancher Vertreter deines Geschlechtes und das scheint euch zu verschrecken.“
Sein Gesichtsausdruck war für einen Moment verblüfft, dann senkte er die Augen.
„Stimmt“, meinte er schließlich und sah mich wieder an, „Wie sollen wir dir denn in unserer absolut und unwiderlegbar logischen Art erklären, wie die Welt funktioniert, wenn du es schon weißt?“
„Absolut und unwiderlegbar logisch“, wiederholte ich und garnierte meine Worte mit einem schlecht unterdrückten Lachen. „Ja, das klingt nach den Männern, die ich kenne.“
Obwohl der Spott in meiner Stimme unüberhörbar war, traf es doch einen wunden Punkt.
„Schön, wenn unsere geistige Überlegenheit anerkannt wird!“
„Geistige Überlegenheit ist immer eine Frage des Standpunktes, mein Lieber und von meinem Standpunkt aus, ist jene bei den meisten männlichen Vertretern der Spezies Homo sapiens durchaus fragwürdig.“
„Inwiefern?“
„Insoferne, als dass das Denken mit anderen Körperteilen als dem Gehirn, allerhöchstens als Ersatzhandlung zu bewerten ist.“ Ich lächelte ihn zuckersüß an.
„Was können wir denn dafür, dass unsere Herzen so groß sind?“ fragte er mit treuherzigem Blick.
„Und meistens von einer brüllenden Woge Testosteron zum Schweigen gebracht wird. Ihr seid wirklich zu bemitleiden.“
Für einen Moment sah er mich ehrlich verblüfft an. „Für dein Mundwerk brauchst du echt einen Waffenschein.“
Dazu konnte ich nur breit grinsen. Solche Aussagen fasse ich prinzipiell als Kompliment auf.
„Siehst du, verschreckt“, stellte ich fest.
„Bist du deshalb so unrund? Weil du allein bist und das Gefühl hast, du würdest alle verschrecken?“
Fix noch eins! Der Kerl wechselte die Themen schneller, als Lady Gaga ihre Haarfarbe!
Das klitzekleine Hochgefühl unseres verbalen Schlagabtausches verpuffte, wie Trockeneis in der Sonne. In meinem Mund machte sich ein schaler Geschmack breit. Verschrecken war nicht das Thema, oder doch? Nein, viel mehr das Gefühl, dass alle Welt annahm, ich sei so stark, dass sich alle an mich anlehnen konnten und ich für mich allein stand. Welcher Mann sollte denn in der Lage sein, mich einmal aufzufangen, wenn er nicht einmal in der Lage war, ein kleines verbales Scharmützel mit mir zu überstehen? Ich bin stark, ich stehe noch, wenn andere schon lange in die Knie gegangen sind, aber wenn ich falle, falle ich tief. Ich bemerkte mein eigenes Seufzen nicht, nur, dass ich auf das Geländer starrte.
Vorsichtig berührte er meinen Arm und ich zuckte zusammen. „Eigentlich wollte ich dich aufmuntern, stattdessen geht´s dir jetzt noch schlechter. Tut mir leid, Carmen.“
„Schon ok“, sagte ich und rang mir ein Lächeln ab, „Du kannst ja nichts für meine Neurosen.“
„Magst du ein Bier?“
Das war nun wirklich ein guter Vorschlag und durchaus dazu angetan, meine angeschlagene Stimmung zu bessern. „Gern.“
Während er das Bier holen ging, setzte ich mich auf einen Stuhl und schloss die Augen vor der Sonne. Langsam kehrte wieder so etwas wie Ruhe in meinem Inneren ein. Obwohl ich meine Gedanken nicht laut ausgesprochen hatte, schien allein das Gespräch mit Sebastian meine aufgewühlten Emotionen beruhigt zu haben. Jetzt war ich tatsächlich in der Lage, die Sonne zu genießen.
Ich konnte ihn auf leisen Sohlen auf die Terrasse zurückkommen hören und öffnete vorsichtig die Augen. In mein Blickfeld wanderte eine Bierflasche.
„Danke.“
„Santé.“
Gemütlich lümmelte er sich in den Stuhl neben mir. Mein primärer visueller Cortex stellte so ganz nebenbei fest, wie lang die Beine dieses Mannes waren und sandte diese Information direkt an mein limbisches System. In meinem Körper machte sich ein angenehmes Kribbeln breit.
„Prost“, sagte ich, bevor meine Hormone die Überhand über meinen Verstand gewannen – das konnte ich im Moment so gar nicht brauchen...
Mein präfrontaler Cortex andererseits war irgendwie dankbar dafür, dass ich mir noch nicht klar darüber war, ob ich ihn jetzt attraktiv fand, oder nicht. Abgesehen davon, dass ich mir noch überlegen musste, ob sein heutiges Outfit jetzt eher die Regel oder die Ausnahme war, im Gegensatz zu zu kurzen Hosen und formlosen Tweed-Jacketts. Oh Mann, so unglaublich daneben kannte ich mich gar nicht. Ich beschloss, mich eher auf das Bier in meiner Hand zu konzentrieren. Mmm, so ein kaltes Bier an einem warmen Tag ist etwas Feines und mein Gastgeber schien meine Meinung zu teilen. Für ein paar Minuten süffelten wir schweigend unsere Hopfenkaltschale.
„Sebastian, warum hast du eigentlich mich angerufen?“ Diese Frage ging mir schon länger im Kopf herum. „Auf unserer Chorliste stehen ca. 45 Namen.“
„Weil ich dich mag und weil du ja praktisch um die Ecke wohnst“, gestand er, ein wenig verlegen, aber ehrlich.
Oh, äh, ja, mit dem ersten Teil dieser Antwort hatte ich nicht gerechnet und entsprechend verließ mich meine Schlagfertigkeit. Was hätte ich auch dazu sagen sollen?
Inzwischen zupfte er am nassen Etikett seiner Bierflasche herum, bis er es abziehen konnte, um es gleich darauf auf seine Stirn zu kleben. Ich erwiderte seinen todernsten Blick einigermaßen fassungslos.
„Trinkspiel“, erklärte er lächelnd und begann, von seinen Freunden zu erzählen. Das Etikett wurde auf die Stirn geklebt und wer es als erster verlor, musste die nächste Runde zahlen. So weit so gut.
„Wird das auf Dauer nicht etwas … nun … anstrengend?“ fragte ich grinsend.
Er hob die Schultern und meinte dann: „Eher kompliziert, je mehr man getrunken hat.“
„Kompliziert?“ Das war nicht das Wort, mit dem ich es beschrieben hätte.
„Nun ja, die Stirn zu treffen wird nicht einfacher im Laufe des Abends!“ Sein Körper bebte vor unterdrücktem Lachen. Offensichtlich hatte er ein bestimmtes Bild vor seinem inneren Auge.
„Habt ihr das nur mit Bier gespielt?“ In mir erwachte ein „furchtbarer“ Verdacht.
Sein Lachen schallte über die Terrasse. „Nicht nur!“
„Solange es keine Flaschen mit Tequila waren.“ Das stellte ich mir dann wirklich „kompliziert“ vor.
Langsam drehte er den Kopf und die Fältchen um seine Augen vertieften sich. Unwillkürlich lehnte ich mich vor.
„Nein!“
„Doch, mit Shots und Zitronen!“
Jetzt musste ich auch lachen. „Die halten doch gar nicht!“
„Wenn man den Kopf zurücklegt, schon!“
Allein die Vorstellung verursachte mir dieses Kribbeln im Bauch, das man nur mit herzhaftem Lachen loswerden kann.
„Früher oder später ging´s gar nicht mehr darum, wer die Zitrone am längsten auf der Stirn hatte, sondern, wer als erster vom Stuhl fiel!“
Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten, sein Lachen allein war schon so ansteckend und das Bild von ihm und seinen Freunden, wie sie mühsam, im bereits fortgeschritten alkoholisierten Zustand, auf ihren Stühlen balancierten, tat sein Übriges. Es war uns unmöglich, uns zu beruhigen, wann immer wir einander ansahen, ging es wieder von vorne los; bis es donnerte.
„Oha“, stellte ich fest. War Gewitter angesagt worden?
Überrascht sahen wir in den Himmel. Es hatte tatsächlich zugezogen und von Westen her wurde es tintenschwarz. Als die ersten Tropfen fielen, wechselten wir ins Wohnzimmer, wo wir uns auf die Couch lümmelten.
Sebastian war offensichtlich in Stimmung, das bereits angeschnittene Thema weiter zu vertiefen. Mir war es durchaus recht, je mehr die anderen redeten, desto länger konnte ich schweigen.
Sein bester Freund hieß also Etiénne, Franzose, no na, derzeit zu Hause in Strasbourg, wo er als Aeronautik-Ingenieur tätig war, verheiratet mit Irina, mit der er zwei Kinder hatte.
„Woher kennt ihr euch?“ fragte ich neugierig.
„Von der Uni. Etiénne hat an der ETH zwei Auslandssemester absolviert, da sind wir einander über den Weg gelaufen.“
„Du hast an der ETH studiert? Was genau?“ Ein Techniker? Herr, steh´ mir bei!
„Ingenieurswissenschaften mit Schwerpunkt Maschinenbau.“
Ich wusste es. In meinem Magen begann es, etwas unangenehm zu ziehen. (Dazu sollten etwas wissen: Ich war lange Zeit mit einem Techniker zusammen gewesen, mein Vater war selbst einer und wenn ich eines über diese Spezies gelernt habe, dann, dass man sich in allen Belangen auf sie verlassen kann, solange man nicht von ihnen verlangt, sich mit ihren eigenen oder den Gefühlen anderer auseinanderzusetzen. Wenn es für ein Problem keine „technische“ Lösung oder Herangehensweise gibt, sind sie schnell überfordert. Jedenfalls wusste ich jetzt, woran ich war.)
Diese Antwort brachte mich aber auch gleich zu nächsten Frage: „Was genau arbeitest du eigentlich?“ Klassisch, oder? Da war bereits meine sexuelle Ausrichtung zur Sprache gekommen, aber ich wusste nicht einmal, was der Mann beruflich machte.
„Ich arbeite für ein Familienunternehmen und betreue von hier aus die Töchter in Tschechien und Italien.“
„Betreuen?“
Er schenkte mir einen Blick, mit dem man ein Kind ansieht, das zu neugierig ist.
„Die technische Ausstattung der Produktionsstätten und noch ein paar andere Belange.“
Ok, ich war ja nicht bar aller Erkenntnis und erkannte, dass ich hier und jetzt keine ausführlichere Antwort bekommen würde. Also verkniff ich mir alle weiteren Fragen. Stattdessen schüttelte ich kritisch meine Bierflasche, die merklich an Gewicht verloren hatte.
„Noch eines?“ fragte Sebastian.
Ich „hmte“ in meinen Bart. So ein weiteres Bier war schon verführerisch, allerdings wäre mein Gastgeber dann in den zweifelhaften Genuss meiner angeheiterten Wenigkeit gekommen, denn mein Magen hatte seit dem Frühstück am frühen Morgen keine weitere feste Nahrung gesehen. Mit einem entschuldigenden Grinsen verlieh ich meinem Gedankengang Ausdruck.
„Dann also etwas zu essen“, stellte er fest, „Kommt gleich.“
Neugierig folgte ich ihm in die Küche, wo er mit kritisch zusammengezogenen Augenbrauen vor dem Kühlschrank stand. Vollkommen unaufgefordert produzierte mein Gehirn den Gedanken, dass seine Augenbrauen ein unabhängiges Gespräch miteinander führen konnten, wenn er sie noch weiter zusammenzog. Manchmal wunderte ich mich über mich selbst und meine verqueren Gedankengänge.
Mit einem missbilligenden Geräusch schloss er den Kühlschrank wieder.
„Nichts Gescheites da“, meinte er entschuldigend und hob die Schultern.
Grinsend meinte ich dazu: „Das hab ich schon gern! Da werde ich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen von meinem Unrund-Sein abgehalten und was passiert? Die Versprechungen stellen sich als leer heraus! Ich bin entsetzt!“
„Ich habe nie behauptet, etwas Anständiges zu essen zu Hause zu haben!“ verteidigte er sich und meine Augen verengten zu Schlitzen.
„Deine Worte waren, und ich zitiere: Ich biete eine Dachterrasse, gemütliche Möbel, wahlweise alkoholische und nicht-alkoholische Getränke und etwas zu essen“, knurrte ich gespielt böse.
„Ich habe nie gesagt `etwas Anständiges´!“ verteidigte er sich schnell.
Unwillkürlich musste ich kichern.
„Magst du Pizza?“
„Im Prinzip ja.“
„Gut, dann bestelle ich eine.“ Er fischte sein Handy aus der Hosentasche und drückte auf eine der Zifferntasten.
„Welche?“ fragte er, während er darauf wartete, dass sein Anruf entgegengenommen wurde. Der Pizzaservice auf der Schnellwahl; niemals nicht würde ich mich jemals wieder für meine Essensgewohnheiten kritisieren lassen! Jeder nach seiner Faccón!
„Am liebsten Quattro Formaggi.“
Er nickte und dann wurde dieses Telephonat auf Italienisch geführt. Sieh an! Ein Mann mit verborgenen Talenten. Wobei mir da gleich wieder die italienische Filiale einfiel. Die Landessprache zu können, war immer schon von Vorteil.
„Fünfzehn Minuten. Noch ein Bier?“ fragte er, nachdem er aufgelegt hatte.
Ich stand nur an den Türrahmen gelehnt, mit verschränkten Armen und sah ihn an. Mein Schweigen schien in zu verunsichern; gut so.
„Was?“ fragte er schließlich.
„Ja, bitte, ein weiteres Bier wäre schön.“
Mit einem kritischen Seitenblick auf mich wandte er sich wieder seinem Kühlschrank zu und fischte zwei Flaschen heraus. Nachdem er sie geöffnet und mir eine davon gereicht hatte, zog er die Augenbrauen in die Höhe. Jetzt war es an mir, die unsägliche Frage zu stellen: „Was?“
„Aus dir werde ich einfach nicht schlau.“
War das der Sinn der Übung? Wenn ja, hatte mich keiner eingeweiht.
„Warum ist das wichtig? Ach ja, bevor ich vergesse, darf ich dir das Geld für die Pizza vorerst schuldig bleiben? Ich hab kein Bargeld eingesteckt.“
Er gab ein Geräusch zwischen Lachen und Frustration von sich. „Siehst du? Genau das!“
„Genau was?“ Jetzt war ich verwirrt.
„Ich zahle die Pizza.“
„Und wann haben wir das ausgemacht?“
„Mehrheitsentscheid“, sagte er, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt.
„Welche Mehrheit?“ Wir waren zu zweit, also ging sich hier entweder ein Patt oder eine Absolute aus, aber nichts dazwischen.
„Die Gewichtung bei dieser Abstimmung erfolgt nach Körpergewicht“, klärte er mich auf, „Somit hast du maximal 35% der Stimmen.“
„Männliche Logik. Zum Glück verstehe ich sie nicht, sonst hätte ich ununterbrochen Kopfschmerzen“, erwiderte ich trocken.
„Wie könnten auch nach dem Gewicht des Gehirns vorgehen“, schlug er zuckersüß vor.
„Das wäre ähnlich oberflächlich“, schlug ich ebenso zuckersüß zurück, „Da inzwischen schon jeder weiß, dass sich die Leistungsfähigkeit des Gehirns nach seiner Struktur richtet und nicht nach seiner Masse. Das leichteste Gehirn, gemessen am Durchschnitt, hatte übrigens Einstein.“
Für einen Moment schwieg er verblüfft. „Weißt du eigentlich auf alles eine Antwort?“
Ups, da klang jemand leicht verschnupft. Hatte ich etwa ein männliches Ego eingedellt? Oh, ´Tschuldigung.
„Nö, aber ich bemühe mich! Prost!“
Damit verkrümelte ich mich wieder ins Wohnzimmer. So, wie er auf meine Äußerungen reagierte, hätte man meinen können, wir hatten ein ernsthaftes Date und ich machte absichtlich alle seine Annäherungsversuche zunichte. Wenn das seine Annahme war, hatte ich ein Problem – früher oder später. Aber vor allem war das genau das, was ich gerade so gar nicht brauchen konnte, oder?
Eine Minute später kam er nach und so, wie es aussah, hatte er sich wieder beruhigt. Er grinste sogar schon wieder.
„Warum grinst du?“ fragte ich.
„Magst du Action-Filme?“ fragte er zurück. Warum klang das so nach Fangfrage?
„Kommt drauf an. Wenn sie sich selbst zu ernst nehmen, nicht, und es richtet sich auch nach den Quadratzentimetern nackter Männerhaut, die man zu sehen bekommt. Gut trainiert, wenn möglich.“ Junge, glaubst du allen Ernstes, Frauen sehen sich so etwas nicht gern an? Bei seinem Gesichtsausdruck stieg mir schon wieder das Lachen im Hals auf. „Triple X fand ich ganz gut. Tomb Raider hat auch so seine Momente. Was hätten wir denn da noch?“
„The Dark Knight?“ fragte er und er klang ein wenig ratlos.
„Oh ja, sehr nett! Heath Ledger als Joker, sehenswert.“
„Nett“, wiederholte er stimmlos und konnte nur noch den Kopf schütteln. Ich lachte erheitert auf. Offensichtlich durchkreuzte ich gerade seine Taktik und er suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Die Türklingel war seine Rettung.
Während ich weiter im Wohnzimmer auf der Couch lümmelte, konnte ich ihn in der Küche mit Geschirr klappern hören. Nach einer Weile erhob ich meinen faulen Hintern und ging nachsehen, was er so lange trieb. Mein Magen knurrte bereits deutlich vernehmbar.
Ich fand ihn in der Küche, nachdenklich auf die Pizzen starrend.
„Kann ich helfen?“
Zur Abwechslung zuckte er zusammen.
„Santa Maria!“ keuchte er.
„Sorry!“ meinte ich dazu lächelnd.
Sebastian atmete einmal tief durch und deutete missbilligend auf die Kartons.
„Diese Teile sind zu groß für die Teller.“
„Dann nur einzelne Teile der ganzen Pizza?“ schlug ich vor, „Oder gleich den ganzen Karton, ohne die zivilisatorischen Minima von Porzellan und Besteck? Wir trinken das Bier ja auch aus der Flasche.“
„Dann lass uns unzivilisiert sein“, stimmte er erfreut zu und schnappte sich das Essen, um es ins Wohnzimmer zu tragen. Noch jemand, der seinen Esstisch ausdauernd ignorierte – das fand ich gut.
„Hast du keine Angst, dass ich dein makelloses Wohnzimmer bekleckern könnte?“ fragte ich hinterhältig.
Diese Wohnung, wenigstens die Teile, die ich bisher gesehen hatte, waren perfekt sauber, aufgeräumt, schlicht makellos. Obwohl mir eine kleine Anmerkung gestattet sein musste: Die Einrichtung wirkte, als hätte hier ein Innenarchitekt gearbeitet – etwas zu perfekt, alles passte irgendwie zu perfekt zusammen und wirkte einen Hauch unpersönlich.
„Mahlzeit“, meinte er nur und fischte ein Stück seiner Quattro Stagioni aus dem Karton.
„Ich gewinne bestimmt keine Preise für jahrelanges klecker freies Essen“, warnte ich ihn ein letztes Mal und nahm mir meinerseits ein Stück Pizza. Er warf mir nur einen amüsierten Blick zu, als er in sein Abendessen biss.
Die Pizza war unerwartet heiß und sehr köstlich. Für eine ganze Weile aßen wir einfach schweigend.
„Wow, du warst wirklich hungrig“, stellte er fest, als ich in Rekordzeit durch das halbe Wagenrad durch war.
„Ja und jetzt komme ich langsam zum maximalen Füllstand“, seufzte ich wohlig und nahm einen Schluck Bier.
„Maximaler Füllstand?!“ fragte er mit einem leisen Lachen in der Stimme.
„Etwas mehr als der optimale.“ Ich beäugte das letzte Drittel der Pizza mit einem gewissen Bedauern. Aber ich kannte mich einfach zu gut. Würde ich jetzt noch mehr essen, wäre mir danach nicht besonders wohl und das mochte ich einfach nicht.
„Darf ich?“ fragte er und warf einen begehrlichen Blick auf die Reste.
„Gehört alles dir“, sagte ich und machte eine entsprechende Handbewegung. Ohne zu zögern machte er sich über die Quattro Formaggi her.
„Ich war wohl nicht die Einzige mit Riesenhunger“, stellte ich fest.
„Mhm, stimmt“, murmelte er mit vollem Mund. Nachdem er geschluckt hatte, fragte er: „Was hältst du von einem Filmchen?“
„Kommt auf das Filmchen an.“
„Der Herr der Ringe?“
„Ein halbes Dutzend Mal gesehen.“
„Welchen Teil?“
„Alle. Im Director´s Cut.“
Er sah mich mit offenem Mund an. Ich grinste und hob die Schultern. Ja, Peter Jackson hat mit seinem Team einen tollen Job abgeliefert! Und die Filme waren allemal unterhaltsamer als dieses langatmige Buch!
Nach ein wenig hin und her, bei dem ihm mein Filmgeschmack abwechselnd kalte Schauer über den Rücken jagte und ihn erstaunte, einigten wir uns auf ein paar Folgen „Warehouse 13“ on demand, die ich noch nicht kannte. Dass wir hier konform gingen, erstaunte wiederum mich. Allerdings, ich wusste nicht, warum, bestand ich darauf, sie ihn der deutschen Synchronfassung anzusehen. Ich, die alles, was irgendwie geht, im Englischen Original sehen wollte! Keine Ahnung, was mich da geritten hat.
Egal, wir hatten eine Menge Spaß und was halbintelligente Kommentare zur Handlung betraf, konnten wir einander durchaus das Wasser reichen.
Ob ich wollte oder nicht, ich musste vor mir selbst zugeben, dass ich mich in der Gesellschaft eines Mannes schon länger nicht mehr so wohl gefühlt und mich so gut unterhalten hatte.
Es war gegen halb Elf, als ich mich endlich entschloss, nach Hause zu gehen.
„Schon?“ fragte Sebastian enttäuscht.
„Schau mal auf die Uhr!“ erwiderte ich kichernd und genoss ein wenig sein überraschtes Gesicht.
„So spät schon?“
„Yep und nachdem unser sadistischer Chorleiter überhaupt keine Skrupel hat, uns an einem Sonntag um halb Zehn zur Probe zu bestellen, verlangt mein Körper nach Schlaf, auf dass ich morgen nicht allzu unleidlich bin.“
Mich trafen ein schwer zu deutender Blick und ein leichtes Kopfschütteln. „Redest du eigentlich immer so?“
„Wie?“
„So, wie gerade.“ Er lehnte sich zurück und betrachtete mich.
„Nur, wenn das Publikum entsprechend ist.“
„War das gerade ein Kompliment?“ Ich konnte die Fangfrage geradezu riechen!
„An deine Intelligenz, ja“, antwortete ich zuckersüß und erhob mich.
Ganz Gentleman geleitete er mich zur Tür.
„Habt Dank für Speis und Trank und die Zerstreuung“, verabschiedete ich mich mit einem kleinen Knicks, den er entsprechend mit einer leichten Verbeugung erwiderte.
„Es war mein Vergnügen, Euer Gastgeber zu sein, Madame.“
Pünktlich um Viertel vor Zehn am nächsten Morgen eröffnete Georg die Chorprobe. Die allgemein etwas müde Stimmung war wohl der „frühen“ Stunde geschuldet und der Tatsache, dass ein erheblicher Teil der Anwesenden wahrscheinlich deutlich später als ich ins Bett gekommen war. Dennoch hatten sich beinahe alle Mitglieder des Chores zu dieser Probe eingefunden, ein Wunder, wie Georg nonchalant feststellte. Doch die Wunder nahmen kein Ende, noch ein neuer Tenor war zu uns gestoßen: Maximilian.
Ich kam also an diesem Tag zwischen Adam und Maximilian zu stehen und ich musste sagen, es war eine gute Idee. Adam war sowieso sehr sicher und Maximilian hatte scheinbar mehr als nur ein bißchen Ahnung, von dem, was er da tat, außerdem war unser neuer Tenor ein lustiger Kerl, mit dem es sich gut blödeln ließ. Leider musste unser „armer“ Chorleiter wegen unseres ausdauernden Gekichers ständig zur Ruhe rufen. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, war die Stimmung ausgesprochen gut und wir brachten bis zur ersten Pause eine Menge weiter.
Ich fischte also nach meinen Glimmstängeln und wurde zu meiner Überraschung von unserem Neuzugang auf dem Weg nach unten verfolgt.
„Hm? Noch ein Sünder in unseren Reihen?“ fragte ich erstaunt, als er grinsend seine Zigaretten hoch hielt.
„Scheint so. Hast du Feuer?“
Diesmal hielt ich grinsend das Feuerzeug hoch.
„Ausgezeichnet.“
Wir machten es uns also auf den Stufen vor dem Eingang gemütlich, argwöhnisch von Passanten beäugt und plauderten, bis Ina zu uns stieß. Mein Erstaunen musste mir über das ganze Gesicht geschrieben gewesen sein, denn sie lächelte nur und klärte mich auf, dass Maximilian und sie Arbeitskollegen waren. Das war es nicht, was mich erstaunte, sondern die Tatsache, dass Frau Dr. der Anglistik sich freiwillig in die Gesellschaft von Rauchern begab, erklärte, beinahe militante, Nichtraucherin, die sie war. Aber was tut man nicht alles für den Chor. Mühsam versteckte ich mein Grinsen hinter einem Zug an meiner Zigarette.
Wir blieben nicht lange zu dritt. Das schöne Wetter lockte so einige Chormitglieder nach draußen, um sich ein wenig die Beine zu vertreten, oder die Gesichter in die Sonne zu halten. Bald mussten wir aufstehen, weil wir sonst ständig auf die Seite hätten rutschen müssen, um jemandem, der rein oder raus wollte, Platz zu machen. Irgendwann nervte das. Dummerweise hatten viele Leute die Gewohnheit, sich genau dorthin stellen zu wollen oder dort durchzuwollen, wo schon jemand anderer stand. Mit einem leisen Grummeln machte ich einen Schritt nach hinten, weil Christine sich einbildete, sie müsse jetzt exakt durch mich durch. Dabei stieß ich mit jemandem zusammen. Bevor ich mich umdrehte, spürte ich ganz kurz eine Hand auf meiner Taille.
„Sorry!“ sagte ich und sah direkt in Sebastians Augen.
Er schüttelte nur lächelnd den Kopf. „Nichts passiert.“
Ich lächelte kurz zurück und drehte mich wieder um, dabei bemerkte ich Maximilian, der uns neugierig musterte. Als er meinen Blick bemerkte, sah er für einen Moment auf Sebastian, dann wandte er sich wieder Ina zu.
Über meinem Kopf musste ein mindestens sechs Meter großes Fragezeichen gestanden haben. Offenbar hatte ich etwas Entscheidendes einfach nicht mitbekommen.
Nach erfolgreichem Abschluss einer fünfstündigen Chorprobe wurde die Frage aufgeworfen, wer noch zum Mittagessen mitkäme. Ausnahmsweise war mir definitiv nach Weggehen, vor allem, weil mein Magen knurrte.
„Frühstück ausgelassen?“ fragte Maximilian grinsend.
„War das gerade so laut?“ fragte ich peinlich berührt zurück und zog den Kopf ein wenig ein. Er lachte auf.
„Es ist ja auch schon spät für ein Mittagessen.“
„Wie du sagst.“
Wir begaben uns also, acht Frauen und Männer hoch, zum Café Hummel. Die Zeit war offensichtlich günstig, denn wir fanden ohne Probleme einen passenden Tisch im Gastgarten. Sebastian nahm mir gegenüber Platz und vertrieb sich die folgende Stunde damit, mich nachdenklich zu mustern oder zu ignorieren. Er vermied ausdauernd jeden direkten Blickkontakt, sah schnell weg, wenn ich ihn ansah und benahm sich auch sonst sehr seltsam. Als ich ihm direkt eine Frage stellte, musste ich sie wiederholen, weil er mich scheinbar nicht gehört hatte, oder nicht hatte hören wollen. Kaum war er mit dem Essen fertig, fragte er nach der Rechnung und verabschiedete sich.
Was in drei Teufels Namen war hier los?
„Was hat Sebastian denn?“ fragte mich Tina hinter Sonjas Rücken. Ich lehnte mich zurück, um sie besser sehen zu können.
„Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung“, gestand ich offen und zuckte mit den Schultern.
„Seid ihr beide zusammen?“ fragte plötzlich Sonja und sah mich lächelnd an.
„Nein!“ antwortete ich etwas zu laut, denn mit einem Mal wandte sich die Aufmerksamkeit aller Anwesenden mir zu. Ich konnte spüren, wie meine Ohren heiß wurden. Verflixt, ich hasse das!
„Ganz sicher?“ fragte Rita kichernd.
Mein Blick hätte sie in kleine Scheibchen zerlegt, hätte er gekonnt. „Ich denke, davon wüsste ich“, grummelte ich.
„Die Frage ist, ob er davon weiß“, warf Maximilian launig ein.
Beinahe hätte ich mir das Genick verletzt, so abrupt drehte ich den Kopf in seine Richtung. „Wie bitte?“
Er grinste nur vielsagend.
„Moment, es verstößt gegen die Genfer Menschenrechtskonvention, Paragraph 147, solche Bemerkungen zu machen und dann beredt zu schweigen!“ protestierte ich, aber ich bekam keine Antwort mehr.
Ganz offensichtlich bekam ich hier wirklich etwas ganz Entscheidendes nicht mit. Hilfesuchend wollte ich mich an Tina wenden, aber sie plauderte schon wieder entspannt mit Rita. Grmpf!
Ich entschied mich, die Sache vorerst auf sich beruhen zu lassen, aber große Lust, weiter hier zu sitzen und in Gesellschaft zu grübeln, hatte ich auch nicht. Als die Kellnerin vorbeikam, bat ich um die Rechnung und verabschiedete mich.
Auf dem Heimweg gingen mir die Bemerkungen der lieben Chorkollegen immer wieder durch den Kopf. Es stimmte schon, der Junge hatte agiert, als sei ihm eine Laus monströsen Ausmaßes über die Leber gelaufen. Die Frage war jedoch, ob diese Laus meine Schuhgröße hatte. Was hatte ich ihm denn getan? Wir waren weder gemeinsam zur Chorprobe gefahren, noch war das ausgemacht gewesen! Wir hatten einen netten Samstagnachmittag miteinander verbracht, zählte das für ihn schon als Date oder mehr? Und woher, in aller Welt, sollte ich das denn wissen, bitteschön?! Himmel, Herrgott, schon wieder ein beleidigter Sensibler, ernsthaft?!
Mein Sonntag war im Eimer, gründlich.
Innerlich noch immer zwischen wütend und irritiert schwankend, stapfte ich vom Bus zu meiner Wohnung. Wenn ich in so einer Stimmung war, nahm ich nicht allzu viel um mich herum wahr. Ich schaffte es zwar, nirgendwo dagegen zu laufen und auch keine kleinen Kinder über den Haufen zu rennen, aber mit dem plötzlich auftauchenden Hindernis, als ich um die Ecke vor der Haustür bog und nach dem Schlüssel fischte, hatte ich nicht gerechnet und stieß mit vollem Schwung mit einer anderen Person zusammen.
„Verzeihung!“ brachte ich heraus und machte einen Schritt zurück. Für einen Moment dachte ich, es sei mein Nachbar aus dem Dachgeschoß, bis er sich umdrehte. Na phantastisch, mein Ex – über diesem Tag musste ein Fluch hängen.
„Hallo Carmen“, sagte er und grinste etwas schief. Früher hatte ich das irgendwie süß gefunden, jetzt nervte es mich tierisch.
„Was willst du hier?“ fragte ich unfreundlich.
„Hm, ich dachte, wir könnten ein bißchen plaudern“, antwortete er hoffnungsvoll, während ich mit den Schlüsseln klimperte. Mir schlief augenblicklich das Gesicht ein. Diese Phrase kannte ich zur Genüge und sie hieß übersetzt: zwei Stunden Hühnergegacker ohne nennenswerten Inhalt. Wenn ich das wollte, setzte ich mich in der Firma in ein Meeting, dort wurde ich wenigstens dafür bezahlt!
„Ist … ist jetzt ein schlechter Zeitpunkt?“ fragte er.
„Jetzt, später, immer.“ Ich schüttelte nur noch den Kopf.
„Aber … aber … ich …“, stotterte er.
„Genau. Du. Falls du es noch nicht mitbekommen hast, du bist raus aus meinem Leben, jetzt, später, immer. Ich will nicht mit dir reden, nicht mit dir mailen, dich nicht mehr sehen und ich bin nicht der Typ „wir verstehen uns auch nachher noch super“! Schluss heißt bei mir Schluss und im Gegensatz zu dir, stehe ich zu meinen Entscheidungen und ziehe sie auch durch. Also“, sagte ich mit all den Emotionen, die sich im Laufe des Tages aufgestaut hatten und machte eine entsprechende Handbewegung, die ihn verscheuchen sollte. Es war vielleicht ein bißchen unfair und es saß, ich konnte es an seinem Gesicht sehen, an diesen ach so traurigen Augen, als er sich umdrehte und ging. Für einen ganz kurzen Moment hatte ich ein schlechtes Gewissen, doch dann kam die Erinnerung wieder an viele Gelegenheiten, als ich von ihm mit seinen ganzen aufgestauten Emotionen zugedeckt wurde, die mit mir nichts zu tun gehabt hatten. An die Vorwürfe, die sich eigentlich nicht gegen mich gerichtet hatten, aber weil ich schon mal da gewesen war, hatte er seine Chance genutzt, einfach mir seinen ganzen Mist vor die Füße zu kübeln. Sein Pech, dass die Entsorgungsbetriebe Favoriten heute Ruhetag hatten!
Danke Herr, dass du diesen Kelch an mir vorübergehen ließest! Zwei beleidigte Sensible an einem Tag war einfach zu viel.
Der Montagmorgen dräute und mir graute davor. Wenn diese Woche so weiterging, wie die letzte aufgehört hatte, zog ich mir am besten wieder die Decke über den Kopf und gab vor, an Migräne zu leiden! Seufzend schwang ich also meinen Kadaver aus dem Bett und begann den Tag.
Als ich das Labor betrat, murmelte ich ein „Guten Morgen“ in Anitas Richtung, stellte die Tasche auf den Schreibtisch und warf den Computer an.
„Morgen!“ zwitscherte sie. Dieser Frau konnte so schnell nichts die Laune verderben und dafür bewunderte ich sie ehrlich.
Kaum hatte ich den ersten Blick auf die Inbox meiner E-Mail geworfen, wollte ich schon wieder heimgehen. Jemand war Freitagabend sehr fleißig gewesen, vor allem darin, unliebsame Arbeit an jemand anderen abzuwälzen.
„Dumme Gans, mach deinen Job doch selber“, grummelte ich in mich hinein, als das Telephon losplärrte. Hach, wie ich es liebte, begehrt zu sein – nur nicht um Viertel vor Acht, wenn ich kaum richtig bei der Tür herein war! Das Display sprach: Herbert Meissner.
„Ach ja, Herbert-Scherbert hat heftige Sehnsucht nach dir!“ bemerkte Anita grinsend.
„Dies ist der automatische Anrufbeantworter von Carmen Royner. Ich habe heute keine Lust zu arbeiten …“, hob ich mit meiner besten Nachrichtensprecherinnenstimme ab. Am anderen Ende kicherte Herbert ins Telephon und plötzlich lehnte sich Anita zu mir und rief lachend in den Hörer: „Der Herbert ist in die Carmen verliebt! Der Herbert ist in die Carmen verliebt!“
Mühsam unterdrückte ich ein Lachen und beendete meine Ansage mit den Worten: „Hinterlassen Sie Ihre Nachricht nach dem Piep, vielleicht habe ich ja morgen Lust, so zu tun, als täte ich etwas.“
Der Chef der Rohwarenanlieferung schnurrte – jawohl, schnurrte! Das hatte ich noch nie von ihm gehört! – „Mag dich aber sehen!“
„Aber ich dich nicht“, meckerte ich zurück.
„Na geh. Und wenn ich dich ganz lieb bitte?“ säuselte er zuckersüß. Der Mann musste auf Drogen sein!
„Na gut“, seufzte ich schließlich, „Mit oder ohne Kamera?“
„Bring sie mit.“
Menage a troi – in dem Haus ging´s zu wie in Sodom und Gomorrha!
Ich erhob mich also wieder, verhüllte meinen Körper mit einem Arbeitsmantel und mein Haupthaar mit einem der kleidsamen Häubchen, die im Produktionsbereich Pflicht waren, stapfte zu den Schränken in der Garderobe und fischte die Kamera heraus. Ich war gespannt, was für eine Katastrophe sich wieder in der Anlieferung abspielte.
Grinsend erwartete Herbert mich bereits.
„Magst was Schönes sehen?“
O je, das fing ja wieder gut an! Solche Begrüßungen führten meist zu Arbeit. Mir entkam ein Seufzen.
An der Laderampe von Tor 12 stand ein LKW mit offener Ladeklappe, so dass ich ohne Probleme auf die Ladefläche sehen konnte, auf der sich eine ganze Menge Jutesäcke mit Muskatnüssen befanden. Dass es Muskatnüsse waren, konnte man daran erkennen, dass ungefähr ein Viertel von ihnen ohne Verpackung lustig zwischen den Säcken, auf dem Boden und auch sonst überall herum kugelte.
„Sehr lustig“, knurrte ich.
„Was machen wir?“
„Klappe zu, LKW heimschicken. Das nehme ich nicht.“ Einfache Entscheidung, wenn die Sachlage so eindeutig war. Ich schoss noch ein paar Photos zur Beweissicherung, unterschrieb die Ladepapiere mit der Bemerkung, dass die Übernahme verweigert wurde und schlich wieder zurück an meinen eigentlichen Arbeitsplatz.
Inzwischen waren auch Barbara und Elisa eingetrudelt und wir begaben uns gemeinsam auf die Jagd nach einer Tasse Kaffee.
Der Tag verlief ruhig, geschuldet vor allem der Tatsache, dass unsere Chefin außer Haus war, was die Abläufe und die Stimmung immer positiv beeinflusste. Manchmal war das Universum auch lieb zu mir, vor allem dann, wenn ich es wirklich nötig hatte.
Als ich nach einem langen Arbeitstag endlich die Wohnungstür hinter mir zumachte, konnte ich die Spannung und den Stress fast physisch von mir abfallen fühlen. Mein Singleleben hatte diesbezüglich außer Vorteilen nur Vorteile. Ich stellte mich auf einen gemütlichen Abend mit mir und einer meiner Lieblingsserien ein, als mein Telephon klingelte. Sieh an, Herr Sebastian.
„Royner.“
„Hallo Carmen, hier spricht Sebastian.“
Weiß ich doch, Dummerle, wozu gibt´s Anruferkennung! „Hallo, was gibt´s?“ Ich war ein wenig abgelenkt, denn ich versuchte gerade, eine Kerze aus ihrer Verpackung zu befreien.
„Äh … ich wollte nur hören, wie´s dir geht“, sagte er und er klang ein wenig verunsichert.
„Gut, danke und selbst?“ Ich fluchte unterdrückt, weil dieses Teil so widerspenstig war!
„Was machst du gerade?“ Diesmal klang er amüsiert.
„Ich versuche … Mist! … eine Kerze auszupacken“ und hatte sie natürlich fallen lassen. Er lachte auf.
„Nicht Multitasking-fähig?“
„Multitasking ist ein Mythos, ein unbestätigter, übrigens, aber wir Frauen sind so viel besser darin, mehr mitzubekommen, auch, wenn wir nur mit einem halben Ohr zuhören, deshalb halten wir ihn hartnäckig aufrecht“, knirschte ich und hob die zerbrochene Kerze auf. „Sch…eibenkleister.“
„Galt das jetzt dem Multitasking oder etwas Anderem?“ Er kicherte noch immer.
„Das galt der Kerze, die gerade meiner Tollpatschigkeit zum Opfer gefallen ist. Sozusagen eine Opferkerze.“ Ich seufzte. Sein Kichern wurde zu Lachen. Aus kindischer Vergeltung schnitt ich dem Telephon eine Grimasse.
„Danke!“ lachte er.
„Immer gern“, grummelte ich.
„Nein, wirklich. Das ist seit vorgestern das erste Mal, dass ich wieder lachen kann.“
„Harte Zeit gehabt?“ Meine Verwirrung und mein Ärger ob seines seltsamen Verhaltens und der prätentiösen Reaktion unserer Chorkollegen hatten sich wieder gelegt.
„Wie man´s nimmt“, antwortete er ausweichend. „Jemand, von dem ich eigentlich nie wieder etwas hören wollte, hat mich angerufen.“
„Hm“, meinte ich dazu mit hochgezogener Augenbraue, „Da sind wir schon zwei.“
„Auch ein unliebsamer Anruf?“
„Schlimmer, eine Begegnung der dritten Art.“
„Twilight-Zone?“
„Ex, der sich irgendwie in meine vier Wände schleichen wollte und weil er schon dabei war, vermutlich auch zurück in mein Leben.“ Ich konnte nach wie vor nur den Kopf schütteln. Wie kam der kleine Narr darauf, dass sich meine Einstellung zu ihm und unserer gehabten Beziehung nach über einem Jahr geändert hätte?
„Er wird dich vermissen“, spekulierte Sebastian.
„Wie mir das an der Kehrseite vorbei geht“, erwiderte ich trocken.
„Wow, du bist ganz schön hart.“ Er klang verwundert und ein wenig betroffen.
„Nein, nur konsequent. Ich habe die Entscheidung, Schluss zu machen, nie bereut und werde es nie.“ Ich pflanzte meinen Hintern auf die Couch und sah aus dem Fenster. Sogar laut ausgesprochen stimmte es. Am anderen Ende der Leitung herrschte kurz Stille.
„Carmen, ich brauche etwas von dir“, sagte Sebastian schließlich.
„Ok und was?“
„Das müsste ich von Angesicht zu Angesicht mit dir besprechen.“
Unwillkürlich setzte ich mich etwas gerader hin. Das klang ja beinahe geschäftlich.
„Bekomme ich einen Hinweis, oder muß ich raten?“
Er lachte leise. „Nein, du musst warten, bis wir uns sehen!“
Na gut. Und alle diese kleine Haare auf meinem Arm: Ruht! Fix noch eins, das konnte ja wohl nicht wahr sein!
„Welcher Termin wäre Ihnen denn da so vorgeschwebt, mein Herr?“ Ich unterdrückte ein kleines Schaudern, das meinen Körper durchlief. Kleine Nebenwirkung der eben erfahrenen Gänsehaut.
„Hast du am Freitag schon etwas vor?“
Außer einem kleinen Schläfchen am Nachmittag? Nein, eigentlich nicht.
„Freitag ginge. Welche Uhrzeit?“
„Um drei? Ich lade dich zum Essen ein.“
Mir entkam ein Lachen. „Köderst du mich schon wieder mit Essen, das du nicht zu Hause hast?“
Sein Grinsen war sogar hörbar: „Nein, ich dachte da eher an Essen gehen, um mir die weiteren Peinlichkeiten zu ersparen!“
„Guter Plan. Dann werde ich meiner Vorzimmerblondine mal den Auftrag geben, den Termin festzuhalten.“