Читать книгу Das Leben hatte es meistens gut mit ihr gemeint - M. Schneider - Страница 3
Prolog
ОглавлениеWie lange sie schon am Fenster saß und hinausschaute, ohne wirklich etwas zu sehen, wusste sie nicht mehr. Fast jeden Nachmittag verbrachte sie einige Stunden mit diesem Nichtstun. Hauptsache, die Zeit verstrich und die ersehnte Dunkelheit senkte sich langsam über die Häuserdächer des Dorfes. Früher wäre ihr so eine Zeitvertrödelung nie in den Sinn gekommen. Ganz im Gegenteil, sie hätte nur gedacht: < Wie kann man nur! Dem lieben Gott die Zeit stehlen, ist sowas. > Aber jetzt, im Alter, da war alles anders. Bald würde ihre Tochter kommen und kopfschüttelnd fragen, warum sie denn hier im Dunkel sitze. Sie sehe ja nichts mehr. Und nachdem sie dann den Lichtschalter betätigt und ihre Mutter ins Helle zurückgezwungen hätte, würde sie beim Hinausgehen erklären, es gäbe bald Abendbrot. Und dann leise, wie zu sich selbst: „ Schrecklich, sie wird immer seniler. Wie geht das nur weiter? Hoffentlich werde ich im Alter nicht so.“
Aber noch konnte sie sich in der Dunkelheit vor der Wirklichkeit verstecken.
***
Sie ist eine der vielen Frauen, die auf den Namen Irma, Frieda, Martha, Hildegard, Auguste oder vielleicht Marianne getauft wurden, mitten unter uns lebten oder noch immer leben und, weil sie ihr ganzes Leben lang ohne große Probleme funktionierten, übersehen wurden. Sie haben nichts, als ein ganz alltägliches, arbeitsreiches Leben aufzuweisen, hatten ihre Träume, die sich jedoch nur selten oder gar nicht erfüllten. Sie haben geheiratet und einem Mann die Treue geschworen, Kinder geboren, aufgezogen und dafür Sorge getragen, dass diese zu selbständigen Menschen heranwachsen konnten, haben in Angst, Hunger und Not den Krieg überstanden, für ihre Familie gesorgt und manchmal noch für andere Menschen, wenn diese der Hilfe bedurften. Mit vielen dieser Frauen hat es das Leben trotzdem noch gut gemeint. Es gab auch die anderen, die ihre Kinder alleine durchgebracht haben, wenn der Mann zu früh starb und es keine oder nur eine zu geringe Rente gab. Dann gab es auch fast mittellosen Frauen, die nicht wussten, wie sie die Miete zahlen oder ihre Kinder ernähren und einkleiden sollten, weil ihr Mann sie verlassen hatte oder sein Heil beim Kartenspiel, Alkohol oder in den Armen anderer Frauen suchte. Viele dieser Mütter gingen kochen, bedienen, nähen oder putzen, damit das Geld für die Familie reichte. In ländlichen Gegenden halfen sie bei der Ernte und in der Weinlese. Ihre Kinder sollten es einmal besser haben, sagten sie sich. Für viele war es selbstverständlich, dass sie ihre eigenen Wünsche hinten an stellten, damit die Kinder ihre Träume leben und eine bessere Zukunft bekommen konnten.
Heute sind diese Frauen alt und man trifft sie auf den Friedhöfen an den Gräbern ihrer Lieben, in den Altenheimen. Sie sind alt und entbehrlich geworden. Nun, da sie Zeit zum Nachdenken haben wundern sie sich, dass sie trotz aller Entbehrungen, Müh' und Plag' auch glücklich waren.