Читать книгу Gabis Geheimnis - Madeleine Abides - Страница 5

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Ein Paket mit dem Logo eines weniger namhaften Verlages blockierte die Ladentür, als Gabi am Morgen die Buchhandlung aufsperrte. Das war zwar unzulässig, doch einige der Fahrer nahmen es mit der Zustellung nicht so genau. Der Gedanke, ein Krimineller könne ausgerechnet Bücher stehlen wollen, war für den einen oder anderen offenbar geradezu absurd.

Falls überhaupt jemand für die Annahme unterschrieben hatte, so konnte es jedenfalls niemand vom Laden gewesen sein. Lisa und Sonja waren noch nicht da, und Yvette, die obercoole Azubiene, hatte an diesem Tag Berufsschule. Tom, der freundliche Helfer vom Studentenwerk, kam überhaupt erst nachmittags für ein, zwei Stunden, um die größeren Kartons aus den Lieferungen herumzuwuchten und ihren Inhalt auf den Sortierwagen bereitzulegen, mit denen die Bücher in die Regale geschafft wurden.

Herr Perchamer war noch nicht zu sehen. Als Inhaber hatte er eine Unmenge an lästigen Verpflichtungen und gerade morgens immer immens wichtige Termine außerhalb. Sagte er jedenfalls. Sicher war, dass er in der Regel frühestens eine halbe Stunde nach Ladenöffnung erschien.

Gabi Schenke war das nicht unrecht. Sie übernahm gerne Verantwortung, und da sie ihre Arbeit beflissen und sorgfältig verrichtete, hatte sie von daher wenig zu befürchten.

Außerdem konnte sie so die ersten Minuten des Arbeitstages völlig ungestört genießen. Diese wenigen verzauberten Minuten waren ihr die liebsten. Wenn sie morgens den Laden betrat, lag eine vollkommene Ruhe über allem. Die Luft war noch klar und rein. Der einzige Geruch, den eine feine Nase wahrnehmen konnte, war der von Büchern. Und dieser betörende Geruch von Büchern, von großen Mengen davon in langen Reihen und hohen Regalen, war so etwas wie Gabi Schenkes Lebenselixier.

Sie liebte diesen Duft der frischen Druckfarbe, der ihr beim Auspacken eines nagelneuen Exemplars entgegenschlug, speziell wenn es die Druckerei erst Tage zuvor verlassen hatte. Sie liebte aber auch den schweren Geruch alter Folianten, wie sie fast nur in Bibliotheken zu finden waren. Selbst die ganz eigene, etwas herbe Note der alten oder gebrauchten Bücher aus dem Antiquariat löste ein wohlig anheimelndes Gefühl in ihr aus.

Wie meist, durchquerte sie als erstes ihr kleines Reich auf voller Länge. Alles war an seinem Platz, nur hie und da gab es an einem weniger akkurat ausgerichteten Bücherstapel beiläufig etwas geradezurücken. Dann freilich fand sie sich außerplanmäßig vor dem Regal mit dem Buchstaben B wieder.

B wie Plan B.

Doch sie kannte das Sortiment. Wusste, dass „Perchamers Buchcontor“ keinen Titel über Plan B führte. Es wäre ja auch zu schön gewesen.

Denn die Rückfahrt vom Kloster war trist verlaufen. Sehr trist sogar.

Der Fehlschlag hatte nicht weniger als ihren gesamten Lebensplan durcheinandergebracht. Obwohl der ohnehin nur drei Punkte umfasst hatte:

1 Ausschau halten nach Schimmel an Parkuhr

2 Zugehörigen Prinzen zum Gemahl nehmen

3 Bei Ausbleiben des Schimmels Eintritt ins Kloster

Davon drohten nun die Punkte 1, 2 und 3 unerfüllt oder unerfüllbar zu bleiben. Stichtag und damit der entscheidende Tag sollte ihr nächster Geburtstag sein. Falls sie sich an das hielt, was sie sich vorgenommen hatte.

Und Gabi Schenke tat immer, was sie sich einmal vorgenommen hatte.

*

Aber was sollte sie denn nun tun, wenn weder Prinz noch Kloster sie haben wollten? Es waren nur noch eine handvoll Tage bis zu ihrem Geburtstag, und die Wahrscheinlichkeit, dass sich bis dahin alles zum Guten wenden würde, war rein theoretischer Natur.

Als nacheinander Sonja und Lisa eintrafen, versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen. Beide waren für die frühe Stunde erstaunlich gut drauf: Sonja hatte einen neuen Freund und Lisa wie jeden Morgen einen extra proteinreichen vegetarischen Hotdog in der Hand. Im direkten Vergleich sah Sonja noch etwas glücklicher aus. Zu dritt waren sie ein unschlagbares Team, und diese Gewissheit zu haben, wog nicht nur für Gabi vieles auf.

Manches wäre vielleicht einfacher gewesen, hätten sie auch Gabis ganz persönliches Problem gemeinsam angehen können. Doch sie scheute sich, auch nur mit einer von beiden darüber zu sprechen. Sie wollte nicht, dass überhaupt jemand ihr Geheimnis erfuhr, und sie wollte es von Tag zu Tag weniger. Wenn sie schon im Begriff war, eine alte Jungfer zu werden, obwohl sie zugleich die Lust ihres Leibes selbst mit rigorosen Methoden kaum noch zu zügeln vermochte, dann sollte es wenigstens niemand erfahren.

*

„Fräulein Gabi! Zu mir!“, bellte es aus der Gegensprechanlage an der Verkaufstheke, kurz nachdem der Chef grußlos an ihnen vorbeigerauscht und in seinem Büro verschwunden war. Die drei konsternierten Mitarbeiterinnen hatten ihm nur kopfschüttelnd nachgesehen.

Es war typisch Korbinian Perchamer, die Gegensprechanlage zum Herbeizitieren seiner Untergebenen zu benutzen, obwohl er sie eben noch einfach hätte ansprechen können.

Er war ein massig gebauter Mann jenseits der fünfzig, der eine eigentümliche Mischung aus grobschlächtigem Bauerntribun und künstlerisch angehauchtem Großstadtintellektuellen verkörperte. Seine buschigen Augenbrauen, die klobigen Hände und die grollende, stets etwas vorwurfsvoll klingende Stimme hätten gut an den Stammtisch eines alpinen Hinterwäldlerdorfes gepasst. Seine manikürten Fingernägel hingegen, seine Vorliebe für penibel geknotete bunte Halstücher und seine trachtenlastig-elitäre Art sich zu kleiden wiesen ihn aus als selbstgefälligen Großkotz, der das Standardprogramm für Ausbildung und Karriere des Sprösslings einer wohlhabenden Familiendynastie durchlaufen hatte.

„Die juristische Fachliteratur muss neu dekoriert werden“, raunzte Herr Perchamer, noch ehe Gabi Schenke die Tür zu seinem Büro hinter sich geschlossen hatte. „Das ist alles total überholt.“

„Im Schaufenster? Da haben wir doch das Grundgesetz dekoriert.“

„Alles raus, alles raus!“, beharrte der Chef unwirsch. „Nach dem Grundgesetz kräht kein Hahn mehr.“

„Aber es ist unser höchstes Recht.“

„Auf dem Papier, Kindchen! Auf dem Papier! Sie haben ja überhaupt keine Ahnung.“

Fräulein Gabi fand das nicht gerade. Sie mochte zwar kein abgebrochenes Jurastudium vorweisen können wie ihr Chef, doch den Kampf um die Verfassung ihres Landes mochte sie wenigstens nicht kampflos verlorengeben:

„Ist es nicht das Herzstück unserer Rechtsordnung?“

„Schnee von gestern, hören Sie doch damit auf! Das Verfassungsgericht, der BGH – die haben sich alle selbst abgeschafft. War auch höchste Zeit. Alles Haderlumpen!“

„Und was sollen wir nun dekorieren?“

„Nur noch EU. EuGH. Grundsatzentscheidungen, Kommentare, zwanzigsprachige EU-Ausgaben über Verwaltungserlasse – jeden Mückenschiss, bis runter auf die Verordnungsebene. Das ist das einzige, was heut’ noch zählt!“

„Aber das Grundgesetz kann doch nicht einfach abgeschafft sein. Ohne Zweidrittelmehrheit kann man es nicht mal ändern.“

Aufgebracht kramte der Chef in den Papieren auf seinem Schreibtisch und warf Fräulein Gabi schließlich mürrisch ein einzelnes Blatt zu, dessen Kopf ein protziges amtliches Siegel zierte:

„Hier! Gutachten des Juristischen Dienstes des Europarates vom Juni 2007. EU-Recht hat immer Vorrang. Völlig wurscht, was in so einer bekloppten Verfassung steht, die eh keinen interessiert.“

Fassungslos überflog Fräulein Gabi das Massengrab der bürokratischen Schwulstformulierungen und schüttelte mehrfach ungläubig den Kopf. Dann plötzlich rief sie mit heller Stimme aus:

„Da! Da steht es!“

Sie legte ihren gepflegten Zeigefinger neben einen bestimmten Absatz:

„… im Rahmen dieser ständigen Rechtsprechung (Rechtssache 6/64, Costa gegen ENEL, 15. Juli 1964 (1) war dieser Vorrang im Vertrag nicht erwähnt. Dies ist auch heute noch der Fall. Die Tatsache, dass der Grundsatz dieses Vorrangs nicht in den künftigen Vertrag aufgenommen wird, ändert nichts an seiner Existenz und an der bestehenden Rechtsprechung des Gerichtshofs.“

„Das heißt doch, die dürfen das gar nicht. Und sie wissen es auch. Niemand kann uns das Grundgesetz nehmen, ohne dass wenigstens darüber abgestimmt worden ist.“

Perchamer lachte grollend auf:

„Har, har, har! Glauben Sie etwa, die Verwaltungsheinis in Brüssel oder Straßburg fragen Sie um Erlaubnis?“

„Aber das müssen sie!“

„Einen Dreck müssen die. Das sehen Sie doch.“

„Und unsere Grundrechte?“

„Andauernd der Schmarrn mit dene Grundrechte! Oda Büagareechte, Voiksbefrochunk, wanni dös scho hör …“

Die schöne Buchhändlerin lenkte ein. Sobald der Chef – das wusste sie aus Erfahrung – in seinen angestammten Dialekt verfiel und das „r“ knorrig rollen ließ, war weitere Widerrede wahrlich wertlos.

„Wenn Sie meinen“, erwiderte sie daher verdrossen. „Und wann?“

„Sofort! Auf der Stelle!“

„Wir sind aber nur zu dritt heute Vormittag. Außer Ihnen, meine ich.“

„Sie werden doch wohl kaum erwarten, dass ich … Sehen Sie zu, dass Sie das geregelt bekommen!“

Also ließ Fräulein Gabi widerstrebend ihre eigentliche Arbeit liegen, holte aus dem Lager die Dekorateurschuhe und schlüpfte hinein. Ehe sie sich durch den engen Einstieg in das Schaufenster mit der juristischen Fachliteratur zwängte, legte sie spontan noch die Jacke des Hosenanzugs ab, was ihrem Oberkörper nur noch den enganliegenden grauen Pulli ließ, den sie – vom BH abgesehen – auf der nackten Haut trug. Hätte der Chef sie wenigstens rechtzeitig über seine Pläne informiert, so hätte sie sich passender kleiden können. Doch das tat er nie.

Liebevoll sammelte sie dann Buch für Buch ein, schob Buchstapel und Aufsteller Richtung Einstieg und war froh, dass Sonja ihr beim Austauschen wenigstens für ein paar Minuten helfen konnte: das Grundgesetz hinaus, die EuGH-Literatur rein. Dazu Handbücher, Lexika und Großkommentare über EU-Vertrag und nachgeordnete Rechtsnormen ­– eben über alles, wozu sich die nicht gewählten und nicht vom einstigen Souverän legitimierten Winkeladvokaten in Luxemburg etwas aus den Fingern gelutscht hatten. Dann kurz noch durchgesaugt, denn etwas Staub setzte sich immer ab. Die Schaufenster zählten wohlweislich nicht zum Aufgabengebiet der Putzkolonne. Das hätte Herrn Perchamer nämlich extra gekostet.

Einigermaßen ratlos kauerte sie dann in dem jungfräulich leeren Schaufenster. Bedauerlicherweise war Gestalten nie ihre Stärke gewesen, und selbst in ihrer Ausbildung war Dekorieren nur am Rande vorgekommen. So verharrte sie eine Weile unschlüssig auf der kahlen Fläche zwischen leeren Gestellen, noch leereren Plexiglasplatten und Stapeln dickbändiger juristischer Fachliteratur zum Thema EU-Recht. Und hatte keinerlei Idee, wie sie daraus einen unwiderstehlich verkaufsfördernden Blickfang machen sollte.

Sie hatte sich nie nach dieser Arbeit gedrängt, hatte dem Chef sogar mehrmals gesagt, dass sie sich dafür nicht geeignet fühlte. Ihn gefragt, ob er nicht eine gelernte Dekorateurin auf Stundenbasis engagieren wollte. Doch Perchamer hatte sie stets rüde abgewiesen, zuletzt gut vier Wochen davor:

„Wissen Sie, was mich das kostet?“

Fräulein Gabi wusste es ziemlich genau, doch sie mochte es ihm nicht wieder und wieder vorrechnen. Seine Meinung stand ohnehin fest:

„Diese Aasgeier nehmen ein Vermögen für ein bisschen Bücherschieben, weil sie genau wissen, dass man auf sie angewiesen ist. Nein, nein – das können wir genauso gut selbst erledigen!“

Das „wir“, das er dabei verwendete, war ein spezielle Form des Wir. Es umfasste alle anwesenden sowie sonstwie in Betracht kommenden Personen außer – und das war das Besondere –, ja außer dem Sprecher selbst. Denn abgesehen von der unvermeidlichen Nörgelei bei der Begutachtung des fertigen Werkes hatte er noch nie einen Beitrag zum Dekorieren der Schaufenster geleistet. Und er blieb seiner Linie auch an diesem Tag treu.

So dauerte es fast bis zum Mittag, bis Fräulein Gabi die neuen, wichtigeren Bücher so weit aufgestellt hatte, dass sie das Ende nahe glaubte. Sie war ein wenig ins Schwitzen gekommen, und ihre weich fallenden strohblonden Haare hatten sich trotz aller Haarklammern zu einem guten Teil selbständig gemacht. Freilich hatte sie kaum eine Chance, ihre derangierte Erscheinung in Ordnung zu bringen, schon weil das Schaufenster nicht eben geräumig war. Überdies hatte sie sich – wie vom Chef gewünscht – auch diesmal bemüht, so viele Bücher wie möglich unterzubringen. Korbinian Perchamer war überzeugt, dass es die schiere Menge an ausgestellten Büchern war, die den Kunden mit unwiderstehlicher Macht förmlich zum Kauf zwang.

Es ergab sich schließlich, dass Gabi Schenke für ein paar letzte Handgriffe in einer recht unbeholfenen Stellung zwischen zwei Aufstellern kniete, das Gesicht dem Ladeninneren zugewandt. Als sie sich dabei nach einem heruntergefallenen Haken reckte, der sich natürlich im entlegensten Winkel versteckt hatte, fiel ihr Blick zufällig unter ihrer Achsel hindurch auf das Trottoir vor dem Schaufenster. Was sie dort sah, gefiel ihr überhaupt nicht.

Ein älterer Herr mit exklusiver breitrandiger Brille, Typ Vorsitzender Richter am Landgericht, hatte sich jenseits der Scheibe nicht weit von ihr postiert und musterte sie mit kritischem Blick. Fräulein Gabi wollte ihm schon zulächeln, so wie sie häufig unschlüssigen Kunden zulächelte. Bis ihr auffiel, dass sein kritischer Blick offenbar ausschließlich ihrem Po galt.

Das versetzte ihr einen jähen Stich.

Denn was ihr vorher überhaupt nicht bewusst gewesen war, ließ ihr nun die Schamesröte ins Gesicht schießen: In ihrer ungewollt verwundenen Haltung reckte sie dem Herrn ihren Po auf wenig damenhafte Weise entgegen, und das war noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass dieser Po ausgerechnet an diesem Tag in der Hose eines neuen Hosenanzuges steckte, bei dessen Anschaffung sie sich wohl schauderhaft vertan hatte.

Das schlichte Ensemble, eine mäßig modische Kreation in aufregendem Melangebraun, hatte sie erst ein paar Tage zuvor erstanden, supergünstig, zu einem stark reduzierten Preis. Es war denkbar ungeeignet für die Verrenkungen, die die vom Chef ausgerechnet an diesem Tag als unaufschiebbar erkannte Arbeit verlangte. Namentlich die Hose war entweder mit dem falschen Größenetikett versehen oder in der Fertigung furchtbar verhunzt worden. Jedenfalls saß sie ausgerechnet im Schritt fürchterlich eng.

Schemenhaft konnte Fräulein Gabi beim Blick in die spiegelnde Schaufensterscheibe erahnen, welches Bild sie dem feinen Herrn da draußen bot: Dieses Monstrum von einer Hosenanzugshose teilte ihre Hinterbacken so peinlich in zwei sich obszön abzeichnende Hälften, als habe man ihr einen Riemen zwischen den Beinen hindurch gezogen und straff an einem nicht vorhandenen Gürtel festgezurrt.

Beschämt stöhnte sie auf.

Und beschloss, unverzüglich vor Scham im Boden zu versinken.

Da das nicht sofort funktionierte, versuchte sie sich zunächst auf der Stelle zu drehen. Das gelang, geriet freilich etwas linkisch, weil sie den Kopf umständlich unter einem der Aufsteller hindurchführen musste. In der spiegelnden Scheibe musste sie erkennen, dass sie ihren Po dabei vorübergehend sogar noch aufreizender als zuvor zur Schau stellte.

Fräulein Gabi fing einen strafenden Blick ihres gestrengen Zuschauers auf und war plötzlich überzeugt, sich der Erregung öffentlichen Ärgernisses schuldig zu machen. Groß war ihr Entsetzen, als sie in der Hand des Richters einen dünnen, etwas kurz geratenen Spazierstock sah, mit dem er vielsagend immer wieder in seine offene Hand schlug.

Die schöne Buchhändlerin schluckte betroffen.

Das Im-Boden-versinken hatte leider weiterhin nicht geklappt, und nun war ihr auch noch eingefallen, dass sie gerade an diesem Tag nicht einmal eine Strumpfhose trug. Was sie sonst immer tat. Zur Feier des ersten echten Frühlingstags hatte sie aber ausnahmsweise einen Strumpfhaltergürtel aus dem Nachlass ihrer Großmutter nebst passenden Nylons angelegt.

Deshalb also war es für die miserabel geschnittene Hose gar so leicht, ihre Hinterbacken praktisch bis auf den Grund zu teilen. Von ihrer Scham ganz zu schweigen. Die wurde von der unmöglichen Hose so erbarmungslos zwiegespalten, dass sie selbst in verhülltem Zustand als Lehrobjekt für die intimeren Details weiblicher Anatomie durchgegangen wäre.

Unwillkürlich zuckte Gabi zusammen, als der Stock des Richters ein weiteres Mal zuschlug. Die Miene des Mannes in seinem feinen Zwirn war verkniffen. Er hob das Kinn, was seinen Blick noch etwas herablassender wirken ließ, und blähte leicht die Nasenflügel. Den prachtvollen Podex seines eingeschüchterten Opfers jedoch ließ er keinen Moment aus den Augen.

Die arme Buchhändlerin empfand heftige Beschämung, weil sie hinter der Glasscheibe aufs Demütigendste zur Schau gestellt war. Auch gegen ihren Willen konnte der Mann schamlos jede beliebige Partie ihres Körpers studieren, sie aber musste es sich fügsam gefallenlassen. Und konnte es ihm nicht einmal verdenken: Immerhin befand sie sich ja in einem Schaufenster.

Noch mehr irritierte sie jedoch das provozierende Spiel mit dem Stock. Wieso trug ein Mann wie der Richter so etwas mit sich herum? Mittlerweile war sie zu der Auffassung gelangt, dass es sich nicht um einen Spazierstock handeln konnte. Dafür war er denn doch zu dünn und zu kurz.

Von der Größe her konnte es eher ein Reitstock sein oder der Taktstock eines Dirigenten. Doch wie ein Dirigent sah der feine Herr da draußen nicht aus. Wie denn auch, wenn er doch ohnehin schon Richter war?

Ob der Herr Richter vielleicht ein anrüchiges Hobby hatte, bei dem ein solcher Stock eine Rolle spielen konnte? Und wenn, konnte es dann Zufall sein, dass er mit seinen Blicken ausgerechnet das Hinterteil der schönen Buchhändlerin so penibel inspizierte?

Fräulein Gabi empfand plötzlich ein irritierendes Prickeln auf ihrer stramm eingeengten Sitzfläche. Das konnten doch unmöglich die Blicke des Richters sein. Doch was war es dann?

Mit einem Gefühl der Beklommenheit versuchte sie zunächst, rückwärts kriechend etwas Raum zu gewinnen. Leider vergebens. Denn viel zu spät bemerkte sie, dass sie mit einem Fuß an einem der Aufsteller eingefädelt hatte, was dazu führte, dass sie mit emporgerecktem Po gegen ihn stieß und für Sekunden weder vor noch zurück fand. Wie sie sich auch mühte, was sie auch tat in ihrer Panik, sie brachte ihr unzüchtig emporgerecktes Hinterteil einfach nicht aus dem Blickfeld des gestrengen Richters.

In der Tat hatte sie sich so sehr verheddert, dass sie schließlich unbeholfen mehrere Bücher von einem der Aufsteller räumte, was ihr arg peinlich war. Verlegen nach draußen lugend sah sie, dass der Richter den Stock nochmals vielsagend in seine Hand sausen ließ. Wobei sein Blick unverwandt auf Fräulein Gabis prall herausgereckte Kehrseite geheftet blieb.

Und jetzt rutschte bei ihrem Gekrabbel auch noch eines der Hosenbeine an ihrer Wade hoch. Das gab den Blick frei auf den dunklen Nylonstrumpf, vor allem aber auf dessen kräftige Längsnaht, die ihm noch eine besonders verruchte Note verlieh.

Gabi Schenke erschauderte. Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht.

Oh je! Wenn der Herr da draußen das gesehen hatte – und das hatte er gewiss! –, so musste er nun einen völlig falschen Eindruck von ihr haben.

Natürlich empfand sie Scham unter den selbstherrlichen Blicken dieses Mannes. Doch nicht nur. Sondern auch Furcht. Und eine seltsame Lust.

Sie wusste durchaus, dass es für Furcht keinen Grund gab, denn natürlich war sie in ihrem engen, gut einsehbaren Gefängnis sicher vor allen Übergriffen. Sie wusste auch, dass ihre Lust nicht sein durfte. Als sittsame junge Frau durfte sie niemals Lust am Betrachtetwerden empfinden. Tatsächlich aber bekam sie weder ihre Furcht noch ihre Lust in den Griff.

Irgendwann registrierte sie, dass sie keuchte. War es die Aufregung? War es Panik? Oder doch die schändlich-schöne Lust daran, von einem Mann als Frau wahrgenommen zu werden?

Sie wollte erst gar nicht darüber nachdenken.

Auf allen vieren kämpfte sie sich fluchtartig aus dem Schaufenster, wobei sie auf ihrem kurzen Weg nach draußen eine Spur der Verwüstung aus verschobenen Aufstellern und umgekippten Büchern hinterließ.

Als sie später nochmals ins Freie lugte, war der Richter verschwunden. Sie empfand Erleichterung darüber, aber irgendwo, in einem geheimen Winkel ihres Herzens, auch den Hauch eines anderen Gefühls, das da nach allen Regeln der Sittsamkeit nicht hätte sein dürfen: Enttäuschung.

*

Lisa war so lieb, den Schaden schließlich zu beheben. Sie kroch anstelle ihrer noch immer seltsam aufgewühlten Kollegin ins Schaufenster und folgte jener Spur der Verwüstung, die bei der überstürzten Flucht entstanden war. Buch für Buch richtete sie wieder auf, schob die Aufsteller zentimetergenau an ihren Platz, dirigiert von Fräulein Gabi, die jetzt außen vor dem Schaufenster stand und sie Handgriff für Handgriff akribisch einwies.

Gemeinsam hatten sie das Werk bald vollbracht, und Gabi erwog schon, den Chef zur Begutachtung hinzuzubitten, als aus dem hinteren Teil des Ladens ein fürchterliches Getöse erscholl. Es verhieß nichts Gutes.

Fräulein Gabi stürzte hinein und sah die zierliche Sonja in einem bunten Arrangement aus heruntergefallenen Büchern und einer umgestürzten Leiter am Boden liegen. Sonja stöhnte. Aber sie bewegte sich.

Ächzend hielt sie ihren Kopf, während sie sich unbeholfen aufzusetzen versuchte. Sie stieß eine wüste Verwünschung aus, die für Kinderohren unter zwölf Jahren nicht geeignet gewesen wäre.

„Bist du okay?“, fragte Fräulein Gabi und ließ sich neben ihr nieder.

„Weiß nicht“, erwiderte Sonja verhalten, „ist was mit meinem Gesicht?“

„Nein“, beruhigte sie Fräulein Gabi, „keine Schramme, soweit ich sehe.“

Sonja räusperte sich, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und sah etwas benommen drein. Es waren nur zwei Kunden im Laden, doch beide hatten sofort Anstalten gemacht, ihr beizustehen. Auch Lisa war hinzugeeilt.

„… auf einmal umgefallen …“, stieß Sonja hervor und wies mit einer hilflosen Kopfbewegung auf die am Boden liegende Schiebeleiter.

„Die war schon lange locker“, entgegnete Fräulein Gabi, ehe sie sich wieder erhob und Sonjas Kopf nach Platzwunden absuchte. „Ich hab’s ihm erst vor ein paar Tagen wieder gesagt.“

Wie aus dem Boden gewachsen stand plötzlich Korbinian Perchamer neben ihnen:

„Was ist denn hier los? Ware beschädigt? Dann geben Sie sofort die Meldung an die Versicherung raus! Sonst bekommen wir keinen Cent.“

Lisa klappte die Kinnlade herunter, sie verdrehte die Augen und musste sich merklich eine Erwiderung verkneifen.

„… schon okay“, lallte Sonja. „Ist was mit meinem Gesicht?“

„Die Leiter ist umgekippt“, erwiderte Gabi auf Perchamers Frage, hielt dann inne und überlegte, ob es wohl nötig gewesen war, das zu erwähnen.

Perchamers Antwort jedoch kam prompt:

„Dann nehmen Sie einen Schraubenzieher und bringen es in Ordnung!’“

Lisa, die sich mittlerweile zu ihrer ramponierten Kollegin hinabgekniet hatte, sah kopfschüttelnd zu Fräulein Gabi auf. Die wiederum sagte:

„Die Halterung ist ausgeschlagen. Ich weiß nicht, ob das helfen wird.“

„Dann müssen Sie sich eben mal Mühe geben!“

„Können wir nicht vielleicht doch einen Handwerker rufen?“

„Was glauben Sie, …“, hob der Chef an und bemerkte nicht, dass Lisa zu seinen Füßen eine angeödete Grimasse schnitt, den Kopf im Takt seiner Worte wiegte und nachäffend mit tonlosen Lippenbewegungen einfiel:

„… was mich das kostet!“.

Ohne jede Rücksicht auf das ohnehin schon heillose Durcheinander stieß nun auch noch Sonja halblaut hervor:

„… bin runtergefallen … Ist was mit meinem Gesicht?“

Sie sah schmollend an ihrem Chef empor und rieb sich selbstvergessen die schmerzende Pobacke. Es war eine hübsche Pobacke. Lisa hatte ihr – um die lädierte Partie besser inspizieren zu können – kurzerhand den Rock bis zur Taille hochgeschoben. Dadurch waren nicht nur Sonjas stramme Beine, sondern auch ihr auffallend sparsam bemessener Slip großzügig freigelegt. Was trotz des bedauerlichen Anlasses einen durchaus entzückenden Anblick bot. Korbinian Perchamer aber wusste ihn nicht zu schätzen:

„Was ist überhaupt mit den Buchungen für die Buchmesse?“, fragte er unvermittelt, als hätte sich die Unfallstelle schlagartig in nichts aufgelöst.

„Sie meinen für nächstes Jahr?“, fragte Fräulein Gabi irritiert zurück, wobei sie leicht die Stirn kräuselte.

„Für dieses Jahr natürlich. Es sind nur noch ein paar Tage hin.“

Ungläubig sah sie ihn an:

„Sie wissen doch, dass wir Ihr Zimmer im Fürstenhof über ein Jahr im Voraus buchen müssen. Zur Messezeit ist Leipzig dicht. Und das Flugticket bekommen wir auch nur so günstig, wie Sie es haben wollen, wenn wir mindestens sechs Monate im Voraus buchen.“

„Das können Sie auch gleich sagen“, gab Perchamer mürrisch zurück und war Augenblicke später schon wieder verschwunden.

*

Als gegen Abend der Betrieb ein wenig abflaute, spähte Fräulein Gabi noch einmal vorsichtig aus dem Fenster, um sich zu vergewissern, dass der Richter mit dem durchdringenden Blick nicht zurückgekehrt war. Der Gedanke an ihn beunruhigte sie nachhaltig. Doch er war nirgends zu sehen.

Stattdessen erblickte sie im warmen Licht der Abendsonne etwas gänzlich anderes. Etwas, das ihr Herz vor Freude hüpfen ließ: Der Spitzahorn, dem man auf dem Trottoir vor der Buchhandlung großzügigerweise einen ganzen übergitterten Quadratmeter Boden zugestanden hatte, ließ das hauchzarte Grün seiner ersten Knospen leuchten.

Alles, was grün war, konnte diesen Hüpfeffekt in ihr auslösen. Sofern es nicht gerade das Grün eines im Einsatz vorbeibrausenden Polizeiwagens war oder das einer verdreckten Verkehrsampel, das an einer mehrspurigen Hauptverkehrsstraße den vorbeiflutenden Kraftfahrzeugen minutenlang Vorrang gab, ehe eine schöne Buchhändlerin endlich ihr Fahrrad auf die andere Seite der Asphaltpiste schieben durfte. Derlei Hektik hatte sie in ihrer Kindheit nie erlebt, und sie hätte sie auch jetzt nicht gebraucht.

Mit den Menschen war es anders. Das Engstirnige, das Festgefügte von zu Hause vermisste sie nicht unbedingt. Die Menschen in der Stadt waren offener, aufgeschlossener, zumindest viele von ihnen. Seit sie in der Stadt lebte, fühlte sie sich nicht mehr so sehr gegängelt wie davor, was einerseits angenehm war. Andererseits jedoch war sie nicht sicher, ob sie mit all der Freiheit so gut zurechtkam. Manchmal fühlte sie sich davon überfordert.

Alles in allem hatte sich Fräulein Gabi in der neuen Umgebung aber recht gut zurechtgefunden. Das einzige, was sie in der Stadt noch immer vermisste, war das Landleben.

Gabis Geheimnis

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