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Kapitel 3: Der Junge
ОглавлениеEs war eine eiskalte Herbstnacht. Die Kälte leckte an den Feldern, den Steinen, den kahlen Bäumen des Waldes wie mit einer großen, weißen Zunge, die alles in einen eisigen Schimmer tauchte. Sogar die Luft schien zu funkeln, zu knistern in der starren Kälte, und der Atem der Pferde kam stoßweise in dichten Dampfwolken aus den geblähten Nüstern.
Die bitterkalte Dunkelheit griff auch nach der kleinen Siedlung, die keine fünfhundert Ellen entfernt lag. Eine bewohnte Siedlung... Der Wink einer schwarzen Hand, das Rauschen wallender, dunkler Umhänge, das Beben der gefrorenen Erde unter den Hufen der Rösser. Und dann das Feuer: ein gleißendes Feuer, das selbst die beißende, fast flüssige, kalte Luft nicht aufhalten konnte. Es brannte mit Gewalt und mit Zorn und scheuchte die Menschen aus ihren Häusern – alte Menschen, kranke Menschen, Menschen, die mit der großen Auswanderung nicht mithalten konnten. Angsterfüllte Menschen. Die Feuerreiter scherten sich nicht um sie, trieben sie mit ihrem Feuer zusammen, wie der Hirte mit seinem Hund die Schafe – aber nicht zum Weiden, sondern zur Schlachtung.
Mitten im Getümmel, im Geschrei, ließ jedoch plötzlich einer der Reiter still von der Siedlung ab. Er begann querfeldein auf den Wald zuzujagen, zwei kläglichen Gestalten hinterher, die der hitzigen Eintreibung entronnen waren und nun stolpernd und hinkend im Dickicht des Waldes auf Zuflucht hofften. Ein anderer Reiter beobachtete es und folgte seinem Gefährten auf den Fuß. Sie ritten in rasantem Tempo hinter den zwei ärmlichen, fliehenden Gestalten hinterher, die gerade hinter einem dürren Gestrüpp verschwanden. Doch die Pferde waren schneller: Der erste Reiter ließ das jämmerliche Gebüsch sogleich in grellen Flammen aufgehen, sodass die Flüchtenden in Panik auf der anderen Seite aus den Sträuchern wieder hervorbrachen, wo die beiden Feuerreiter sie jedoch mit ihren glühenden Augen sofort in Empfang nahmen. Das war den Fliehenden wohl zu viel, denn einer der Gestalten – ein alter Mann – brach nun japsend und von Krämpfen gebeutelt in sich zusammen, während die kleine, magere Gestalt daneben, sich schluchzend und weinend und wie nach Hilfe suchend, an sie klammerte. Angst stand in den weit aufgerissenen Augen des kleinen Kindes. Schreckliche Angst.
„Ein Junge!“, rief einer der Reiter triumphierend, „Da wird sich der Meister aber freuen!“ Grimmig klangen die Worte, furchtbar grimmig und entschlossen. Und gleichzeitig klar und hell. Es war eine Reiterin. Kräftig und erbarmungslos saß sie in ihrem Sattel. Sie nahm auch sogleich ein schwarzes Seil in die Hand, das sie über ihren Sattelknauf hängen hatte, und ritt auf den erbärmlich zitternden Buben zu. Plötzlich hielt sie jedoch unerwartet inne. Mit glühenden Augen starrte sie ungläubig auf das Kind herab – das linke Bein sah verkümmert aus.
Zuerst blieb die Reiterin stumm stehen, stumm wie die Dunkelheit unter ihrer schwarzen Kapuze. Dann, so schien es, wurden ihre Augen noch dunkelroter, und unter ihrem wallenden Kittel schien sie vor Wut nun fast zu brodeln. „Ein Krüppel“, zischte sie zähneknirschend, „ein elender, nutzloser Krüppel!“ Angeekelt legte sie das Seil daraufhin mit einer herablassenden Bewegung wieder um den Knauf, und, als ob es nunmehr nur noch eines zu tun gab, holte sie mit ihrem tödlichen Arm kaltblütig aus. Der alte Mann schrie auf, das Kind schloss die Augen, klammerte sich noch fester an den Alten. Ganz unerwartet fuhr da der andere Reiter, der etwas abseitsgestanden hatte, dazwischen. Unter seiner Kapuze war es seltsam dunkel, kein Glühen. „Lass’ den Jungen“, sagte er. „Wenn er nutzlos ist, so lassen wir ihn doch einfach laufen!“
Seine Gefährtin sah ihn im Gegenzug an, als käme er von einem anderen Stern – so sprach kein Feuerreiter! „Befehl ist Befehl!“, flüsterte sie kalt und wandte sich abermals dem Jungen zu. Ihr schwarzer Arm fuhr erneut bedrohlich aus. In dem Moment glühte es jedoch unvermittelt wieder unter der Kapuze des anderen Reiters auf, und er sagte scharf: „Tu’s nicht!“
Aber die Reiterin schien nicht zu hören, es knisterte bereits in ihrer Hand. Da holte der danebenstehende Reiter aus, noch schneller als seine Kameradin, und ein Flammenspeer durchfuhr die Nacht, so schnell, so leise, das man hinterher nicht mehr sagen konnte, wo es denn überhaupt hergekommen war. Es zischte und fuhr der Reitersfrau mit dem ausgestreckten Arm direkt unter die Kapuze. Ihr Pferd bäumte sich auf, die Reiterin fuhr sich mit gellendem Schrei an das unsichtbare Gesicht. Dann raste das wild gewordene Pferd mit ihr auf und davon.
Der zurückgebliebene Reiter wandte sich unverzüglich wieder mit seinem Schattengesicht an den alten Mann und das bebende Kind, während sein Pferd vor ihnen hin- und hertänzelte: „Schnell, ihr müsst weg!“ Das Glühen seiner Augen war wieder wie von Geisterhand erloschen. „Fort! Schnell!“, wiederholte er und deutete auf den Wald, dieses Mal recht ungehalten.
Währenddessen glaubten die beiden Menschen nicht ganz, was eben geschehen war, denn sie saßen beide noch wie benommen da und rührten sich nicht.
„Seid ihr taub oder was?“, schrie der Reiter ungeduldig, und seine Augen glühten erneut bedrohlich auf.
„Nein, nicht doch!“ Die heisere Stimme des alten Mannes bebte wie Espenlaub, als er hastig das Wort ergriff. „Dem allmächtigen Gott sei Dank! Sie haben uns das Leben gerettet!“ Er rang nach Luft. „Bitte glauben Sie mir – nur zu gern würde ich Ihrer Aufforderung Folge leisten, aber ich kann nicht ... Es geht mit mir zu Ende ...“ Schmerzerfüllt griff er nach seiner Brust und verkrampfte sich wieder stöhnend. „... aber der Bub ...“, keuchte er dann ganz außer Atem und griff den kleinen, zitternden Jungen fest am Arm, „er ist noch zu klein, um alleine durchkommen zu können.“
Der Reiter riss sein Pferd recht unwirsch herum: „Was ist? Hätten wir euch etwa doch den Garaus machen sollen? Verdammt! Wollt ihr denn nun leben oder nicht?“
„Ja, natürlich, der Junge soll leben! Bitte! Was mich angeht – meine Atemzüge sind gezählt, und dagegen vermag niemand etwas zu tun... Aber der Junge hier, er ist allein ...“ Er nahm sich mühevoll zusammen, bevor er leise fragte: „Haben Ihre Leute das ganze Dorf vernichtet?“ Hoffnungsvoll nickte er in Richtung der brennenden Siedlung. Er schluckte, während er den Reiter mühsam anblinzelte. Dieser wandte sich im Sattel um. Hinter ihm, in einiger Entfernung, hoben sich die roten Flammen scharf vom dunklen Nachthimmel ab. Das schwarze Reiterheer war verschwunden.
Er wandte sich dem alten Mann und dem Jungen wieder zu und nickte. „Alle.“ So gefühllos, so gleichgültig.
„Der Junge ist noch keine sechs Jahre alt. Außer mir hat er niemanden ... Seine Eltern ..., sie sind bereits fort, mit seinen ganzen Geschwistern und allen anderen. Er ist mit mir zurückgeblieben ... Er war sehr krank und ich zu alt zum Mitreisen. Sein Onkel sollte ihn holen ..., aber der ist nie gekommen ...“ Dem alten Mann begann, die Stimme zu versagen. Schwer atmend fügte er hinzu: „Der Junge braucht Hilfe!“ Er hielt ächzend inne und musterte den Reitersmann vor sich flehentlich mit sterbenden Augen: „Sie sind der Einzige, der ihm jetzt noch helfen kann ... Bitte bringen Sie ihn zu seinen Eltern!“ Er rang nach Luft, sah den Reiter bittend an. „Seine Eltern sind wie alle anderen in den Westen gezogen, zum Großen Fluss...“
Der Feuerreiter lachte bitter auf: „Sie wissen wohl nicht, wen Sie um diesen Gefallen bitten!“
„Nein?“, krächzte der Alte schwach, „dann zeigen Sie mir doch bitte ihr Gesicht ..., damit ich weiß, mit wem ich es zu tun habe.“
Der Reiter schien eine derartige Bitte nicht erwartet zu haben. Er sah den alten Mann an, als ob er gerade gebeten worden war, seine Seele zu verkaufen. Wie ein Wolf, der seinen Schwanz mit bleckenden Zähnen einzieht, wich er zurück, und obwohl alles an ihm nun zu knistern schien, glühten die Augen dennoch nicht auf. Er schien in einem Strudel von Gefühlen gefangen zu sein – zwischen Zorn und Überraschung.
„Es ist schon gut ..., es tut mir leid“, beschwichtigte ihn der Alte sogleich, „ich hätte Sie nicht darum bitten sollen ... Bitte glauben Sie mir, ich vertraue Ihnen auch so ..." Seine Stimme war nunmehr fast nur noch ein Röcheln, seine Bewegungen durch den körperlichen Todeskampf kraftlos. „Tun Sie mir diesen letzten Gefallen und nehmen Sie den Jungen mit sich!“
Der Reiter zögerte. Dann, wie in Zeitlupentempo, strich er sich wider Erwarten die Kapuze vom Kopf. Darunter trat kurzes, wirres Haar hervor und ein rußverschmiertes Gesicht. Und zwei dunkle, steinerne Augen, die fest auf die beiden Gestalten fixiert waren, die vor ihm auf dem Boden kauerten.
Der alte Mann sagte zuerst nichts, lächelte den Reiter dann aber anerkennend und dankbar an und flüsterte: „Ich sehe ein Gesicht – und wo ein Gesicht ist, da ist auch ein Mensch ... Ich vertraue Ihnen hiermit mit jedem Herzschlag, der mir noch verbleibt!“
Der Reiter sagte daraufhin nichts, nur seine Mundwinkel zuckten unsicher, genau wie sein Pferd, das immer noch nervös auf der Stelle hin- und hertänzelte.
„Sie sind meine einzige Hoffnung! Es wird nicht umsonst gewesen sein, dass Sie den Jungen verschont haben ...“ Der alte Mann lächelte den Jungen neben sich an und umklammerte dessen kleine Hand noch fester. „Es wird alles gut werden, Daniel,“, flüsterte er mit schwindender Kraft, „es wird alles gut werden ...“ Und dann wieder an den Reiter gewandt: „Bitte bringen Sie ihn zu seinen Eltern ... Der Herrgott wird Ihnen beistehen!“
Der Reiter stand nur stumm da und starrte den Alten an. Er schien unentschlossen, aber etwas regte sich jetzt doch hinter seinen steinernen Augen. Er sah dann auch wieder in die nördliche Richtung zum Wald hinüber, wo seine feuerwütigen Kameraden verschwunden waren, und dann wieder zu dem Jungen und den Alten zurück. Schließlich gab er seinem Ross die Sporen und ritt vor. Er streckte dem Jungen seine schwarze Hand entgegen, ganz langsam.
„Los Daniel! Geh’ mit ihm ...! Er wird dich zu deinen Eltern und Geschwistern bringen.“ Der alte Mann gab dem Jungen einen ermunternden Schubs. Er atmete jetzt sehr schwerfällig.
„Aber ich kann dich doch nicht zurücklassen, Opa!“, widersetzte sich der kleine Junge mit einer dünnen Stimme, die die eisige Kälte fast verschluckte, „du musst mit!“
„Ich werde kommen ...“, flüsterte der alte Mann mühsam, „... aber auf einem anderen Weg, und zu einer anderen Zeit. Jetzt lass’ mich bitte einfach hier ruhen, ja? Dieser Schlaf, der mich erwartet ..., er ist gar nicht so schlimm. Du schläfst doch auch gerne, wenn du müde bist, oder? Und ich bin jetzt wirklich hundemüde, bitte glaub’ mir ... Dieser nette Onkel hier wird sich um dich kümmern ...“ Er lächelte den Jungen und dann den Reiter an, der noch immer mit ausgestreckter Hand und starrem Gesicht neben ihnen auf seinem unruhigen Pferd saß.
„Sie sind verrückt!“, flüsterte da der Reitersmann.
„Nicht so verrückt, wie Sie glauben ...“, antwortete der Alte, „ich weiß, dass Sie es tun werden ...“ Wieder schob er den Jungen dem Reiter entgegen.
Der Bub streckte nun auch, durch seinen Großvater ermutigt, völlig unsicher seine eigene kleine Hand dem Reiter entgegen. In den Augen des kleinen Jungen sah der Reiter Furcht – Furcht, wie er sie bisher auch in allen seinen Opfern gesehen hatte. Er zauderte.
„Sie können es!“, dröhnte da die heisere Stimme des alten Mannes mit sanfter Gewalt hinter dem Jungen, so als ob er die Unsicherheit des Reiters verspürte, „Gott hat uns allen einen guten Kern geschenkt ..., wir müssen nur daran glauben.“
„Und was, wenn er dabei einige von uns übersehen hat?“, höhnte der Reiter zurück, griff dann aber trotzdem, nach einem weiteren Moment des Zögerns, mit seiner schwarzen, kräftigen Hand nach der kleinen, zitternden Hand vor ihm und zog den bebenden Jungen zu sich aufs Pferd.
„Ich werde auf dich warten, Opa“, flüsterte der Junge leise. Der Reiter spürte das heftige, wilde Herzklopfen des Buben, aber gleichzeitig auch das Vertrauen, als der kleine Körper des Kindes sich nach Halt suchend an seinem schmiegte.
„Habt Dank, Feuerreiter – Gott mit euch!“ Das waren die letzten Worte, die der dunkle Reiter und der Junge vernahmen, ehe sie in schnellem Galopp über die kahlen, frostbedeckten Felder davon stoben und einen alten Mann zurückließen, der nun erleichtert aufatmend auf den gefrorenen Erdboden zurücksank und mit einem Lächeln auf den harschen Lippen die Augen ein letztes Mal schloss.