Читать книгу Mit der 18 bis zu dir - Maartje Kamprath - Страница 4
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ОглавлениеBei Schmerzen handelt es sich um ein subjektives Erleben. Jeder Mensch ist einsam in seinem Schmerz.
Er hat einige Freunde auf der Welt. Neben der bereits erwähnten Einsamkeit, die sein stiller Zwilling zu sein scheint, ist die Dunkelheit einer seiner Verbündeten, die Ohnmacht, die Schlaflosigkeit und der Zorn. Wenn man nicht aufpasst, sich nicht zu helfen weiß, kann Schmerz auch den stärksten Charakter brechen.
Aber jeder Schmerz hat eine Geschichte, und manchmal kann man die Einsamkeit besiegen, den Schmerz lindern, wenn diese Geschichte erzählt wird.
Weil er sprachlich kaum fassbar ist und sich Bildern bedient, erscheinen Geschichten über das Erleben von Schmerz oft äußerst dramatisch – zu Recht, und diese tut es wahrscheinlich auch – aber ich kann nur hoffen, dass sie dennoch ausreichend akkurat sein wird.
Das ist jetzt alles vielleicht etwas wirr. Etwas überspannt. Die Wahrheit ist, ich weiß nicht, wie ich zu erzählen beginnen soll. Das hat damit zu tun, dass es mir oft vorkommt, als hätten die Worte einer Geschichte in der Welt kein Gewicht mehr, denn oft ist der Unterschied zwischen dem, was wir in unserem Herzen erleben, und dem, was draußen vor unseren Augen passiert, nicht mehr besonders groß, jedenfalls heute nicht mehr. Wir haben so viele Möglichkeiten, sichtbar zu machen, was tausend Worte nicht sagen können und manchmal kommt es mir vor, als gäbe es deshalb keinen Grund mehr, sich der Sprache als Medium zu bedienen.
In einer Welt, in der Informationen und Bilder innerhalb von Sekunden den Globus umrunden können, bin ich mir ständig darüber im Klaren, dass mein eigener Schmerz objektiv betrachtet keine Bedeutung hat.
Ich bin eine reiche Person in einem reichen Land und nichts an meiner Geschichte ist auf den ersten Blick beispielhaft oder symptomatisch. Es scheint einerlei, ob ich sie erzähle oder nicht. Aber das ist es nicht.
Meine Geschichte ist vielmehr der Versuch, wieder zusammenzusetzen, was diese schnelle Welt von mir übriggelassen hat, der Versuch, auch anderen Mut zu machen, mit etwas Distanz auf sich selbst zu schauen, Worte zu finden.
Menschen haben die Fähigkeit, so grausam zu ihrer eigenen Spezies zu sein wie kein anderes Wesen auf der Welt. Der Mensch allein kann andere Individuen seiner Art ausgrenzen, ist dazu fähig, Millionen seiner Artgenossen mit einem Fingerzeig vom Angesicht der Erde zu fegen.
Als Teil einer Generation, die nie das Leid und die Grausamkeit eines Krieges erlebt hat, die immer die Möglichkeit hatte, sich vor kollektiver oder politischer Gewalt zurückzuziehen und zu schützen, sich gewaltlos zu distanzieren, einer Generation, die glaubt, keine Revolution gebraucht zu haben, habe ich oft Gelegenheit gehabt, zu beobachten, dass diese grausamen Anteile, die vielleicht Teil der menschlichen Natur sind, an anderer Stelle aus uns herausbrechen können. Dass wir auch vollkommen ohne Fäuste, Flinten und Feuer, in Form von Einzelschicksalen, in der Lage sind, kaum erträglichen Schmerz zu verursachen. Diese Geschichte ist ein Versuch, den stummen Schmerz, den wir unter der Haut, hinter den Augen tragen, wenigstens teilweise sichtbar zu machen, festzustellen, dass schreckliche Dinge nicht unbedingt passieren müssen, um uns dazu zu bringen, Schreckliches zu erleben.
Mein Taufpate hat einmal, als ich ihm ein Geschenk überreichte und mir Sorgen machte, dass es ihm nicht gefallen würde, zu mir gesagt: „Elise, wenn du jemandem etwas schenkst, fang erst an dich zu entschuldigen, nachdem derjenige es ausgepackt hat. Alles andere hat wenig Sinn.“ Deshalb werde ich jetzt einfach erzählen, was in jener Nacht passiert ist. Entschuldigen kann ich mich am Ende immer noch, zumindest denke ich das. Ich weiß aber dennoch, dass man Gesagtes nicht ungesagt machen kann.
Gern würde ich sagen, ich sei nach Köln gezogen wegen des Doms oder der Mentalität oder des Rheins. Ich wäre gern jemand, der eine solche Geschichte beginnt mit den Worten: „Es war einmal vor langer, langer Zeit in einem fernen Land…“ Aber nein. Es war erst vor ein paar Jahren und genau hier, zwischen der ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn und dem, was ein „echter Kölner“ als seinen Parkplatz bezeichnet – Düsseldorf, auch wenn ich das nie so ganz begriffen habe – hier, knapp acht Meter über der reißenden Oberfläche eines großen Flusses.
Ich bin an der Nordsee geboren, und es ist schwer, das zu ignorieren, weil mich nicht nur ein gewisses plattdeutsches Vokabular auch nach Jahren noch mit meiner Heimat verbindet (wodurch ich immer bemüht bin, mich gewählt auszudrücken, damit man mich auch hier in Köln versteht), sondern auch die Statur: hochaufgeschossen, ein breites Kreuz und alles in allem recht burschikos. Wind und Regen können uns Friesen nichts anhaben. Es ist eine raue, wettergegerbte Schönheit, die uns ausmacht.
Mich selbst kann ich auch mit den wohlwollendsten Absichten nicht zur Gänze als ästhetisch beschreiben. Es ist leider schon einige Male vorgekommen, dass man mich im Supermarkt für einen halbstarken jungen Mann gehalten hat, weil ich so groß bin – größer sogar als viele Männer – und leider auch etwas schwerfällig. Wenn man mich genau anschaut, merkt man, dass sich eigentlich mein ganzes Leben in meinem Kopf abspielt. Ich lege keinen Wert auf Äußerlichkeiten, bin stets bemüht, andere nicht nach ihrer Erscheinung zu beurteilen, auch wenn ich weiß, dass man sich eines ersten, intuitiven Eindrucks, eines Vorurteils auch nach bestem Wissen und Gewissen nicht erwehren kann. Umgekehrt wünsche ich mir, auch selbst nicht danach beurteilt zu werden, dass ich krumme Beine und eine zu spitze Nase, zu breite Schultern und an einigen Stellen auch ein Fettröllchen zu viel habe. Als hätte Gott die Körperteile genommen, die noch übrig waren, nachdem er alle Menschen erschaffen hatte, und sie dann beliebig und völlig gedankenlos zusammengesetzt. Dabei falle ich trotzdem in Gruppen nicht auf, wenn ich nicht gesehen werden will. Eine Arbeitskollegin von mir hat Menschen, die sich so völlig an ihre Umwelt anpassen können, einmal mit dem Begriff marmoriert beschrieben, und ich finde ihn passend, obwohl er in diesem Zusammenhang abstrakt scheint. Ich bin eine marmorierte Person, die für sich genommen optisch ziemlich das Gegenteil von dem ist, was sie innerlich zu sein glaubt. Und je mehr ich versuche zu akzeptieren, womit ich nun einmal ausgestattet bin und was ich nicht ändern kann, desto mehr habe ich das Gefühl, in dieser Absicht ständig missverstanden zu werden. Aber Missverständnisse sind wohl sowieso ein wesentlicher Teil dieser Geschichte, womit ich nicht zu viel des Inhaltes vorwegnehmen möchte. Ich habe das nur hier beschrieben, damit du, lieber Leser, mich nicht in Farben vor deinem geistigen Auge malst, die mir gar nicht zu Gesicht stehen.
In einer Hafen- und Küstenstadt aufgewachsen zu sein, macht es oft schwer, fernab vom Meer zu sein. Aus meinem etwa zweihundert Leute großen Abiturjahrgang haben nur drei Menschen Nordfriesland längerfristig verlassen. Spätestens nach ihrem Abschluss hat es doch fast alle wieder in die Heimat gezogen.
Auch wenn ich selbst die Hafenpromenade, die Windmühlen, den Geruch nach Gischt und Dung und die Salzwiesen kaum noch ertragen kann, kann ich sie verstehen. Es ist, als würde unser Geist eine andere Sprache sprechen. Wir Friesen sind ruhige, treue Zeitgenossen, die guten Kaffee und solide, kalorienreiche Torten schätzen. Es ist schwer, das Herz eines Friesen für sich zu gewinnen, aber hat er dir einmal Zutritt zu seinem Kuhstall gewährt, ist er so verlässlich wie kaum ein anderer. Ich habe aus meiner Jugend einige Werte mitgenommen, die typisch für meine Herkunft sind: Pflichtbewusstsein, Schweigsamkeit und Gelassenheit. Leider habe ich zunehmend das Gefühl, dass meine ganze Konstitution nicht in diese Wertevorstellung passen will, obwohl ich mich davon nicht lösen kann. Die Säulen, auf denen mein Leben steht, scheinen aus Seesand und Meersalz zu bestehen, und ich habe keinen Grund, gelassen und zielstrebig zu sein, weil ich bei jeder Flut von der Brandung weggespült zu werden drohe. Ganz abgesehen davon, dass ich ständig nach Worten suche und nicht aufhören kann zu kommunizieren. Schweigsamkeit war immer eine Tugend, die ich zutiefst bewundert, aber niemals befolgt habe, niemals befolgen konnte. Interessanterweise habe ich aber nie das Gefühl, wirklich etwas zu sagen, auch wenn ich nicht schweigen kann.
Deshalb jedenfalls habe ich schweren Herzens beschlossen, der See und dem sandigen Boden den Rücken zu kehren und tiefe Verbundenheit mit dem Rhein herzustellen, wenn mir einmal das Wasser fehlt, das zu Hause mein Leben bestimmt hat. Wurzeln zu schlagen in einem Boden, in dem ich nicht erst nach Halt suchen muss, an den ich mich nicht anpassen muss, bis nichts mehr von meiner ursprünglichen Natur übrig ist.
So stehe ich also, tief über die Brüstung der Deutzer Brücke gebeugt, in einer mondlosen Julinacht und sehe der sich kräuselnden Wasseroberfläche entgegen.
Wie schon so oft fängt mich die Magie des Wassers ein, ich werde eins mit dem Wassergedächtnis, ordne mein Selbstverständnis zwischen Wasserstoffbrückenbindungen ein. Ich glaube zum ersten Mal seit Monaten, bei vollem Bewusstsein zu sein, umströmt von dem kühlen System, das vor meinen Augen, viele Meter unter mir, mit einer nicht einzuschätzenden Kraft und Geschwindigkeit schier unendlich davonfließt.
Da plötzlich spüre ich einen Blick im Nacken. Hinter mir steht ein Mann. Er ist groß und schlank, seinen grauen Augen entgeht nichts, er trägt einen Wollmantel mit doppelter Knopfreihe und einen Hut. Was ich unter der Krempe von seinem Gesicht erkennen kann, ist weder jung noch wirklich alt; tatsächlich kann ich auf den ersten Blick kaum sagen, wie alt er wirklich sein mag, nur eines ist sicher: er ist deutlich älter als ich. Sein aufmerksamer Blick jedoch kann nur einem Menschen gehören, der sich an der Welt noch lange nicht hat sattsehen können. Durch das Licht der Straßenlaternen liegt ein dunkler, scharf umrissener Schatten auf seinem Gesicht, gegen den seine Augen silbrig funkelnd einen kalten, beeindruckenden Kontrast bilden.
„Was tun Sie da?“, fragt er. An der Art, wie er das A in „was“ und „da“ ausspricht, erkenne ich, dass auch er nicht von hier ist. Auch seine Wurzeln müssen weit nördlich der Elbe liegen. Seine Stimme klingt ein wenig rau und heiser, als hätte er eine lange Zeit geschwiegen.
Ich weiche zurück. Etwas stimmt hier nicht. Dieser Mann hat etwas Katzenartiges, seine Bewegungen sind geräuschlos und geschmeidig, die Züge fein und doch irgendwie unnachgiebig, die Kleidung stilvoll, elegant und auf eine gewisse Art präzise, vollkommen aufgeräumt.
Mein Blick wandert von seinem Mantel hinauf zum Revers, zu dem weißen Hemdkragen und der grünen Paisley-Krawatte. Ich spüre eine diffuse, hartnäckige Angst in mir aufsteigen, die ich nicht wirklich begründen kann. Dieser Mann strahlt eine ruhige, aber vielleicht doch etwas einschüchternde Autorität aus. Vor allem jedoch denke ich, dass niemand mich mitten in der Nacht auf einer Rheinbrücke in der Kölner Innenstadt ansprechen sollte.
Jedes Detail an dem Mann kommt mir auf schier unerträgliche Weise vertraut und doch so neu vor. Er steht so nahe bei mir, dass ich sein Parfum riechen kann. Ich habe wirklich keine wesentliche Kenntnis über Männerdüfte. Auch nicht über Frauendüfte. Ich reagiere empfindlich auf die meisten Parfums, aber ich habe mich nie mit den zugehörigen Marken auseinandergesetzt, kann also auch diesen besonderen, nun allgegenwärtigen Duft nicht konkret zuordnen. Er weckt Erinnerungen, Bilder, die ich nicht zulassen kann.
Eine hektische Ratlosigkeit nimmt mein Bewusstsein augenblicklich in Besitz, ich versuche die Frage zu unterdrücken, was hier gerade überhaupt vor sich geht, aber sie drängt sich auf und lässt mich nicht los.
Der Mann vor mir hebt die Hand und zieht den Hut. Meine Augen fixieren trotz meiner rasenden Gedanken immer noch seine Krawatte. Ganz langsam nur wandert mein Blick seinen bereits etwas eingefallenen Hals hinauf, ich sehe das rasierte und doch rau erscheinende Kinn mit der kleinen Falte unterhalb der Unterlippe, den leichten Überbiss, der seinem Mund einen feinen Zug gibt, ich sehe die hohlen Wangen, die hohe, fliehende Stirn. Seine Haut ist so hell, dass sie im Licht der Straßenlaternen wie Perlmutt glänzt. Sein schütter werdendes Haar ist weder blond noch grau, es ist farblos, genau wie die Augen, die tief in ihren Höhlen liegen und durchscheinend in einem sternförmigen Netz winziger Fältchen wie silberne Monde aufleuchten, als unsere Blicke sich treffen. Eine Woge der Anspannung, der elektrischen Ekstase durchfährt mich.
Seine oberflächliche Farblosigkeit ist trügerisch, das zeigt mir jede noch so kleine Regung in seinem Gesicht, jeder Lichtstrahl, der auf seine Haut fällt. Sein Inneres schimmert durch das fast gläsern erscheinende Auftreten hindurch. Wenn das Licht ihn nur im richtigen Winkel trifft, strahlt etwas aus ihm heraus so leise und verborgen, dass jede Reflexion die Neugierde auf mehr weckt, ohne dabei jedoch eine unmittelbare Erkenntnis über ihn nach sich zu ziehen.
Mir ist nicht bewusst, dass durch mein intensives Bestreben, alle Eindrücke, die auf mich einströmen, in Worte fassen zu wollen, eine längere Stille zwischen uns eingetreten ist.
„Ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt, Verzeihung. Ich bin Mortimer“, bricht er das Schweigen, und fast glaube ich in seinem Blick zu lesen, dass er meine Gedankengänge verfolgt hätte. Unbehaglich spüre ich, wie ich innerlich versuche, Distanz zu der Situation zu schaffen, ohne mir äußerlich etwas davon anmerken zu lassen.
Ohne auch nur zu blinzeln, schiebe ich meine rechte Hand ein wenig vor und spüre unvermittelt einen kalten, harten und unnachgiebigen Händedruck. Als würde ich einem Stück Rauchglas die Hand schütteln. Ich kann in diesem Augenblick nicht sagen, ob es nur Angst oder auch Faszination oder eine Mischung aus beidem ist, die den Blickkontakt mit Mortimer aufrechterhält, als ich entgegne: „Elise.“
Er nickt wissend, lässt meine Hand los, setzt sich den Hut wieder auf.
Fieberhaft suche ich nach einer Vokabel, einem Ausdruck, der diesen Mann in seinen Bewegungen, seinem Stil vollständig beschreibt. Ein Wort, das aus meinem alltäglichen Sprachgebrauch eigentlich schon längst verschwunden ist, trifft wie ein Wassertropfen auf mein Bewusstsein: Anmut. Dieser Mann ist anmutig. Jede seiner Bewegungen ist so geschmeidig und präzise, und doch ohne den Hauch einer Anstrengung. Seine Hände sind schmal, mit langen, schlanken, fast knochigen Fingern, die durch die Form der Nägel spitz zuzulaufen scheinen. Auf den Handrücken treten zwischen den deutlich erkennbaren Sehnen bläuliche Adern hervor.
Noch immer bin ich vollkommen paralysiert.
„Offenbar habe ich Sie doch etwas aus dem Konzept gebracht. Ich dachte, nachdem wir schon so lange miteinander bekannt sind, sollte Sie meine Anwesenheit in keinster Weise mehr überraschen“, sagt er langsam. Seine Stimme ist nun so klar wie das Wasser in einem Bergsee, hebt sich so deutlich heraus aus der Geräuschkulisse des reißenden Flusses, des Nachtverkehrs und des Rauschens meines Blutes in meinen Ohren, als hätte er diesen anfänglichen Anflug von Heiserkeit mit seinem Atem ausgehaucht.
Jeder Eindruck, jedes Detail seiner Erscheinung brennt sich in meine Netzhaut ein, alles scheint neu und ich habe das Gefühl, alles in mich aufnehmen zu müssen, und dabei kommt er mir doch, wie er behauptet hat, tatsächlich vage bekannt vor. Mein Bewusstsein sieht sich vollkommen überfordert im Spannungsfeld zwischen der vorherrschenden Vertrautheit, die mir das Gefühl gibt, Mortimer seit Ewigkeiten zu kennen, und der Tatsache, dass ich keinen rationalen Bezug zu seiner Erscheinung, ja nicht einmal zu seinem Namen herstellen kann.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal einen Augenblick lang die Gesamtsituation beleuchten: Es ist mitten in der Nacht, in einer deutschen Millionenmetropole, in der unweit dieser Rheinbrücke vor wenigen Jahren eine berüchtigte Silvesternacht stattgefunden hat. Damals sollen mehrere hundert Frauen belästigt worden sein. Es ist mir bewusst, dass ich aufgrund meines Auftretens nicht unbedingt die erste Person bin, der so etwas passiert, aber das macht es – anders als meine damenhaften, mit Kunstblumen besteckten Kommilitoninnen bisweilen implizieren mögen – nicht unmöglich. Es ist sicher nicht klug von mir, mich jetzt überhaupt in der Innenstadt aufzuhalten, ich bin zugegebenermaßen manchmal etwas leichtsinnig. Aber vor diesem Hintergrund bin ich überzeugt, dass Panik aufgrund der Situation, die sich hier gerade entwickelt, eigentlich eine vollkommen angemessene Reaktion wäre. Stattdessen erlebe ich die Perspektive, die sich mir in diesem Moment bietet, als beklemmend auf so vielen Ebenen, dass ich mich konzentrieren muss, meinen Atem tief und regelmäßig bleiben zu lassen. Ich kann offensichtlich – und unerklärlicherweise – nicht handeln wie jemand, der gerade Panik empfindet. Ich bin gelähmt.
Da Mortimer nicht aufdringlicher ist als jeder beliebige andere Mann, der eine Frau Mitte zwanzig in der Nacht anspricht, und sich somit die reale, objektive Bedrohlichkeit der Situation in Grenzen hält, glaube ich, dass es einen guten Grund haben muss, dass mir der Zusammenhang, in dem unsere Bekanntschaft steht, nicht einfallen will.
Vielleicht möchte mein Gehirn, möchte mein Organismus mich vor der Wahrheit schützen.
„Kommen Sie“, sagt er, als ich mich immer noch nicht in der Lage sehe, auf seine Aussagen zu antworten. „Wir gehen ein Stück spazieren.“
Sanft umfasst Mortimer meinen linken Unterarm und zieht mich auf den Fußweg, weg von meinem geliebten Wasser.
Ich habe eine leise, sarkastische Stimme in meinem Kopf, die sich gern in unpassenden Momenten mit unpassenden Kommentaren zu Wort meldet. Sie teilt fröhlich mit, wie merkwürdig Einzelaspekte eines Sachverhaltes sind, so auch jetzt: Es ist doch gut, wenn eine Entführung so entspannt abläuft. Ich habe solche Angelegenheiten immer für wesentlich anstrengender gehalten.
Als Mortimer und ich nebeneinander die Brücke in Richtung der Innenstadt überqueren, werde ich mir gewahr, dass gerade jeder einzelne Muskel in meinem Körper angespannt ist.
Ein ums andere Mal verfluche ich, dass ich scheinbar kein emotionales Gedächtnis habe: Ich kann mich fast nie daran erinnern, wie sich Dinge in meiner Vergangenheit eigentlich angefühlt haben, während sie passiert sind, und manchmal verschwinden sie auch einfach.
Im Nachhinein betrachtet, könnte man, wenn man denn wollte, meine Reaktion auf Mortimers plötzliches Erscheinen sicher auf eine in sich abgekapselte, diszipliniert regulierte Panikattacke herunterbrechen. Aber nein.
Etwas in mir wusste von Anfang an, dass diese Begegnung etwas verändern würde.