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2. Definitionen, Entwicklungsmodelle und Zäsuren

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Veränderungen von Status und Funktion internationaler Organisationen sollen Rückschlüsse auf Funktionen und Reichweite komplexer Netzwerke erlauben. Die Darstellung ist daher chronologisch aufgebaut. Im ersten Teil erscheinen internationale Organisationen als Instrumente kleinstaatlicher Machtpolitik und Ausdruck der Emanzipation einer grenzübergreifenden Zivilgesellschaft im 19. Jahrhundert. Das folgende Kapitel diskutiert die Auswirkungen des Völkerbunds auf die internationale Ordnung einer in den Zweiten Weltkrieg taumelnden Weltgesellschaft. Ein drittes Kapitel stellt die neuen Spielregeln der Vereinten Nationen und die Bedeutung des Kalten Kriegs bei der versuchten Trennung zwischen politischer und technischer Kooperation dar. Ein Ausblick thematisiert die wachsende Bedeutung der Nichtregierungsorganisationen in der Zeit nach dem Ende des Kalten Kriegs. Jedem Kapitel ist eine Zeittafel vorangestellt, welche auf die Gründung des für die jeweilige Zeit charakteristischen Organisationstypus’ eingeht. Dabei werden die internationalen Organisationen mit ihrem offiziellen Namen bezeichnet und auf eine deutsche Übersetzung verzichtet. Spezielle Berücksichtigung findet dabei die zeitgenössische Darstellung internationaler Ordnungsvorstellungen.

Voraussetzungen für eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung

Die hier vorgelegte Globalgeschichte der internationalen Ordnung unterscheidet sich in mehrerer Hinsicht von der Geschichte der internationalen Beziehungen. Grenzüberschreitende Prozesse folgen anderen Raum- und Zeitkonzepten als die Geschichte der Nation und ihrer staatlichen Außenpolitik. Eine globale Perspektive bedeutet, dass sorgsam darauf geachtet wird, unter welchen historischen Voraussetzungen ‚international‘ nicht mehr ‚europäisch‘ bedeutet. Raum bleibt zweifellos ein Schlüsselelement der Geschichte, aber es gilt, die Falle einer positivistischen Aufzählung von Grenzgängen zu vermeiden, denn fehlende, verschwiegene und vergessene Netzwerke geben wichtige Hinweise auf die Akzeptanz von Globalität in der jeweiligen Zeit. Um diesem Aspekt die nötige Beachtung zu schenken, wird in der Darstellung der dynamischen Entwicklung von Grenzüberschreitungen Asien speziell berücksichtigt. Es gibt mehrere Gründe, die Bedeutung Asiens zu betonen. Zum einen bezieht diese Geschichte internationaler Organisation ihre Bedeutung aus der Frage, wie globale Konzepte und Netzwerke begründet und beansprucht werden. Eine Geschichte kontinentaler Organisationen müsste anders geschrieben werden. Sie könnte in Lateinamerika beginnen, die Einberufung der ersten internationalen, panamerikanischen Konferenzen im 19. Jahrhundert und die Gründung der panamerikanischen Union beleuchten und in den Prozess der europäischen Integration einmünden. Das ist allerdings nicht die Absicht dieser Darstellung. Es gibt keine überzeugenden Gründe, Afrika zu vernachlässigen, denn die vielfältigen kulturellen und ökonomischen Netzwerke, die düstere Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels und die daran geknüpften internationalen Menschenrechtsdiskurse, die Bedeutung der indischen Arbeiter in Südafrika und die strukturellen Folgen von Kolonisierung und Imperialismus haben die Geschichte der internationalen Ordnung geprägt. Wenn dennoch Asien in dieser Darstellung größere Aufmerksamkeit erhält, hat dies zwei Gründe: Asiatische Netzwerke gingen nicht den Weg des kontinentalen Zusammenschlusses, sie hatten eine bislang wenig beachtete globale Zielsetzung. Der explizite Einbezug Asiens erlaubt überdies ein Beispiel vorzustellen, das derzeit rege diskutiert wird. Diese Darstellung versteht sich zwar als Einführung in die Thematik internationaler Ordnung, will damit aber auch auf das innovative Potenzial des Themas in der Forschung aufmerksam machen. Die Anforderungen an eine moderne Geschichtsschreibung des 21. Jahrhunderts sichtbar zu machen und die Konstituierung internationaler Ordnungen auch als Aushandlung kultureller Differenzen zu verstehen ist ein intellektuelles Abenteuer – kein Repetitorium von Fakten und Ereignissen.

Epochenbildung und Meistererzählung

Die Erweiterung des Raumes über Europa hinaus beeinflusst auch den Umgang mit der Zeit, einem Schlüsselelement der Geschichtsschreibung. Periodisierung und Epochenbildung müssen neu überdacht werden, wie sich am Beispiel „Zwischenkriegszeit“ zeigen lässt. Der Begriff, der unterdessen umstritten ist, priorisiert die Weltkriege als Ordnungskriterien und blendet andere Zäsuren aus. In Europa endete die Zwischenkriegszeit 1939. Zu diesem Zeitpunkt herrschte in Asien seit der japanischen Besetzung der Mandschurei bereits acht Jahre Krieg.

Welche Vorstellungen neben Raum und Zeit können eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung zu strukturieren helfen? Die zeitgenössischen Vorstellungen über die zentralen Merkmale internationaler Ordnung enthalten wiederkehrende Argumentationsmuster. Diese lassen sich als „Meistererzählung“ verstehen, als grundlegende, die Zeit prägende Denkmuster, auf die einzugehen Gegner und Befürworter internationaler Ordnungsvorstellungen nicht umhinkamen.

Im langen 19. Jahrhundert orientierte sich die Meistererzählung der internationalen Ordnung zusehends an einem Gebilde, das Zeitgenossen als ‚internationale Organisation‘ beschrieben. Dieser Begriff bediente höchst unterschiedliche Vorstellungen, beweist aber bis zum heutigen Tag, dass eine grenzübergreifende Plattform nicht allein der Sicherstellung internationaler Normen und Regeln dient, sondern auch die ‚Übersetzung‘ zentraler gesellschaftlicher und kultureller Veränderungen auf die Ebene der internationalen Politik zu leisten hat. Was Zeitgenossen ihren jeweiligen internationalen Organisationen an Aufgaben zuschrieben und nach wie vor zuweisen, erlaubt Rückschlüsse auf die globale Durchsetzung von Vorstellungen, Ideen und Konzepten. Dabei weisen die Meistererzählungen der internationalen Organisation charakteristische Unterschiede auf. Im 19. Jahrhundert forderte die Vorstellung eines sich grenzüberschreitend ausdehnenden bürgerlichen Vereins das staatliche Deutungsmonopol der internationalen Politik heraus. Staat und Diplomatie hatten sich mit dem transnationalen Informationsaustausch und den Ansprüchen einer Internationalisierung der parlamentarischen Ordnung auseinanderzusetzen. Für die Zeit zwischen 1919 und 1945 verschob sich diese Meistererzählung zusehends zur grenzübergreifenden Organisation von Arbeitsbeziehungen. Zeitgenossen griffen zur Darstellung der internationalen Ordnung vorzugsweise zur Metapher der Maschine und beschrieben deren Funktion nach dem Denkmodell eines global gedachten Korporatismus. Nach 1945 dominierte die internationale Ordnung des Kalten Kriegs. Im bipolaren Denkmodell setzte sich die normative Trennung von Technik und Politik durch. Internationale Organisationen befanden sich fortan in zwei strikt getrennten Lagern, wobei politisches Gewicht und Handlungsspielraum der Regierungs- gegenüber den Nichtregierungsorganisationen in dieser Zeit deutlich größer waren. Nach dem Ende Kalten Kriegs begann die Epoche der Nichtregierungsorganisationen. Zusehends setzt sich die Vorstellung durch, dass ein dynamisches Netz weltweiter Kommunikation die Bedeutung der Institutionen zu überholen beginnt.

Definitionen internationaler Organisationen

Solche Meistererzählungen erlauben eine analytische Fernsicht auf internationale Organisationen, die thematisch, in ihrer Struktur, Ausrichtung und Selbstbenennung höchst unterschiedlich sind. Sie nennen sich Komitee (Internationales Komitee vom Roten Kreuz), Association oder Union (Union of International Associations), Institut (Institut de droit international), Bureau (Bureau international d’education). Gelegentlich fehlt der explizite Hinweis auf die internationale Ausrichtung, wie bei der 1933 gegründeten Islamic Research Association oder dem seit 1964 bestehenden Zusammenschluss der G-77, einem Verbund von Entwicklungsländern. Was aber verbindet den Weltpostverein mit der internationalen Organisation der Freimaurer? Angesichts dieser großen Unterschiede ist die Frage der Definition zentral. Die gängigen Definitionen sind auf die Gegenwart bezogen, ihre Übertragung auf ältere Formen internationaler Organisationen erscheint aus einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive problematisch. Historiker und Historikerinnen verstehen Definitionen als zeitbezogene Deutungsmonopole. Sie sind weniger an den Inhalten moderner Definitionen, dafür weit mehr an der Frage interessiert, wer zu welchen Zeiten beanspruchte festzulegen, was denn unter die Kategorie „internationale Organisation“ fallen sollte. Im Folgenden wird das Dilemma der Definition auf zwei Ebenen gelöst: Es sollen jene Elemente vorgestellt werden, die vom 19. bis ins 21. Jahrhundert immer wieder erscheinen. Schließlich soll auf zeitgenössische Definitionen Bezug genommen werden. Was also sind die definitorisch zentralen Elemente? Internationale Organisationen der Neuzeit werden durch ihr Verhältnis zu den Staaten bestimmt, sie sind Teil einer international sich erweiternden Zivilgesellschaft, und sie leisten einen grenzübergreifenden Informationstransfer für ihre Mitglieder.

Internationale Organisationen seit 1865.

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