Читать книгу Mit der 18 bis zu dir - Maartje Kamprath - Страница 5
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ОглавлениеWir gehen langsam die Cäcilienstraße hinauf, vorbei an einem Supermarkt, an einem Warenhaus, einem großen Herrenausstatter und am Belgischen Haus. Ich fühle mich eingehüllt, umgeben, absorbiert von Mortimers Anwesenheit. In mir wütet ein Chaos aus Panik, Neugier und Ärger. Und einer sonderbaren Form der Erregung.
Ich schaue zum Himmel hinauf. Die Nacht ist mondlos, aber links vor mir steht der Große Wagen am Himmel. Als ich ihn entdecke, scheint mein Geist seinen Anblick zu begrüßen wie einen alten Freund.
Im Kopf gehe ich immer wieder meine Morgenroutine durch, um mich zu erden, all die Gefühle niederzuringen, die mir das Herz bis zum Hals schlagen lassen.
Plötzlich höre ich neben mir ein leises Lachen. Ich drehe den Kopf. Es ist Mortimer, der den Kopf in den Nacken geworfen hat und ein kaltes, freudloses Lachen von sich gibt, das klingt, als hätte er eine ernstzunehmende Verletzung im Rippenfell.
„Was ist?“, frage ich, und erst, als ich die Worte ausgesprochen habe, wird mir klar, dass ich sehr brüsk klinge, aufgebracht, unwirsch. Was ich ja auch bin. Schließlich bin ich sozusagen gerade entführt worden. Irgendwie. Aber ich habe eigentlich viel zu viel Angst, Mortimer das vorsätzlich spüren zu lassen. Nur jetzt kann ich meine Aussage nicht mehr zurücknehmen.
Für einen kurzen Augenblick herrscht Stille. Es ist diese Stille, die am lauten Tag ruht, die es nicht nur vermag, die unsichtbare Mauer der Bedeutungslosigkeit zu durchbrechen, die uns alle umgibt und voneinander fernhält, nein, diese Stille ist so schwer, so ohrenbetäubend, dass sie nicht angenehm ist, sondern meine Angst nur schürt.
Mortimer ist stehen geblieben, und ich auch, wie ich allmählich feststelle.
Während ich noch darüber nachdenke, wie es sein kann, dass mein ganzes Nervensystem derart aufgerieben ist, ich aber dennoch die wesentlichen Beobachtungen, die Informationen, die ich brauche, um meine eigene Lage einzuschätzen, erst verzögert aufnehmen kann, hat Mortimer sich bereits vor mir aufgebaut. Viel größer als ich ist er nicht. Aber der Blick mit den kalten, alles durchdringenden Augen gräbt sich durch jede meiner Poren, durch das Netz aus Nervenfasern in meinem ganzen Körper bis tief in meine Seele.
Sein Gesicht ist so nahe an meinem, dass ich seinen Atem auf meiner Haut spüre. Ein geräusch- und regungsloser Schauer läuft mir über den Rücken.
„Du glaubst, über Duschen und Zähneputzen nachzudenken, hilft dir, diese Situation zu überstehen?“, zischt er mir ins Gesicht, jetzt keine Spur mehr so höflich und zurückhaltend wie noch Minuten zuvor. Seltsamerweise stelle ich erst nach einigen Sekunden fest, dass er unvermittelt aufgehört hat, mich zu siezen. Offenbar hat er sich nicht einmal mehr dafür genug im Griff.
Kampf oder Flucht, Kampf oder Flucht, Kampf oder Flucht, hallt es in meinem Kopf. Jetzt habe ich wirklich Angst, und ich bin, wie bereits im Vorfeld gut erkennbar, nicht sehr leicht zu beeindrucken, wenn es um sonderbare (aber gut gekleidete) Männer geht, die mich nachts in der Kölner Innenstadt ansprechen.
Er saugt leise die Luft ein; die Härchen in meinem Nacken stellen sich auf. „Du denkst das wirklich, nicht wahr? Du denkst, dass du mir entkommen kannst. Aber nein.“ Seine Stimme ist aalglatt, ein tiefer, geschmeidiger Bariton. Noch immer scheint ihm seine massive Einschüchterungstaktik keine wesentliche Anstrengung abzuverlangen, sie erscheint mir ebenso beeindruckend wie vollkommen mühelos, die einzige wirkliche Anspannung, die ich an ihm wahrnehme, ist für einen kurzen Moment ein aggressives Zähnefletschen auf seinem Gesicht. Aber im nächsten Augenblick ist auch das wieder verschwunden. „Elise, ich bin deine Vergangenheit, deine Gegenwart und deine Zukunft. Jedes Wort, das du je gesagt hast, habe ich dir vorher beigebracht. Du atmest mich. Ich bin die einzige Person, die immer an deiner Seite bleiben wird. Und ausgerechnet mich beleidigst du? Ausgerechnet mir versuchst du dich zu entziehen, als wäre ich irgendein dahergelaufenes Schaf, dem du etwas vormachen kannst? Bist du sicher, dass du das möchtest?“
Diese Aussage ist auf so vielen Ebenen verstörend, beängstigend und irgendwie falsch. Aber ich bin nicht fähig ihm etwas entgegenzusetzen, und ein Gefühl der Hilflosigkeit, der Ohnmacht steigt in mir auf. Da ist er, denke ich, der erste Verbündete des Schmerzes.
In der Vergangenheit hat sich das Spannungsfeld zwischen meinem emotionalen Erleben und meiner Handlungsweise in Form einer Überregulation veräußerlicht: Es war gleichgültig, wie stark die Gefühle waren, die mein Inneres erfüllten, sie haben mich vermeintlich nicht dazu verleitet, mein Handeln wesentlich dadurch beeinflussen zu lassen, und durch einige recht bewährte Methoden habe ich mich ihrer dann innerhalb weniger Sekunden entledigt.
Obwohl sich meine Angst angesichts des plötzlichen Stimmungswechsels und aufgrund der grotesken Gesamtsituation nun nicht mehr ignorieren lässt, wird mein Fluchtimpuls wie üblich durch etwas gehemmt und unterdrückt, das auf den ersten Blick nach immenser Selbstdisziplin aussieht, in Wahrheit aber vielleicht nicht mehr ist als pure Überforderung.
Ich bin noch immer vollkommen stumm, aber eines Gedankens kann ich mich nicht erwehren: Der Mann ist ein Psychopath. Ich fürchte ihn, ich fürchte um mein Leben. Und dennoch, bemerke ich allmählich, fühle ich mich auf grausame, schmerzhafte Weise zu ihm hingezogen. Welche Informationen fehlen mir? Was stimmt nicht mit mir, dass ich mich nicht an ihn erinnern kann, so ein Mensch hinterlässt doch in jedem Falle Eindruck?
Jetzt erst bemerke ich, dass er seine schmalen Hände auf meine Schultern gelegt hat. Sie sind so kalt, dass ich den Temperaturunterschied durch den Stoff meiner Jeansjacke hindurch spüren kann. Ich schlucke, und unter enormer Anstrengung gelingt es mir, mich aus dem Fang seines Blickes zu lösen; ich schlage die Augen nieder. Er lässt mich los, fast ist es, als würde er mich von sich stoßen. In seiner Bewegung liegt etwas, das sich für mich wie Abscheu anfühlt.
Ich bin vollkommen absorbiert vom Nachhall seiner Worte. Du atmest mich. Was meint er damit? Wie kann ein Mensch, zu dessen Namen ich kein Gesicht habe und umgekehrt – zumindest seiner Aussage nach - so essenziell für mich sein wie Luft?
Als ich ihm wieder ins Gesicht schauen kann, ist die Aggression verschwunden. Für die Dauer eines Wimpernschlages sind seine Züge wieder weicher, wenn man denn sein Gesicht mit diesem Adjektiv überhaupt zu irgendeinem Zeitpunkt beschreiben kann.
Als müsste er einen unsichtbaren Trümmerhaufen wieder aufkehren, bevor es weitergehen kann, holt er tief Luft, strafft die Schultern und dreht mir dann den Rücken zu. „Komm, wir gehen. Dann können wir gleich die Achtzehn nach Klettenberg nehmen.“