Читать книгу Internationale Organisationen seit 1865. - Madeleine Herren - Страница 14
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ОглавлениеNetzwerke Der Begriff Netzwerke und dessen Anwendung auf die internationale Ordnung sind bereits in zeitgenössischen Quellen nachzuweisen. Als sozialwissenschaftlicher Begriff zur Analyse von komplexen Systemen („Netzwerkgesellschaft“) handelt es sich um ein Konzept, das vornehmlich vom spanischen Soziologen Manuel Castells (geb. 1942) geprägt wurde. Dieser geht von der mathematischen Definition untereinander verbundener Knoten aus. Für die historische Arbeit ist die Vorstellung von Netzwerken als heuristisches Prinzip hilfreich. Vorstellungen von Netzwerken helfen, die Vielfalt von grenzübergreifenden Prozessen zu verstehen und etablierte Vorstellungen von Hierarchien herauszufordern. Allerdings bleibt festzuhalten, dass grenzübergreifende Netzwerke ein analytisches Konstrukt darstellen. Netzwerke sind also nicht identisch mit Personen und Organisationen, beschreiben aber deren historisch sich wandelndes Interesse an grenzübergreifenden Konzepten.
Die Sozial- und Kulturwissenschaften bieten zwei Konzepte an, die sich zur theoretischen und methodischen Spezifizierung internationaler Netzwerke eignen: die Vorstellung von epistemischen Gemeinschaften – epistemic communities – wie auch die von einer internationalen und zuweilen auch globalen Zivilgesellschaft. Die epistemic communities gehen von der Bildung von Expertennetzwerken aus, die auch grenzübergreifend gedacht werden können. In der Tat gibt es epistemische Gemeinschaften wie den Zusammenschluss der Völkerrechtsexperten, die das Verständnis internationaler Organisation seit dem 19. Jahrhundert tiefgreifend prägen. Das Modell eignet sich überdies zur Darstellung der beeindruckenden Zunahme von Berufsverbänden aller Art und hat den Vorteil, dass die staatliche Nachfrage nach Expertenwissen, aber auch Prozesse der Professionalisierung und Bürokratisierung als internationale Phänomene erfasst werden können.
Internationale Frauenverbände
Allerdings lassen sich lange nicht alle im 19. Jahrhundert als „Internationalisten“ bezeichneten Personen als wissensbasierte Experten fassen. Vielmehr haben wesentliche, den Diskurs prägende Gruppen eine politische und ideologische Zielsetzung. Pazifisten wie Alfred Hermann Fried (1864–1921) prägten den internationalen Diskurs nachhaltig. Die Mitglieder der Interparlamentarischen Union, vor allem aber die Aktivistinnen der internationalen Frauenverbände stellen keine epistemischen Netzwerke dar und sind weit besser als internationale Zivilgesellschaft zu fassen. Die (Wieder)entdeckung des Begriffes der Zivilgesellschaft erlaubt den Blick auf jene Bereiche zu lenken, die sich zwischen Markt, Staat und Familie abspielen. Die Annahme einer globalen Zivilgesellschaft hat den großen Vorteil, internationales Lobbying sichtbar zu machen und jenes gesellschaftspolitische Engagement erfassen zu können, das vor allem die Frauenverbände meisterhaft beherrschten: Bis 1918 waren Frauen mit wenigen Ausnahmen vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen. Die Einforderung von politischer Partizipation erfolgte über eine Internationalisierung ihrer Verbände, die so erfolgreich war, dass sich in der Völkerbundssatzung sogar ein Gleichstellungsartikel befand. Eine ganze Reihe von zivilgesellschaftlichen Vereinigungen lernte bereits im 19. Jahrhundert, nationale Mängel, Verbote und Restriktionen über die Mobilisierung einer internationalen Öffentlichkeit zu verbessern oder zumindest zu umgehen. Dennoch hat der Ansatz auch seine Grenzen. Das Konzept geht von einem historischen Modell aus, das bei der politischen Vereinsbildung, bei Koalitionsrecht und Versammlungsfreiheit ansetzt. Ob internationale Organisation Individualrechte voraussetzt oder ob diese vielmehr über die Hintertüre grenzübergreifender Netzwerke erst geschaffen werden, bleibt eine schwierig zu beantwortende Frage. Nicht minder problematisch ist die unausgesprochene Vorstellung, dass eine grenzübergreifende Zivilgesellschaft eine grundsätzlich positive, demokratiefördernde Zielrichtung hat. Bislang sind demokratische Kontrollmechanismen erst im nationalen Rahmen wirksam – internationale Organisationen bieten dagegen beides: Möglichkeiten zur Schaffung von Freiräumen wie auch leicht zu unterwandernde Institutionen, die für kriminelle Netzwerke und totalitäre Einflüsse missbraucht werden können.
Grenzgänger, Internationalisten, Experten
Die Begriffe Epistemische Gemeinschaften und internationale Zivilgesellschaft sagen beide noch wenig darüber aus, welches persönliche Profil und welche Lebenswelten hinter der abstrakten Vorstellung der internationalen Organisation stehen. Bislang hat erst eine Publikation versucht, in einem vornehmlich auf die angelsächsische Welt ausgerichteten Dictionary of Internationalists einer grenzüberschreitenden Gesellschaft ein Gesicht zu geben. Internationalisten treten als Gruppe seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert auf unterschiedlichen Konferenzen und Kongressen in Erscheinung. Trotz der Vielfalt der Themen zeichnen sich diese Auftritte durch die gemeinsame Orientierung am Vorbild der Diplomatenkonferenzen aus.
Vorbild und Eliten
Die unübersehbare Nähe zur Diplomatie und die aristokratische Präsenz in einem Teil der internationalen Organisationen lassen darauf schließen, dass die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen ein Elitephänomen darstellt. In internationalen Organisationen ist die Aristokratie gut vertreten: Das monegassische Fürstenhaus profilierte sich vor dem Ersten Weltkrieg in der Meeresforschung, gleich mehrere Fürsten engagierten sich in internationalen Sportorganisationen, indische Maharani beteiligten sich in den dreißiger Jahren in internationalen Frauenorganisationen, erster Präsident des 1961 gegründeten WWF war Prinz Bernhard der Niederlande. Die Nutzung aristokratischer Netzwerke ist allerdings weniger erstaunlich als der offensichtliche Verlust ihrer Monopolstellung und die Besetzung internationaler Positionen durch bürgerliche Honoratioren und wissenschaftliche Experten. Man sollte allerdings angesichts der wachsenden Anzahl von „Internationalisten“ nicht unterschätzen, dass Grenzüberschreitung als Lebensform erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit einem gut bezahlten Posten in der UN-Administration gleichzusetzen war. Für die Zeit vor 1945 gelten Grenzüberschreitungen nach wie vor als risikoreich und Engagements in internationalen Organisationen als ambivalentes Lavieren zwischen Weltgewandtheit und Heimatlosigkeit. In internationalen Zentren wie Genf und Brüssel entstand eine moderne, etwas ratlose, vor allem aber hermetisch von der Außenwelt abgeschlossene Gruppe von Personen, die mit internationalen Kongressen und einer allmählich wachsenden internationalen Administration beschäftigt waren. Die einen, wie der in Korfu geborene jüdische Schriftsteller Albert Cohen (1895–1981), entdeckten in der Überschneidung verschiedener Kulturen eine eigene, transkulturelle Welt. Andere nutzten Netzwerke zu eigenen Zwecken. Unter den selbsternannten Internationalisten dürfte es nicht wenige geben, die als Hochstapler auf den dynamischen Zug der Internationalisierung aufsprangen. Sie kamen dem steigenden Bedarf an Personen entgegen, welche die wachsende Bedeutung des internationalen Networking und der Organisation bedienten. Fast allen gemeinsam ist dabei eine ausgesprochen nationale Form internationaler Präsenz. Kongresse – auch jene der Geflügelzüchter – versanken in einem Meer von nationalen Flaggen. Internationale Vereine, auch die allerkleinsten, setzten auf Multinationalität, nicht etwa auf kosmopolitische Globalität. Das nationale Profil internationaler Organisation prägte das 19. Jahrhundert und die Zwischenkriegszeit, trat aber nach 1945 hinter die ideologische Polarisierung des Kalten Kriegs zurück. Im 21. Jahrhundert gewinnt die Betonung des Nationalen derzeit besonders dort wieder an Bedeutung, wo es darum geht, der westlichen Dominanz im globalen System eine außereuropäische nationale Identität entgegenzuhalten (als Beispiel sei der rooted cosmopolitanism des britischen Philosophen Kwame Anthony Appiah erwähnt).