Читать книгу Unter den Narben (Darwin's Failure 2) - Madeleine Puljic - Страница 4

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1. Kapitel

Ramin

Chaos. Das war es, was die Bilder der Überwachungsvideos zeigten. Das war kein geordnetes Einschreiten der Exekutive, keine Spur einer Überlegenheit der optimierten Bevölkerungsschicht. Das war brutales, sinnloses Gemetzel, weiter nichts.

Ramin wandte sich von dem Bild ab, das auf die gesamte Fensterfront des Besprechungssaals projiziert war. Er hatte genug gesehen. Im Gegensatz zu den anderen Regierungsmitgliedern kannte er das Elend der Straße aus eigener Erfahrung. Ganz gleich, wie lange seine Jahre als Priester zurücklagen und wie gut er sie vor den anderen verbarg – vergessen konnte er sie nicht.

Er musterte die unbeteiligten Gesichter seiner Kollegen. Es war nicht so, als wären ihnen die Vorgänge in der Stadt völlig gleichgültig – jede weitere Stunde, die dieser Aufstand andauerte, bedeutete herbe finanzielle Verluste für die Oberschicht. Sie empfanden nur einfach nichts, weil es für sie nichts zu empfinden gab. Emotionen waren ein Störfaktor, und den hatte man entfernt.

Die Puristen sind fanatische Spinner, dachte er grimmig, aber sie haben recht. Diese Leute hier sind keine Menschen mehr. Nur funktionierende Organismen, die im Reagenzglas zu größtmöglicher Effizienz zusammengemischt wurden. Sie besitzen kein Herz. Keine Seele.

»Das ist erbärmlich.« Der Präsident tippte mit seinen Wurstfingern auf die Tischplatte. Der Bildschirm verschwand und gab den Blick frei auf die dicke Smogschicht, unter der Noryak begraben lag.

Ramin wollte lieber nicht wissen, was dieser Mann seinem Körper antun musste, um derart übergewichtig zu sein. Ein gesteigertes Maß an körperlicher Fitness war jedem Optimierten gegeben, einem so hoch Optimierten wie dem Präsidenten erst recht. Aber Sepion sah es als seine Art, seine genetische Überlegenheit zu demonstrieren: Er hatte es nicht nötig, körperlich fit zu sein. Während halb Noryak hungerte, mästete sich der Präsident zum unappetitlichen Fettklops. Ramin bezweifelte, dass er den anderen Ministern dadurch Respekt einflößte. In ihm weckte es jedenfalls nur Abscheu und Verachtung. Aber die empfand er ohnehin für alle in diesem Raum.

»Jorek!«, wandte Sepion sich an den Mann neben sich. »Ich verlange eine Erklärung für dieses … Debakel.«

»Die Aufstände der Rebellen werden niedergeschlagen, wie du befohlen hast, Präsident«, erwiderte der Kriegsminister ruhig. Zu ruhig für jemanden, der eigentlich gerade um seinen Posten fürchten musste.

Der Präsident sah das wohl genauso. »Deine Befehle lauteten, Arbeiter nur zur Verstärkung einzusetzen, unter der Aufsicht der Exekutive. Sah das für dich so aus, als hätten deine Leute noch die Oberhand über diesen Pöbel?«

Ramin glaubte, leise Verblüffung in den Zügen des Kriegsministers zu sehen. »Die Arbeiter schließen sich unseren Truppen von selbst an«, erklärte Jorek. »Ohne Bezahlung. Und wir können ihre Stärke nutzen …«

»Es sind Natürliche!«, unterbrach ihn der Präsident. »Wir können nicht zulassen, dass unsere Sicherheit von einem Haufen Missgeburten abhängt! Regle das gefälligst. Und was habe ich über Gefangene gesagt?«

»Wir haben Gefangene unter den Puristen gemacht, wie du befohlen hast. Aber sie wollen nicht reden.«

»Dann bring sie gefälligst zum Reden!« Nun hatte der Präsident die völlige Aufmerksamkeit der Versammlung. »Sie verstümmeln sich selbst, hast du etwa Skrupel, es ihnen gleichzutun? Es gibt genug von ihnen da draußen.« Er deutete in Richtung der Fenster, wo die Aufnahmen zu sehen gewesen waren. »Durch solche Aktionen werden wir ihnen jedenfalls nicht beikommen. Ich will wissen, wo sich diese Kreaturen verstecken. Ich will, dass dieser leidige Zustand ein Ende hat, bevor uns noch mehr Investoren abspringen. Verstanden?«

Jorek sah sich um, doch die anderen Minister schwiegen. Niemand wollte Stellung beziehen. Das war Joreks Angelegenheit, nicht ihre. »Ja, Präsident.«

»Gut. Dann wäre wenigstens das geklärt. Eniel, wie sieht es mit dem Wiederaufbau des N4-Centers aus?«

Völlig übergangslos, als würden nicht jede Nacht Hunderte Menschen auf den Straßen sterben und als hätte er nicht soeben das gnadenlose Foltern unzähliger weiterer befohlen, kehrte der Präsident zur Tagesordnung zurück. Es waren nur Zahlen, die Investoren abschreckten. Ein leidiger Zustand.

Je mehr Zeit Ramin in den Reihen der Klone verbrachte, desto mehr begann er, sie zu hassen.

Haron

»Wir sollten die Baustelle zerstören.« Ariats Stimme klang träge, als würde sie ihren Worten nicht die geringste Bedeutung beimessen. Ihr Kopf lag auf seiner Brust, ihre Finger strichen über die verschwitzte Innenseite seines Schenkels hoch und dann ebenso quälend langsam wieder hinab zu seinem Knie.

»Sie ist zu gut bewacht.« Mit seiner rechten Hand – der einzigen Hand, die ihm geblieben war – packte Haron ihren Unterarm und versuchte, sie an die Stelle zu befördern, an der er sie haben wollte. Mit einer geschickten Drehung entwand Ariat sich seinem Griff.

»Und das hält dich ab?«, fragte sie. »Je mehr von ihnen wir erwischen, desto besser!«

Vor ein paar Wochen noch hätte er ihr voll und ganz zugestimmt. Die Vorbereitungen für den Anschlag auf das N4-Center hatten Monate in Anspruch genommen. Sie hatten zu viel riskiert, zu viel investiert, um jetzt tatenlos mit anzusehen, wie die Oberschicht die Ruine des alten Centers einfach durch ein neues ersetzte. Er durfte nicht zulassen, dass die Klonforschung fortgesetzt wurde, als wäre nichts geschehen. Wenn er seine Leute umsonst in einen Bürgerkrieg gestoßen hatte, würden sie bald alles infrage stellen. Sich gegen ihn wenden.

Aber das Risiko allein war nicht der einzige Grund für sein Zögern. Mittlerweile hatte Haron andere Prioritäten. Es genügte, einmal versuchsweise tief Luft zu holen, um sich daran zu erinnern.

Die Sprengung des N4 hatte die Unterstadt von ihrer Hauptluftzufuhr abgeschnitten, weil er die Konsequenzen nicht bis zum Ende durchdacht hatte. Und je mehr Anhänger sie gewannen, desto knapper wurden ihre Vorräte. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Hunger Einzug hielt. Zuerst musste er einen Weg finden, das Überleben der Reinen zu sichern, dann erst konnte er neue Aktionen riskieren.

Nicht, dass er diese Sorgen irgendjemandem anvertrauen würde – Ariat am allerwenigsten. Es war auch nicht nötig. Die Baustelle in die Luft zu jagen, entsprach ohnehin nicht seinen Plänen.

»Es sind Arbeiter, die dort oben schuften, Ariat«, erinnerte er sie. »Keine Klone. Willst du etwa unsere eigenen Leute umbringen?«

Ihre Antwort bestand aus einem unwilligen Schnauben. »Wenn es unsere Leute wären, wären sie hier unten! Wenn wir sie in den Straßen niedermachen, quält dich auch nicht dein Gewissen.«

»Weil sie sich uns entgegenstellen! Aber die Menschen auf der Baustelle erledigen nur ihre Arbeit. Sie versuchen, zu überleben.«

Er selbst hatte einmal nichts anderes getan. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, doch das bedeutete nicht, dass er sein Leben an der Oberfläche einfach vergessen konnte.

Ariat stieß ein abfälliges Lachen aus, als wäre der Wunsch nach dem blanken Überleben nicht weiter ernst zu nehmen. Keine wirklichen Probleme, sondern nur eine kleine Unannehmlichkeit.

Ihre Ignoranz war mehr, als Haron hinnehmen konnte. »Was weißt du schon vom Leben dort oben?«, fuhr er sie an. »Du hast keine Vorstellung davon, du hast nie in einer der Fabriken geschuftet. Dort ist es schwer genug, den Tag zu überstehen!«

Mühsam schüttelte er die Erinnerung an sein altes Leben ab. Er konnte den Arbeitern nur helfen, wenn er das System änderte, und dazu musste er sich auf die Zukunft konzentrieren. Er musste voll und ganz Purist sein.

Davon abgesehen waren noch mehr Anhänger so ziemlich das Letzte, was er hier unten gebrauchen konnte. Wovon sollte er sie ernähren? Die Plünderungen brachten zu wenig ein, und er hatte ohnehin immer mehr Mäuler zu stopfen. Er musste eine Lösung finden, und zwar bald. Einen Weg, zu Ende zu bringen, was sie begonnen hatten, bevor es zu spät war.

»Du wirst lasch.« Ihre aufs Neue wandernden Finger machten deutlich, dass sie damit nicht nur seine Führungsmethoden meinte. »Das sollten wir ändern.«

Ariat rutschte tiefer. Ihr Atem streifte seinen Bauch, ihre Hände glitten seine Schenkel hinauf. Sie beugte sich hinab und flüsterte: »Oder hängst du auch dafür zu sehr an deiner Vergangenheit?«

»Was meinst du?« Jetzt, da sie sich endlich seinen körperlichen Bedürfnissen zu widmen begann, hatte er noch weniger Interesse an diesem Gerede.

Sie sah zu ihm auf. Die blassen Narben in ihrem Gesicht zuckten im schwachen Licht der Lampen. Sie verliehen ihrem Lächeln einen Hauch von Wahnsinn. »Glaubst du, ich weiß nicht, an wen du nachts denkst?«

»Ich denke an niemanden.« Zumindest versuchte er das.

»Natürlich. Du hast auch niemandem eine Blüte ins Fenster gesteckt.«

Schlagartig hatte sie seine Aufmerksamkeit. »Was?«

Es gab nur eine Blume, die er verschenkt hatte, und das hatte er in aller Heimlichkeit getan. Davon war er bis jetzt jedenfalls überzeugt gewesen. Er packte Ariat am Handgelenk.

»Woher weißt du davon? Bist du mir etwa gefolgt?« Er durchforschte seine Erinnerung, ob sie zu jener Zeit schon aufdringlich geworden war, aber die Wut hinderte ihn daran, seine Gedanken zu ordnen.

»Oh, keine Angst. Ich bin nicht eifersüchtig … Sie hätte ohnehin nichts damit angefangen.«

Hätte? Sein Griff wurde eisern, doch das Lächeln blieb unverändert auf Ariats Lippen. Selbst dann, als er sie grob auf Augenhöhe riss.

Diese Blüte war sein Abschiedsgeschenk an Sianna gewesen – seine Frau, sein früheres Leben. Sie war der einzige Mensch, der ihm je etwas bedeutet hatte, und er hatte nie eine Gelegenheit bekommen, sich von ihr zu verabschieden. Die Blüte war alles gewesen, was er ihr hatte geben können. Eine Entschuldigung, ein Lebwohl, ein guter Wunsch für die Zukunft. Etwas Schönes und Einzigartiges, das ihr Freude schenken sollte … Dieser Gedanke hatte ihm Halt gegeben, wenn die Schuldgefühle und Zweifel übermächtig geworden waren. Und nun sollte sie sein Geschenk nie bekommen haben?

»Was hast du damit gemacht?« Jedes Wort brannte wie Feuer in seinen Eingeweiden, doch Ariat blieb unbeeindruckt.

»Wieso regst du dich so auf?«, erwiderte sie kühl. »Es ist ja nicht so, als hättest du ihr die Blüte persönlich gegeben. Hattest du Angst, was sie zu deinen Narben sagen würde?«

»Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst!«

In Wahrheit kam Ariat seinen Befürchtungen weit näher, als er sich eingestehen wollte. Hatte ihn nicht der Gedanke von Sianna ferngehalten, dass sie bei den Puristen, als Teil seines neuen Lebens, kein Glück finden würde? Dass sie ohne ihn an der Welt festhalten konnte, die alles war, was sie kannte? Dass er es nicht ertragen hätte, wenn sie auf seinen Anblick mit Furcht und Abscheu reagiert hätte?

Geschickt nutzte Ariat seine Unachtsamkeit und machte sich von ihm los.

»Wo willst du hin?«, fragte er.

Ihre Gestalt hob sich dunkel gegen das Licht ab. Trotzdem sah er deutlich die Schnitte auf ihrem Rücken, die er auf ihren Wunsch dort hinterlassen hatte. Sie sahen entzündet aus – durch Xenos’ Verschwinden war ihnen auch der einzige Arzt abhandengekommen, den die Puristen besaßen. Noch so ein Problem, für das er keine Lösung hatte.

»Du denkst, ich weiß nicht, wovon ich spreche?«, fragte sie. »Ich weiß jedenfalls, dass du sie zurückgelassen hast. Du hättest sie längst zu uns holen können, aber das hast du nicht. Stattdessen kommst du zu mir. Und das immer wieder.«

Mit flinken Fingern haschte sie nach ihren Kleidern. Haron kam ihr zuvor. Er sprang auf und drückte sie grob an die raue Felswand. Sein Gesicht befand sich nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Er fühlte die Muskeln in seinen angespannten Kiefern zucken. Unbändige Wut tobte in ihm. Über ihren Ungehorsam, ihre dreiste Hinterlistigkeit … Nur mit Mühe gelang es ihm, seinen Griff lösen.

Statt ihr den schmalen Hals umzudrehen, nahm er ihre Kleider und stieß ihr damit vor die Brust. »Raus mit dir.«

»Bist du verrückt? Das ist mein Zimmer!«

Als ob ihn das im Augenblick kümmern würde. Er packte sie grob an der Schulter. Nackt, wie sie war, schob er sie durch den Vorhang, der als Abdeckung ihrer Wohnnische diente. Hinaus in das Tunnelgewirr der Unterstadt.

Sianna

Ein stetes, ohrenbetäubendes Hämmern dröhnte durch die Fabrikhalle. Staub und Ruß hingen in der Luft, so dicht, dass Sianna kaum atmen konnte. Es brannte in den Augen, verklebte ihre Lunge. Aber niemand sonst schien sich daran zu stören. Also unterdrückte sie den Hustenreiz und nahm ihren Platz an dem Fließband ein, das die Lagerhalle in mehrere Bereiche zerteilte. Schwäche zu zeigen beendete in den Fabriken leicht ein Leben. Es war ihr erster Tag hier, auf keinen Fall wollte sie auffallen.

Hoch über ihr stampften die Maschinen einen beunruhigenden Rhythmus. Sie versuchte, nicht zusammenzuzucken, wenn der metallene Arm direkt neben ihr herniederfuhr und sich in den Schutt grub, den die Arbeiter auf den Bändern sortierten. Sianna rief sich in Erinnerung, dass diese Fabrik nicht gefährlicher war als ihre letzte. Ihr würde nichts geschehen, solange sie sich aus der Reichweite der Mahlwerke fernhielt.

Wenn nur das Zittern in ihren Händen nicht gewesen wäre.

Mühsam suchte sie brauchbare Beton-und Stahlstücke aus dem vorbeiziehenden Geröll heraus, damit sie für den Bau neuer Gebäude wiederverwendet werden konnten. Mit jedem Brocken sah sie ein Unglück unvermeidlich näherkommen. Es fiel ihr nicht schwer, sich vorzustellen, wie die herabfahrenden Hebel ihre ungeschickten Finger zermalmten. Nicht, nachdem Haron dasselbe widerfahren war – und er hatte jahrelang an der Maschine gearbeitet, die ihm den Arm zertrümmert hatte.

Bei den Gedanken an ihren Mann wurde das Zittern schlimmer, also verscheuchte sie die Erinnerung. Es war egal, wie oft sie sich fragte, was aus ihm geworden war. Sie würde keine Antwort finden. Die Klinik, in der er nach seinem Unfall behandelt worden war, hatte ihr nach seinem Verschwinden kommentarlos eine Rechnung ausgestellt. Die hatte nahezu den gesamten Betrag verschlungen, den Sianna für den N4-Gutschein erhalten hatte. Sie hatte das Leben ihres Mannes mit ihrem ungezeugten Kind erkauft, mit dem Traum von einer besseren Zukunft. Und er hatte sie verlassen.

Sie wusste, dass er es für sie getan hatte. Hätte sein Aufenthalt im Krankenhaus nur ein paar Tage länger gedauert, wäre ihr gar nichts geblieben. Noch eine Woche, und die Schulden hätten begonnen. Schulden, die sie niemals hätte zurückzahlen können. Doch ihr Herz wollte von Verständnis nichts wissen, und mit einem gewissen Trotz hielt sie an ihrer Wut fest. Nach all dem Schmerz, nach der Angst und der Verzweiflung, war ihr Zorn das Einzige, an das sie sich noch klammern konnte. Denn das Geld hatte nicht lange gereicht.

Mit ihrem Lohn allein konnte sie sich keine richtige Wohnung leisten. Eine Weile lang hatte sie den Vermieter noch auf andere Weise bezahlen können, aber der war ihrer rasch überdrüssig geworden. Mit den Worten, dass er an jeder Ecke billigere Mädchen haben konnte, hatte er sie vor die Tür gesetzt.

Da hatte die Angst erst richtig begonnen.

An leerstehenden Gebäuden mangelte es Noryak nicht. Überall fand man billig gebaute Häuser, die zu wenig brauchbares Material enthielten, um einen Abriss zu rechtfertigen. Es waren allerdings kaum mehr als Ruinen, die irgendwann von selbst zusammenfielen.

Was Sianna jedoch wirklich fürchtete, waren die Nächte.

Die Nächte, in denen das Feuer wütete. In denen Schreie hallten und Leute starben.

Seitdem die Aufstände tobten, war das Leben unerträglich geworden. Lebensmittel waren unerschwinglich, für einen Wochenlohn erhielt sie gerade einmal einen Laib Brot und eine Dose Fleisch. Und wer sich zur Arbeit wagte, lief auch noch Gefahr, von vermummten Wahnsinnigen attackiert zu werden.

Haron hätte sie vor diesen Verrückten beschützt, doch Sianna machte sich wenig vor. Sie hatte den Zustand gesehen, in dem er an jenem Tag aus dem Krankenhaus geflohen war. Allein konnte er nicht lange überlebt haben, und Hilfe hätte er niemals angenommen.

Sein Stolz hatte sie oft geärgert, aber wenn man sich ansah, wie die Welt inzwischen geworden war, war es vielleicht besser …

»Was ist los mit dir, Neue?«, höhnte eine raue Stimme hinter ihr. Sie klang eindeutig zu nah.

Bevor Sianna sich umdrehen konnte, drückten grobe Hände auf ihr Gesäß und schoben sie gegen das Fließband. Nur wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht krachte der Metallarm herab, zerbrach den Beton und legte den wertvollen Stahl darin frei. Ihr Körper bebte, bei jedem noch so vorhersehbaren Knirschen der Maschine krampfte sich alles in ihr zusammen.

»Du bist zum Arbeiten hier, also schlaf nicht ein! Oder muss man dir etwa erst zeigen, wie man richtig zupackt?«

Jemand lachte. Sianna kniff die Augen zu, als der Metallklotz ein weiteres Mal herabstieß. Sie fühlte seine Wucht bis in ihre Knochen hinein vibrieren. Unsinnigerweise war ihr einziger Gedanke, dass sie ihren Overall nicht vollbluten durfte, wenn sie unter die Maschine geriet. Es war der letzte Besitz, den sie noch hatte. Auch wenn jeder Arbeiter einen von seiner Fabrik zur Verfügung gestellt bekam – ihr Exemplar war noch neu, und brauchbare Kleidung war auf dem Schwarzmarkt immer etwas wert.

Statt sie jedoch endgültig auf das Fließband zu befördern, lockerte der Schichtleiter seinen Griff.

»Wenn du deine Stelle behalten willst«, flüsterte er ihr zu, »dann solltest du heute ein paar Überstunden dranhängen.«

Als sie sich am Abend in ihre schäbige Bleibe schleppte, hatte sie nicht einmal mehr die Kraft, den Tumulten aus dem Weg zu gehen. Ringsum brannten Müllberge und Fahrzeuge, die Straßen waren übersät mit Schutt und zersplittertem Glas. Sianna setzte einen Fuß vor den anderen. Zu mehr war sie nicht in der Lage. Sie zuckte kaum zusammen, als hinter ihr eine Fassade explodierte. Betonbrocken prasselten zu Boden, doch das alles waren nur Hintergrundgeräusche. Die Welt war dumpf und grau.

Sianna taumelte zwischen den Aufständischen hindurch. Die johlenden Puristen schenkten ihr ebenso wenig Beachtung wie der wütende Mob von Arbeitern, der sich ihnen entgegenstellte. Jede Gruppe hielt sie für eine der ihren. Es kümmerte sie nicht mehr. Ohne aufzublicken, folgte sie den enger werdenden Gassen, bis sie sich schließlich an einem Müllberg vorbeizwängte. Der stinkende Haufen Abfall bildete die einzige Tür, die das Haus besaß, in dem sie Zuflucht gefunden hatte.

Sianna fühlte sich wund und leer. Vielleicht würde sie den nächsten Morgen nicht erleben. Einzuschlafen und einfach nicht mehr aufzuwachen … Was für ein tröstlicher Gedanke.

Aber sie wusste es besser. Morgen würde bloß ein weiterer Tag sein, und sie würde ihn nur auf dieselbe Art überstehen, wie sie den heutigen hinter sich gebracht hatte.

Auf den allgegenwärtigen Bildschirmen, von denen man selbst in der Metro und in den Fabriken nicht verschont wurde, hatte es geklungen wie ein Versprechen. Tagelang hatten die Nachrichten das Unglaubliche verkündet: Zum ersten Mal seit Jahrzehnten waren Arbeiter nicht im Überfluss vorhanden. Höhere Löhne für jeden, der zur Schicht erschien. Nicht in Siannas alter Anstellung, Textilien hatten in Zeiten wie diesen keine Priorität. Aber unweit heuerte eine Baufirma neue Leute an.

Sianna hatte es für ein Zeichen gehalten, dass es doch noch Hoffnung gab für sie. Die Chance auf eine bessere Zukunft, ohne Hunger und Angst. Bei diesem Gedanken krampfte sich ihr geschundener Unterleib unwillkürlich zusammen. Sie presste eine Hand an ihren Bauch. Auf die Narbe, die Haron an ihrem letzten gemeinsamen Abend geküsst hatte.

Mit dem Zuschuss für ein auch nur geringfügig optimiertes Kind hätten sie ein neues Leben beginnen können, einen Schritt aus der Armut heraus. Aber das Schicksal hatte sich gegen sie gewandt. Erst Harons Unfall, und dann … Selbst wenn sie nicht gezwungen gewesen wäre, den Gutschein zu verkaufen, und die DNS-Entnahme zustande gekommen wäre – mittlerweile lag das Center in Schutt und Asche.

Sianna sank auf die fleckige Matratze, die ihr als Bett diente. Müde schob sie die Arme um ihre Schultern und umklammerte ihren Körper. Für sie würde es kein Kind geben, und das war gut so. Jemand ohne Optimierung konnte bestenfalls in den Fabriken enden. Zu so einem Leben wollte sie niemanden verdammen. Sie wollte es nicht einmal selbst leben.

Ihr fehlte nur der Mut, etwas daran zu ändern.

Atlan

Er sah in die Gesichter der Gläubigen, die sich auf den Bänken seines Gebetshauses eingefunden hatten. Sie waren müde und abgezehrt. Und mit jeder Messe wurden es weniger.

Sie waren hungrig, suchten Rat und Trost. Nichts davon konnte er ihnen geben. Die Spenden, die er und die anderen Priester früher an die Unterschicht verteilt hatten, waren bereits vor Wochen versiegt. Atlan verteilte, was er in besseren Zeiten zurückgelegt hatte, aber seine Vorräte gingen zur Neige. Niemand konnte etwas entbehren. Alle hungerten sie, brauchten … Und er hatte nichts als leere Worte für sie. Was sollte er ihnen sagen? Dass sich alles zum Guten wenden würde, dass sie nur durchhalten mussten?

Die Frau rechts vorne in der zweiten Reihe hatte ihren Mann in den nächtlichen Feuern verloren. Der Arbeiter hinter ihr seinen Sohn, weil der zur Schicht in einer der Fabriken angetreten war. Würde sich irgendetwas daran wieder zum Guten wenden? Nein. Nicht einmal den Trost eines besseren Lebens nach dem Tod konnte er den Hinterbliebenen geben. Davon sprach nur der alte, vergessene Glaube. Über Noryak wachte nur ein Gott: der Enttäuschte, der sich von der Menschheit abgewandt hatte und nur noch ein strafendes Auge auf die Menschen richtete.

Für Atlan fühlte es sich so an, als hätte Gott nun auch dieses letzte Auge vor den Taten seiner Schöpfung geschlossen. Was also sollte er diesen Leuten sagen? Alle Worte fühlten sich fahl und unbedeutend an. Lügen, nichts weiter.

Er wünschte, er hätte den Hass in sich, der in anderen Gebetshäusern gepredigt wurde. Hass auf die Klone, die Schuld waren an allem. Hass auf die Puristen, die den Krieg gebracht hatten. Doch er war zu sehr zwischen den Fronten gefangen. Er hatte eine Klonin geliebt und sie durch die Hände der Puristen auf grausame Art verloren. Die Puristen wiederum … Sie waren nicht alle schlecht. Das konnten sie nicht sein.

Füße schabten über den abgenutzten Fliesenboden. Wie lange hatte er seine Gemeinde nun bereits wortlos angestarrt? Zu lange jedenfalls.

Doch immer noch zögerte er. War es Hass, den sie hören wollten? Bisher hatte er in seinen Predigten von Vergebung und Nächstenliebe gesprochen und ihre Herzen damit erreicht. Aber seit der Krieg begonnen hatte, verlor er sie. An das Feuer, an die Kugeln … und an andere Priester, die ihre Wut und ihren Schmerz nicht abwiegelten, sondern rechtfertigten.

War es das, was die Menschen brauchten? Jemanden, der sie in ihrem Zorn bekräftigte und ihnen das schlechte Gewissen nahm, wenn sie ihre Menschlichkeit vergessen und zu einem weiteren Rädchen in der gewaltigen Maschine dieses unglückseligen Krieges werden wollten?

Nein, nicht seine Anhänger. Sie waren ihm treu geblieben, gerade weil er nicht demselben Pfad folgte wie andere. Weil sie nicht dem Hass verfallen wollten. Sie brauchten ihn als Stütze.

Viele von ihnen hatten Niove gekannt, sie als eine der ihren gesehen, ohne zu ahnen, dass ihre Gene nichts Natürliches an sich hatten. Sie hatten den Menschen in Niove gesehen. Klon, optimiert, natürlich, Purist – das alles waren nur Facetten ein und derselben Spezies. Er würde keinen Hass gegen eine davon predigen.

Entschlossen straffte Atlan die Schultern. Er räusperte sich, und das unruhige Schaben verstummte.

»Ich danke euch für euer Kommen«, begann er. »Gerade in diesen Tagen ist es schwer, sich nicht von der Gewalt vereinnahmen zu lassen, die unsere Leben bestimmt, jetzt mehr denn je. Den Mut nicht zu verlieren. Ein Opfer zu sein, während unsere Nachbarn, unsere Freunde zu Tätern werden. Aber ihr seid keine Opfer.«

Verwirrte, unglückliche Mienen bei seinen Gläubigen. Sie begriffen nicht, worauf er hinauswollte. Atlan war von seinen Worten selbst überrascht. Sie entsprachen nicht dem Ton seiner üblichen Reden. Doch nun, da er sie einmal gefunden hatte, sprudelten sie unaufhaltsam aus ihm hervor.

»Damit meine ich nicht, dass ihr euch zur Wehr setzen sollt. Das Letzte, was Noryak braucht, ist noch mehr Wut und Tod. Wer sich aus freien Stücken an den Kämpfen beteiligt, die unsere Stadt heimsuchen, ist nicht besser als jene, die sie angezettelt haben. Aber ihr müsst es auch nicht still erdulden, wenn man euch bedroht. Wenn man euch eure Liebsten nimmt. Wenn man euch Nahrung und Sicherheit nehmen will. Ihr müsst nicht die andere Wange hinhalten.«

Ein Gleichnis, das Meister Ektor, Atlans Vorgänger und Lehrer, gerne gebracht hatte. Wenn dir jemand auf die rechte Wange schlägt, dann halte auch die andere hin. Atlan hatte viele Weisheiten seines Meisters übernommen, ohne an ihrem Sinn zu zweifeln. Diese zählte nicht dazu. Wenn seine Kindheit im Kloster ihn eines gelehrt hatte, dann, dass Peiniger niemals aufhörten, wenn man sie auch noch in ihrem Tun bestärkte. Sie schlugen nur stärker zu.

»Ihr seid keine Opfer«, wiederholte er deshalb. »Seht euch um.« Er machte eine Geste, mit der er den gesamten Innenraum des Gebetshauses einschloss. »Ihr seid nicht alleine. Ihr müsst nicht alleine leiden.«

Die versammelten Menschen folgten zögernd seinem Appell. Verstohlen sahen sie sich um, begegneten erstmals den Blicken ihrer Sitznachbarn. Abend für Abend fanden sie hier gemeinsam zusammen, lauschten seinen Predigten und waren eine Gemeinschaft. Das änderte jedoch nichts daran, dass außerhalb dieses Gebäudes der Alltag lauerte, und dort draußen galt nach wie vor: Jeder war sich selbst der Nächste. Fremde konnten einen ausnutzen, verraten und hintergehen. Je weniger Leuten man vertraute, desto sicherer war man. So jedenfalls war es früher gewesen. Die Zeiten hatten sich geändert. Konkurrenz um die zu wenigen Arbeitsplätze war nicht länger das, was diesen Leuten Sorge bereiten musste.

»Ihr seid nicht alleine. Ihr seid viele. Wir sind viele. Wir können einander helfen. Wir wollen alle dasselbe: überleben. Wenn ihr Tag für Tag füreinander da seid, so wie ihr es hier seid, dann können sie euch nicht zu Opfern machen. Schützt euch. Unterstützt euch. Habt Vertrauen. Begegnet dem Krieg mit Frieden. Seid das, was Puristen und Klone gleichermaßen vergessen haben: Seid menschlich!«

Betretenes Schweigen breitete sich aus. Sie starrten ihn an, fassungslos. Vielleicht auch enttäuscht. War er zu weit gegangen? Er wollte doch nur helfen!

Der Mann in der zweiten Reihe, dessen Sohn noch keine Woche tot war, erhob sich. Sein Blick war fest auf Atlan gerichtet. Dann drehte er sich um – und streckte dem Mädchen zu seiner Rechten die Hand entgegen. »Vertrauen für Frieden.«

Unter den Narben (Darwin's Failure 2)

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