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I.
Kindheit.

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Inhaltsverzeichnis

Zum letzten Male liegst du vor mir, mein treuer Weggenoß. Zum letzten Male, ehe ich dich hinausschicke in die Welt.

Sinnend ruhen meine Blicke auf den ersten Aufzeichnungen aus jener Zeit, da die verschlossenen Türen des Lebens sich für mich öffneten.

Ein Kind war ich noch damals, und wie hart hat mich das Schicksal in die Schmiede genommen, um einen Menschen aus mir zu machen, der Menschen und menschliche Schwächen versteht.

Und war es nicht gut, daß ich noch so jung war? Wie wäre es mir sonst möglich gewesen, die furchtbaren Erlebnisse meiner ersten Jugend so vollständig verwinden zu können?

Die kindlich unfertigen Schriftzüge da vor mir, die noch so gar keine Charakteristik zeigen, wecken nur eine leise, wehmütige Rührung in mir. Von dem Schmerz, der Bitterkeit jener Tage spüre ich nichts, gar nichts mehr.

Vielleicht, weil ich jetzt verstehe, wie alles kommen konnte, ja, wie alles kommen mußte. Wie eine Schuld, die andere nach sich zog, und wie auch an mir der uralte Fluch sich erfüllte, wie in mir das Vergehen der Eltern seine Sühne fand.

Und war es denn überhaupt ein Vergehen? War es Sünde?

Meine arme Mutter, was wußte sie von Sünde in ihrer Waldeinsamkeit?

Ihre Eltern waren stille, wortkarge Menschen, und sie fühlte sich oft sehr einsam in dem großen, alten Jagdhause oben im Gebirge. Und der Erbprinz, der als leidenschaftlicher Jäger oft ganze Wochen dort oben zubrachte, hatte nach den Pirschgängen am frühen Morgen Zeit und Muße genug, sich mit der schönen Försterstochter zu beschäftigen.

Mehr als für Ruhe und Glück des Mädchens gut war. — — —

Der Prinz war ein schöner Mann, und das Försterkind liebte ihn.

Sie mußte ihn ja lieben!

Wie selten kamen Fremde in ihre Waldeinsamkeit; und wie begreiflich ist es, daß ihr junges Herz dem ersten, der sich um sie bemühte, zuflog.

Wer will da von Schuld und Sünde sprechen?

Aber der rosenrote Traumhimmel des jungen Mädchens wurde gar rauh zerstört, als die Folgen sich zeigten. Und Lisbeth mußte heiraten. Zwar nicht den Prinzen, wohl aber seinen Büchsenspanner.

Alles Sträuben half nichts, der Vater war unerbittlich!

Hoheit wünschte es, so war es für ihn Befehl.

Der Büchsenspanner erhielt die Pachtung der Domäne Neuhof, und ich wurde als Tochter des Herzoglichen Domänenpächters Georg Albrecht geboren. —

Ich beneide jeden, der auf eine frohe, ungetrübte Kindheit zurückblicken kann.

Meine ersten Erinnerungen haften an einzelnen häßlichen Szenen im Elternhause. Die weinende, betrübt einherschleichende Mutter, der zornig scheltende Vater sind die am fernsten liegenden Bilder. Später entsinne ich mich, daß die Mutter immer krank war. Häßliche Auftritte gab es auch da noch. Ich fürchte, ich habe die Mutter nicht so geliebt, wie sie es um mich verdient hat.

Ihr stilles Dulden lag meiner wilden, aufbrausenden Natur nicht. Am liebsten wäre ich ihrem Peiniger an die Kehle gesprungen, wenn er ihr harte Worte gab, wenn er mich Wechselbalg oder Kuckucksei nannte. Obgleich ich die Bedeutung der Worte gar nicht verstand. —

Ich war noch nicht zwölf Jahre alt, als meine Mutter starb. Für die arme Dulderin war es eine Erlösung – für mich ein Unglück, dessen Tragweite ich erst in späteren Jahren voll ermessen konnte. Erst viel später, Jahrzehnte später, habe ich verstehen gelernt, was mir an jenem Tage genommen worden war.

Die Jahre nach dem Tode meiner Mutter, bis zu meinem fünfzehnten Jahre sind mir wie eine ununterbrochene Kette von Unannehmlichkeiten in Erinnerung. Lichtblicke waren es, wenn ich zu den Großeltern durfte. Bei ihnen war ich daheim.

Und als ich eines Tages von meinem Vater gezüchtigt worden war – ungerecht, wie ich meinte – da riß ich aus, und wanderte zu Fuß die neun Stunden über den Wald zu den Großeltern.

Einige Tage durfte ich bei ihnen bleiben, dann kam mein Vater, und ich mußte wieder mit nach Hause.

Liebe zu mir war es nicht, die ihn dazu trieb, mich wieder zu holen. Erst viel später habe ich begriffen, daß, solange er mich bei sich hatte, immer eine gewisse Nachsicht mit ihm geübt wurde, wenn er mit der Pacht im Rückstande war. Und das war wohl meistens der Fall.

Das flotte Leben, das er führte, verschlang zu viel.

Oft hörte ich damals des Abends Gläserklingen und lustiges Frauenlachen aus den unteren Räumen zu mir herauftönen.

Ich war neugierig ndash; sehr neugierig.

Aber die alte Rosine schalt mich aus, wenn ich sie fragte.

»Du hast geträumt, Kind! In der Nacht schläft man. Wo sollten hier denn Damen herkommen?«

Ich hatte aber doch nicht geträumt. Ich weiß es jetzt.

Mein Tagebuch.

Ich habe mir ein Tagebuch gekauft, und heute will ich es einweihen, heute am Todestage meiner lieben, toten Mutter.

Nun ich aber davorsitze, weiß ich gar nicht, was ich schreiben soll. Ich erlebe so gar nichts. Soll ich schreiben, daß ich sehr unglücklich bin? Das kann ich nicht! Ich bin mir selbst nicht recht klar über mein Empfinden. Ich habe etwas sehr Böses getan und weiß nicht, was aus mir werden wird, und darüber müßte ich doch traurig sein, aber ich bin es nicht.

Die Großeltern werden schon für mich sorgen, sie haben es ja immer getan. — Und Rudolph? Wie kommt es, daß ich so wenig an ihn denke in meiner Verbannung? Und wie kommt es, daß ich keine Nachricht von ihm bekomme? Ist sein Vater noch immer nicht gesund? —

Den 4. Februar.

Ich sitze wieder vor meinem Tagebuch und weiß nicht, was ich schreiben soll. Ich will deshalb eintragen, warum ich hier in E. bin und warum ich eigentlich unglücklich sein sollte. — —

Ich war im Frühjahr fünfzehn Jahre alt und sollte Ostern konfirmiert werden. Unser Inspektor war zum 1. Januar gegangen, und Vater war immer in einer fürchterlichen Laune.

Ich ging mit den andern Dorfkindern zu Pastor Eckebrecht in die Konfirmandenstunde. Der Pastor war immer sehr gut zu mir, er fragte mich oft nach den Großeltern und auch, wie es bei uns zu Hause ginge. Auch ob Vater oft abends zur Stadt führe.

Am Palmsonntag kamen die Großeltern; das war mir das Liebste an der ganzen Konfirmation. Die Großmutter backte immer so schönen Rosinenkuchen.

Wir haben aber gar nicht viel gefeiert, denn der Vater fuhr nach dem Kaffee gleich wieder in die Stadt, und darüber schien Großvater ärgerlich zu sein. Ich freute mich, als er weg war. Mit den Großeltern allein war es viel schöner.

Großmutter sagte mir, daß ich bis zum Herbst im Hause bleiben solle, dann solle ich fort, um etwas zu lernen. Was, das wußte ich nicht, war mir auch einerlei. Mir war die Hauptsache, daß ich fortkam. Auch über das Wohin machte ich mir keine Sorgen, jedenfalls in eine schöne, große Stadt, wo es Schaufenster gab, die man sich besehen konnte.

Anna Marie Walter war einmal in Dresden gewesen und hatte mir so viel davon erzählt, daß ich ganz neugierig war. — —

Ich bin auch fortgekommen – aber schön ist es hier nicht. — —

Am ersten April war ein Volontär bei uns eingetreten. Der Sohn eines Gutsbesitzers aus dem Hessischen. Er war sehr hübsch, so flott und lustig, daß wir bald gute Freunde waren. —

Warum Rudolph Schönewald gerade zu uns gekommen war, weiß ich nicht, denn lernen konnte er bei uns wahrhaftig nicht viel. Rosine sagte mir, daß er schon auf verschiedenen Gütern gewesen sei, aber nirgends ausgehalten habe.

Bei uns kam es nicht so genau darauf an. Er bezahlte eine schöne Summe dazu, und das konnte mein Vater gut gebrauchen. — —

Rudolph war noch nicht vier Wochen bei uns, als wir uns schon heimlich trafen. Bald im Feld, bald im nahen Gehölz.

Ich liebte ihn sehr, und er nannte mich seine süße, kleine Lotte. Ob er mich ebensosehr geliebt, wie ich ihn? Ich zweifle jetzt oft daran. Wenn ich darüber nachdenke, ist mir, als ob er viel kühler und ruhiger gewesen sei als ich.

Er hat wohl schon mehr junge Mädchen gekannt und geliebt. —

Für mich war es etwas Neues, Überwältigendes.

Ich war in jenen seligen, duftschweren Sommerwochen wie im Fieber. Ich war gar nicht ich selbst.

Dieses heimliche Suchen und Finden. — — —

Ich war so selig, alles in mir drängte diesem Manne entgegen. — —

Heuernte! Sonnenflimmer und Blumenduft!

Seit Tagen war schönes Wetter; die Heuernte war im vollen Gange. Alles was Arme hatte, mußte helfen. Auch ich half.

Ob ich auch geholfen haben würde, wenn der Verwalter nicht Rudolph Schönewald gewesen wäre? —

Wir waren beim Heuabladen. Auf dem Wagen unten stand der Großknecht, und in der Luke stand Rudolph und nahm ab. Ich stand etwas zurück und nahm Rudolph das Heu ab. Oben auf dem Heu waren noch zwei Kleinmägde, die es verstauten. Alle anderen, Tagelöhner, Knechte, Mägde und Schnitter, waren auf dem Feld beim Dörren.

Als der Wagen leer war, schickte Rudolph die beiden Mädchen nach dem Heuboden über der großen Scheune, wo gerade ein Wagen vorfuhr. Im Scherz nahm er einen Arm voll Heu und warf es über mich, so daß ich ganz darunter begraben war.

Ich krabbelte mich heraus, nahm einen Arm voll und tat das gleiche. —

Erhitzt und keuchend setzten wir das Spiel eine Zeitlang so fort, dann sank ich ermattet von der Anstrengung und dem betäubenden Duft ins Heu.

Rudolph warf sich über mich und küßte mich, heiß, leidenschaftlich, sinnverwirrend — — — —

Den nächsten Wagen lud ich nicht mit ab. — —

Tagelang war ich wie betäubt. Ob man mir etwas ansah?

Ich wagte mich gar nicht aus dem Hause. Konnte mir denn nicht jeder von der Stirne lesen, was ich getan?

Doch nichts geschah, alles war wie bisher.

Alles war wie bisher, nur ich war eine andere. —

Drei Tage ließ ich mich nicht vor Rudolph sehen, dann hielt ich es nicht mehr aus. Ich mußte ihn sehen, ich mußte wissen, was er von mir dachte.

War er auch in einer solch kläglichen Stimmung? Schämte er sich auch?

Ich mußte ihn sprechen, aber nicht am Tage. Ich würde ihm nicht in die Augen sehen können. — —

Gegen Abend, als es dunkel war, ging ich den gewohnten, ihm bekannten Weg.

Meine Hoffnung trog mich nicht, schon nach kurzer Zeit kam er mir nach.

Ich konnte die Augen nicht aufschlagen, als er zu mir trat.

»Wo bist du gewesen, Lotte? Warum bist du die ganzen Tage nicht einmal herausgekommen?« fragte er.

Ich hob die Augen und sah ihm ins Gesicht. Doch da stand nichts als ein leichtes Verwundern über mein ihm unerklärliches Fernbleiben. War es denn möglich! War das, was mich bis ins Innerste aufgerüttelt, für ihn gar nichts?

Ich war eine andere seit jener Stunde, und er?

Ich wußte nicht, was ich sagen sollte und stammelte: »Ich – ich schämte mich.«

»Du bist mein kleines Schäfchen,« sagte er lachend und schloß mich in die Arme. »Komm, laß uns noch ein wenig weitergehen.«

Wir trafen uns nun täglich und – bald schämte ich mich nicht mehr. — —

Alles wird zur Gewohnheit, und Rudolph verstand es, meine Gewissensbisse und Selbstvorwürfe einzuschläfern.

Liebten wir uns denn nicht?

Wen ging es etwas an, wenn wir die heimliche Süßigkeit der Liebe auskosteten?

»Wenn ich noch einige Jahre älter bin, wenn ich ausgelernt habe und vom Militär frei bin, dann wirst du ja doch meine Frau, meine süße, kleine Frau!«

Ich war sehr jung, sehr verliebt, und die Sommernächte waren schwül und voller Düfte. — —

Der Sommer ist hin und mit ihm meine rosenrote, geheimnisvolle Verliebtheit. — —

In den ersten Oktobertagen kam eine Depesche an Rudolph, daß sein Vater plötzlich sehr schwer erkrankt sei; er müsse sofort nach Hause kommen.

Wir konnten kaum Abschied nehmen, so rasch ging alles. Ich war ganz unglücklich. Kam er wieder, ehe ich fortging? Würde ich ihn noch einmal sehen, ehe ich in ein Pensionat kam?

Ich war überhaupt in einer ganz schrecklichen Stimmung. Schon seit einigen Wochen fühlte ich mich gar nicht besonders wohl. Mir war oft so übel des Morgens, daß ich kaum den Kopf erheben konnte.

Am liebsten wäre ich jetzt hier geblieben. So sehr ich mich Ostern auf die Pension gefreut hatte, jetzt hatte ich gar kein Verlangen mehr danach. Rosine war auch gar nicht gut zu mir, den ganzen Tag schalt sie mit mir herum. Am liebsten wäre ich zur Großmutter gegangen.

Da, am zweiten Sonntag nach Rudolphs Abreise, kam plötzlich ganz unerwartet die Großmutter.

Ich weiß nicht, mir war seltsam beklommen, als sie mir in die Augen sah. Das gütige, alte Gesicht sah so kummervoll auf mich.

»Kind, Kind, was hast du getan,« sagte sie dann weinend.

Ich konnte nicht antworten, ich weinte mit; obgleich ich gar nicht wußte worüber. Mir war nur plötzlich so bange, so seltsam ahnungsvoll zumute.

Und dann erfuhr ich den Grund von Großmutters Kommen.

Rosine hatte ihr geschrieben: Sie habe schon den ganzen Sommer bemerkt, daß der Windhund, der Schönewald, hinter mir hergelaufen sei, und sie habe längst bemerkt, daß nicht mehr alles mit mir in Ordnung sei. — —

»Erzähle, Kind, alles Weinen hilft nun nichts mehr, und verheimlichen läßt es sich auch nicht,« sagte die Großmutter.

Ich erzählte. Die Großmutter saß ganz still. Sie sah so gramvoll vor sich nieder, daß ich hätte laut aufschreien können.

Als ich geendet, nickte sie einige Male still vor sich hin, dann löste ein Seufzer die beklommene Stille, und Großmutter sagte:

»Du gehst heut' abend mit mir, Lottchen. Mach' einstweilen deine Sachen fertig, ich werde mit dem Vater sprechen, was später wird, das müssen wir noch sehen.«

Was dann da unten über mich verhandelt wurde, ich weiß es nicht. Oft drang die scheltende Stimme des Vaters zu mir herauf, aber auch die sonst so sanfte Stimme der Großmutter war seltsam hart und klar.

Am andern Tage war ich in der Försterei. Der tiefe Friede, der um das liebe, alte Haus lag, tat mir wohl. Der Waldbach, der durch den Garten rauschte, sang mir sein wundersames Lied. Ich fühlte mich geborgen.

Nach einigen Tagen erwartete ich, daß der Großvater oder die Großmutter mit mir sprechen, vielleicht mit mir schelten würden. Doch nichts von alledem geschah. Der Großvater sagte gar nichts. – Nur schien mir, sein Gang sei noch gebückter und sein Haar noch weißer geworden. — —

Was würde aus mir werden?

Ich wollte an Rudolph schreiben und wurde zu meinem Schrecken gewahr, daß ich nicht einmal seine Adresse wußte. Den Namen seines väterlichen Gutes wußte ich, aber wo lag es?

Oder war Rudolph schon wieder in Neuhof?

Die Großeltern wagte ich gar nicht zu fragen. Hätten sie mich doch gescholten, ich glaube, mir wäre wohler gewesen. Diese schweigende Güte erdrückte mich.

Am Ende der Woche reiste der Großvater nach E. Großmutter sagte mir, daß er eine Pension für mich suchen wolle; hier könne ich nicht bleiben, weil die Försterei zu einsam im Walde liege. — —

Eigentlich ist es gar keine Försterei, es ist ein Jagdhaus, das einst ein Vorfahr des jetzigen Herzogs für seine Geliebte erbaut hat. Wenn der Herzog im Sommer auf Schloß Ringhardt residierte, dann wollte er sie immer in der Nähe haben. Nach Schloß Ringhardt durfte er sie nicht bringen, dort wohnte seine Mutter, so baute er ihr mitten im Walde, dreiviertel Stunden entfernt von Schloß Ringhardt, das Jagdschloß Finsterberg.

Es ist ein zweistöckiges Gebäude mit weit vorspringendem Dach und kleinen, bleigefaßten Fensterscheiben.

Im Untergeschoß wohnte jeweilig ein Förster, zu dessen Obliegenheiten es gehörte, die oberen Räume in Ordnung zu halten. — —

Jene Zeiten sind lange vorbei. Es wohnt keine geheimnisvolle Unbekannte mehr da oben, und auf der schönen Chaussee, die damals angelegt wurde, klingt selten der Hufschlag eines Vollblutes. — — —

Weihnachten durfte ich noch bei den Großeltern bleiben, doch es war ein trauriges Fest; keines von uns dreien hatte Mut und Lust zur lauten Freude. Lautlos, als läge ein Toter im Hause, gingen wir aneinander hin.

Es lag wie ein Bann über uns allen. — — —

Einige Tage nach Neujahr hat mich der Großvater hierher gebracht. Hier, bei Frau Martin, soll ich bleiben bis Anfang März, dann komme ich in die Entbindungsanstalt, die hier in der Stadt ist. Was dann mit mir werden soll, wenn alles vorüber ist, ich weiß es nicht. Mir ist unsäglich bange.

Als der Großvater von mir ging, meinte ich, das Herz müßte mir brechen vor Weh. Und vergebens versuchte er mich zu trösten. Ihm selbst war auch gar weh ums Herz, denn kaum konnte er sprechen vor Rührung.

Großmutter soll mich bald besuchen. — — —

Nun bin ich allein.

Ich habe ein ganz einfaches, sauberes Stübchen. Frau Martin, bei der ich wohne, ist die Witwe eines Beamten und lebt in ziemlich beschränkten Verhältnissen. Sie ist vom Großvater wohl in meine Geschichte eingeweiht worden, sie quält mich nicht mit Fragen. Sie ist lieb und gut zu mir und tröstet mich, wenn mich das Heimweh gar zu sehr packt.

Ich helfe ihr ein wenig in der kleinen Wirtschaft, dann vergesse ich wenigstens für kurze Zeit meinen Kummer.

Was soll ich auch immer tun?

Ich habe so viel überflüssige Zeit zum Denken.

Ich schreibe Briefe an Rudolph, ohne je einen abzusenden.

Und nun habe ich mir sogar ein Tagebuch gekauft, obgleich ich sonst nicht für solch überflüssigen Kram bin. Tagebücher und Poesiealbums waren mir immer greulich. —

Aber die Langeweile! Die vielen unausgefüllten Stunden! —

Mit wem soll ich sprechen? Wem soll ich mein Herz ausschütten? Wenn ich älter wäre, hätte ich wohl nicht solches Anlehnungsbedürfnis.

Warum bin ich noch so jung? So furchtbar jung?

Ob ich wohl auch hier wäre, wenn meine Mutter noch lebte? — — —

Den 8. Februar.

Heute hatte ich einen Brief und ein Paket von der Großmutter. Ein schöner, warmer Schlafrock für mich war darin und dann noch eine Menge kleiner Sächelchen. Kinderwäsche! Ach, und von mir! Ich mußte weinen. Das alles habe ich angehabt, als ganz kleines Würmchen. Ob wohl meine Mutter alles selbst gemacht hat? Ob sie sich wohl sehr gefreut hat, als sie mich in den Armen hielt? Ich freue mich gar nicht! Wie könnte ich auch! Ich wünschte, mein Kind wäre tot. Frau Martin sagt mir auch, die bedauernswertesten Geschöpfe auf der Welt seien diese unehelichen Kinder. Niemand liebe sie. Überall würden sie herumgestoßen. Vielleicht nimmt Großmutter mich mit dem Kinde zu sich, ich wollte es schon recht gern haben. Aber es soll doch niemand wissen, daß ich ein Kind habe, deshalb haben sie mich doch gerade hierher gebracht.

Und Rudolph schreibt noch immer nicht!

Ob er nicht weiß, wo ich bin? — — —

Den 20. Februar.

Ich glaube, es war doch Unsinn, daß ich mir ein Tagebuch gekauft habe. Manchmal abends, wenn ich es öffne und hineinschreiben will, dann weiß ich nichts. Ich kann doch nicht bloß hineinschreiben, was ich den Tag über esse und trinke! Und sonst erlebe ich ganz und gar nichts. In die Stadt bin ich noch nicht einmal gekommen. Wenn ich abends im Dunkeln spazieren gehe, suche ich immer die Anlagen auf, die hierhinaus liegen. Da begegne ich fast nie einem Menschen.

Am 1. März soll ich wahrscheinlich schon in die Anstalt. Der Arzt kommt morgen und untersucht mich, dann wird er sagen, wann ich hinkommen soll. Wenn alles vorüber ist, bleibe ich noch einige Wochen bei Frau Martin, bis ich mich wieder ganz erholt habe.

Wenn ich nur wüßte, was dann aus mir werden soll! — —

Den 22. Februar.

Ich darf noch acht Tage länger bei Frau Martin bleiben. Gestern war der Doktor hier, es war gräßlich! Ich habe mich so geschämt. Aber als ich mich nicht anfassen lassen wollte, wurde er grob. Er ist ein widerlicher Kerl mit wässerigen Schellfischaugen, ich mag ihn gar nicht. Hoffentlich ist er gerade krank, wenn es so weit mit mir ist, und es ist ein anderer da.

Überhaupt fand ich es häßlich von ihm, gleich so grob zu mir zu sein. Das kann er sich doch denken, daß man sich schämt! Er ist doch ein Mann.

Ob es wohl sehr schlimm ist? Es soll sehr wehe tun. Maria Rettberg sagte es einmal, als wir noch zu Fräulein Fischer gingen. Ihre große Schwester hatte ein Baby, und da hatte sie hinter der Portiere versteckt zugehört, wie die es ihrer Freundin erzählt hatte. Sie wäre beinahe gestorben.

Aber ich will nicht sterben! Ich bin noch so jung. — — —

Den 28. April.

Acht Wochen sind es her, seit ich zuletzt in mein Büchlein geschrieben. Nun ist alles vorüber. Ich mußte doch früher in die Anstalt, als bestimmt war; die Niederkunft kam etwas zu früh.

Es war furchtbar! Zuletzt habe ich gar nichts mehr davon gewußt, ich war besinnungslos. Und das war gut. Es wäre vielleicht auch besser gewesen, wenn ich gar nicht wieder zu mir gekommen wäre, ist doch auch mein Kind tot. Sie sagen wenigstens so. Aber ich glaub' es nicht, sie machen alle so sonderbare Gesichter dabei. Als ich fragte, ob es schon totgeboren sei, sagte die Schwester ja. Und als ich Frau Martin gestern fragte, wie lange es gelebt habe, da sagte sie, sie wisse es nicht genau, einige Stunden nur.

Das widerspricht sich doch!

Ein Knabe ist es gewesen. Mein Kind! Wie mir zumute ist bei dem Gedanken. Ich habe früher wohl oft gedacht, es sei besser, wenn es tot wäre, und nun möchte ich es doch so gerne haben. Ich würde es doch sehr liebhaben.

Wenn ich nur die Wahrheit wüßte! Aber wer wird sie mir sagen?

Seit gestern bin ich nun wieder bei Frau Martin. Ich sehe jetzt wie ein Junge aus, ganz kurze Haare habe ich. Das kommt von der Krankheit, sagt Frau Martin, da gehen einem immer die Haare aus. Ich bin sehr krank gewesen, Kindbettfieber! Es soll sehr schlimm sein, und manchmal haben sie nicht gedacht, daß ich durchkommen würde. Großmutter ist lange bei mir gewesen, ich hab's aber nicht gewußt.

Ich bin jetzt sehr mager und blaß, und Frau Martin sagt, ich sei noch gewachsen. Das ist ja auch gut möglich, mit sechzehn Jahren kann man noch lange wachsen.

Morgen will ich an Vater schreiben, damit er mir Rudolphs Adresse schreibt. Ich hätte es schon früher tun sollen, denn Großmutter sagt's mir doch nicht. Wir müssen doch nun bald heiraten.

Mir ist ganz sonderbar bei dem Gedanken. Ich weiß nicht – das alles liegt mir jetzt so weit ab – so gar nicht mehr, als ob ich die wäre, die in jenen schwülen, duftschweren Sommertagen heimliche Wege gewandelt. Mein Blut ist so ruhig, und wenn ich an Rudolph denke, ist mir gar nicht mehr sehnsüchtig zu Sinn. Es ist schrecklich! Ich glaube zuweilen, er ist mir ganz gleichgültig. Ich verstehe mich selbst nicht. Denn das ist doch unmöglich! Ich muß ihn doch heiraten! Oder muß ich vielleicht gar nicht? Könnte ich doch einmal mit der Großmutter sprechen! Lange bleibe ich nicht mehr hier; im Walde unter meinen schönen Bäumen kann ich mich viel besser erholen. Gibt es ein schöneres Plätzchen, als unter meinen geliebten Tannen? Ich könnte Ziegenmilch trinken und weite Spaziergänge machen. Wo geht es sich schöner, als auf den schmalen moosgepolsterten Pirschwegen, zwischen den schlanken Stämmen der Kiefern, wo es so kühl und rein ist! Ich will schreiben, sie sollen mich heimnehmen, sonst werde ich wieder krank. — — —

Ich habe viel zu schreiben diesmal. Ob ich noch alles genau weiß?

Schon acht Tage nach meiner Entlassung aus der Anstalt holte Großvater mich nach Hause. Sie waren noch immer sehr gut zu mir, alle beide. Viel zu gut, ich weiß es wohl. Aber Großmutter sagt, ich sei zu jung und unerfahren gewesen, und Rudolph trüge ganz allein die Schuld.

»Muß ich ihn denn nicht heiraten, Großmutter?« fragte ich zagend.

»Ach Kind, das ist ja gerade das Schlimme. Er denkt nicht dran. Sein Vater ist doch gestorben, er hat nun zum Großvater gesagt, er müsse seine beiden Schwestern auszahlen, könne also nur eine reiche Frau heiraten. Ein Landwirt, der kein Geld in den Händen habe, könne sich nicht lange halten.«

Einen Augenblick saß ich ganz still, ich wußte nicht, sollte ich mich freuen oder sollte ich betrübt sein. Was aber nun? Wieder zum Vater? Der würde schön mit mir umspringen!

Aber das war noch nicht alles, was die Großmutter mir zu sagen hatte. Vater ist gar nicht mehr auf Neuhof. Die ganze Geschichte ist bald nach meiner Abreise zusammengebrochen.

Großmutter sagte: »Du bist zwar noch sehr jung, aber in Anbetracht aller Umstände und weil ich annehme, daß dich das, was du jetzt hinter dir hast, über deine Jahre hinaus gereift hat, so will ich dir erzählen, was du, wenn alles anders gekommen wäre, nie hättest erfahren dürfen.«

Und so erfuhr ich alles. Es wurde mir jetzt klar, was ich schon oft geahnt, wenn ich des Vaters Redensarten und Scheltworte hörte. —

Er ist gar nicht mein rechter Vater. Mein Vater ist ein ganz hoher Herr, der mein Mütterchen nicht hat heiraten dürfen, weil sie nur ein armes Bürgermädchen gewesen ist.

Damit ich aber nicht als uneheliches Kind geboren wurde, hat die Mutter Georg Albrecht geheiratet. Dafür hat er die Pachtung der Domäne Neuhof sehr billig bekommen. Für mich selbst ist eine Summe von 50 000 Mark deponiert worden, von der er bis zu meiner Großjährigkeit die Nutznießung gehabt hätte.

Und nun? Alles ist fort! Der Vater hat schon lange keine Pacht mehr bezahlt, immer ist sie ihm wieder gestundet worden, und jetzt ist es herausgekommen, daß er auch mein Geld durchgebracht hat. Alles mit leichtsinnigen Weibern in Champagner umgesetzt. So geht es mir nun. Weil der Vater mein Geld mit leichtsinnigen Weibern durchgebracht hat, kann Rudolph mich nicht heiraten. Denn hätte ich die 50 000 Mark, dann wäre ich eine reiche Frau.

Aber bin ich denn überhaupt traurig, daß Rudolph mich nicht haben will? Eigentlich nicht! Wenn ich es mir recht überlege, dann fühle ich mich eher erleichtert bei dem Gedanken. Wenn ich nur erst wüßte, was aus mir werden soll! Ein anderer Mann wird mich auch nicht wollen, denn ich glaube, die Leute hier wissen doch alles. Und überhaupt, ich will auch gar keinen haben, die Männer sind alle schlecht! Alle! Nur Großvater ist gut! —

Ich will etwas lernen, dann brauch' ich keinen Mann zu heiraten. — —

Ob ich Großmutter mal frage, ob mein Kind wirklich tot ist?

Warum mir nur so sonderbar ist, wenn ich daran denke. Ich habe doch in meiner Ohnmacht, in der halben Bewußtlosigkeit das Schreien eines Kindes gehört! — —

Mein Haar wächst wieder! Ich fühle mich mit jedem Tage wohler. — — —

Ich bin glücklich! Gerade, wenn man keinen Ausweg sieht, kommt manchmal von einer Seite, an die man am wenigsten gedacht, die rettende Hand. —

Ich gehe nach Amerika!

Mit vier Worten ist es gesagt, und birgt doch so viel in sich.

Aber nur ruhig und vernünftig!

Also: Die Großmutter hat ihre einzige Schwester drüben. Lange schon. Geschrieben haben die Schwestern sich zuweilen, aber sehr lebhaft ist der Briefwechsel gerade nicht gewesen in den letzten Jahren.

Die Großmutter hat nun auch mein Unglück nach drüben berichtet, und da hat die Großtante geschrieben, ich solle nach drüben kommen. Sie habe sich schon immer ein Töchterchen gewünscht. Nach einigen Jahren, wenn ich Sehnsucht nach den Großeltern habe, könnte ich ja auch einmal wieder zu ihnen fahren.

Ich freute mich sehr, ich lachte und weinte in einem Atem. Da war die Großmutter sehr traurig, aber dann sagte sie, auch sie sähe ein, daß es das beste für mich sei, und ich solle in Zukunft so leben, daß ich täglich und stündlich bestrebt sei, das auszulöschen, was ich unbewußt gesündigt. Das sei die beste Sühne. — —

Nun weiß ich nicht recht, wie mir ist. Ich freue mich und bin doch auch wieder traurig. Aber die Freude überwiegt. —

Ich werde sehr fleißig sein in Amerika, damit ich bald reich werde, dann komme ich wieder, aber Rudolph Schönewald heirate ich dann auch nicht. Ich hasse ihn! —

Großmutter kauft mir jetzt allerlei schöne Sachen, Wäsche und Kleider. Schon am 28. Mai soll ich fahren. Ein Brief an die Großtante ist schon fort, und ein Platz auf dem Dampfer ist auch bestellt. Die Großeltern fahren beide mit nach Bremen.

Ich habe sehr viel zu tun jetzt, da werde ich lange nicht einschreiben können.

Seelenverkäufer: Das Schicksal einer Deutsch-Amerikanerin

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