Читать книгу Gabis Geheimnis - Madeleine Abides - Страница 4

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Gabi seufzte. Sie hatte den Kopf gegen die Scheibe des Überlandbusses gelehnt und sah träumend hinaus. In ihrem ganzen Körper fühlte sie das Vibrieren der mächtigen Scheibe und nahm es doch nur unterschwellig wahr. Der Motor gab ein sonores Brummen von sich, nur hin und wieder unterbrochen vom Schalten des Fahrers, der bei jeder Welle der alten Landstraße unter vernehmlichen Quietschen der Sitzfederung in seiner erhöhten Position auf und nieder wippte.

Felder und Wiesen, die der Bus passierte, trugen das erste Grün des Frühlings. Die Natur hatte den strengen Winter über geruht und neue Kräfte getankt. Schon bald würden die ersten Bäume ausschlagen und das Getreide würde in die Höhe schießen wie jedes Jahr. Amsel, Drossel, Fink und Star bauten Nester und sammelten Körner, um so schnell wie möglich eine neue Generation ihrer Art ins Leben zu setzen. Nur eine traurige Buchhändlerin wollte von Vögeln partout nichts wissen. Nur für sie würde in diesem Jahr endgültig alles anders sein.

Es war so lange her, dass sie ihren schicksalhaften Entschluss gefasst hatte. Manchmal konnte sie sich gar nicht mehr erinnern, dass es auch eine Zeit davor gegeben hatte. Und doch: Als sie sich damals entschlossen hatte, war es eher ein Ultimatum an sich selbst gewesen. Ein symbolischer Weckruf, geboren aus schierer Verzweiflung und vornehmlich dazu gedacht, genau das zu verhindern, was nun unausweichlich vor ihr lag.

Ins Kloster zu gehen war nie wirklich ihr Wunsch gewesen. Sondern lediglich die nackte Konsequenz daraus, dass ihr Leben bis dahin so ganz anders verlaufen war, als sie es sich erträumt gehabt hatte.

Dabei hatte sie keine übermäßig hohen Ansprüche gestellt. Selbst ihre Träume von der Zukunft waren nie handfest gewesen. Aber ein netter Mann und ein paar aufgeweckte Kinder waren wohl darin vorgekommen. Auch einige faszinierende Erlebnisse, kleine Abenteuer, die das Herz einer jungen Frau höher schlagen ließen. Vielleicht eine ausgelassene Spritztour im offenen Sportwagen über die Champs-Élysées, bei der der laue Abendwind Fangen mit ihrem schönen, offen getragenen Blondhaar spielte.

Warum war das alles eigentlich ausgeblieben?

Sie seufzte wieder und schluckte bedrückt, weil sie mit jedem Meter, den der Bus fuhr, ihrem ungeliebten Schicksal näher kam. Zum Glück fuhr er im Augenblick wenigstens nicht. Er stand am Straßenrand und brummte missmutig vor sich hin. Was denn? Der Bus fuhr nicht?

Herrje!

Beinahe hätte sie über ihren Tagträumen das Aussteigen verpasst. Hastig griff sie ihr Täschchen, presste sich damit den leichten beigefarbenen Sommermantel gegen den Leib, um nicht irgendwo an den Sitzen hängenzubleiben, und sprang entschlossen aus dem Bus. Gerade noch rechtzeitig, ehe sich dessen Türen zischend wieder schlossen.

Ein wenig atemlos stand sie dann im Freien.

Hinter ihr setzte sich der Bus in Bewegung, der Motor dröhnte laut, sein Ton wurde langsam tiefer und immer leiser, bis das Gefährt wenig später in einiger Entfernung hinter der ersten Biegung der Landstraße entschwand. Die wenigen Fahrgäste, die sonst noch ausgestiegen waren, gerieten rasch außer Sicht. Gabi Schenke indes rührte sich nicht von der Stelle, sondern betrachtete regungslos das stattliche und doch seltsam abweisend anmutende Gebäude, das vielleicht schon bald für immer ihre Heimstatt sein würde.

Sie fühlte sich unendlich verloren.

Beklommen, fast ein wenig eingeschüchtert ließ sie ihren Blick weiter empor schweifen an dem mächtigen Klosterbau, dessen Mauern die Jahrhunderte gänzlich unbeschadet überstanden hatten. Recht besehen, erstrahlten sie sogar im Glanz eines frischen sattgelben Anstrichs mit blendend weißen Putzfaschen um Türen und Fenster, und der Komplex drängte sich regelrecht auf als Glanzstück eines Fremdenverkehrsprospekts, gepriesen als touristisches Kleinod der Region.

So knapp bei Kasse, wie einem bei der Kollekte bisweilen glauben gemacht wurde, war ihre Kirche möglicherweise doch nicht.

*

Eine halbe Stunde später schritt sie neben einer Ordensschwester durch den hochgotischen Kreuzgang, der den Hof des Klosters säumte. Gabi Schenke hatte eigens diesen Tag gewählt, weil er als „Tag der offenen Klostertür“ proklamiert war, als zeitgemäßer Tag der Öffnung nach außen, den das Kloster je einmal im Frühjahr, Sommer und Herbst veranstaltete.

Wobei veranstalten schon deutlich zuviel gesagt war.

Denn veranstaltet wurde überhaupt nichts, es bestand nur eben auch für Ordensfremde die Möglichkeit, das Kloster zu besichtigen. Besser gesagt: bestimmte, sehr begrenzte Teile davon.

In ruhigem und gleichförmigem Monolog schilderte Schwester Eulalia das Leben an diesem Ort der Stille:

„Das Kloster ist völlig von der Außenwelt abgeschirmt. Eine Welt in sich. Nach draußen führt nur die Pforte, durch die Sie eingelassen wurden.“

Das Sonnenlicht ergoss sich machtvoll in den Hof innerhalb der hohen Klostermauern und trieb ein munteres Spiel mit den Spitzbögen und den schlanken Säulen, die das Rippengewölbe des Wandelgangs trugen. Kunstvoll gehauene steinerne Rosetten in vielpassigem Maßwerk unterbrachen hie und da das Gemäuer und ließen Licht auch in entlegene Winkel fluten. Der lange Gang ohne jeden entbehrlichen Pomp strahlte eine Erhabenheit aus, die man in der schnöden Welt draußen vergebens gesucht hätte.

„In der Abgeschiedenheit unseres Konvents preisen wir ohne Unterlass den Herrn, auf dessen Gnade sich jede Kandidatin vorbehaltlos einlassen muss. Nur wenn sie die Prüfung der Postulatszeit ohne Makel übersteht, wird sie anschließend für das Noviziat zugelassen.“

Gabi hätte gerne etwas gefragt, doch schien ihr das ungehörig, solange Schwester Eulalia so in ihrem salbungsvollen Vortrag aufging. Das Antlitz der frommen Schwester erstrahlte beseelt, und ihre Augen schimmerten in entrücktem Glanz, während sie in getragenem Ton fortfuhr:

„Nur den Auserwählten, die auch in der Strengheit des Noviziats ihre bedingungslose Hingabe an unseren Herrn offenbart haben, wird es gestattet, am Ende ihr feierliches Gelübde abzulegen.“

Die Schwester faltete die Hände bei diesen Worten, und als sie mit verklärtem Blick auch noch den Kopf schräg legte, schwankte ihr Kinn und mit ihm ihr Kopf sekundenlang kaum merklich von einer Seite zur anderen.

„Ich bin gelernte Bibliothekarin“, sagte die schöne Besucherin, sobald sie überzeugt war, dass Schwester Eulalia geendet hatte. „Vielleicht könnte ich später meinen Dienst in der Bibliothek verrichten.“

Missbilligend schüttelte die fromme Schwester den Kopf:

„Das Kloster ist kein Vergnügungsdampfer. Eine Novizin verdingt sich nicht für bestimmte Tätigkeiten. Mit dem Eintritt in den Orden gibt sie sich bedingungslos dafür hin, unserem Herrn ganz und gar verfügbar zu sein.“

Gabi Schenke schwieg betroffen. Sie hatte sich nicht gleich blamieren wollen und war ein wenig überrascht von der Strenge, die ihr aus den Worten der sich vorher so sanftmütig gebärdenden Schwester entgegenschlug.

„Und wann muss sich eine Novizin entscheiden?“, fragte sie vorsichtig.

„Überhaupt nicht. Es wird über sie entschieden.“

Das kam erneut brüsk, und Gabi schluckte verlegen.

So ließ sie sinnend ihren Blick in den sonnenüberfluteten Klosterhof streichen, wo gelbe und lilafarbene Stiefmütterchen ein großes, leicht nach oben gewölbtes Kreuz formten, das von einfachen faustgroßen Kieseln eingefasst war. Kristallklares Wasser plätscherte munter aus einem Brunnen an der Stirnseite des Hofes. Wundervoll, dachte Gabi Schenke hingerissen, welch unvergängliches Symbol ewiger Reinheit!

*

Während sie dahinschritt neben der Schwester, die kaum älter war als sie und doch schon zehn Jahre hinter Klostermauern lebte, fühlte sie sich seltsam entrückt. Fast war es, als hätte ihr Geist den Körper verlassen, schwebte in geziemendem Abstand neben ihr und betrachtete sie interessiert.

Das war nicht gut.

Denn neben Schwester Eulalia empfand sie plötzlich wieder diese Beklommenheit, die ihr schon so oft zu schaffen gemacht hatte. Sie hatte eigens ein besonders konservatives Ensemble für ihren Besuch in den geweihten Hallen gewählt, und bei Gabi Schenke hieß konservativ wirklich sehr, sehr konservativ. Der Saum ihres Rockes reichte mindestens eine Handbreit unter ihre Knie, die flachen Schuhe waren nicht nur ausnehmend bequem und praktisch, sondern auch ausnehmend unansehnlich. Die Bluse war frisch gestärkt und wirkte trotzdem, als wäre sie selbst in einem Third-Hand-Shop für mittellose Großmütter noch zweite Wahl gewesen. Und um auch das letzte bisschen ihrer weiblichen Formen zu kaschieren, hatte Gabi noch eine schmucklose Jacke aus blaugrünem Walkloden übergeworfen, die nicht einmal Bob, dem Baumeister, zur Ehre gereicht hätte.

Sie hatte wirklich alles getan, um in keiner Weise aufreizend zu wirken. Denn natürlich wusste sie, dass sie an dieser geweihten Stätte allem irdischen Putz abhold zu sein hatte. Was sie ja ohnehin anstrebte, nicht nur an diesem Ort, an dem sich sterblich Geborene der Nichtigkeit ihres Daseins und der Verwerflichkeit fleischlicher Gelüste bewusst werden konnten.

So gesehen, war es der richtige Ort für jemanden wie Gabi Schenke. Für eine junge Frau also, die stets entsetzliche Angst hatte, als Flittchen angesehen zu werden. Obgleich diese Gefahr angesichts ihres Lebenswandels etwa so real war wie die Idee, im verschollenen Nachlass Richard Wagners könne ein Band Noten für fetzige Rock’n’Roll-Nummern gefunden werden.

Schwester Eulalia jedenfalls war über jeden unreinen Verdacht erhaben.

Ihr Habit reichte bis zum Boden, das Haar war bis zum Ansatz über der Stirn vom Ordensschleier verhüllt. Nicht einmal die Haarfarbe war zu erkennen. Ihr Gesicht hatte etwas Wächsernes, war unglaublich glatt, doch auf seltsame Weise ohne Leben. Dabei sprach sie eifrig und mit Begeisterung über den Alltag im Kloster, über das Eingebundensein in ein hehres Ganzes, und ihre Augen leuchteten dabei. Doch es war ein eigentümliches Leuchten, das Gabi nicht ganz so machtvoll beseelte, wie sie das in der geheiligten Umgebung erwartet hätte.

Dennoch war Schwester Eulalia fürwahr eine Braut des Herrn, ihre ganze Erscheinung entbehrte auch das geringste Anzeichen von Weiblichkeit. Unter der Ordenstracht war weder eine Hüfte zu erkennen noch eine Taille, weder Beine noch Brüste. Selbst ihre Stimme klang auf eine irritierende Art weichgespült und geschlechtslos, wie die einer maskulinen Frau oder die eines femininen Mannes, und doch zugleich wie keines von beiden.

Gabi hatte erwartet, dass die weihevolle Stille der geheiligten Hallen ihre innere Unruhe besänftigen würde, doch das tat sie nicht. Stattdessen wurde sie von Minute zu Minute unsicherer. Sie fühlte sich sündig, verdorben, unfromm, meinte, der Aufnahme ins Kloster gar nicht würdig zu sein.

Bis sie an einer Ecke des Kreuzgangs auf einen Mann trafen, dessen Gewand ihn als Diener des Herrn auswies. Schwester Eulalia entbot ihm den klösterlichen Tagesgruß und stellte ihn mit schlichter Förmlichkeit vor:

„Dies ist Pater Johannes, unser Beichtvater. Er vertritt zur Zeit Pater Laurentius, den der Herr mit einer schweren Krankheit zu prüfen beliebt.“

Gabi Schenke senkte erschreckt den Blick.

Freilich nicht wegen der schweren, eventuell ansteckenden Krankheit.

Sondern sie fühlte unvermittelt das Pochen ihres heißen Herzens, und sie musste sich keinen Moment lang fragen, warum. Der Pater hatte rostblondes, leicht vom Winde verwehtes Haar mit ein paar aufmüpfigen Haarschnecken darin, und er war garantiert noch nicht einmal dreißig Jahre alt. Gabi Schenke kannte das Mindestalter für die Priesterweihe nicht, doch sie wäre nicht überrascht gewesen, hätte der Pater eine Sondergenehmigung dafür benötigt. Er wirkte auffallend verhalten und schien Mühe zu haben, dem hübschen Gast des Konvents in die Augen zu sehen.

Als sie flüchtig seine Hand berührte und wahrnehmen konnte, dass diese schmale, feingliedrige Hand fast unmerklich zitterte, schoss Gabi das Blut in den Kopf. Sie stammelte eine Begrüßung und registrierte verblüfft, dass dem Pater beim Versuch einer Erwiderung sogar die Stimme versagte.

Ungläubig nahm sie wahr, dass ihre Brustwarzen sich völlig unangemessen aufrichteten. Sie senkte erneut den Blick, versuchte angestrengt, ihre Verwirrung zu überspielen, und war schließlich froh, dass Schwester Eulalia den Pater ohne weiteren Wortwechsel seiner weihevollen Wege gehen ließ.

Erst als der junge Pater außer Hörweite war, fragte sie mitfühlend:

„Welche schwere Krankheit hat denn Pater Laurentius?“

Der Habit neben ihr ging stocksteif weiter, wandte den Kopf keinen Millimeter und sah starr geradeaus. Schon glaubte Gabi, die fromme Schwester hätte ihre Frage überhört. Doch dann zog diese einen Mundwinkel nach unten und zischte zwischen zusammengepressten Zähnen hervor:

„Er säuft.“

Gabi Schenke schwieg betroffen. Die Antwort war ihr zu weltlich. Ganz entschieden zu weltlich.

Schwester Eulalias halbgefrorenes Lächeln jedoch war noch immer der Inbegriff vollendeten Gleichmuts.

*

„Wann werde ich denn die Domina sehen?“, fragte Gabi Schenke nach einer Weile bedrückenden Schweigens zaghaft.

„Überhaupt nicht.“

„Führen Sie mich denn nicht zu ihr?“

„Nein, ich bringe Sie in Ihre Zelle.“

„Aber ich wollte …“

„Was Sie wollen, ist hier nicht wichtig. Im Reich unseres Herrn haben Sie sich unterzuordnen.“

„Ich möchte doch nur …“

„Die Regeln in diesem Haus sind streng, und ihre Einhaltung wird unerbittlich durchgesetzt. Besser, Sie unterwerfen sich ihnen freiwillig.“

Sie waren in einem Seitengang angekommen, der vom Boden bis zur Spitzbogendecke schneeweiß gekalkt war. Nur die Strebebögen waren farblich abgesetzt, ließen die ursprüngliche Beschaffenheit des verwendeten Steins erkennen. Zu einer Seite öffneten einzelne schmale, hohe Fenster den Blick nach draußen, zur anderen reihte sich etwa ein Dutzend niedrige Türen aus nur grob bearbeitetem, massivem Holz aneinander.

„Das ist der Trakt der Kandidatinnen“, erläuterte die Schwester knapp. „Hinter jeder dieser Türen befindet sich eine Zelle.“

Gabi schluckte. Sie fühlte sich seltsam berührt. Warum eigentlich?

„Diese hier hat schon auf Sie gewartet“, erklärte Schwester Eulalia.

Gabi sah sie groß an. Sie wollte antworten, doch ihr Inneres kämpfte gerade mit so widerstrebenden Gefühlen, dass sie nur den Wunsch hatte, sich momentan mit nichts und niemandem auseinandersetzen zu müssen. So war es ihr gar nicht unrecht, als Schwester Eulalia sie mit einer nachdrücklichen Geste ihrer offenen Hand aufforderte, den kleinen Raum zu betreten.

Die Einrichtung der Zelle kärglich zu nennen, hätte einen Möbelverkäufer wegen unlauterer Beschönigung vor den Kadi gebracht. Schon beim Eintreten musste die schöne Buchhändlerin demütig ihr Haupt beugen, um sich wenigstens nicht den Kopf am Querbalken des Türrahmens zu stoßen. Was sie dahinter erwartete, war kaum mehr als der Kalk an den Wänden.

In dem winzigen Raum gab es eine schmale Pritsche mit grobem Stoffbezug, ein hölzernes Tischchen und in einer der beiden hinteren Ecken einen minimalistischen Betstuhl. Dazu an den Wänden ein winziges Waschbecken, zwei Regalbretter sowie je einen Haken für Kleidung und einen für das Handtuch, das bereits neben dem Waschbecken bereithing.

„Ich lasse Sie jetzt allein“, sagte Schwester Eulalia auf Gabis fragenden Blick hin. „Legen Sie ab, und sehen Sie sich um! Wenn Sie innere Einkehr halten wollen, um Ihre Sünden zu bereuen, so wäre dies die Stunde dafür.“

Damit wandte sie sich um und ging hinaus. Kaum hatte sich die Tür geschlossen, war von draußen das Vorschieben eines Riegels zu vernehmen. Die schöne Buchhändlerin fühlte einen Schauder über ihren Rücken laufen.

War sie tatsächlich eingesperrt?

Das konnte doch nicht sein.

Sie wollte kein Aufsehen erregen und wartete eine Weile unschlüssig ab. Dann erst versuchte sie halbherzig, die Tür zu öffnen. Und musste feststellen, dass es da zumindest für sie nichts zu öffnen gab.

Das hatte sie nicht erwartet.

Zu ihrer Verblüffung löste das Eingesperrtsein heftige Empfindungen in ihr aus. Es war keine Platzangst, eigentlich gar keine Angst, eher eine sonderbare Erregung, verbunden mit einer frivolen Neugier auf das Ungewisse.

Sie wusste nicht recht, was sie davon halten sollte, und widmete sich zunächst lieber der Inspektion des Raumes, in dem eine beklemmende Stille lag. Allerdings klang es jetzt wie Hohn in ihren Ohren, als sie an Schwester Eulalias Aufforderung dachte, sich umzusehen. Einmal umsehen in dem ganzen Raum beanspruchte in etwa die Zeitspanne eines Wimpernschlags, und so ließ sie sich schon bald etwas ratlos auf die schmale Pritsche nieder.

Da es nicht viel gab, was sie hätte ablenken können, kam ihr die Aufforderung abzulegen wieder in den Sinn. Ohne dass sie groß darüber nachgedacht hätte, spürte sie in sich einen seltsamen Drang, ihr Folge zu leisten. Gedankenverloren verharrte sie eine Weile, dann begann sie wie von selbst, im Sitzen die Lodenjacke abzustreifen, die sie über der Bluse trug.

Der Erfolg war eher fragwürdig.

Schon das Entkleiden war nicht eben geeignet, sie zur Ruhe kommen zu lassen. Noch schlimmer wurde es aber, als sie am Ende auch noch die Arme nach hinten nehmen musste, um die Ärmel herunterzuziehen. Sie tat das sehr bedächtig, und dabei nahm sie schließlich eine Haltung ein, in der sie ungewollt ihre Brüste ausnehmend prominent nach vorne reckte.

Beim Entkleiden hatte sie sich zuvor wohl tausendmal auf diese Weise in Positur geworfen, aber nie war es ihr auch nur aufgefallen.

Jetzt aber schien es ihr angesichts der andachtsvollen Stille der geweihten Räume ein unerhörter, respektloser Affront. Ihr fraulicher Busen war eben ein Hingucker, gerade wenn die Spitzen vor leichtem Frösteln steif waren und er in einer solchen Pose zur Schau gestellt wurde. Schwester Eulalias Front war platt gewesen, das hatte sie bereits bei der Begrüßung bemerkt.

Schon da hätte sie die fromme Schwester gerne gefragt, ob sie als Nonne wirklich jenen einebnenden Brustpanzer tragen musste, von dem sie gelesen hatte. Zweimal hatte sie angesetzt. Doch beide Male hatte sie sich auf die Zunge gebissen, weil sie nicht den Eindruck erwecken wollte, dass das für sie irgendeine Bedeutung hatte. Außerdem hatte sie feststellen müssen, dass schon der Gedanke an die ungebührlich intime Frage sie erregte.

Je mehr sie jetzt noch darüber nachdachte, desto unruhiger wurde sie. Gedankenverloren strich sie beiderseits mit spitzen Fingern über ihre Brüste, gerade so, als wollte sie sie nur glattstreichen. Sogleich musste sie feststellen, dass das keine gute Idee gewesen war.

Denn ihre sensiblen Brüste reagierten sofort. Sie sandten wieder dieses alarmierende Prickeln aus, das der unschuldigen Buchhändlerin nicht zum ersten Mal enorm zu schaffen machte. Dabei hatte sie diesmal eigens ihre Fingerkuppen von den Vorhöfen ferngehalten.

Freilich musste es tief in ihrem Inneren eine Direktverbindung zwischen den Brüsten und jener delikaten Region geben, in der sich ihre herrlichen Schenkel vereinigten. Denn ohne dass es auch nur den Hauch einer Berührung gegeben hätte, fühlte sie da unten plötzlich ein Kribbeln, das der frommen Stätte ganz und gar unangemessen war. Sie versuchte, dagegen anzugehen, doch es wurde bloß noch schlimmer.

Abrupt erhob sie sich schließlich und wandte sich zur Tür, wobei sie sich schon im Aufstehen beinahe ihr Haupt an der niedrigen Decke gestoßen hätte. Verzagt drückte sie nochmals gegen die Tür, wohl wissend, dass das aussichtslos war. Noch einmal und noch einmal versuchte sie, die Türe zu bewegen, musste aber bald einsehen, dass sie tatsächlich eingesperrt war. Plötzlich hörte sie sich keuchen, und das nächste, was sie wahrnahm, war ein heftiges Pochen ihres Herzens, während jedes verfügbare bisschen Blut fühlbar heiß und pulsierend in den unteren Bereich ihres Beckens schoss.

Verzweiflung bemächtigte sich der hilflosen Buchhändlerin.

Sie mochte nicht glauben, dass sie selbst an dieser geweihten Stätte nicht vor den Anfechtungen des Versuchers gefeit war. Wie ein gefangenes Tier tigerte sie von der Tür zur Pritsche, von der Pritsche zur Tür, zur Pritsche, zur Tür – es waren ja kaum drei Schritte. Verzweifelt sah sie auf zu dem kleinen Fenster knapp unter der Decke, durch welches nur wenig Tageslicht fiel. Just dort hatte die gewölbte Decke ihren höchsten Punkt, so dass sie selbst auf Zehenspitzen nicht nach draußen sehen konnte.

Das Gefühl, eine Gefangene zu sein, bemächtigte sich ihrer immer stärker. Die schweren Türbeschläge würden jeder Attacke standhalten. Und es gab niemanden, den sie zu Hilfe rufen konnte. Ob sie wollte oder nicht: Sie musste bleiben, wo sie war. Sie war mit Haut und Haaren ausgeliefert.

Zwar konnte sie sich nicht vorstellen, dass ihr an einem Ort wie diesem Harm widerfahren würde, jedoch bewegte sie das Wissen um ihre Hilflosigkeit auf eine ausgesprochen frivole Weise. Hätte es ihr einfach nur Angst gemacht, so wäre es nicht weiter schlimm gewesen. Doch Angst war eben nicht ganz das, was Gabi Schenke empfand.

Konnte es wirklich sein, dass es sie – feucht machte?

Nur gut, dass sie sich an einem frommen Ort befand, an dem Tugend und Ehrbarkeit einer wehrlosen Besucherin sicher waren!

Gerade, als sie das dachte, hörte sie draußen ein seltsames Geräusch.

Hatte etwa ein Unhold den Tag der offenen Klostertür missbraucht, um sich Zugang zu verschaffen? Es gab so viele Verrückte in der Welt, und die meisten waren entweder Politiker oder hatten es auf wehrlose Frauenleiber abgesehen, mit denen sie anstellen konnten, was ihnen gefiel. Oder beides.

Gabi erbebte, als ihr die Gefahr bewusst wurde. Was sollte sie tun, wenn da wirklich ein Mann mit schändlichen Absichten war? Sie konnte weder fliehen, noch sich bemerkbar machen. Sie konnte nur hilflos warten.

Für einen Eindringling hingegen war es leicht. Ihre Zelle war von außen gewiss mühelos zu öffnen. Nur sie selbst war eine Gefangene dieses banalen Riegels und musste hilflos darauf harren, von dieser zermürbenden Furcht und ihren eigenen unziemlichen Gedanken erlöst zu werden.

Ihr Blick fiel auf den Betstuhl in der Ecke, der aus kaum mehr als einem groben Holzrahmen mit einem unbehauenen Kniebrett bestand. Zu gerne hätte sie dort um himmlischen Beistand gefleht, doch sie fürchtete das geweihte Stück zu besudeln, solange ihre Gedanken nicht von jener Reinheit waren, die an einem solchen Ort Pflicht waren.

Also musste sie wohl weiter allein gegen ihre Dämonen kämpfen.

Wie konnte es denn nur sein, dass das Eingesperrtsein ihren Schoß auf diese lasterhafte Weise in Flammen versetzte? Hätte es nicht umgekehrt so sein müssen, dass dieser Ort weltferner Stille ihr heißes Herz endlich zur Ruhe hätte kommen lassen müssen?

Sie hätte gerne gewusst, ob die benachbarten Zellen gerade Kandidatinnen beherbergten, oder ob sie in diesem Teil des Traktes allein war. Natürlich war sie sicher, dass keine der anderen Frauen – wenn denn da noch welche eingeschlossen waren – einen ähnlichen Kampf zu bestehen hatte wie sie. Aber es hätte ihr gut getan, in ihrer Not wenigstens nicht allein zu sein, und wenn es bloß war, weil andere, mit denen sie sich gleich fühlen konnte, nur durch massive Klostermauern getrennt in ihrer Nähe waren.

*

Als draußen endlich Schritte ertönten und es an der Tür rappelte, war Gabi Schenke ein Nervenbündel. Sie wusste nicht, wie lange sie in der Zelle gefangen gewesen war. Doch sie wusste, dass sie praktisch jede Minute ihrer unfreiwilligen Gefangenschaft gegen die Sehnsucht angekämpft hatte, diese eine Stelle unter ihrem sittsam tiefreichenden Rock zu berühren, die für den Augenblick alle Versuchung der Welt in sich zu vereinigen schien.

Irgendwann hatte sie sich nahe daran geglaubt, sich sogar an diesem geheiligten Ort zu beflecken. Und hatte nur einen Ausweg gesehen. Sie hatte sich in die Ecke unter dem Oberlicht gestellt – jene, in der kein Betstuhl stand –, und hatte beschlossen, mit dem Gesicht zur Ecke auszuharren. Die Arme hatte sie nach hinten genommen und die Handgelenke über ihrem Po gekreuzt. Es war ein braver Versuch gewesen, aber auch ein zum Scheitern verurteilter. Denn schon bald hatte sie wieder dieses Prickeln in ihrem Schoß gefühlt, und auch die Warzenhöfe hatten mit einem kribbelnden Vorgefühl angekündigt, dass da gleich etwas steif werden würde.

Und dann war ihr auch noch Pater Johannes eingefallen. Kaum zu glauben, dass er noch schüchterner war als sie. Dass er noch schlechter als sie mit der Anziehungskraft zwischen Mann und Frau umzugehen verstand.

Sie hatte nicht die geringste Vorstellung davon, welche Seelenpein die Anfechtungen des Versuchers einem Mann bereiten mochten, der ewige Keuschheit gelobt hatte. Doch es konnte gewiss nicht halb so qualvoll sein, wie es für eine junge Frau war, deren Herz sich nach dem unbekannten Geliebten verzehrte und deren anerzogene Sittsamkeit sie doch ein ums andere Mal mahnte, dass sie den niederen Trieben des Fleisches nicht gestatten durfte, von ihr Besitz zu ergreifen.

Es war mehr als seltsam: Seit Gabi Schenke vierzehn gewesen war, hatte sie vorgehabt, ins Kloster zu gehen, falls sie den einen bis zu ihrem siebenundzwanzigsten Geburtstag nicht finden würde. Sie hatte nie Zweifel daran gehabt, dass sie den Schritt in die ewige Unberührbarkeit auch tun würde.

Und nun, da es so weit war, fragte sie sich ernstlich, ob sie dieses großen Schrittes überhaupt würdig war. Ob sie es jemals sein konnte.

Es verwirrte sie schrecklich, dass ausgerechnet ein Mann wie der junge Pater mit dem verwegenen Haarschopf sie vom rechten Weg abzubringen vermochte. Ein Mann, dem es seinerseits niemals gestattet sein würde, Hand an eine Frau zu legen. Erst recht nicht – oh nein! – etwas ganz anderes, vielleicht Längliches, Hartes, in dem ungestüm heißes Blut pulsierte.

War es vielleicht ihre Schuld, dass sich ihre Brustwarzen beim Anblick seiner leuchtend blauen Augen aufgerichtet hatten?

Oder war der Vorfall ein gänzlich unerwarteter Wink des Himmels?

Oh, hätte sie doch nur sicher sein können, die rätselhafte Sprache der Vorsehung richtig zu verstehen!

Sie wollte ja aufrichtig das Richtige tun. Das, was die Vorsehung für sie vorgesehen hatte. Denn das war es doch wohl, wofür die Vorsehung von der Vorsehung vorgesehen war.

Aber davon mal abgesehen: Das mit den Brustwarzen war unglaublich aufregend gewesen. Schon weil es so überraschend gekommen war. Sie war sicher, dass der junge Pater nichts bemerkt hatte. Trotzdem hatte sie aus den Augenwinkeln einen Blick aufgefangen, der ganz und gar nicht so keusch gewesen war, wie es sein Gelübde von ihm verlangte.

Ob es ihr wohl verboten war, diesen speziellen Kitzel zu empfinden, wenn sie daran dachte, was ihr Anblick in ihm ausgelöst hatte?

Vermutlich.

Doch sie war nicht sicher.

Dann aber stellte sie sich vor, ihn später zum Beichtvater zu haben. Der Gedanke erschreckte sie. Und war zugleich irgendwie verlockend.

Solange sie sich nicht eingelebt hatte im Kloster, würden die Versuchungen des Fleisches sie gewiss noch eine Weile verfolgen. Sie konnte sich nicht recht vorstellen, dass die leidenschaftlichen Träume von einem Tag auf den anderen aufhören würden, nur weil sie samt ihrem sündigen Körper dem sicheren Gewahrsam der Klostermauern anvertraut sein würde.

Oh, wie schlimm musste es um sie stehen, wenn selbst in dieser Zelle eine Hand die andere festhalten musste, damit keine von beiden den Griff in die unaussprechliche Zone jenseits ihres vibrierenden Beckens wagen konnte! Der Versucher war wohl noch mächtiger, als sie bislang geglaubt hatte.

Und ihre Handschellen waren so fern! Sie, die sie so oft gerettet hatten, wenn sie die Wollust des Fleisches nur durch die Stärke ihres Geistes – und eben durch die Härte der gnadenlosen Stahlringe – im Zaum gehalten hatte.

Ja, sie hatte gekämpft um ihre Reinheit, auch diesmal, und sie hatte nicht aufgegeben. Und doch war sie fast sicher, dass es an diesem Tag nur eine Frage der Zeit gewesen wäre, bis sie der Versuchung erlegen wäre.

Bei aller Stärke war etwas in Gabi Schenke schwach. Sogar so schwach, dass sie sich von Herzen danach sehnte, auch einmal wirklich schwach sein zu dürfen. Sich hingeben zu dürfen an das eigene Verlangen, an diese brennende Sehnsucht in ihrem Herzen und in ihrem Schoß, die – hätte sie nur ein einziges Mal die Freuden der Liebe zwischen Mann und Frau erfahren dürfen – vielleicht ganz von selbst restlos verschwunden wäre.

Vielleicht aber auch nicht.

*

Schwester Eulalia schien zu ahnen, dass Gabi nicht ganz anwesend war. Prüfend sah sie der Besucherin ins Gesicht, sprach aber kein Wort.

Sobald sie sich beide zum Gehen wandten, stieß die schöne Buchhändlerin ihrerseits ohne nachzudenken das erste hervor, das ihr in den Sinn kam:

„Bringen Sie mich jetzt zur Domina?“

Schwester Eulalia schüttelte den Kopf:

„Haben Sie das nicht verstanden? Wir haben hier keine Domina.“

„Nicht?“, entgegnete Gabi irritiert.

„Nein. Wir sind kein reicher Orden. Auch kein Stift. Wir nennen unsere Oberin nicht Domina. Bei uns heißt die Äbtissin einfach Priorin.“

„Oh“, erwiderte Gabi überrascht. „Das wusste ich nicht.“

Du hättest es aber wissen müssen, dumme Kuh!, schalt sie sich im Stillen. Es gab unzählige Bücher, in denen so etwas nachzulesen war, und sie wäre die erste gewesen, die das hätte wissen müssen. Allerdings hatte sie die Möglichkeit, eines Tages wirklich ins Kloster gehen zu müssen, immer so vehement verdrängt, dass sie sich ganz gegen ihre Natur überhaupt nicht auf all die Kleinigkeiten vorbereitet hatte, die dabei von Belang waren.

„Warum haben Sie denn die Tür abgesperrt?“

„Um Ihnen Gelegenheit zur Kontemplation zu geben.“

„Aber warum abgesperrt?“

„Damit Sie die Zelle nicht verlassen konnten.“

„Aber warum?“

„Ordensfremden ist es untersagt, sich im Kloster frei zu bewegen.“

„Und wenn ich auf die Toilette gemusst hätte?“

„Haben Sie den Nachttopf nicht gesehen?“

„Aber ich bin eine erwachsene Frau.“

„Demut vor dem Herrn ist die oberste Pflicht der Kandidatin.“

Gabi schwieg. Schon wieder hatte sie den Eindruck, neben der Schwester in ihrer strengen Tracht ihre Weiblichkeit zu sehr in den Vordergrund gespielt zu haben. Aber was sollte sie denn tun gegen dieses Gefühl der Scham, das wie kaum etwas anderes ihr Denken und Fühlen beherrschte?

„Ich hätte mich sehr geschämt“, sagte sie schließlich, eher zu sich selbst.

Schwester Eulalia sah sich dennoch bemüßigt, ihr zu antworten:

„Eitelkeit ist Unbotmäßigkeit im Angesicht des Herrn.“

Das kam tadelnd, wenn nicht sogar herablassend, und zum zweiten Mal an diesem Tag hatte Gabi das Gefühl, in ihrer Gewissenspein auch noch ungerecht behandelt zu werden. Freilich blieb ihr keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Schwester Eulalia klopfte gegen die Tür am Ende des Ganges und nickte Gabi vielsagend zu:

„Versuchen Sie, einen guten Eindruck zu machen! Die Priorin ist sehr streng. Aber sie will nur Ihr Bestes.“

*

Tatsächlich wollte die Priorin alles ganz genau wissen:

„Weshalb ersuchst du um Aufnahme in unsere Gemeinschaft, meine Tochter?“

„Ich möchte unserem Herrn dienen.“

„Das kannst du außerhalb unseres Konvents ebenso tun. In Worten und auch in Taten.“

„Schon. Aber …“

„Aber was?“

„Es ist wegen …“

Gabi Schenke hob zögernd den Blick, senkte ihn aber sofort wieder. Ihr war, als könnte die Priorin tief in ihr Innerstes sehen.

Sie mochte um die fünfzig sein. Plusminus fünfzehn Jahre, genauere Angabe unmöglich. Wie Schwester Eulalia hatte sie keine Haarfarbe, jedenfalls keine, die zu erkennen gewesen wäre, und auch ihr Gesicht wirkte wächsern und faltenlos, fast so, als hätte jemand alle Spuren wegradiert, die das Leben darin hinterlassen haben mochte. Anders als Schwester Eulalia freilich strahlte die Priorin Führungsqualität aus: Sie wirkte hart und rigide, sprach knapp und akzentuiert, und jede ihre Bewegungen hatte etwas vom Gestus eines Feldherrn, der mit einer einzigen Armbewegung Abertausende ins Schlachtgetümmel und höchstwahrscheinlich sogar in den Tod schickt.

Zu gerne hätte Gabi mit der Priorin zunächst ein paar unverfängliche Worte gewechselt, um ein wenig Vertrauen fassen zu können. Sie wollte nicht gleich mit der Tür ins Kloster fallen. Musste sie wirklich jetzt schon gestehen, was sie tatsächlich an diesen Ort der Zuflucht getrieben hatte?

Doch die Priorin ließ sie erst gar nicht mehr vom Haken:

„Wenn du dem Herrn wahrhaft dienen willst, so ist es deine Pflicht, ihm deine Seele voll und ganz zu öffnen.“

Gabi mochte das wohl glauben, doch es erschien ihr unendlich schwer, ihr schlüpfriges Geheimnis einer Fremden zu offenbaren. Andererseits: Die Priorin war eine Frau. Natürlich nicht im eigentlichen Sinn. Sondern ein erhabenes Lebewesen ohne Geschlecht, eine Braut des Herrn. Erst nach langem Zögern stieß die beschämte Buchhändlerin stockend hervor:

„Ich muss … sehr oft … an Unzucht denken.“

„Wie oft.“

„Fast jede Nacht.“

„Nur in der Nacht?“

„Manchmal auch am Tag.“

Der Blick der Priorin war eisig streng. Sie sprach kein Wort.

Schließlich senkte Gabi Schenke den Blick und korrigierte sich:

„Oft.“

Verstohlen lugte sie zu der Priorin auf, um zu sehen, ob sie sich damit genug entblößt hatte. Und fing einen Blick auf, der so erbarmungslos strafend war, dass sie innerlich erbebte.

„Fast immer“, hauchte sie dann in äußerster Beschämung, „ich glaube, es ist wie eine Sucht.“

„Was tust du dann?“

„Ich verstehe nicht, ehrwürdige Mutter …“

„Du verstehst sehr gut.“

„Aber ich …“

„Unaufrichtigkeit gegenüber dem Orden ist Unaufrichtigkeit gegenüber dem Herrn!“

„Oh, bitte! Ich kann es nicht aussprechen! Nicht hier! Nicht vor Ihnen!“

„So ist es dir nicht ernst mit deiner Hingabe an den Herrn!“

„Doch, bestimmt, ehrwürdige Mutter!“

„Mir will scheinen, du bist eine leichtlebige Person und suchst den leichtesten Weg zur Vergebung deiner Sünden. Doch die Wege des Herrn sind niemals leicht.“

„Nein, ehrwürdige Mutter!“

„Dieser Konvent ist keine Besserungsanstalt für gefallene Mädchen. Er ist ein geweihter Ort, an dem wir unserem barmherzigen Herrn dienen in Ehrfurcht und Sittsamkeit.“

„Ja, natürlich …“

Devot senkte Gabi den Blick, um die Priorin nicht weiter gegen sich aufzubringen. Die aber sagte dennoch tadelnd:

„Dir fehlt der Wille, dich unterzuordnen.“

„Aber Sie kennen mich doch gar nicht“, erwiderte Gabi in kläglichem Tonfall, der halb Verzweiflung, halb zaghaftes Aufbegehren ausdrückte.

„Ich sehe in deinen Augen, dass du lasterhaft bist.“

Nun schwieg die schöne Buchhändlerin verstört, während in ihr jäh das Kartenhaus ihrer liebevoll ausgedachten Zukunft in sich zusammenfiel. Sie mochte schon gar nichts mehr erwidern und ließ die letzten Worte der Priorin wie den Schuldspruch eines Strafrichters über sich ergehen:

„Du wirst in dich gehen müssen und die Reinheit deines Herzens prüfen, ehe du daran denken darfst, um Aufnahme in unsere geheiligte Gemeinschaft zu bitten.“

*

Gabi Schenke fühlte sich wie eine Geächtete, als sie danach fast fluchtartig erst die Priorin, dann das Kloster verließ. Das war alles nicht gerecht!

Dabei hatte es so gut angefangen.

Die Stille im Kloster hatte ihre Erwartungen sogar übertroffen. Zwar hätte sie nicht von Grabesstille gesprochen, denn kein Außenstehender konnte erahnen, um wie viel fideler das Leben im Kloster war, verglichen mit jeder noch so lebhaften Gruft. Gabi jedenfalls fand die Stille vor allem beruhigend, ja himmlisch, so dass sie sich wundervoll befreit gefühlt hatte von allem irdischen Drängen und Gehetztwerden. Wäre es nur nach ihr gegangen, so hätte sie wohl unverzüglich ihre Aufnahme in den Konvent vorangetrieben. Doch so einfach war die Sache nun nicht mehr.

Die schöne Buchhändlerin war sehr durcheinander.

Ihr ganzes Leben war auf einmal durcheinander. Die beruhigende Gewissheit, mit der sie den Eintritt ins Kloster geplant hatte, war wie weggeblasen. Sogar die somnambule Sicherheit, selbstredend das Richtige zu tun.

Wie war es nur möglich, dass Zorn und Missgunst an einen solchen Ort fanden? Musste das Leben hinter Klostermauern nicht friedfertig und voll der Nächstenliebe verlaufen?

Fahrig rückte sie ihre Brille zurecht, doch das änderte nichts. Die Welt blieb aus den Fugen, alles blieb öde und grau, in ihr und um sie herum.

Sie war schon fast wieder an der Bushaltestelle, als sie bemerkte, dass sie ihren Mantel an der Pforte vergessen hatte. Kurz erwog sie, ihn einfach dort hängen zu lassen, da sie ja ohnehin schon bald zurückkehren würde. Für den Rest ihres Lebens.

Dann aber kehrte sie auf dem Absatz um, weil sie plötzlich begriffen hatte, dass es dazu mit Sicherheit nicht kommen würde.

Gabis Geheimnis

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