Читать книгу Der Feuerreiter - M. G. S. Morgan - Страница 5
Kapitel 1: Das Buch
ОглавлениеSie lauschten in die Dunkelheit der Nacht hinein. Es war gespenstisch still, nur ein Käuzchen rief irgendwo in den dichten Bäumen hinter ihnen. Der Wald hüllte die Gestalten auf ihren Rössern schützend in seinem rabenschwarzen Nachtgewand ein. Eines der Pferde schabte nervös mit den Hufen, ein anderes schnaubte. Unter den schwarzen Kapuzen der Gestalten zeigte sich keine Regung, kein Laut, nur Schatten. Sie alle starrten wortlos auf die kleine Siedlung, die sich vor ihnen ausbreitete. Es war nur eine Handvoll Häuser, umringt von kleinen Gemüsegärten und ein paar Feldern. Die Häuser waren bewohnt, denn aus ihren lehmverputzten Schornsteinen stieg Rauch in den kühlen Nachthimmel hinauf. Ein Hund bellte, hinter einem der Fenster brannte eine Kerze. Ein alter Mann saß in einem einfachen Lehnstuhl über ein dickes Buch gebeugt. Er blickte nicht auf.
Einer der dunklen Reiter hob die Hand und gab ein einziges, knappes Zeichen. Das genügte. Die zehn Gestalten preschten los, wie eine breite, undurchdringliche Wand, und als sie sich der Siedlung in raschem Tempo näherten, begannen ihre Augen zu glühen – rot und feurig, wie glimmende Kohlen.
Aus der Siedlung drang ein Schrei zu ihnen herüber, dann ging alles sehr schnell: Die Reiter verteilten sich, lösten ihre starre Reihe auf, jagten auf ihren Rössern durch die Höfe, durch die Gärten und sogar in die Häuser hinein. Sie setzten alles in Brand, trampelten alles nieder, und so schnell, wie alles begonnen hatte, war es dann auch wieder vorbei.
Trockenes Gebälk fiel knarrend und knisternd ineinander, die grellen Flammen lechzten hungrig an ihnen empor, während das Geschrei der Menschen schon längst verstummt war. Nur ein jaulender Hund floh noch panikerfüllt über die Felder hinweg und war bald darauf hinter den dunklen Umrissen der naheliegenden Hügel verschwunden.
Die Pferde wieherten, von Feuer umgeben, während die düsteren Gestalten ihr zerstörerisches Werk betrachteten. Das Glühen in ihren Augen war erloschen. Einer von ihnen fluchte: „Verdammt! Nur alte Leute! Was wird unser Meister dazu sagen?“
In der Zwischenzeit war jedoch etwas weiter entfernt ein Reiter inmitten der züngelnden Flammen von seinem Pferd abgestiegen. Etwas schien seine Aufmerksamkeit erregt zu haben – etwas, das zwischen den schwelenden Trümmern eines der Häuser lag. Er beugte sich langsam nieder und fasste dieses Etwas an, zögernd, so als ob er befürchtete, es könne sich jeden Moment in Luft auflösen. Dabei zuckte er überrascht und hob schließlich etwas Zerfleddertes, leicht Angesengtes ehrfurchtsvoll auf.
„Los, wir reiten zurück!“ Das barsche Kommando eines anderen Reiters. Die Reiter wendeten ihre unruhigen Pferde.
Rasch und von den anderen unbemerkt, steckte der abseitsstehende Reiter das, was immer er auch in Händen hielt, kurzerhand unter seinen dunklen Umhang und saß wieder auf, so als wäre nichts geschehen.
Binnen kürzester Zeit erinnerten nur noch die restlos vernichtete Siedlung und der beißende Qualm an den schonungslosen, ungebetenen nächtlichen Besuch. Ja, die Feuerreiter hatten wieder einmal zugeschlagen.
***
Das pechschwarze Tor der alten Burg nahm die zurückkehrenden Reiter wie ein weitgeöffneter, hungriger Rachen in Empfang, während die Pferde donnernd über die morsche, moosbewachsene Zugbrücke galoppierten. Knarrend schloss sie sich hinter ihnen mit einem dumpfen Knall, während über den Wipfeln der Bäume im Osten ein dünner, hellroter Streifen Licht den ersten Strahl der aufgehenden Sonne ankündigte.
Nachdem sie ihre Pferde versorgt hatten, marschierten die Reiter wortlos in das Gebäude, das früher wohl ein stattlicher Palas gewesen sein musste, das aber jetzt nur noch ein Schatten seiner selbst war: In den bröselnden, dicken Mauern nisteten überall Kolkraben, und die Fenster waren nur noch unförmige, gähnende Löcher, durch die der Wind heulend hindurch pfiff. Bald darauf gellte auch ein wuterfülltes Brüllen durch die hohlen Fenster, sodass einige der Kolkraben vor Schreck aufstoben, während die Eingeweide der Burg unter dem dröhnenden Hall erzitterten. Dieses Beben drang selbst bis in die finsteren, tiefen Kellergewölbe hinab, durch die nun zielstrebig und leise ein einzelner Schatten huschte – der Schatten eines Mannes, der unter seiner weiten, wallenden Kutte etwas versteckte. Er schritt zielsicher die zahlreichen, wirren Gänge hinunter, immer weiter, bis er schließlich vor einer rostigen, eisenbeschlagenen Türe zum Stehen kam. Durch die Ritzen in der Tür drang seltsamer, blauer Dunst, der in hauchdünnen, schimmernden Bindfäden emporstieg, und dahinter hörte man eine schrille, zeternde Stimme. Sie klang hörbar verärgert.
Der Feuerreiter klopfte an, entschlossen.
„Wer stört mich jetzt schon wieder?“ Nach einem kurzen Fluchen, ein helles, blechernes Scheppern und schlurfenden Schritten, wurde die Türe wütend aufgerissen. Dahinter erschien der fast kahle Kopf eines alten, völlig verschrumpelten Greises, der seinen Besucher mit böse funkelnden Augen musterte. „Was willst du?“, fragte er schroff, während aus seinem Unterkiefer ein langer, gelber Zahn bedenklich aus dem sonst zahnlosen Mund heraushing. „Schickt dich der Meister?“ Der Zahn wackelte.
Der Reiter schüttelte nur den Kopf, schob den alten Mann einfach beiseite und trat ungebeten und wortlos in das Gewölbe dahinter. Es war ein geräumiger Raum, an dessen Wänden zahlreiche Fackeln loderten. Längliche Tische standen kreuz und quer verteilt und auf ihnen bizarr anmutende irdene und gläserne Gefäße in seltsamen Gestellen. In ihnen brodelte und blubberte es in allen erdenklichen Farben. An der hintersten Wand zog sich ein langes, hohes Regal entlang, auf deren Ablagen sich die unterschiedlichsten Bücher Rücken an Rücken reihten. Zwischen den Buchreihen lagen der eine oder andere Knochen, mehrere, vollständige Skelette kleiner Tiere und ein menschlicher Schädel.
„Du willst mich sprechen?“ Der Alte sah seinen Gast etwas unwirsch an. „Du hast dir dafür eine erdenklich schlechte Zeit ausgesucht! Der Meister hat mir gerade wieder Arbeit in Auftrag gegeben.“
„Arbeit? Wofür? Die Ausbeute heute Nacht war wieder einmal gänzlich erfolglos.“ Die Stimme des Reiters klang ruhig. Und dunkel.
„Sag’ bloß! Wieder keine Kinder? Das wird den Meister aber gar nicht freuen ...“ Der Alte schüttelte erregt den Kopf, von dem nur noch ein paar lange, schlohweiße Haare über seine gebeugten Schultern herabhingen. „Dann stimmt es also, dass die Menschen das Land verlassen?“
Der Reiter zuckte nur mit den breiten Schultern und zog stattdessen nun das Objekt hervor, das er unter seinem Umhang schon die ganze Zeit sorgfältig versteckt hatte. Ein Buch. Ein dickes Buch.
„Ein Buch? Wo hast du das her?“ Der Greis sah den Reiter verblüfft an, griff aber sogleich mit seinen knorrigen, vor Gicht gekrümmten Fingern danach wie eine gierige Elster.
Der Reiter zog das Buch vor den spinnengleichen, alten Fingern zurück. „Ich habe es gefunden“, sagte er bestimmt, „es ist meins.“
„Deins?“ Der Alte lachte grell auf. „Seit wann lest ihr Bücher?“ Nun lag sogar unverhohlener Spott in seiner Stimme. „Du und deinesgleichen, ihr könnt doch gar nicht lesen!“
„Deshalb bin ich hier. Du kannst lesen. Lies mir vor.“
Daraufhin brachte der Alte erst einmal kein Wort hervor. Dann lachte er wieder, dieses Mal noch schriller als vorher: „Ich soll dir vorlesen? Bist du nicht ganz sauber? Du weißt doch, dass das Lesen auf dieser Burg strenger verboten ist als das Stehlen und das Morden! Nur mir ist dieses Vorrecht angesichts meiner äußerst wichtigen Arbeit als Gelehrter erlaubt. Und außerdem, was ist das überhaupt für ein Buch? Zeig’ doch mal her!“ Der alte Mann riss dem Reiter nun das Buch äußerst grob aus den Händen. Dieser wehrte sich dieses Mal nicht, sondern stand nur ganz still und beobachtete den Alten, während dieser den angesengten Einband mit gekniffenen Augen studierte und anschließend kurz mit seinen welken Fingern in den dünnen Seiten herumblätterte. „Sieh einer an! Da hast du dir aber ein besonderes Buch eingefangen. Und ausgerechnet dieses Buch! Für meine Arbeit ist es leider nicht zu gebrauchen ...“
„Das muss es auch nicht. Ich möchte nur daraus vorgelesen bekommen.“ In der Stimme des Reiters lag nicht die geringste Wankelmütigkeit.
„Aus diesem Buch? Wirklich aus diesem?“ Der Greis schien den Reiter mit seinen Worten geradewegs für verrückt zu halten und rollte mit den Augen gen Himmel.
„Ja.“
„Und warum unbedingt dieses Buch? Ich habe hier Bücher über die höchsten Wissenschaften der Welt: Mathematik, Chemie, Alchemie, Astronomie ... Warum nicht so eines?“
„Es ist nicht verbrannt.“
„Was heißt: Es ist nicht verbrannt?“
„Es ist nicht verbrannt. Unser Feuer hat es nicht verbrannt.“
Der Alte schwieg. „Wirklich? Das ist in der Tat seltsam ...“, murmelte er in seinen lichten Bart hinein, „wir haben euch eigentlich so geschaffen, dass euer Feuer alles verbrennt. Und dabei meine ich wirklich alles. Tja, und dieses Buch ist wirklich nicht verbrannt?“ Er sah sein Gegenüber kritisch an, so als ob er eigentlich nicht gerade an Wunder glaubte.
„Hältst du es nicht gerade in Händen?“
„Selbstverständlich!“ Der Alte schüttelte den Kopf und biss sich auf die Zunge wegen so viel Unvermögen seinerseits. Ach, er wurde doch alt! Aber wundern tat es ihn seltsamerweise schon. War gar etwas in seiner sorgfältig entwickelten Feuerformel schiefgelaufen? Hatte es irgendwo an der ausschlaggebenden Munitionsgrundlage, der Aggressionsbereitschaft, gefehlt? Dann wiederum war es aber auch gut möglich, dass es letztendlich doch nur der Zufall gewesen war, der hier seine Finger im Spiel gehabt hatte ...
„Es ist ein besonderes Buch, und ich möchte daraus vorgelesen bekommen.“ Wieder der Reiter, schlicht und monoton.
„Nein, ich kann nicht, und das weißt du ganz genau!“ Der Alte legte das Buch resolut neben sich auf einen der Tische. „Nimm’ es wieder mit und mach’ damit, was du willst! Ich an deiner Stelle würde genau das tun, was nicht passiert ist: Es verbrennen. Wirf es in den nächstbesten Feuerofen, und du wirst sehen, wie unverzögert und jauchzend es in Flammen aufgehen und im Nu zu Asche zerfallen wird! Das hat Papier so an sich, das wirst du schnell kapieren. Es kann nicht anders – auch wenn das Feuer in deinen Händen ihm gegenüber im Moment zu schweigen scheint. Und jetzt stör’ mich nicht länger!“, sagte es und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
„Du wirst mir vorlesen!“ Wieder diese unbeugsame Entschlossenheit in der Stimme und dazu jetzt auch noch ein Knistern, das den Greis unvermittelt und erblassend aufhorchen ließ. Ja, der Alte wusste nur zu gut, was dieses Knistern bedeutete. Vorsichtig und äußerst langsam drehte er sich wieder um. Da war es auch, das schwelende Leuchten in den Augen des Reiters.
„Du drohst mir?“ Der Greis bemühte sich, in der Stimme fest zu bleiben.
„Habt ihr uns nicht so erschaffen?“ Trotz der glühenden Augen klang die Stimme des Reiters unheimlich kalt. Er streckte seine Hand aus und zielte. Zischend fuhr eine Feuerflamme an dem Alten vorbei und leckte gierig die Wand neben ihm mit ihrer schwärzenden, vernichtenden Zunge. Fast schien es, als hätte sie ein Loch ins Mauerwerk gefressen.
„Tu’s nicht! Der Meister wird dich umbringen!“ Der alte Mann fiel nun doch bebend auf die Knie und hielt schützend die Hände vor das Gesicht. Soviel Respekt hatte er vor diesen Reitern – schließlich wusste er nur zu genau, zu was seine eigenen Kreaturen fähig waren.
„Und wenn schon! Es wäre eben einer von uns weniger. Was aber würde er ohne dich tun?“ Wieder ließ der Reiter eine weitere Feuerflamme ausfahren. Dieses Mal schlug sie auf den steinernen Boden in der Mitte des Raumes ein, mit einer Wucht, die sämtliche Regale und Gefäße klirrend zum Erzittern brachten.
„Ihr gefühllose Monster! Ich hab’ ihm gesagt, dass wir euch nicht so kaltherzig machen sollten! Ich hab’ ihn gewarnt! Aber auf mich hört ja keiner!“ Aufgeregt fuchtelte der Alte mit seinen Armen und versuchte den entstandenen, beißenden Rauch von sich zu weisen.
„Liest du mir jetzt vor?“ Der Reiter war gnadenlos, aber bevor er abermals ein Geschoss loslassen konnte, fuhr ihm der Greis eiligst dazwischen: „Ja, ja! Ich lese dir ja vor! Ich verspreche es dir! Hör nur endlich mit dieser elenden Schießerei auf, bevor der ganze Raum hier noch in Flammen aufgeht!“
Zu seiner großen Erleichterung konnte der Alte daraufhin förmlich beobachten, wie das Glühen in den Augen des Reiters wieder langsam aber sicher erlosch.
„Puh! Wer mit dem Feuer spielt ...!“ Der Alte fuhr sich aufseufzend und leise vor sich hingrummelnd durchs spärliche Haar. „Ich glaube, ich muss dem Meister doch noch ein paar Verbesserungen vorschlagen ...“
„Das Buch.“ Der Reiter hielt dem Greis nun das Buch entgegen wie eine Waffe.
„Ja, ja, schon gut!“ Der Alte nahm es ihm geschlagen ab. „Vielleicht ist es auch gar keine so schlechte Idee. Ein Experiment. Es wäre schon interessant zu sehen, ob so ein Buch auf euch herzlose Ungeheuer überhaupt eine Wirkung hat – und vor allem gerade dieses Buch. Immerhin hat es bei dir einen gewissen Eindruck geschunden, obwohl wir uns wirklich Mühe gegeben haben, den Aspekt der Neugierde und Offenheit in euch so gut wie auszurotten. Vielleicht haben wir dabei aber doch etwas übersehen ...“
„Hör’ endlich mit dem Gelaber auf und lies!“
„Nicht so eilig! Nicht so eilig! Immer dieses Alles-sofort-Haben-Wollen! Ich habe erst noch einiges an Arbeit zu erledigen. Du kannst heute Nachmittag noch einmal vorbeikommen. Dann habe ich Zeit – mehr Zeit.“
Der Reiter war zum Glück einverstanden. Mechanisch drehte er sich um und verließ den Raum ohne ein weiteres Wort.
„Du meine Güte!“, seufzte der Alte auf, als der Reiter endlich wieder gegangen war und die Tür knarrend hinter sich geschlossen hatte, „vielleicht hätten wir ihre Denkfähigkeit auch einschränken müssen, denn Denken kann wirklich gefährlich sein!“ Er schlurfte auf seine Arbeitstische zu, auf denen es noch immer kräftig zischte und brodelte. „Dann allerdings ...“, murmelte er und hielt kurz nachdenklich in seinem Gang inne und hob dabei, wie sich selbst belehrend, den Zeigefinger, „dann allerdings wären sie zu gar nichts mehr zu gebrauchen. Jawohl, zu rein gar nichts!“
Vor sich hinzeternd, watschelte er auf eines der blubbernden, dickbäuchigen Gefäße zu. Fast liebevoll strich er über den gewölbten Bauch des Gefäßes und flüsterte: „Ein bisschen hier, ein bisschen da noch deinen Saft verbessern, dann kommen wir der Perfektion immer näher. Ha! Keiner vor mir ist soweit gekommen! Ich werde den Meister ganz gewiss nicht enttäuschen und dieses ganze, elende Reiterheer auch nicht. Arme, verdammte Seelen! Keine Zukunftsperspektive, kein Gewissen, nur Zorn – das sind wirklich die besten Voraussetzungen für uneingeschränkte Arbeitswilligkeit im Sinne des Meisters. Und ich denke auch ein Buch wird leider nichts an dieser unverrückbaren Tatsache ändern können. Nein, nicht einmal dieses ...“ Dabei sah er fast mitleidig auf das angekohlte, zerfledderte Buch des Reiters herab, das er immer noch in den Händen hielt, und lächelte.