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Kapitel 2: Das Versprechen
ОглавлениеDer Greis hielt sein Versprechen. Er las dem Reiter vor. Aus dem Buch. Aus Neugierde, als Experiment. Der Reiter kam jeden Nachmittag, setzte sich wortlos hin und forderte den Alten auf zu lesen, hörte kommentarlos zu und ging dann wieder. So ging das jeden Tag, über Wochen, über Monate hinweg. Dabei ging dem Alten so einiges durch den Kopf: wie zum Beispiel, ob der Reiter solche Begriffe, wie Liebe und Frieden, die in dem Buch ziemlich häufig vorkamen, überhaupt verstand. Schließlich hatten er und der Meister ihre Geschöpfe stumpfsinnig gemacht – stumpfsinnig, was jede Art Gefühle außer dem Zorn anging. Hatte der Reiter also überhaupt eine Ahnung, wovon hier die Rede war?
Der Reiter stellte jedenfalls nie Fragen. Dennoch schienen ihn gewisse Passagen besonders zu interessieren, denn er ließ sie den Alten immer und immer wieder vorlesen. Besonders solche in denen Feuer erwähnt wurde: ein seltsamer, brennender Busch, der nicht verbrannte; Feuer vom Himmel, der einen mit Wasser satt getränkten, zerlegten Stier augenblicklich in Brand setzte; drei junge Männer, die die sengende Hitze eines Feuerofens überlebten. All das waren wundersame Eigenschaften des Feuers, die den Reiter – trotz seiner eigenen übermenschlichen, feurigen Macht – ganz offensichtlich in stilles Staunen versetzten. Dann wiederum faszinierten in auch jene Erzählungen, in denen riesige Wassermassen vorkamen. Wie die Geschichte einer großen Sintflut oder diejenige eines geteilten Meeres, in denen das Wasser einem ganzen Heer zum Verhängnis wurde. Wasser – der ärgste Feind des Feuers. Und dann auch einzelne, ganz einfache Texte, wie zum Beispiel: „Du sollst nicht morden“. Jedes Mal, wenn der Alte einen solchen Text las, studierte er den Reiter besonders intensiv. Regte sich auch nur das kleinste Bisschen in den Gesichtszügen seiner Kreatur? Irgendein Funke?
Alles in allem war es ein wirklich ausgezeichneter Test. So wie es den Anschein hatte, tat sich auch – wie erwartet – nichts in dem gefühllosen jungen Mann, der regelmäßig wie ein stummer Steinklotz ihm gegenübersaß. Eigentlich. Dennoch kam der Reiter unfehlbar jeden Nachmittag. Hatte das womöglich etwas zu bedeuten?
Sie lasen wirklich erstaunliche Texte, von denen selbst der Greis nicht gewusst hatte, dass sie in diesem Buch standen. Dabei hätte er es eigentlich besser wissen müssen, denn zu seiner Zeit bedeutete das Buch den Menschen sehr viel. Vor einigen Jahrzehnten hatte fast jedes Haus mindestens ein Exemplar davon besessen. Heute hatte sich diese Bedeutung allerdings verloren – unter den Menschen, wie in seinem eigenen Leben auch. Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann er dieses Buch das letzte Mal in Händen gehalten hatte. Vielleicht lag das daran – wie er jetzt ebenfalls nüchtern feststellte – dass es darin auch Texte gab, die sehr verwirrend erschienen. So wie jener, in dem vom „Erdenrund“ die Rede war, und ein anderer, in dem es hieß, die Erde sei aufgehängt am „Nichts“. „Blödsinn“, murmelte er vor sich hin, „jedes Kind weiß, dass die Erde eine Scheibe ist, und dass ihre Grenzen die tiefen Abgründe sind! Und sie steht auf Säulen. Ich weiß, manche behaupten, dass sie von Elefanten getragen wird, die auf einer riesigen Schildkröte stehen, aber das tue ich ehrlich gesagt als völligen Humbug ab! Dennoch: Auf festen Säulen thront sie ganz gewiss! So etwas Gewaltiges kann doch nicht am Nichts aufgehängt irgendwo herumschweben!“ Und er musste es schließlich wissen, denn er war ein ernsthafter Wissenschaftler, der sich in dieser Materie bestens auskannte.
Je mehr er allerdings während seiner Studie darum bemüht war, Änderungen beim Reiter festzustellen, desto mehr entgingen ihm die Veränderungen, die sich allmählich auch bei ihm einstellten. Irgendwann ertappte er sich dabei, dass er über Dinge nachsann, die ihn früher völlig kalt gelassen hätten. Irgendwie war er dabei, sanfter zu werden – gefühlsmäßig zumindest. Woran konnte das nur liegen? Vielleicht daran, dass er in letzter Zeit so viel über Gottes Geduld und Nachsicht mit den nichtigen Menschen gelesen hatte? Oder über diese wundersame, göttliche Allmacht, die seine eigene Macht als Gelehrter unleugbar in den Schatten stellte? Und wie war das noch mit dieser unvergleichlichen Liebe, die diesen Gott mit all seinen Geschöpfen verband? Wie stand er als Wissenschaftler dazu? Teilte er doch nicht eigentlich auch den abgrundtiefen Hass des Meisters, was Menschen anging? Für den Meister waren die Menschen schließlich nichts anderes als lästiges Ungeziefer, das unheilbar an endlosen Zwistigkeiten, Habgier und Neid erkrankt war. Elendes, unfähiges Ungeziefer, das zur Plage geworden war und das man in seine Schranken weisen sollte.
Dies waren alles Überlegungen, die den Greis eigentlich beunruhigen sollten. Was ihn jedoch am allermeisten zu schaffen machte, war die plötzliche Feststellung, dass er unbewusst begonnen hatte, väterliche Gefühle für den jungen Reitersmann zu entwickeln. Gefühle, die eigentlich nur schlimm enden konnten.
Es dauerte auch nicht lange, bis der Greis den Zorn des Meisters persönlich zu spüren bekam. Was denn nur in seinem alten, verschrumpelten Hirn gefahren sei, dass er auch nur andeute, man solle keine weiteren Kinder auf die Burg bringen! Eben diesen fast undenkbaren Vorschlag hatte der Alte an den Meister herangetragen – das war, nachdem er die Geschichte über einen jungen Mann gelesen hatte, der von seinen eigenen, treulosen Brüdern an ausländische Sklavenhändler verkauft und seinem Vater als tot erklärt worden war. Das Leid, der Kummer und die Trauer des Vaters waren ihm, als Leser, wohl eine Spur zu nahe gegangen ...
Auf den Wutausbruch des Meisters hin hatte der Greis sich allerdings nur auf die Zunge gebissen und mit sich selbst geschimpft. Vielleicht hatte der Meister auch recht: Was war nur in den letzten Monaten aus ihm geworden!? War er nicht immer stolz auf seine wissenschaftlichen Errungenschaften gewesen? Fühlte er sich nicht mächtig, zusammen mit dem Meister eine Elite starker, junger Männer und Frauen geschaffen zu haben, die nicht den wankelmütigen, unsinnigen Gefühlen zwischenmenschlicher Beziehungen erlagen? Männer und Frauen, die mit übernatürlichen Mächten ausgestattet einheitlich, wie ein Mann, aus ihrer Burg auszogen, um die Welt von den verkommenen Menschen zu befreien und eine neue, starke Gesellschaft zu gründen, die reibungslos funktionierte? Eine Welt, die von den klaren, unmissverständlichen Regeln des Meisters definiert war?
Das alles hatte in den Ohren des Greises bisher sehr gut geklungen. Vor allem seitdem die menschliche Gesellschaft ihm den Rang als seriösen Gelehrten immer und immer wieder verbissen abgestritten und ihn zu guter Letzt sogar als verrückt erklärt hatte. Bis er schließlich dem Meister begegnet war, der sein volles Vertrauen in ihn gesetzt hatte und letztendlich das aus ihm gemacht hatte, was er heute war: ein Wissenschaftler, dem wirklich Ungeheuerliches gelungen war. Etwas, auf das er Grund hatte stolz zu sein.
Dennoch begannen ihn seltsamerweise diese neu aufkommenden Gefühlswallungen, seit er dem Reiter aus dem Buch vorlas, zu verunsichern. Schlug etwa sein Gewissen? Ein Gewissen, das es vorher nicht für nötig empfunden hatte einzuschreiten? Er kam sich plötzlich wie ein Läufer auf Messers Schneide vor – und stand das nicht auch in dem Buch, nämlich dass das Wort darin ein „zweischneidiges Schwert“ war?
Es war alles so verwirrend! Eines war ihm allerdings klar: Er würde aufhören müssen, in diesem Buch zu lesen, wenn er seine so sorgfältig aufgebaute Welt nicht in Tausend Stücke zerspringen sehen wollte. Was konnte er sich schließlich noch vom Leben erhoffen? Er war alt und kraftlos, seine Uhr am Ablaufen. Und was nach dem Tod kam, war ihm zu ungewiss, nicht wissenschaftlich genug, als dass er sein Leben für den Inhalt eines einzigen Buches aufs Spiel setzen würde. Er traf deshalb eine Entscheidung, eine wichtige: Er würde kein Risiko eingehen. Nein, es lohnte sich nicht. Das Experiment konnte nunmehr auch guten Gewissens abgeschlossen werden, denn der Reiter war ohnehin absolut empfindungslos. Oder so hatte der Greis es zumindest bisher angenommen und sich als Wissenschaftler bestätigt gefunden. Bis dann tatsächlich der Augenblick kam, in dem er dem Reiter eröffnete, dass das Vorlesen nunmehr ein Ende nehmen würde. Ja, es war dann, dass er plötzlich etwas in den Augen des Reiters aufflammen sah, das er noch nie vorher in den Augen eines Feuerreiters gesehen hatte, und es machte ihm Angst: Enttäuschung. Unmissverständliche Enttäuschung flackerte in diesen Augen auf, wo sonst nur Kälte oder rotes Glühen herrschte. Oh, je! Was hatte er nur mit dieser Leserei verbrochen? Was, wenn der Meister dahinter käme? Er wollte es sich nicht vorstellen.
Und es war auch in dem Moment, dass der Reiter zum ersten Mal eine Frage stellte: „In diesem Buch steht, dass dieser Gott von einem Tag spricht, an dem alle, die morden und töten und die Erde verderben, vernichtet werden sollen. Ist das wahr?“
Dachte der Reiter dabei an die eigenen Morde und Taten der Vernichtung, als er diese Frage stellte?
Der Greis rang nach einer Antwort: „Das mag sein ...“, stotterte er, „dann wiederum auch nicht ... Ich meine, es kommt ganz auf die Perspektive an ...“ Sein Hirn arbeitete fieberhaft, griff nach jedem halbwegs nützlichen Gedanken, der ihm gerade in den Sinn kam. „Unser Meister sieht die Sache nämlich ähnlich, weißt du ...“, fuhr er schließlich etwas sicherer fort, „denn auch er hasst ungerechtes Töten und Morden, weshalb er euch dazu ausbildet, gegen solche Ungerechtigkeiten vorzugehen. Das, wozu er euch geschaffen hat, ist ein wirklich ehrenvolles Werk: Ihr räumt das Elende aus dieser Welt, ihr säubert sie vom ganzen Schmutz. Ja, in Wahrheit helft ihr diesem Gott bei seiner Aufgabe, das Böse zu vernichten.“ Wem flunkerte er hier nur was vor? Seinem eigenen, jämmerlich bebenden Gewissen?
„Sind die Menschen denn böse?“
Wieder eine Frage, die den Greis kürzer atmen ließ. Was um alles in der Welt ging nur in diesem Reiterhirn vor sich? „Natürlich!“, log er, wobei sich seine ganzen Innereien gleichzeitig unwillkürlich zusammenschnürten. „Selbstverständlich! Sagt nicht das Buch, dass alle Menschen als Sünder geboren werden, heillos von Anfang an?“ Es war zumindest ein tapferer Versuch, sich würdevoll aus dem Schlamassel zu ziehen. Und es war immerhin eine Wahrheit – wenn auch nur die Halbe. „Die Menschen sind unvollkommen, und zerstörerischen Gefühlen ausgesetzt“, fuhr er mit rasselnder Stimme fort, „die sie ständig in Konflikte, Streitereien und Eifersüchteleien stürzen und sie frühzeitig ins Grab bringen. Unter Menschen herrschen ständig Kriege und Unruhen. Sie finden keinen Frieden, keine Einheit – nicht so wie ihr.“ Er bemühte sich nun, so sanft wie nur möglich zu klingen. „Weißt du, der Meister hat nur das Beste für euch im Sinn – er möchte, dass ihr eines Tages Frieden erfahrt. Frieden und Ruhe. Warum sonst glaubst du, lässt er mich Tag und Nacht hier schuften? Wir bringen euch Leben – vollkommenes Leben!“ Er hielt kurz keuchend inne. Er war ein solch hitziges Debattieren in seinem Alter nicht mehr gewohnt. Es kostete ihn Kraft. Und Luft. Dennoch fühlte er sich gedrängt, den letzten Rest an möglichen Zweifeln noch unbedingt aus dem Weg zu räumen: „Ihr müsst zum Beispiel nicht jämmerlich frieren, wie die Menschen da draußen. Sie sind der Kälte schutzlos ausgeliefert und können sogar zu Tode erfrieren! Ihr dagegen braucht keine Pelzmäntel, keine Decken und vor allem nicht so erbärmlich zu zittern und zu spüren, wie eure Gliedmaßen langsam taub werden. Ganz zu schweigen von den unsinnigen Folgen der ganzen Gefühlsduseleien, die euch erspart bleiben! Ihr seid stark, standfest und unbesiegbar!“ Er schwitzte nun und seine Augen waren ganz blutunterlaufen. Herrje, war das anstrengend! „... und das alles verdankt ihr dem Meister! Ja, dem Meister! Auch er hat mich vor der miserablen, verkommenen Welt da draußen gerettet, und euch alle mit. Ich weiß, wovon ich spreche, glaub' mir.“ Wusste er das wirklich? „Mach' dir deshalb keine Gedanken“, fuhr er hastig fort, ehe er noch über seine eigenen Worte weiter nachdenken konnte, „wir sind tatsächlich alle gerecht gesprochen.“ Was redete er da nur?!
„Gerecht in wessen Augen? Gottes oder unseres Meisters?“
Die unerwartet direkte Frage des Reiters war der Tropfen, der das Fass jetzt endgültig zum Überlaufen brachte: „Das ist alles gleich!“, keifte der Alte unwirsch, fast boshaft. Auf was für eine Debatte hatte er sich da nur eingelassen? Er ärgerte sich jetzt über sich selbst – dass er die Vorleserei überhaupt angefangen hatte. Gleichzeitig war ihm aber auch bewusst, dass er die Situation unbedingt retten musste, und vor allem sein Gesicht. Bevor es zu spät war. Sollte er es mit Fürsorge, Diplomatie versuchen? Angesichts seines leicht reizbaren Gegenübers war es sicherlich ratsamer, als irgendeine Hammer-Methode. „Vertrau’ mir und dem Meister einfach, ja? Was immer der Gott dieses Buches den Menschen bieten mag – wir bieten euch noch mehr! Euch soll kein Traum unerfüllt bleiben!“ Es war der wohl lächerlichste Versuch, der ihm je über die Lippen gekommen war, um die düstere Realität in dieser Burg – dessen der Greis sich sehr wohl bewusst war – zu übertünchen. Sollte er sich dafür nicht bis in den Erdboden schämen?
„Was ist ein Traum?“, kam daraufhin kurz und knapp die Frage zurück. So emotionslos, so monoton.
„Natürlich!“, der Greis fluchte, wollte sich am liebsten in die Backe kneifen. Traumlos waren diese Monster doch am glücklichsten – das hatte der Meister damals als einer der ersten Dinge bestimmt! Wie hatte er nur wieder die Empfindungslosigkeit seiner Schöpfungen, die er selbst programmiert hatte, vergessen können?
„Ich mache dir einen Vorschlag“, winkte er plötzlich müde geworden ab, „wir tun jetzt das, was wir eigentlich schon von Anbeginn an hätten tun sollen: Wir verbrennen das Buch. Hier und jetzt. Wir haben jeden erdenklich guten Ratschlag den wir brauchen – wir haben den Meister. Alles andere ist unnötig und verwirrend. Du hast mit eigenen Ohren aus diesem Buch gehört, wie grausam die Menschen sein können und wie untreu – sich selbst und ihrem eigenen Gott gegenüber. Ihr Feuerreiter seid da anders: Ihr seid eurem Herrn loyal, und es geht euch auch gut beim Meister. Ich rate dir deshalb nur das eine: Verbrenne es!“ Konnte man sich so guten Gewissens aus dieser erbärmlichen, peinlichen Situation herausreden? Er hatte sowieso schon viel zu viel geredet. Der Alte studierte das Gesicht des Reiters. Hatte es darin gezuckt? Er konnte es nicht sagen. Kurz entschlossen entschied er sich, zu handeln: Er stand auf, nahm das Buch, ging zügig zu dem kleinen, kugelbäuchigen Feuerofen in der Ecke seines Labors hinüber, öffnete die Türe und warf es ins lodernde Feuer. Seine Hände zitterten. Der Reiter hinderte ihn nicht daran, aber als der Greis sich wieder umwandte, war der junge Mann aufgestanden. In seinem Gesicht spiegelte sich Unsicherheit – Unsicherheit vor den eigenen Empfindungen. Empfand er tatsächlich etwas? Und wenn ja, was war es? Bitterkeit, Genugtuung? Der Alte konnte es beim besten Willen nicht sagen. Nur dass der Reiter nicht in Zorn reagierte, beruhigte ihn ungemein – zumindest was seine eigene, persönliche Sicherheit im selben Moment anging. Er atmete innerlich auf. Das war es dann wohl auch. Erledigt. Kein Wort mehr über dieses aufwühlende Buch. Er hatte seine Pflicht dem Meister gegenüber getan – und seinem feigen, inneren Schweinehund auch.
Die wirkliche Überraschung kam allerdings, als der Reiter sich zum Gehen umwandte. Plötzlich hielt der junge Mann unerwartet inne und drehte sich noch einmal um: „Warum haben wir keine Namen?“
Diese Frage kam so prompt, so bestimmt heraus, dass dem Alten im ersten Moment die verschrumpelte Kinnlade herunterfiel.
„Alle Menschen und selbst die Götter und Sterne in diesem Buch haben Namen – warum wir nicht?“ Der Reiter sah den Greis erwartungsvoll an, seine sonst so leblosen, steinernen Augen leuchteten auf seltsame Weise, so als ob etwas in ihnen hineingehuscht war, das eigentlich nicht da hineingehörte. Es beunruhigte den Greis gehörig.
„Das hat seinen guten Grund ...“, stammelte er und holte tief Luft, als ringe er nach den richtigen Worten. „Namen sind gefährlich, weißt du. Wer einen Namen trägt, der hält große Stücke von sich selbst und kann dadurch ungebührlich stolz werden. Namen streuen Zwietracht unter den Menschen, wie Ratten die Pest. Durch Namen heben sich die Menschen einer über den anderen und zerstören damit die harmonische Einheit. Da draußen führen die Menschen Kriege gegeneinander – im Namen ihrer Götter und ihrer selbst.“ Hatte das überzeugend geklungen? Der Alte zweifelte irgendwie daran, an sich selbst. Der Schweiß lief ihm nun an den blassen, welken Schläfen hinunter.
Der Reiter sah ihn nur eindringlich an, wandte sich dann jedoch um und ging ohne ein weiteres Wort.
Der Alte atmete tief auf, fuhr sich mit zitternden Händen über die Augen und verharrte so einen Augenblick. Dann seufzte er und schüttelte den Kopf. Es war vorbei. Aus und vorbei. Alles war wieder beim Alten. In dem Ofen brannte das Buch, vertilgten die Flammen das Experiment. Das Leben konnte weitergehen, das Forschen, das Entwickeln, wie sonst auch.
Trotz dieser Zuversicht, die der Greis sich immer wieder einredete, während er sich erneut an seine Arbeit machte, blieb dennoch eine undeutliche Angst in ihm zurück, nagte bohrend in seinem Kopf: und was, wenn sich doch etwas veränderte? Klaffte in seiner sorgfältigen, wissenschaftlichen Errungenschaft etwa doch ein unentdeckter, heimtückischer Riss? Eine Schwachstelle, die er nicht bedacht hatte? Und wenn es wirklich so wäre: Was konnte das letztendlich für sie alle bedeuten? Eines nahm er sich auf jeden Fall felsenfest vor: Er würde den Reiter beobachten. Sollte jener auch nur eine weitere unnatürliche Regung an den Tag legen, würde er sich sofort persönlich darum kümmern – immerhin stand ihm hierfür eine ganze Palette an wissenschaftlichen Möglichkeiten zur Verfügung. Und, wenn nötig, sogar mehr ... Er konnte und durfte nichts mehr riskieren, und wenn es letztendlich ein Leben kosten musste. Spätestens dann jedoch wären das Problem und das Experiment endgültig aus der Welt geschafft. Endgültig.
***
Der Reiter kehrte stumm auf sein Lager zurück – dem Steinboden eines großen, zugigen Saales der Burg, den er sich mit fünfzig anderen Reitern und Reiterinnen teilte. Sie brauchten tatsächlich keine Decken, kein Stroh, wärmte sie doch die ständige, innere Glut, die der Meister und der Greis durch Gelehrtenhand in sie hineingepflanzt hatten. Auch was die harte Unterlage betraf, so störte es sie nicht weiter, da sie tagtäglich einen besonderen Trank erhielten, der jedes Schmerzempfinden absolut und effektiv ausschaltete. Wozu also Unnötiges?
Der Reiter sank auf seinem steinernen Bett zu Boden, lehnte sich mit dem Rücken gegen die kalte, klamme Wand dahinter. Er schloss die Augen. Etwas beschäftigte ihn, quälte ihn. Dann geschah etwas Seltsames: Mit einem Male durchfuhr ihn ein ungewöhnlicher Schauer, sein ganzer Körper erzitterte, so als ob er fror. Es lag jedoch nicht an der kalten, feuchten Luft, die ihn umgab. Nein. Tief in ihm regte sich nun etwas, rüttelte an ihm, wie eine Motte, die ihren Kokon erbeben lässt, ehe sie schlüpft.
Er stöhnte auf und ballte die Fäuste. Wütend schlug er mehrmals mit dem Kopf gegen die steinerne Mauer hinter sich, als ob er damit die unangenehmen und ungewohnten Dinge, die in ihm aufzukommen drohten, zerschlagen wollte. Er fluchte. Dann verbarg er das Gesicht in den Händen, keuchend. Und es war das erste Mal seit ihrer Erschaffung, dass man einen Feuerreiter schluchzen hörte.