Читать книгу Gabis Geheimnis - Madeleine Abides - Страница 6
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Kaum hatte sie die Wohnungstür geöffnet, da sah Fräulein Gabi am Boden vor dem Briefschlitz eine Postkarte mit exotischer Marke liegen. Sie bückte sich danach, hob sie auf und erkannte schon an der Handschrift, von wem sie stammte: von Petra, ihrer kleinen Schwester, die sie eine schiere Ewigkeit lang nicht mehr gesehen hatte.
Man konnte nicht gut behaupten, dass Petra das genaue Gegenteil Gabi Schenkes gewesen wäre. Aber sie war nahe dran.
Es wäre nicht sonderlich weit hergeholt gewesen, sich ein Versehen der Vorsehung vorzustellen, derart ungleich waren die Eigenschaften zwischen den beiden Schwestern verteilt. Wo Gabi ängstlich und zurückhaltend war, erlebte man Petra impulsiv. Wo Gabi gehemmt war und voller Selbstzweifel, sprühte Petra vor Tatendrang und Selbstbewusstsein.
Ihre Postkarte zeigte die Karibikinsel Santa Lucia. Und war so kitschig, wie eine Postkarte nur sein konnte. Eine sonnenüberflutete Bucht mit traumhaftem Sandstrand und ein smaragdgrünes Stück Meer, dessen mächtige Wellen sich gischtweiß in der Brandung brachen. Im Hintergrund sah man ein paar Alibipalmen, doch wenn man die Karte nur lange genug betrachtete, dann verschwamm sie mehr und mehr zu einem Meer von Meer.
Petra war der kompromisslose Gegenentwurf zu einer Pauschaltouristin. Schon immer gewesen. Sie war sprunghaft, kurzentschlossen, unbedacht. Und abenteuerlustig. Geradezu versessen auf unvorhersehbare Überraschungen. Aber in Bezug auf Postkarten hatte sie schon immer jede Pauschaltouristin um Längen übertroffen.
Ihre große Schwester hatte im Grunde nichts gegen Überraschungen. Erst recht nicht, wenn es angenehme waren. Aber gerade bei Überraschungen war Fräulein Gabi dringend daran gelegen, dass sie nicht auch noch unangekündigt eintraten. Weil sie sich wenigstens so gut wie irgend möglich darauf vorbereiten wollte.
Petra war also zur Zeit in der Karibik unterwegs. Mit einem Segelboot. Und mit einem Freund. Ihrem Freund. Rein platonisch? Wohl kaum. Doch soweit Fräulein Gabi wusste, waren die beiden nicht einmal verheiratet.
Gabi liebte ihre kleine Schwester von Herzen und machte sich oft große Sorgen um sie. Obwohl sie zwei Jahre jünger war als Fräulein Gabi, hatte sie bereits das erste Mal Unzucht getrieben, als Fräulein Gabi noch nicht einmal mit einem Jungen Händchen gehalten hatte.
Dieses ausschweifende Leben, das die kleine Schwester führte, würde ihr später einmal den Weg ins Paradies so gut wie sicher verbauen. Sie würden sich dann voraussichtlich überhaupt nicht mehr sehen. Bis in alle Ewigkeit. Das war sehr schade.
Seufzend heftete die schöne Buchhändlerin Petras Postkarte mit einem kleinen Magneten zu den anderen an die Kühlschranktür. Es mussten mittlerweile mehr als vierzig Stück aus aller Herren Länder sein. Mindestens die Hälfte davon mit Petras Namenszug.
*
Natürlich war sie eine moderne junge Frau. Jeder, der die herangewachsene Gabi Schenke einmal erleben durfte, hätte bestätigen können, dass sie selbständig war, unabhängig und in ihrem beruflichen Wirkungskreis durchaus erfolgreich. Nichts, was sie jemals gesagt oder getan hatte, hätte als Beleg dafür gelten können, dass sie sich bloß als Anhängsel eines Mannes gesehen oder danach gestrebt hätte, ein solches zu werden.
Sie erfüllte also alle Anforderungen des Emanzipationszeitalters, in dem Frauen endlich die besseren Männer sein dürfen und die unheilvolle Fixierung auf die Paarung von Mann und Frau nach Jahrtausenden grausamer männlicher Herrschaft als unbegreiflicher Irrweg der Evolution entlarvt ist.
Und doch war in ihr dieses Sehnen, für das sie keinen Namen kannte.
Es war, als wollte ihr gesunder, mit allen Attributen der Weiblichkeit aufs Entzückendste versehener Körper ihr ein Zeichen geben. Einen dezenten Hinweis darauf, dass da eine Lücke war, die gefüllt werden wollte.
Oh, nein!
Niemals hätte sie es so zweideutig, so furchtbar schlüpfrig denken dürfen. Und doch war es das, was sie empfand.
Unablässig hatte sie mit der übermächtigen Sehnsucht zu kämpfen, sich hinzugeben. Ihren wunderbaren, voll erblühten Leib in all seiner Schönheit schamlos zu verschenken. Ihn ohne jeden Vorbehalt einem attraktiven Mann darzubieten, der sie begehrte. Ohne Fragen, ohne Bedingungen.
Doch eine mahnende Stimme in ihrem Inneren raunte ihr vorwurfsvoll zu, dass sie sich unter keinen Umständen so weit gehenlassen durfte. War ihr diese mahnende Stimme aber in der Vergangenheit lange eine geschätzte, weil anscheinend besonnene Freundin gewesen, so war sie ihr in jüngerer Zeit immer mehr zum Ärgernis geworden. Gabi Schenke fühlte sich allmählich alt genug, erste Kleinigkeiten ihres Privatlebens selbst zu entscheiden. Und nur zu gerne hätte sie wenigstens einmal gewusst, was sie sich da überhaupt versagte, wenn sie es sich schon die ganze Zeit versagen sollte.
*
Da war eine Leere in ihr, die sie immer weniger zu ertragen vermochte. Diese Leere fühlte sie schon so lange, dass sie manchmal meinte, sie sei schon immer ein Teil von ihr gewesen. Doch das stimmte nicht.
Als Kind hatte sie sich nicht leer gefühlt.
Nicht allein.
Da waren ihre Eltern gewesen, ihre kleine Schwester, jede Menge Nachbarskinder und natürlich immer auch irgendwelche Jungs oder Mädchen, die mit ihr in die Schule gegangen waren. Dort allerdings, in der Schule, hatte es vermutlich schon angefangen. Die kleine Gabi Schenke hatte weniger wilde Spiele getrieben als andere Kinder, und sie hatte immer ein bisschen mehr gelesen. Nein, falsch, sie hatte viel mehr gelesen. Vielleicht für ihr Alter eine Kleinigkeit zu viel.
Schon mit zehn Jahren so ziemlich in jeder freien Minute.
Und darüber hatte sie wohl ein wenig den Anschluss verpasst. Während Nikki, Stefanie, Lara, Siglinde und wie sie alle hießen mit mehr oder weniger kleinen Jungs in einer der dunkleren Ecken der langen Schulhausflure verschwunden waren, nur um Minuten später leicht zerzaust, aber mit glühenden Wangen wieder aufzutauchen, da hatte die kleine Gabi Schenke gelesen. Und wenn Josefine, die Wirtstochter, Biggi mit den krummen Beinen oder Maria vom Nachbarhof sich hinter dem Rücken der Eltern mit älteren Jungs getroffen hatten, dann war die kleine Gabi Schenke artig zu Hause geblieben. Und hatte gelesen.
Meist Erbauliches.
Denn die Mutter hatte bestimmt, was gut für das Kind war.
Aus diesem Grund hatte fast alles, was die kleine Gabi lesen durfte, von fremdartigen Menschen aus einem fernen Land gehandelt. Menschen, die Tieropfer brachten und eigentümliche Wörter gebrauchten, auf Eseln ritten und missliebige Mitmenschen kurzerhand steinigten. Von den Eseln abgesehen, hatte nicht viel davon mit ihrem eigenen Leben zu tun gehabt, und doch hatte sie sich die wundersamen Menschen aus grauer Vorzeit ohne viel zu fragen zum Vorbild nehmen sollen.
Klar, trotzdem hatte die kleine Gabi ihre Träume gehabt. Aber es waren brave Träume gewesen. Denn sie war stets ein braves Mädchen gewesen, ein sehr braves sogar. Pflichtschuldig hatte sie sich an die Gebote gehalten, die ihr die Mutter wieder und wieder eingebläut hatte. Und dazu gehörte eben auch, dass alles Fleischliche böse war. Und vor der Ehe – wehe den Verderbten! – war schon der bloße Gedanke daran sündhaft.
Damals, als sie ein kleines Mädchen mit Zöpfen und scheuen kleinen Augen gewesen war, da hatten diese Worte eine gewaltige Kraft besessen. Wenn sie daran zurückdachte, kam ihr das alles so fremd und so unwirklich vor, dass sie manchmal nicht ganz sicher war, ob wirklich sie selbst dieses kleine Mädchen gewesen war, an das sie sich da erinnerte.
Und doch war dieses kleine Mädchen noch immer in ihr.
*
Freilich – auch das andere Mädchen war noch in ihr.
Jenes Mädchen, das schon im Kindesalter von Fesseln fasziniert gewesen war. Das sich heimlich in die Scheune, in den Stall oder gleich in den Wald verdrückt hatte, um in aller Ruhe auszuprobieren, ob dieses seltsame Gefühl auch diesmal wieder kommen würde, wenn sie sich in Fesseln legte.
Oh, wie hatte es die unschuldige kleine Gabi aufgeregt, wenn sie sich in einem ihrer Verstecke die Hände im Rücken zusammengebunden hatte! Wie hatte sie die gespielte Hilflosigkeit genossen!
Aber niemals, niemals hätte sie eine Verbindung zu dem unscheinbaren Pünktchen an ihrer noch unbewachsenen Scham vermutet. Sicher, dort hatte etwas gekitzelt. Wundervoll angenehm. Und ohne dass sie auch nur hingefasst hatte. Ein lustiger Zufall, nichts weiter.
Sie hatte wirklich nichts geahnt. Sie war ein Kind gewesen.
Die Aufregung jedoch hatte ihren ganzen Körper, ihr ganzes Wesen, ihr ganzes Sein in hellen Aufruhr versetzt. Alles an ihr hatte gekribbelt, ihr ganzer Leib hatte sich angefühlt, als wäre sie in einem Ameisenhaufen gelandet, und sie hatte es einfach nur schön und interessant gefunden, dass sie allein mit ein paar Stricken solch wundersame Abenteuer erleben konnte.
Erst viel später waren ihr Zweifel gekommen, ob ihre diese Aufregung erlaubt war. Doch wie hätte ein Kind wissen sollen, dass die kindliche Aufregung so gar nicht von kindlicher Unschuld getragen war? Dass gerade diese Art von Aufregung Erwachsenenspiele von Kinderspielen unterschied?
Viele Male hatte sie deswegen später in dem schweren, dunklen Buch geblättert, das ihr Leben bestimmte. Niemals jedoch hatte sie auf den vielen, mit seltsamen Wörtern gefüllten Seiten lesen müssen, es sei sündig, sich selbst zu fesseln. Verboten schien es also nicht zu sein.
Doch wenn es sie erregte, auf diese überwältigende, diese hinreißend berauschende Art, so konnte es gerade deshalb der Versucher sein.
Das war furchtbar verwirrend.
Denn jetzt, als Erwachsene, fesselte sie sich doch nicht zum Vergnügen. Sondern gerade, um der Versuchung überhaupt noch widerstehen zu können. Die Stricke waren für sie das letzte Mittel, um keusch zu bleiben. Und die Buße für ihre sündigen Gedanken zugleich.
*
In der abgeschlossenen Klause ihres kleinen Appartements kämpfte sie nun schon so lange gegen die Versuchung an. Es wurde schwerer und schwerer. Von Monat zu Monat, von Tag zu Tag. Sie wähnte sich am Ende ihrer Kräfte, und sie wusste nicht, womit sonst – wenn nicht mit strengen Fesseln – sie ihrem sündigen Verlangen noch Einhalt gebieten sollte.
Würde sie der Versuchung überhaupt noch lange Paroli bieten können?
Abends und morgens war das Risiko geringer. Tagsüber ohnehin. Solange sie zumindest halbwegs wach war, erwies sich ihr Wille, sich gegen die Versuchung zu behaupten, bislang noch immer als stark genug.
Aber nachts war sie anfällig. Am schlimmsten tief in der Nacht, dann, wenn der Schlaf in Halbschlaf überging und sie nahe daran war, aufzuwachen. Dann verspürte sie früher oder später diese heiße Sehnsucht, sich liebevoll zwischen den Beinen zu streicheln. Nur zu streicheln, nichts weiter.
Erst einmal.
Da war es wichtig, dass sie zurückgehalten wurde. Wenn sie nicht vorsorgte für diese Momente der Schwäche, würde sie früher oder später ihre ewige Seligkeit aufs Spiel setzen.
So viel hatte sie probiert, und stets ohne Erfolg. Bis sie eingesehen hatte, dass sie ein schwieriger Fall war. Sie musste sich hart anpacken. Musste ihren Händen jede Chance nehmen, sich ihrer Scham unsittlich zu nähern.
Daher also die Fesseln.
Nach vielen Versuchen mit Seidentüchern, Stricken, Riemen und ähnlichem war sie auf plüschbezogene Handschellen mit Verbindungskette verfallen. Der Plüsch verhinderte, dass der Stahl in ihre zarte Haut schnitt. Und die Kette war lang genug für eine erträgliche Schlafposition. Aber kurz genug, um vorwitzige Finger am Vordringen zu delikaten Stellen zu hindern, von deren Existenz artige Mädchen besser gar nichts wissen sollten.
Doch die Hände im Rücken gefesselt zu haben, die ganze Nacht über, war dennoch sehr anstrengend. Unbequem. Zuweilen qualvoll. Trotzdem war es zumindest im Winter die einzige Möglichkeit.
Und in diesem Winter war es schlimmer gewesen als jemals zuvor.
Nicht weil die Fesselung qualvoller gewesen wäre als vorher. Sondern weil das Verlangen ihres Leibes, die sündige Wollust sie kaum noch eine Nacht durchschlafen ließ. Immer stärker verlangte ihr Leib, was sie ihm keinesfalls geben durfte. So wachte sie denn auf in jenen Nächten, das Herz voll Sehnsucht und den Kopf voll mit Träumen von einem netten Mann, der sie in den Armen hielt und ihr kosend Zärtlichkeiten ins Ohr flüsterte.
Die Träume waren etwas unvollständig und hatten oft auffällige Ähnlichkeit mit den unvollendeten Liebesszenen aus jenen alten Romanen, die Fräulein Gabi so gerne las. Natürlich kamen in den Romanen weder Handschellen noch andere Fesseln vor. Aber das war auch nicht nötig, weil den Heldinnen darin stets just zur rechten Zeit ein leidenschaftlicher Mann verfiel, der sie nachhaltig von jeder falschen Zurückhaltung abhielt.
Solange Fräulein Gabi nicht den einen für jenen Teil hatte, der in den Romanen nie vorkam, musste sie sich behelfen. Und darum würde sie sich weiter in Fesseln legen müssen. Vielleicht sogar noch strenger als bisher.
*
Es gab diese große Truhe in ihrem kleinen Appartement, in der sie die geheimen Hilfsmittel zur Bezähmung ihrer verbotenen Lust aufbewahrte. Sie entstammte dem Nachlass ihrer innig geliebten Großmutter. Der Großmutter väterlicherseits, versteht sich, denn ihre Großmutter mütterlicherseits war gerade im Vergleich zu ihr überhaupt kein Vergleich gewesen.
Oma Grete, der die Truhe gehört hatte, war trotz ihrer Gicht bis ins hohe Alter lebensfroh und munter gewesen. Oma Josefa hingegen, ihr Pendant mütterlicherseits, hatte Gabi nur schmallippig und streng erlebt. Als Kind hatte sie oft geglaubt, bei ihr etwas falsch gemacht zu haben, doch die unnahbare, verbiesterte Art war wohl bloß der Großmutter Naturell gewesen.
Die Truhe nun hatte die Enkelin erst spät geerbt. Dennoch war sie ihr schon als Kind vertraut gewesen, weil sie Jahr und Tag auf dem Flur vor den Gesindekammern des elterlichen Hofes gestanden war. Allerdings war in den Zeitläuften der Schlüssel verlorengegangen, so dass die Truhe in jenen Jahren niemals geöffnet worden war. Gabis Mutter hatte die Truhe nicht angerührt, sicherlich auch deshalb, weil sie mit ihrer Schwiegermutter zeitlebens über Kreuz gelegen war. Immerhin hatte sie aber wohl respektiert, dass es sich um ein Erbstück von hohem ideellem Wert handelte, und so hatte sie das gute Stück nicht einfach den Flammen überantwortet. Vielleicht hatte sie sich aber auch bloß nie darum kümmern wollen.
Schon die kunstvolle Bemalung war ein Hinweis darauf, dass es sich um eine traditionelle Aussteuertruhe handelte. Dass sie nicht leer war, hatte Fräulein Gabi schon als Kind vermutet. Gewissheit darüber hatte sie freilich erst erhalten, nachdem ein zu Hilfe gerufener Schlosser an dem wunderschönen alten Stück seine Kunstfertigkeit bewiesen hatte.
Als Anerkennung für seine guten Dienste hatte Gabi dem Mann einen kurzen Blick in die Truhe gewährt, mehr jedoch nicht. Das eigentliche Auspacken der wundervollen Erinnerungsstücke hatte sie erst zelebriert, als sie wieder allein gewesen war.
Und das hatte sich als eine sehr kluge Entscheidung erwiesen.
Denn unter säuberlich geplättetem Bettzeug hatten sich unter anderem einige herrliche Stücke Unterwäsche mit handgeklöppelter Spitze gefunden, von denen jedes für sich einer Hochzeitsnacht würdig gewesen wäre. Sowie, zuunterst in der Truhe, ein samtenes Trachtenhalsband, ein viktorianisches Korsett, eine Hundeleine und mehrere Längen Kordel feinster Qualität, die sorgsam zu mehrfach gewundenen Schlaufen aufgebunden waren.
Zwei Besonderheiten daran hatten Fräulein Gabi von Anfang an Rätsel aufgegeben: Erstens hatte das schmucke Halsband vorne einen massiven Ring eingearbeitet, wie sie ihn nie zuvor an einem solchen Trachtenhalsband gesehen hatte. Und zweitens hatte sie während ihrer Kindheit auf dem Hof der Großeltern oft und gern mit den Hunden dort gespielt.
Aber nie war auch nur einer davon an die Leine gelegt worden.