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Früher, zu Zeiten von Oma Friedchen

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Während sie so bewegungslos und still am Fenster verharrte und auf die hereinbrechende Nacht wartete, gingen ihre Gedanken ganz eigene Wege und wanderten um Jahrzehnte zurück, in die Zeit, als sie noch sehr jung, so voller Leben war und ungeduldig die Zukunft erwartete.

Als wäre das Leben zurück gespult, sah sie die damaligen Bewohner des Hauses von gegenüber, wie sie dort ein und aus gingen, ganz so, als würden sie noch immer dort wohnen. Oma Friedchen und ihren Mann, der die meiste Zeit vor sich hin nörgelte, deren gemeinsamer Sohn mit seiner hübschen Frau, die so ganz anders sprach, als die Leute in dem Dorf. Die beiden Jungen hatten sich kennengelernt, nachdem er eine schwere Lungenentzündung überstanden hatte und der Arzt ihm etwas mehr Ruhe und eine Luftveränderung empfahl, damit er wieder voll genesen würde. Sechs Wochen weilte er zur Erholung auf dem Hof seines Onkels, dem Bruder seines Vaters, lernte dort die Tochter eines Bäckers kennen, verliebte sich sofort in sie und als er wieder nach Hause zu seinen Eltern fuhr, brachte er sie samt ihrer dreijährigen Tochter, einem zierlichen, blonden Mädchen, das nur selten lachte, sofort mit. Gegen den Widerstand seines Vaters, der ihn zu enterben drohte, heiratete er kurze Zeit später die junge Frau, trotz ihres Kindes.

***

Auch an diesem Abend stand wieder das gegenüberliegende Haus – nur noch für sie sichtbar - nicht in frisch gestrichenem, zartem Lindgrün, mit doppelt verglasten Fenstern und weißen Kunststoffrahmen, modernen Rollläden, gefliestem Treppenaufgang und einer glänzenden Aluminiumhaustür, die sich so leicht und leise schließen ließ, da. Nein, s i e sah noch die ausgetretenen Steinstufen von früher, die zu der schweren, verwitterten Holztür führten, an der die zartgelbe und blassblaue Farbe abblätterte. Und wenn s i e genau hinhörte, dann erreichte auch wieder dieses rostige Quietschen ihr Ohr, wie es damals immer beim Öffnen und Schließen der Tür erklang, weil sich die schweren Eisenscharniere nur mit Kraftaufwand bewegen ließen, da sie zu selten richtig geölt wurden. Öl war teuer und man ging sparsam damit um. Kein Tropfen durfte verschwendet werden.

In dem geöffneten Fenster, rechts neben der Eingangstür, das zu der großen Wohnküche gehörte, war es nur für sie wieder sichtbar, dieses dicke, weiche Kissen, dessen, mit bunten Blumen bedruckter Bezug, im Laufe der Jahre von der Sonne ausgebleicht worden war. Auf dieser weichen Unterlage stützte sich Oma Friedchen, so wurde die alte Frau schon seit Jahren im Dorf von allen genannt, bequem mit den Unterarmen auf, hielt mit den Vorübergehenden ein Schwätzchen, schaute den vorbeifahrenden Pferdefuhrwerken oder den Traktoren zu, auf denen die Bauern des Dorfes aufs Feld oder auch in die nahe Stadt fuhren. Am Feierabend, wenn die Kirchenglocken achtzehn Uhr geläutet hatten, die Bauern auf ihren Fuhrwerken oder Traktoren wieder von ihren Feldern nach Hause fuhren, genoss sie ebenfalls an ihrem Fenster sitzend noch die letzten Strahlen der Abendsonne. Ihr altes, faltiges Gesicht, mit dem dünnen, zu einem Knoten geschlungenen weißen Haar - darüber früher ein graues, nach dem Tode ihres Mannes immer nur ein schwarzes Kopftuch gebunden - gehörte jahrelang zu diesem Fenster dazu. Aber ganz plötzlich war dieses Fenster verwaist.

Die späte Herbstluft war wohl schon zu kalt für ihren alten, abgearbeiteten Körper gewesen. Zuerst war es nur eine leichte Erkältung. Niemand in ihrer Familie maß dieser Unpässlichkeit eine rechte Bedeutung zu. Der Schnupfen und Husten gehörte eben zum kühler werdenden Herbst dazu. Und außerdem, Mutter hörte ja auch nicht. < Warum musste sie sich auch nachmittags immer bei Wind und Wetter an dieses geöffnete Fenster setzen >, sagten ungehalten Sohn und Schwiegertochter. <Jetzt haben wir die Arbeit mit ihr.>

Viel ärgerlicher war, dass ihr jetzt auch noch das Frühstück und das Mittagessen nicht nur zubereitet, sondern auch noch auf ihr Zimmer im oberen Stockwerk getragen und später das Geschirr wieder weggeräumt werden musste. Der Zeitplan der Familie war total durcheinander gebracht worden. Konnte man sich in den letzten Jahren immer darauf verlassen, dass Mutter rechtzeitig fürs Mittagessen das Gemüse geputzt und die Kartoffeln geschält hatte und nach dem Mittagessen das ganze schmutzige Geschirr spülte, so musste dies die Schwiegertochter jetzt alles alleine machen. Immerhin kam deren Mann täglich um 12.30 Uhr zum Essen nach Hause und dann musste pünktlich eine Mahlzeit auf dem Tisch stehen. Er arbeitete im nahen Sägewerk und hatte nur eine Stunde lang Mittagspause. Sie selbst versorgte morgens zwei, manchmal auch drei Stunden lang den Haushalt der Sägewerksbesitzer und verdiente sich so noch etwas nebenher. Zwar betrieben sie noch eine kleine Landwirtschaft, die ihr Mann von seinem Vater übernommen hatte, aber einen Misthaufen neben dem Haus war nicht unbedingt das, wovon sie als junges Mädchen geträumt hatte. Sie war in einer Bäckerei aufgewachsen wo es täglich nach frischem Brot und süßen Backwaren roch.


Na ja, es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die letzten Kühe abgeschafft würden. Seit drei Jahren arbeitete ihr Mann jetzt in dem Sägewerk und dort verdiente er mehr, als diese zeitraubende und anstrengende Haltung von Kühen abwarf. Erst vor wenigen Wochen hatte ihr Mann nach einem anstrengenden Arbeitstag in dem Sägewerk und als er danach noch in den Stall musste, gesagt, dass ihm die ganze Plackerei langsam zu viel würde. Heu machen, Stall ausmisten, füttern, melken, sie hatten keine freie Minute mehr. In Gedanken hatte sie dann noch ergänzt, ganz zu schweigen von dem penetranten Geruch, der rund ums Haus wehte und den sie nur mit Mühe aus der Wohnung verbannen konnte. Wenn ihr Mann aus dem Stall kam, musste er sich in einem kleinen Kämmerchen, seitlich der hinteren Eingangstür, zuerst die nach Mist stinkende Schuhe, sowie die schmutzige Stallkleidung ausziehen und dann an einem dort extra für ihn angebrachtem Waschbecken waschen und anschließend saubere Sachen anziehen. Das hatte sie nach jahrelangen Querelen durchgesetzt.


Als sie in das Haus eingeheiratet hatte, gab es noch einen direkten Zugang von der Küche in den Stall. Es hatte sie regelmäßig gewürgt, wenn ihr Schwiegervater morgens, nach dem Ausmisten des Stalls und dem Füttern der Tiere mit den Stallklamotten durch diese Tür die Küche betrat und sich nur kurz die Hände wusch, bevor er sich in seiner stinkenden Arbeitskleidung an den Frühstückstisch setzte. Von den vielen schwarzen Fliegen, die im Sommer regelmäßig über dem Essenstisch herum schwirrten, erst gar nicht zu reden. Es regte sie auf, dass er es nicht einmal für nötig hielt, die mit Mistbrühe durchtränkten Schuhe auszuziehen, bevor er die Küche betrat. Wie oft musste sie die braunen Pfützen auf dem Küchenboden wegwischen, wenn er nach dem Frühstück wieder nach draußen gegangen war. Mehrmals hatte sie diesen, für sie unerträglichen Zustand angesprochen und ihren Schwiegervater darum gebeten, doch wenigstens die Schuhe vor der Küchentür auszuziehen. Daraufhin wurde er fuchsteufelswild, schlug mit der Faust so fest auf den Tisch, dass die Teller und Bestecke klirrten und fuhr sie an, sie denke wohl, sie sei was Besseres, weil ihr Vater keine Landwirtschaft sondern eine Bäckerei hatte. Sie würde jetzt ihre Füße unter seinen Tisch stellen und außerdem sei der Hof noch immer sein. Es war seine Art zu demonstrieren, dass er der Herr im Haus war und bestimmte, was hier gemacht wurde. Niemand in der Familie wagte dann noch, dem Bauern zu widersprechen


<Dein Vater kann mich nicht wie ein Dienstmädchen behandeln,> beklagte sie sich dann bei ihrem Mann, der daraufhin versprach, später mit seinem Vater zu reden. Aber alles Reden nützte nichts bei dem Starrsinn des alten Mannes. Der hätte sich die Anna von gegenüber als Schwiegertochter gewünscht, denn die würde mal den Hof ihres Vaters erben. In seinen Gedanken hatte er sich schon vor längerer Zeit ausgemalt wie es wäre, wenn dann später beide Höfe zusammen gelegt würden.


<Aber mein Herr Sohn musste sich ja eine verwitwete Frau, die auch noch einen Balg mitbrachte, von außerhalb holen,> erzählte er jedem, der es hören wollte. Dabei spuckte er verächtlich auf den Boden. Insgeheim hoffte er wohl noch immer, dass es zwischen seinem Sohn und der Anna noch was geben würde, wenn erst mal die Schwiegertochter mit ihrem Kind wieder weg wäre. Wenn diese gewusst hätte, wo sie mit ihrem Kind hingehen könnte, wäre sie auch schon im zweiten Jahr ihrer Ehe gegangen. Aber dann wurde sie schwanger und brachte zuerst einen Jungen – den nächsten Hoferben – und ein Jahr später noch ein Mädchen zur Welt. An Weggehen war da nicht mehr zu denken. Sie musste ausharren. Zum Glück war die Schwiegermutter immer sehr gut zu ihr und den drei Kindern.


Es war, als hätten die beiden Enkel das Herz des alten Bauern erweicht. Mit den Jahren wurde er immer ruhiger und oft ruhte sein Blick voller Stolz auf seinen beiden Enkelkindern. Wenn sie dann <Opa, Opa> riefen, ihn mit ihrem Kinderlächeln anstrahlten und auf seine Knie wollten, damit er „ Hoppe, hoppe Reiter … „ mit ihnen spielen sollte, wurde sein Blick ganz sanft und er strahlte übers ganze Gesicht vor Glück. Aber dieses neu erworbene Glücksgefühlt konnte der alte Mann nur wenige Jahre genießen. Eines Morgens, er wollte gerade in den Stall, wurde ihm das Atmen schwer und er musste sich einige Minuten hinlegen und ausruhen. Danach ging es ihm wieder gut. Aber diese Unpässlichkeiten wiederholten sich. Als es dann nicht mehr zu übersehen war, dass die Schwiegertochter wieder guter Hoffnung war und er sich freute, in einigen Monaten wieder so ein kleines Wesen auf seinen Knien schaukeln zu können, da hatte ihm der Arzt schon gesagt, dass sein Herz nicht mehr so richtig wolle. Es könnte ganz schnell gehen, wenn er so weiter mache wie bisher, aber mit den Medikamenten und wenn er sich dazu noch etwas schonen würde, dann könnte es auch noch einige Jahre gut gehen. Anfangs beherzigte er den Rat des Arztes, der ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte. Widerwillig ließ er die ganze Arbeit ruhiger angehen, überließ vieles seinem Sohn und legte täglich Ruhepausen ein. Aber als er merkte, dass er sich wieder gut fühlte, packte er wieder voll zu. Schonen, das war eben nicht sein Ding.


Kurz nachdem ihr Schwiegervater verstorben war und ihr Mann die Landwirtschaft gänzlich übernommen hatte, bestand sie darauf, dass die Tür von der Küche zum Stall zugemauert und neben dem Hintereingang, der zum Hof führte, so ein kleiner Waschraum angebaut wurde. In ihrer Küche sollte nichts, aber auch gar nichts an Stallgeruch oder Mist erinnern.


***


Aber jetzt, in diesen Herbsttagen dachte sie nur noch an das Nächstliegende. Hoffentlich konnte die Schwiegermutter bald wieder aufstehen, sich Frühstück machen und im Haushalt etwas mithelfen. Das wäre eine große Entlastung. Dann wäre nachmittags auch jemand bei den beiden jüngsten Kindern, deren Geburt ihr Schwiegervater gerade noch erlebt hatte. Die beiden Jungs gingen jetzt morgens zur Dorfschule und es wäre gut, wenn jemand an den Nachmittagen, an denen sie noch mit aufs Feld musste, ein Auge auf die zwei hätte. Die beiden Nachkömmlinge waren mit zehn und elf Jahren gerade in einem Alter, in dem man gefährlichen Unsinn anstellt. Erst vor wenigen Wochen hatte ihr Mann die zwei erwischt, als sie mit ihren Freunden im hinteren Teil des Stalls, wo demnächst wieder das Vieh von der Weide hinein getrieben würde und im Moment nur noch kleine Reste vom Stroh lagen, ausprobieren wollten, wie Zigaretten schmecken. Hundertmal hatten sie den beiden schon erklärt, wie gefährlich das Hantieren mit offenem Feuer in der Scheune sei.


<Das Dach könnte uns über dem Kopf abbrennen,> hatten sie gesagt. Genützt hat das ganze Gerede nichts. Wahrscheinlich wollten die beiden Jungs vor ihren Freunden angeben, was sie sich alles schon trauten. Na, da gab es eben ordentlich den Hosenboden voll. Zwei Tage lang konnten die beiden Söhne nicht mehr richtig sitzen. Normalerweise schlugen sie ihre Kinder nie, höchstens mal einen kleinen Klaps, wenn sie allzu uneinsichtig und störrisch waren. Aber diese drastische Prügelstrafe entsprang keiner entfesselten, ungezähmten Wut, wie es ihr Mann oftmals von seinem eigenen Vater erlebt hatte, wenn der wild mit dem Schürhaken oder seinem Gürtel auf den Hintern und die Beine seines Sohnes eingeschlagen hatte. Sie sahen dies als lebensnotwendige Maßnahme an, was die ganze Familie vor einem Feuertod bewahren sollte. Nicht auszudenken, wenn das Stroh Feuer fangen würde und das Haus mitsamt des Stalls in Flammen aufginge. Hoffentlich hatten es die beiden jetzt begriffen.


***


In vier Wochen stand schon die Kartoffelernte an und da würde jede helfende Hand auf dem Feld gebraucht werden, auch ihre und die ihrer Kinder, überlegte sie weiter. Es wäre eine große Erleichterung für sie, wenn sie sich dann nicht mehr so viel um die alte Frau kümmern müsste. Wenn diese doch wenigstens wieder rechtzeitig merken würde, dass sie Wasser lassen musste und wieder ohne ihre Hilfe zur Toilette gehen könnte, dann wäre ihr schon sehr geholfen. Laufend das Bett der alten Frau frisch zu beziehen und die ganze, von Urin durchtränkte Leib- und Bettwäsche waschen zu müssen, war nicht nur eklig sondern beanspruchte zudem so viel Zeit, die sie im Moment gar nicht hatte. Morgen bekäme sie von der Nachbarin einen Toilettenstuhl, den man neben dem Bett ihrer Schwiegermutter aufstellen könnte. Das würde auch schon helfen, wobei sie gar nicht daran denken durfte, dass sie dann nicht nur täglich den stinkenden Inhalt der Schüssel leeren, sondern auch den Toilettenstuhl selbst reinigen müsste. Allein bei dem Gedanken drehte sich ihr schon jetzt der Magen. Wenn es nicht besser würde, dann müssten sie jemanden aus dem Dorf bitten, bei der Pflege der alten Frau zu helfen. Aber das würde auch wieder kosten.


Doch dann kam es anders und es ging auch ganz schnell. Von einem zum anderen Tag bekam die alte Frau sehr hohes Fieber, konnte das Bett überhaupt nicht mehr verlassen. Jetzt konnte sie nicht einmal mehr ohne Hilfe aus dem Bett aufstehen und auf den Toilettenstuhl gehen, der direkt neben ihrem Bett aufgestellt worden war. Zurück in ihr Bett musste man sie mehr tragen, als dass sie gegangen wäre, so schwach war sie plötzlich geworden. Der behandelnde Arzt zuckte nach einigen Tagen entschuldigend mit den Schultern und meinte: „ Auch dem ärztlichen Können sind Grenzen gesetzt. Sie ist auch nicht mehr die Jüngste. Es wird wohl nicht mehr lange gehen.“ Schon drei Woche später, die Kartoffelernte hatte gerade begonnen, da legten sie die alte Frau an einem stürmischen Herbsttag auf dem Friedhof hinter der Kirche, neben ihren Mann in die Erde. Von da an blieb das Fenster neben der schweren, hölzernen Haustüre, an der die hellgelbe und blassblaue Farbe abblätterte, die meiste Zeit verschlossen. Nur zum Lüften wurde dieses Fenster noch geöffnet. Für mehr hatten Sohn und Schwiegertochter keine Zeit mehr.


Das Ende des Sägewerks, in dem der junge Bauer, der kurz nach dem Tode seiner Mutter das Vieh abschaffte und die Felder verpachtete, gearbeitet hatte, kam genau so unverhofft. Es war etwas mehr als zweieinhalb Jahre später geschlossen worden. Der Besitzer hatte einen schweren Unfall bei Baumfällarbeiten erlitten. Die Stämme sollten abtransportiert werden und keiner wusste, wie es geschah, dass sie auf dem fast ebenen Gelände ins Rutschen und Rollen kamen. Niemand hatte damit gerechnet. Bevor auch nur einer der Arbeiter reagieren konnte, war der Sägewerksbesitzer zwischen den Stämmen eingeklemmt. Seine Verletzungen waren so schwer, dass er nur wenige Tage überlebte, in denen er Tag und Nacht vor Schmerzen schrie, wenn die Wirkung der Medikamente nach ließ. Da seine Ehe kinderlos geblieben war, gab es auch keinen Nachfolger für das Sägewerk. Seiner Witwe blieb nichts anderes übrig, als das Werk nach einiger Zeit zu schließen, die Arbeiter zu entlassen und das Inventar zu verkaufen. Im Dorf gab es sonst nichts, womit die Männer, die jetzt arbeitslos waren, ihr Geld hätten verdienen können. Was blieb den Arbeitern dann anderes übrig, als sich eine neue Stelle in der nahe gelegenen Stadt zu suchen. Dort gab es kleine Fabriken, zwei Schreinereien und einen Steinbruch. Zwar mussten sie jetzt morgens schon kurz nach sechs Uhr fünf Kilometer über eine holprige Straße mit dem Fahrrad den Berg hinunter zur Arbeitsstelle fahren und abends um achtzehn Uhr den gleichen Weg wieder bergan zurück, was nach einem anstrengenden Arbeitstag ganz sicher kein Zuckerschlecken war. Sie hätten auch den Bus nehmen können, der zweimal am Tag diese Strecke fuhr, aber das hätte wieder Geld gekostet. Wer kein Fahrrad hatte, dem blieb nur noch, den Weg täglich zu Fuß zurück zu legen. Was wollte man sonst machen? Von drei Kühen, einigen wenigen Schweinen oder ein paar Hühnern und den kleinen Parzellen Land, die die Leute besaß, konnte schon damals keiner mehr leben.


***


< Mein Gott, wie lange war das schon alles her!> Ging es der alten Frau, als sie in der Abenddämmerung am Fenster stand und auf das gegenüberliegende Haus blickte, durch den Kopf. Ihre Gedanken waren weit zurück gewandert. Nur in ihrer Phantasie konnte sie noch ihr vertrautes Dorf sehen, wie es einmal vor mehr als 60 Jahren war. Die Dorfstraße war damals noch ein ganz holpriger Weg mit gerissener Teerdecke und ausgefahrenen Schlaglöchern, in denen sich bei Regen das Wasser sammelte. Jedes zweite oder dritte Haus hatte einen Misthaufen vor der Tür und wo der Misthaufen am größten war, wohnte der reichste Bauer. Der Mist gehörte in ihrem Dorf einfach dazu und niemandem kam es in den Sinn, sich über die Mistbrühe, die insbesondere bei Regenwetter nicht mehr nur in die Grube sickerte, sondern sich stetig über den Gehweg ausbreitete und den dadurch verursachten, durchdringenden Geruch zu beklagen. An solche Aussagen wie: „ Unser Dorf soll schöner werden „ dachte zu der Zeit noch niemand. Die Leute waren froh, wenn die ganze Familie genug zu essen, in der kalten Jahreszeit eine warme Stube und ein regendichtes, schützendes Dach über dem Kopf sowie die notwendigsten Dinge, die sie für das tägliche Leben brauchten, bezahlen konnten.


Das Leben hatte es meistens gut mit ihr gemeint

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