Читать книгу Das Leben hatte es meistens gut mit ihr gemeint - M. Schneider - Страница 5

Wie sehr sich das ländliche Leben verändert hatte

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Als s i e jetzt so in der Abenddämmerung am Fenster stand und in die Vergangenheit blickte, überlegte sie, <gab es überhaupt noch so einen richtigen Bauernhof in ihrem Dorf? So richtig mit Kühen, Rindern und Schweinen, wie sie es von ganz früher, als sie noch jung war, kannte?> Sie wusste es nicht, konnte sich in diesem Moment nicht erinnern. Von der Vergangenheit in die Gegenwart umdenken, das fiel ihr seit einiger Zeit immer schwerer. Ihr Leben von vor vielen Jahren war ihr so gegenwärtig, als sei es erst gestern gewesen oder als würde es immer noch andauern. Dagegen waren die Ereignisse der erst kürzlich vergangenen Tage endlos weit weg und sie konnte sich nicht oder nur schemenhaft an Ereignisse der letzten Zeit erinnern.


< So wie früher ganz bestimmt nicht,> sagte sie zu sich selbst. Nach einigen Momenten des Nachdenkens erinnerte sie sich dann doch, dass noch zwei der ehemaligen Höfe bewirtschaftet wurden. Die eine Familie war nach dem Krieg als Flüchtlinge aus Ostpreußen in ihrem Dorf gelandet.


Zuerst arbeiteten der Mann und die Frau in einem Nachbardorf in der Molkerei. Während dieser Zeit schauten sie sich schon nach einem eigenen, kleinen Besitz um und ein Mitarbeiter der Molkerei machte sie auf den kleinen Hof, der etwas außerhalb des Dorfes lag, aufmerksam, den sie dann auch nach längerem Überlegen und Verhandeln recht preiswert erwarben. Der vorherige Besitzer zeigte schon vor dem Krieg nur wenig Interesse an seinem Anwesen und hatte über die Jahre alles herunter gewirtschaftet. Was war er froh, als er diese alte, verfallene Bude, wie er sein Haus nannte, endlich los wurde. Das Dach der Ställe war im Laufe der Zeit undicht geworden, aber dem damaligen Besitzer war es egal, ob seine Tiere im Trockenen standen oder bei Regenwetter in riesigen Wasserlachen. In dem alten Wohnhaus, das sich direkt an die Stallungen anschloss sah es richtig übel aus. Eine windschiefe Eingangstür hing in den Angeln und durch die Ritzen der Fenster, deren Rahmen nur notdürftig zusammengeleimt waren und deshalb nicht richtig schlossen, pfiff im Herbst und Winter der Wind. Dort, wo die Glasscheiben zerbrochen waren, hatte der frühere Besitzer die Fenster notdürftig mit Pappe ausgebessert, da ihm für neue Scheiben das notwendige Geld fehlte. Hinten, in der guten Stube, hing zwischen den beiden undichten Fenstern die Tapete in Fetzen herab, weil diese feucht geworden war. Da diese Stube schon lange nicht mehr geheizt wurde, roch alles recht modrig. Die Küche sah aus, als sei sie irgendwann, vor langer Zeit einmal notdürftig geweißt worden. Aber den Spinnennetzen, die sich an der Decke entlang zogen und dem vielen Staub, der sich darin gesammelt hatte nach zu urteilen, musste dies schon längere Zeit her sein. Nicht mal eine Toilette gab es in dem alten Bauernhaus, von einem Badezimmer erst gar nicht zu reden. Am hintersten Ende des Hofes gab es ein wackliges Holzhäuschen mit einem Plumpsklo, der natürlich fürchterlich stank und in dem sich niemand aufhalten wollte. Insbesondere an kalten Wintertagen war die Benutzung eine Tortur, bei der man das Gefühl hatte, sich den Hintern abzufrieren.


Da die neuen Besitzer vom ersten Tag an sehr fleißig waren, täglich hart arbeiteten, sparsam lebten und vor allem gut wirtschaften konnten, waren sie in der Lage, nach und nach das Haus und die Stallungen instand zu setzen. Schon bevor sie einzogen, hatten sie die Dächer repariert und neu eingedeckt und noch vor dem nächsten Winter die Fenster und die Haustür erneuert. Anschließend renovierten sie nach und nach die Zimmer des Hauses. Eine frühere Abstellkammer neben der Küche wurde in ein Bad mit Toilette umgebaut und damit hatte das Häuschen ganz hinten im Garten ausgedient.


Im Laufe der Jahre gelang es den neuen Besitzern, auch noch Weideland von anderen Bauern, die nach und nach ihre Betriebe aufgaben, zu pachten oder auch zu kaufen, auf dem ihre immer größer werdenden Herden mit Rindern und Kühen weideten.


Einige Jahre nach Kriegsende war der älteste ihrer drei Söhne krank und total abgemagert aus der Kriegsgefangenschaft zurück gekommen. Es dauerte seine Zeit, bis er wieder gesund war. Die körperliche Versehrtheit heilte wahrscheinlich schneller als die seelische, denn ganz oft hatte er nachts Albträume, schreckte im Schlaf hoch und schrie unzusammenhängende Worte und Satzfetzen so laut in die Nacht, dass seine Eltern in ihrem Schlafzimmer, das seinem gegenüber lag, aufschreckten. Ganz oft kam dann nachts seine Mutter in sein Zimmer, weckte ihren Jungen auf und redete beruhigend auf ihn ein, dass jetzt alles vorbei sei. Gott sei Dank sei er wieder zu Hause und es sei jetzt Frieden. Niemand könne ihm mehr was tun und er solle all das Schreckliche vergessen. Dann schaute er sie manchmal ganz seltsam an und meinte wie zu sich selbst, < kann man das? Alles vergessen, was man hat ansehen und erleben müssen?>


Aber irgendwann fand er sich in seinem wiedergewonnenen Leben zurecht. Von dem Zeitpunkt an arbeitete er täglich von früh bis spät auf dem elterlichen Hof mit. Die körperliche Arbeit tat ihm gut, half ihm, sich wieder selbst zu spüren. Morgens, wenn er in aller Frühe aufstand und im Stall oder auf der Weide nach dem Vieh sah, dann dachte er nur, <wie gut, ein neuer friedlicher Tag beginnt.>


Immer mehr der Kleinbauern gaben in den folgenden Jahren ihre Landwirtschaft auf. Sie waren alt und konnten die ganze Arbeit nicht mehr alleine bewältigen. Ihre Kinder hatten andere Berufe ergriffen und zeigten an dem, was ihre Eltern machten, nur mäßiges oder auch gar kein Interesse. Einige von ihnen verkauften dann ihr Land an diese Familie, die vor Jahren als mittellose Flüchtlinge aus Ostpreußen in dieses Dorf gekommen waren. Deren Anwesen war durch die ganzen Zukäufe im Laufe der Zeit immer größer geworden und zog sich weit über das Land.


Von ihren beiden anderen Söhnen, die trotz ihres jungen Alters in den Krieg ziehen mussten, hatten er und seine Frau nie wieder etwas gehört. Sie galten nach wie vor als vermisst. Die Eltern hätten die beiden für tot erklären lassen können, aber davor schreckten sie zurück. Vielleicht gäbe es ja doch noch Wunder, sagte deren Mutter immer wieder und hoffte bis zu ihrem letzten Atemzug auf die Rückkehr ihrer beiden jüngsten Söhne.


Als man das alte Bauernhaus Jahre später von Grund auf renovierte, wurde ein schönes Fachwerk frei gelegt, das die ganze Zeit zuvor unter dem alten Putz nicht zu sehen war. Als alles fertig war, war aus dem ehemaligen, heruntergekommenen Haus, ein richtiges Schmuckstück geworden. Es sollte später der Alterssitz des Bauern und seiner Frau werden. Direkt daneben ließ sich sein Sohn ein neues, größeres Bauernhaus für sich und seine zukünftige Familie bauen, das im gleichen Stil wie das Elternhaus errichtet wurde und als es fertig war aussah, als gehörten beide Häuser von je her zusammen. Nach Jahren, als der alte Bauer alt und kränklich wurde und sich endgültig zur Ruhe setzte, übergab er voller Stolz den ganzen Betrieb an seinen Sohn.


Seit einigen Jahren arbeitete nun schon die dritte Generation mit in dem landwirtschaftlichen Betrieb. Der Wandel der Zeit war nicht zu übersehen. Europa war groß und die Grenzen nicht mehr geschlossen. Es kam billigeres Fleisch, Milch und Getreide auf den Markt und mit diesen Preisen konnten sie dann nur schwer mithalten.


Zuerst waren die Pferde nur eine persönliche Liebhaberei des jüngsten Sohnes. Doch nach einiger Zeit verselbständigte sich diese Liebhaberei. Man kannte ihn und seine ruhige Art mit Pferden umzugehen in Reiterkreisen. Irgendwann kamen die ersten Anfragen von anderen Pferdebesitzern, ob sie nicht auf seinem Hof ihre Pferde in Pflege geben könnten. Nach einiger Zeit wurde ein Rossstall mit mehreren Pferdeboxen angebaut. Aus der anfänglichen Liebhaberei wurde ein einträglicher Wirtschaftszweig und so kam es, dass sie eines Tages anfingen, auch eine kleine Pferdezucht aufzubauen. Eine Arbeit, die nach kurzer Zeit auch von Erfolg gekrönt war und Geld in die Kasse spülte. Es dauerte nur wenige Jahre, bis Kühe und Rinder abgeschafft wurden. Stattdessen betrieb man von da an einen Pferdehof, der weitaus mehr abwarf. Der junge Mann verstand wirklich etwas von den Tieren, hatte es von seinem Vater und dieser wiederum von Kindesbeinen an, damals noch in Os tpreußen, von seinem Vater gelernt.


Pferde liegen ihnen eben im Blut, sagten die Leute im Dorf. Es sprach sich recht schnell herum, dass da ein fähiger junger Mann einen Pferdehof betrieb. Die Mundpropaganda hatten dem jungen Mann und seiner Frau, einer ganz tüchtigen Person - wie man im Dorf anerkennend sagte - die auf einem Reiterhof in Norddeutschland aufgewachsen war und dort zupacken gelernt hatte, etliche, zahlungskräftige Kunden gebracht, die nun bei ihnen ihre Pferde in Pflege gaben und versorgen ließen. Vom zeitigen Frühjahr bis spät in den Herbst, war insbesondere an den Wochenenden immer Hochbetrieb bei ihnen, wenn die ganzen Pferdebesitzer von außerhalb kamen, nach ihren Tieren zu schauen und auszureiten. Sie ließen es sich was kosten, dass ihre Tiere so gut gepflegt und auch trainiert wurden.


Da die ganzen Pferdebesitzer in der Zeit ihres Aufenthaltes auch irgendwo wohnen mussten, hatte man vor wenigen Jahren eine kleine, komfortable Pension angebaut, die von der Schwester des Hofbesitzers geführt wurde.


<Für was sich diese Leute Pferde hielten, wenn sie kaum Zeit hatten, nach ihnen zu sehen,> konnten insbesondere die alten Leute im Dorf nicht verstehen. Die Leute kamen meist aus den Städten, hatten eben genügend Geld und konnten sich so einen Luxus leisten, wie man hinter vorgehaltener Hand sagte. Für den Pferdestallbesitzer war es nur gut, so zahlungskräftige Kundschaft zu haben. Nun konnten sie allein von den Pferden und den Reitstunden, die sie natürlich auch gaben, leben. Wo früher Weizen oder Kartoffeln angebaut wurden, da wuchs heute Hafer oder grasten eben Pferde. Es war eine andere, neue Zeit.


***


Dann gab es noch einen Mann in mittleren Jahren, der vor wenigen Jahren ebenfalls ein altes, stark renovierungsbedürftiges Anwesen zusammen mit seiner Lebensgefährtin gekauft hatte, das vorher lange leer stand. Sie hatten viel Arbeit, Zeit und Geld investiert, hatten das alte Gebäude in ein kleines Schmuckstück umgebaut und betrieben nun eine Art Nebenerwerbsbetrieb mit Ziegen und Schafen. Bio, wie sie immer betonten. Aber es war mehr oder weniger eine Liebhaberei des Paares. Ihren Lebensunterhalt verdienten sie auf eine andere Weise. Es hieß, sie hätten beide studiert und die Frau arbeitete nach wie vor in der Stadt in einem gut bezahlten Job, während er sich zusammen mit einem Gehilfen um die Tiere kümmerte. Mehrere Bücher hätte er schon veröffentlicht und nebenher schrieb er noch Artikel für irgendwelche Zeitungen. Jedenfalls erzählten sich das die Leute im Dorf, denn Genaues wussten die Dorfbewohner zu Anfang auch nicht.


So hatte sich im Laufe der Jahre alles verändert. Was alt war, hatte schon lange keinen Bestand mehr.


<Es wird Zeit, dass auch ich gehe,> sagte sie in diesem klaren Moment ganz leise, wie zu sich selbst, <ich bin nur noch ein Überbleibsel aus der Vergangenheit und passe nicht mehr in diese neue Welt,> dabei hob sie den Kopf und schaute in Richtung des inzwischen dunkel gewordenen Himmels.


Das Leben hatte es meistens gut mit ihr gemeint

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