Читать книгу Unter den Narben (Darwin's Failure 2) - Madeleine Puljic - Страница 5
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Haron
So sehr es Haron auch widerstrebte, er wusste, dass Ariat recht hatte. Er hatte seinen Leuten ein Versprechen gegeben: die Klone zu vernichten und die Reinen aus ihrem Elend zu erlösen. Und nicht nur sie, auch die Arbeiter, die an der Oberfläche zurückgeblieben waren. Menschen sollten nicht länger in Fabriken sterben, das billigste Ersatzteil der Maschinerie.
Nun, zumindest diesen Teil hatte er gehalten. Stattdessen starben sie jetzt auf den Straßen.
Aber doch nur, weil sie sich gegen den Umbruch wehrten, der ihnen helfen sollte! Haron verstand die Angst, die sie dazu bewog. Es änderte nichts. Er brauchte sie. Wenn sich die gesamte Unterschicht erhob, die Türme der Oberschicht erstürmte und dem künstlichen Dasein ein Ende bereitete, gäbe es nichts, was diese verfluchten Klone dagegen unternehmen könnten. Sie waren schwach. Haron wusste, dass er im Recht war. Und dennoch verlor er diesen Krieg, weil es ihm an Ressourcen mangelte.
Er musste handeln. Nicht, um Ariat zu besänftigen – die war im Augenblick seine geringste Sorge, so gerne er auch die sture Aufmüpfigkeit aus ihr herausgeprügelt hätte. Doch in erster Linie musste er an die Menschen denken, die von ihm abhängig waren. Sie würden nicht mehr lange durchhalten. Er musste den Krieg beenden, und zwar bald.
Dazu brauchte er allerdings etwas Großes. Etwas, das den Arbeitern zeigte, dass die Kluft zwischen Ober-und Unterschicht überwunden werden konnte. Dass sie nicht auf die Willkür von Klonen angewiesen waren, sondern ihr Leben selbst bestimmen konnten. Etwas, das die Missgeburten in den Boden stampfte – und bei dem es keine Kollateralschäden unter den Arbeitern geben durfte. Diesmal musste alles nach Plan laufen.
Haron wusste, was er zu tun hatte. Aber dazu benötigte er Hilfe, und es gab nur einen Ort, wo er sie finden konnte.
Er zog die verbeulte, rostige Kiste unter dem Brettergestell hervor, die ihm als Bett diente. Es war lange her, dass er sie zuletzt benötigt hatte, doch der Deckel ließ sich ohne Schwierigkeiten öffnen. Haron entfaltete den Kapuzenmantel aus grobem, grauem Stoff und seufzte. Er hatte sich nicht mehr verhüllt, seit er die Puristen zum offenen Widerstand aufgerufen hatte, stolz trug er seine Narben zur Schau.
Heute jedoch brauchte er Anonymität.
Kurzentschlossen klemmte er sich das Bündel unter den Armstumpf und schob mit der Rechten den Vorhang seiner Wohnnische auf. Er hielt sich an die weniger belebten Gänge des Tunnellabyrinths. Doch mit all den Neuankömmlingen war ungenutzte Fläche hier unten mittlerweile Mangelware, und als Anführer der Reinen lag sein Wohnbereich im Zentrum. Es dauerte nicht lange, bis ihm neugierige Blicke folgten. Haron ignorierte sie. Er war niemandem Rechenschaft schuldig, seine Pläne gingen vorerst nur ihn etwas an.
Er zwängte sich durch die Menschenmenge, die sich zu jeder Tageszeit in der Haupthalle einfand und jeden freien Platz einnahm. Überall standen und saßen hagere Gestalten, die aus schmutzigen Schalen Portionen aßen, von denen Haron wusste, dass sie zu knapp bemessen waren. Er selbst hatte die Rationierung vorgenommen. Und doch tat er, als sähe er den Hunger in ihren Augen nicht. Er beschleunigte seine Schritte, ließ den Blick über die Menge schweifen. Zu viele dieser Menschen waren ihm fremd. Er kannte ihre Namen nicht, oftmals nicht einmal ihre Gesichter. Von ihrer Gesinnung ganz zu schweigen.
Endlich erspähte er den bulligen Umriss, nach dem er gesucht hatte. Hemmon hatte es sich am Rand der Gruppe bequem gemacht. Er hielt ein Kleinkind auf dem Schoß, von dem Haron wusste, dass es nicht seines war. Allerdings konnte er selbst aus dieser Entfernung erkennen, dass die dazugehörige Mutter allen Grund gab, sich um den Bastard zu kümmern. Eine kurvige Schönheit mit dunkel gefärbten Narben auf den bloßen Armen, die ihr ein wildes, entschlossenes Aussehen verliehen. Ihre schmachtenden Blicke machten diesen Eindruck keineswegs zunichte, vor allem, da Hemmon sie ungeniert erwiderte.
Haron zögerte, wurde langsamer. Wollte er Hemmon wirklich erneut an die Front zerren, fort von dieser Frau?
Dann blitzte in ihm die Erinnerung auf, wie eben dieser Mann sich schnaufend und schwitzend auf der Klonin bewegt hatte, die sie gefoltert hatten – während sie sie gefoltert hatten –, und der Zweifel verschwand. Hemmon war der Richtige für diese Aufgabe, nicht allein durch seinen beeindruckenden Körperbau, sondern weil er unberechenbar brutal sein konnte, wenn Haron ihm das Recht dazu einräumte.
Haron trat neben ihn. »Komm. Ich habe eine Aufgabe für dich.« Es war ihm gleich, wer seine Worte hörte.
Hemmon sah auf. Er stellte keine Fragen, ignorierte das Quengeln des Kindes und drückte es wortlos der Mutter in die Arme.
»Aber Hemmon …«
Der Riese brachte sie mit einem Kopfschütteln zum Schweigen. Der Aufstand kam an erster Stelle, alles andere danach. Wenigstens das hatte sich nicht geändert.
»Hol deinen Umhang«, forderte Haron, sobald sie den Hauptraum hinter sich ließen. Nun hob Hemmon doch fragend die Augenbrauen. Haron ließ sich auf keine Diskussionen ein. »Los, mach schon.«
Er selbst hatte die Reinen erst dazu aufgefordert, sich nicht länger zu verhüllen, weil dieser passive Protest nichts bewirkte. Nun würde er nicht anfangen zu erklären, weshalb man eben doch manches Mal Kompromisse eingehen musste.
Zum Glück war Hemmon niemand, der ernsthaft wissen wollte, warum etwas gemacht wurde. Ihm war nur wichtig, dass etwas geschah, und dass er dabei sein durfte. Er marschierte los in Richtung seines eigenen Wohnbereichs. Haron wollte ihm folgen, aber eine kleine Gestalt löste sich aus den Schatten und verstellte ihm den Weg.
»Wo wollt ihr hin?«, fragte Ariat.
»Wir haben etwas zu erledigen.«
»Und ich?«
»Du nicht.«
Ariats Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Drohend kam sie näher. Es hätte mehr Eindruck gemacht, wenn sie ihm nicht bloß bis zur Brust gereicht hätte. »Wir sind Partner, hast du gesagt.«
»Nicht in dieser Sache.« Selbst wenn er sie nicht für die Angelegenheit mit Sianna bestrafen wollte, er konnte Ariat bei dieser Sache tatsächlich nicht gebrauchen. Sie war zu labil. Und im Unterschied zu Hemmon gehorchte sie nicht einfach, wenn er einen Befehl erteilte.
»Was soll das heißen?«, fragte sie.
»Es heißt, dass du hierbleibst. Wir sind nicht lange fort.«
Ariat verzog die Lippen, als wollte sie ihm an die Gurgel springen und die Zähne in sein Fleisch schlagen. Aber so durchtrainiert sie auch war, Haron war ihr an Kraft weit überlegen, und das wussten sie beide. Sie hatten es im Bett oft genug getestet.
Er senkte die Stimme. »Zwing mich nicht, dir wehzutun.«
Sie zögerte, warf einen Blick in die Richtung, in die Hemmon verschwunden war. Als sie sich Haron wieder zuwandte, lag in ihren Zügen blanke Wut. »Dann geh doch!«, spie sie ihm ins Gesicht. »Aber glaub nicht, dass du danach zu mir kommen kannst.«
»Keine Sorge, das habe ich nicht vor.«
Ariat hieb die Faust gegen die steinerne Wand in ihrem Rücken und stürmte davon. Ein kleiner, blutiger Fleck blieb an der Mauer zurück.
Haron wischte ihn fort.
Faran
Während der Rechner initialisierte und all die angeschlossenen Gerätschaften erkannte und aktivierte, sah Faran sich unauffällig um. Geld musste ihr Auftraggeber haben, das hatte bereits seine Bestellung deutlich gemacht. Das Gebäude an sich war eindrucksvoll genug mit seinen unzähligen Sicherheitsvorkehrungen und dem Zugang über das Verbindungssystem, der erst im elften Stock lag. Wer tiefer hinab wollte, musste auf eines der benachbarten Gebäude ausweichen. Vermutlich gab es irgendwo eine versteckte Treppe, das erforderten die Vorschriften – doch wer etwas auf sich hielt, verschwieg so etwas geflissentlich. Die Räume waren hoch, alle Fenster mit Monitoren ausgestattet, die keinen Blick nach draußen erlaubten – oder herein. Noch waren sie schwarz. Das würde sich ändern, sobald die Installation abgeschlossen war.
Das erste Lämpchen schaltete auf Grün. Faran überprüfte die Verbindung: der DNS-Sequenzierer. Er gab einige Befehle ein und führte den Programm-Testlauf durch. Keine Fehlermeldung, alles lief nach Vorgabe. Einer der Fenster-Bildschirme nahm das Signal auf und warf das dreidimensionale Abbild eines menschlichen Genoms vor sich in den Raum. Wozu auch immer der alte Knacker einen Sequenzierer benötigte. Falls er seine Optimierung verbessern wollte, war er eindeutig zu spät dran, auch wenn er das vermutlich nicht hören wollte. Zu viel Geld machte Leute zu Idioten, jedenfalls Farans Meinung nach.
Hinter ihm schrillte ein Systemalarm los. Kelak hatte Probleme mit dem Extraktor. Ausgerechnet. Das sensible Gerät reagierte auf Störungen besonders anfällig. Aber das war Kelaks Problem, das musste er allein lösen. Entsprechend sah Faran nicht einmal von seiner Arbeit auf, als von der Tür her ein leises Schaben erklang und der Alte mit brüchiger Stimme schimpfte: »Das sind empfindliche Geräte! Wenn ihr nicht wisst, wie man damit umzugehen hat, richte ich sie lieber selbst ein.«
Faran ließ sich seine Schadenfreude nicht anmerken. Auch nicht den Hauch von Belustigung, den er bei dem Gedanken daran verspürte, wie der Alte mit seinem Rollstuhl zwischen den empfindlichen Geräten herumkurvte, solange die noch nicht an ihrem endgültigen Bestimmungsort standen. Als ob der auch nur eines der Dinger aktiviert bekommen hätte. Wahrscheinlich war der letzte Rechner, an dem der Alte gesessen hatte, noch über Kabel gelaufen, mit einem großen roten Knopf, auf dem »Einschalten« stand.
Kelak dagegen tat, als wäre der Alte sein Vorgesetzter persönlich. »Verzeihung, das war nur ein kleiner Fehler in der Systemintegration. Ich behebe das umgehend. Es wird nicht wieder vorkommen.«
Natürlich, ein Fehler in der Systemintegration. Wahrscheinlich hatte Kelak bloß einen falschen Berechtigungscode bei der Verbindung eingegeben.
Dem Alten schien diese Antwort jedoch zu genügen. Er grunzte und rollte davon. Nun blickte Faran doch auf. Er sah ihrem Auftraggeber nach, bis sich die Tür hinter ihm schloss. Dann drehte er sich auf seinem Sessel zu seinem Kollegen herum.
»Wenn der Extraktor schon über deinen Fähigkeiten liegt, solltest du vielleicht mal deine Eignung überprüfen lassen.«
»Halt die Klappe.« Kelak arbeitete verbissen weiter. Die Hälfte seiner Lämpchen leuchtete bereits grün und zeigte funktionierende Verbindungen an.
Dennoch konnte es Faran nicht lassen, noch einen draufzusetzen. »Dass du dich von einem Halbtoten so einschüchtern lässt … Was will der Krüppel überhaupt mit diesem ganzen Zeug? Das kann er doch niemals bedienen. Wenn du mich fragst, sollte er lieber Sterbehilfe in Anspruch nehmen, da würde er seinen Erben sicher einen Gefallen tun.«
»Bist du verrückt?« Kelak sah alarmiert zur Tür, doch die blieb geschlossen. »Ich habe gesagt, du sollst still sein!«, zischte er. »Willst du dafür sorgen, dass man uns beide degradiert?«
»Blödsinn.« Natürlich wollte er nicht degradiert werden. Da konnte er gleich seine Kündigung einreichen und versuchen, sich auf Bedienungshilfe umstrukturieren lassen. Aber selbst wenn der Alte sich über ihn beschwerte – seine Quoten waren gut, und er tat, was von ihm verlangt wurde: den Stundenaufwand unauffällig nach oben treiben, sodass der Gewinn ihrer Firma größer ausfiel.
»Vielleicht solltest eher du deine Eignung überprüfen lassen«, meinte Kelak. »Oder stellst du dich einfach nur dumm?« Erneut zuckte sein Blick zur Tür. »Das ist nicht irgendein Auftraggeber. Das ist O. G. Esser!«
Damit hatte er plötzlich Farans volle Aufmerksamkeit. »Der Orson Esser?«
Kelak nickte.
Ohne weitere Umschweife wandte Faran sich wieder seinen eigenen Aufgaben zu. Er versuchte nicht länger, Zeit zu schinden, sondern arbeitete konzentriert und effizient. Er fragte nicht, ob sein Kollege sich sicher war, was die Identität ihres Auftraggebers anging. Diese Erklärung war zu logisch. Er musste auch nicht länger überlegen, was der alte Knacker mit der besten Laborausstattung wollte, die man für Geld und Einfluss kaufen konnte.
Orson G. Esser war Hauptsponsor des N4-Centers gewesen. Das letzte Forschungsprojekt, an dem er aktiv beteiligt gewesen war, hatte die neue Generation hervorgebracht: die verbesserte Optimierung. Klone, deren Gene direkt aus dem Datenpool zur bestmöglichen Funktionalität zusammengesetzt werden konnten. Jedes führende Mitglied der Gesellschaft gehörte der neuen Generation an. Dieser Mann war der Vater der Menschheit, wie Faran sie kannte, und egal, was er mit dieser Ausrüstung vorhatte – es war nichts, dem Faran im Weg stehen wollte.
Das zweite Signal sprang auf Grün.
Ramin
Der Tod lag über Noryak, solange Ramin denken konnte, und vermutlich schon etliche Jahre länger. Bisher war es das schleichende Gift des Smogs gewesen, welches die Stadt erstickte; der Hunger, der sie zerfraß. Nun hatte der Tod ein anderes Gesicht bekommen. Ebenso hässlich, doch weniger verborgen. Er war willkürlich geworden, gierig und brutal. Menschlich.
Ein leises Pling ertönte, und die Fahrstuhltür öffnete sich vor Ramin. Er stieg aus, überquerte den mit kalten Steinfliesen verkleideten Gang und trat in den nächsten Aufzug, der ihn weiter nach oben bringen würde. Es dauerte eine Sekunde, ehe der Sensor seinen Mikrochip erkannte und die Berechtigung für den Zugang zu den gesicherten Ebenen akzeptierte. Das Bedienfeld aktivierte sich. Ramin legte den Finger auf die oberste Taste.
Jedes Mal diese Verzögerung. Und jedes Mal fürchtete er, dass seine Farce aufflog, dass statt der Freigabe ein Alarm ausgelöst wurde. Viel zu lange spielte er bereits dieses Spiel. Es konnte nicht ewig gut gehen.
Ramin musste sich zusammenreißen, um nicht über die schwulstige Narbe in seinem Nacken zu tasten, die unter dem Haaransatz verborgen lag. Narben waren verräterisch, und er trug zu viele davon. Klone und Optimierte erhielten den Chip im embryonalen Stadium, um ihre Entwicklung schon in dieser frühen Wachstumsphase in die gewünschte Richtung zu fördern. Ramin hatte seinen Chip von einem Schwarzhändler erstanden und ihn sich eigenhändig ins Fleisch geschoben. Eine falsche Identität, ein falsches Leben. Und wofür das alles?
Die Intrigen hatten ihren Reiz verloren, das Risiko, dem er sich aussetzte, war nichts mehr im Vergleich zu dem, was dort draußen im wahren Leben geschah. Es gab nichts, das er noch erreichen konnte, außer aus großer Entfernung zuzusehen, wie der Tod Noryak endgültig besiegte.
Da ertönte ein weiteres Pling, und Dunkelheit tat sich auf vor ihm. Ramin trat ins Freie und blickte auf, sah die Schwärze über sich, und darin … Sterne. Kleine, ferne Lichter, die in dem Nichts dort oben glänzten. Wie immer bei diesem Anblick befiel ihn ein leichter Schwindel. Er hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Hastig tastete er hinter sich, suchte Halt an der Wand des Fahrstuhls. Der Himmel. Die Unendlichkeit. Die Freiheit. Dinge, an die er sich noch immer nicht gewöhnt hatte und an die er sich wohl auch niemals gewöhnen würde. Selbst dem Großteil der Oberschicht war diese Erfahrung verwehrt. Seit dem Fall des N4-Centers war der Regierungssitz das einzige Gebäude, das aus der Smogschicht herausragte, kaum jemand hatte Zutritt zu diesem Dach.
Und ausgerechnet Ramin, der aus der Gosse kam und selbst aus dem Kloster verstoßen worden war, gehörte zu den wenigen Auserwählten, die diese wundersamen Sterne sehen durften. Gerade er, der so viele Jahre lang den Glauben gelehrt hatte, hätte wohl argwöhnen müssen, dass Gott ihn zu einem höheren Zweck an diese Position gebracht hatte – wie ein Werkzeug, das bereitgelegt wurde und auf seinen Einsatz wartete. Aber für Ramin zählte nur die größte Wahrheit des Glaubens: Gott scherte sich einen Dreck um seine Schöpfung. Er hatte sie längst aufgegeben und wartete bloß noch darauf, dass sie sich selbst zerstörte.
Und wie es aussah, war die Menschheit auf dem besten Weg dorthin.
Ramin trat auf die Umrandung des Daches zu. Ohne den Smog hätte man von hier aus die verfluchte Stadt überblicken können. Jedenfalls einen Teil davon. Sie erstreckte sich weiter, als man selbst von hier oben sehen konnte. Und dahinter ... Ödnis. Vergiftetes Land, das Noryaks Müll schlucken musste. Und die Leute wunderten sich, dass sie hungern mussten?
Aufständische niederzuschießen würde diese Probleme nicht lösen. Präsident Sepion und seine Handlanger begriffen nicht, wozu Hunger und Verzweiflung Menschen treiben konnten. Ramin schon. Er hatte es am eigenen Leib erfahren. Er würde diese Gewalt niemals unterschätzen, genauso wenig wie die Macht menschlicher Entschlossenheit.
Nachdenklich legte Ramin die Hände um die Brüstung, fühlte das kalte Metall an seiner Haut. Entschlossenheit …
Er war kein Werkzeug, das platziert worden war. Aber er war hier. Ein Natürlicher, dem die mächtigsten Klone der Stadt ihr Ohr leihen mussten, ob sie wollten oder nicht. Da konnte er ihnen auch die richtigen Dinge einreden.
Gewalt war nicht die einzige Lösung, um einen Krieg zu beenden.
Haron
Der Weg war lang. Und mühsam. Haron hörte das gleichmäßige Schnaufen seines Begleiters hinter sich. Mit der Metro hätten sie die Strecke in einer halben Stunde zurückgelegt, aber Haron machte sich nichts vor: Ihre Verkleidung aus abgelegten Arbeitsoveralls und genug verhüllenden Stoffen, um ihre Narben zu verdecken, mochte einem flüchtigen Blick standhalten. In der Enge der überfüllten Metros hätte man sie jedoch unweigerlich als das erkannt, was sie waren.
Die meisten Passagiere würden auf dem Weg von oder zur Arbeit sein – und damit eindeutig zu jener Fraktion gehören, die nicht gut auf Puristen zu sprechen war. Ein Risiko, das Haron nicht bereit war, einzugehen. Also führte er seinen Begleiter durch die engen, vergessenen Seitengassen der Stadt, zwischen Müll, Schutt und Verfall hindurch, bis die schmucklose Mauer des Klosters vor ihnen aufragte.
»Wir sind da«, sagte er.
Hemmon zog die Augenbrauen zusammen. »Hier willst du Unterstützung finden?«, fragte er.
Haron konnte seine Zweifel nachvollziehen. Das Gebäude war schlicht und nur wenige Stockwerke hoch, ohne technische Spielereien oder aufwendige Sicherheitsvorrichtungen. Abgesehen von seiner schieren Größe gab es nichts, was es von den umliegenden Häusern unterschieden hätte. Außerdem wirkte es heruntergekommen. Seit Harons letztem Besuch war die Fassade mit unflätigen Sprüchen beschmiert worden. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie zu entfernen. Ein Fenster war notdürftig mit Platten verbarrikadiert, die anderen zum Teil mit Plastikplanen abgedeckt.
»Wir werden sehen.« Es war der einzige Ort, an dem er noch irgendwelche Forderungen stellen konnte. Hier hatte er Verbündete, zumindest im Geiste. Von den Geschäften, die er mit dem Kloster geführt hatte und Xenos vor ihm, wussten die meisten Puristen jedoch nichts. Wenn es nach Haron ging, würde das auch so bleiben.
Er trat an das Eingangstor. Bei seinem ersten Besuch hatte er noch nach einem Sensorfeld Ausschau gehalten oder nach einer mechanischen Klingel, wie sie in den Arbeitervierteln üblich waren. Inzwischen wusste er es besser. Er hieb mit der Faust gegen das Tor.
Niemand reagierte.
»Sieht ziemlich verlassen aus, wenn du mich fragst«, meinte Hemmon.
Haron wollte ihn bereits zurechtweisen, als er etwas hörte. Stimmen, im Inneren des Gebäudes. Er hämmerte erneut an das Tor. Die Stimmen verstummten. Als niemand Anstalten machte, ihnen zu öffnen, verlor Haron die Geduld. Er warf seine Schulter gegen das rostige Metall. Nach kurzem Zögern tat Hemmon es ihm gleich, und gemeinsam drückten sie das massive Tor auf.
Staubige, abgestandene Luft wehte ihnen entgegen. Die Eingangshalle war leer und verwaist, in den Ecken sammelte sich Staub. Beunruhigung machte sich in Haron breit, aber er ließ sich nichts davon anmerken. Mit ausgreifenden Schritten durchquerte er die Halle. Ein leises Huschen war zu hören, das sich rasch entfernte. Also hatte er sich nicht getäuscht: Jemand war hier. Wieso kam dann niemand, um sie zu empfangen?
Er führte Hemmon in den Flur, von dem die Arbeitsräume der Priester abzweigten. Jedenfalls das eine Büro, das er kannte. Auch hier hatte sich einiges verändert. Die Tische, die den Gang säumten, waren leer, einer lag in Trümmern. Der Boden war fleckig, und von den Wänden bröckelte der Putz, als habe jemand zu oft darauf eingeschlagen. Aus einem Zimmer drang die monotone Stimme eines Nachrichtensprechers, untermalt von den Geräuschen der Aufstände. Irgendwo weinte ein Kind.
Haron deutete seinem Begleiter, zurückzubleiben. Was auch immer sie erwartete – er wollte derjenige sein, der die Situation als Erster einschätzte. Hemmons Reaktion traute er noch weniger als seiner eigenen.
Vorsichtig schob er sich an den Raum heran, aus dem die Geräusche drangen, und stieß die Tür auf. Sie glitt widerstandslos nach innen. Ein ununterbrochenes, wütendes Gemurmel wurde hörbar. Haron straffte die Schultern. Hemmon durfte ihn nicht zögern sehen, also trat er in das Halbdunkel des Arbeitszimmers. Es stank nach altem Schweiß, Talg und Urin. Im Flackern des Monitors erkannte er die verlotterte Gestalt, die hinter dem Schreibtisch hockte.
»Lorio«, sagte er.
Der Abt verstummte, nur seine Finger tasteten weiter über die Tischfläche. Sein Kopf ruckte zur Seite, sodass das lange, fettige Haar den Blick auf sein hageres Gesicht freigab. Dem Geruch im Zimmer nach zu urteilen, hatte er sich seit Wochen nicht mehr aus dem Raum bewegt, geschweige denn gewaschen.
»Sie brennen.« Seine Stimme klang heiser. Unbenutzt. Wie auf sein Kommando erschienen Feuerbilder auf dem Bildschirm und warfen ihr orangefarbenes Licht auf den Abt. »Sie werden alle brennen. Die Ungläubigen, die unnatürlichen Bastarde in ihren Türmen.« Er hob den Kopf und sah Haron an. »Deshalb bist du doch hier, nicht wahr?«
»Ich …« Das kalte Funkeln in Lorios Augen ließ Haron stocken. Was war mit dem jungen Mann geschehen? »Ja, das ist unser Plan. Allerdings benötigen wir dafür noch weitere Ressourcen. Mit der Unterstützung des Klosters …«
Lorio kicherte. Dann richtete er sich auf, legte den Kopf in den Nacken und lachte, laut und anhaltend. »Du willst Unterstützung?«, fragte er. »Von mir?«
»Wir hatten eine Vereinbarung«, erinnerte Haron ihn drohend. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass Hemmon seinen Tonfall erkannt und sich breitschultrig neben ihn gestellt hatte.
Den schmutzigen Priester schien das allerdings nicht zu beeindrucken. »Ja, die hatten wir. Du treibst mit deinen Aufständen die Menschen in meine Gebetsstätten, und ich helfe dir, die Klone zu stürzen.« Er breitete die Arme aus. »Dank deiner Kriegsspiele verfüge ich aber über keine Gebetsstätten mehr. Sie haben mit mir gebrochen. Ich habe keine Mittel mehr, und für dich schon gar nicht.«
Haron biss die Zähne zusammen und zwang seine Wut nieder. »Wir haben getan, was du wolltest. Dass du deine Priester nicht im Griff hast, ist dein Problem, nicht unseres.«
»Pass auf, was du sagst, Krüppel!«, fauchte Lorio.
Haron spürte eine Bewegung an seiner Seite. Sein Begleiter spannte die Muskeln an, bereit, dem Priester eine Lektion zu erteilen. Haron hielt ihn zurück.
Der Abt verzog die schmalen Lippen zu einem abfälligen Grinsen. »Du bist hier in meinem Haus, vergiss das nicht. Diesmal bist du derjenige, der etwas von mir will, nicht umgekehrt.« Er zuckte mit den Schultern. »Dein Ressourcenmangel geht mich nichts an. Ich habe euch bezahlt. Euer Plan ging nach hinten los. Sei ein Mann und akzeptiere das.«
Schneller, als einer der beiden anderen reagieren konnte, hatte Haron den Widerling am Kragen gepackt und zog ihn über die Tischplatte heran. Der Gestank des Priesters biss ihm in die Nase, doch Haron war Schlimmeres gewohnt.
»Was weiß ein Wurm wie du schon davon, zu seinen Fehlern zu stehen?«, zischte er. »Du wolltest groß hinaus, hast dafür sogar deinen eigenen Mentor ermordet. Und jetzt zerfällt dein kleines, idiotisches Imperium unter deinen Händen.« Er stutzte, als ihm die Parallele zu seinem eigenen Aufstieg bewusst wurde. Aber er hatte sich rechtzeitig wieder unter Kontrolle, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. »Der Krieg fordert von uns allen Opfer«, fuhr er fort. »Wir kämpfen wenigstens für unser Recht. Du dagegen hast dich aus reinem Egoismus zerstört.« Er stieß den stinkenden Mann von sich. »Leb mit deiner Schande.«
Lorio stolperte rückwärts. Er tastete nach seinem Hals. »Raus hier«, keuchte er.
Haron erkannte, dass weitere Worte sinnlos waren. Aus dem Kloster war nichts herauszupressen. Er kannte den Ausdruck in den Augen des Abtes gut genug, um zu wissen, was da unter seinem Wahnsinn lauerte: Hunger.
»Lass uns gehen«, sagte er, an seinen Begleiter gewandt. »Hier gibt es nichts für uns.«
»Du willst ihn mit seinen Beleidigungen davonkommen lassen?«, brummte Hemmon. Zum Glück erst, als sie auf den Gang hinausgetreten waren. Der Mann wusste, wann er den Mund zu halten hatte.
»Was gewinne ich, wenn ich dich den Burschen verprügeln lasse?«, entgegnete Haron. »Man kann nichts aus jemandem herauspressen, wenn nichts vorhanden ist.«
Er wollte sich dem Ausgang zuwenden, aber etwas hielt ihn zurück. Jetzt, da sie Lorios Büro hinter sich gelassen hatten, war das Wimmern des Kindes wieder zu hören, lauter als zuvor. Harons Eingeweide krampften sich zusammen. Er folgte dem Laut, von einem inneren Drang erfüllt, das Unglück mit eigenen Augen zu sehen. Er musste nicht lange suchen.
Es war leerer Raum, der wohl einmal für den Unterricht benutzt worden war. Die Staubschicht auf den Tischen verriet jedoch, dass er schon seit geraumer Zeit nicht mehr benutzt wurde.
Haron ging in die Knie. Unter dem hintersten Tisch fand er den Jungen. Sieben, vielleicht acht Jahre alt, abgemagert fast bis auf die Knochen, die Hände auf den aufgeblähten Bauch gepresst. Lorio hatte die Wahrheit gesagt. Er besaß keine Mittel mehr, nicht einmal für seine eigenen Schützlinge, falls er sie denn je als solche gesehen hatte.
Der Novize hob den Kopf, sah Haron aus viel zu großen, wässrigen Augen an.
Haron stieß den Atem aus, den er angehalten hatte, ohne es zu merken. Er kannte das Kind nicht. Natürlich nicht. Erst da wurde ihm bewusst, was er gleichermaßen gehofft und befürchtet hatte: Für einen Augenblick war er überzeugt gewesen, er würde denselben Jungen vor sich finden, den er seinerzeit aus dem N4-Center gestohlen hatte. Für Xenos. Für das Kloster. Ein perfektes Kind, um den Gläubigen die Illusion zu geben, sie könnten ebenso makellos wie die Oberschicht sein. Eines von vielen, wie er wusste. Aber das Einzige, das er selbst entwendet hatte.
Haron löste die Hand, die sich bei diesen Gedanken zur Faust geballt hatte, und streckte sie dem Novizen entgegen. »Komm mit, wenn du möchtest.« Ein Maul mehr, das er stopfen musste. Was machte das noch für einen Unterschied? Viel konnte der Kleine ja wohl nicht brauchen.
Der Junge zögerte, musterte erst ihn, dann Hemmon mit furchtsamem Blick. Doch schließlich siegte der Hunger. Der Hunger siegte immer. Er ergriff Harons Hand und ließ sich von ihm auf die dürren Beine ziehen.
Hemmon sagte nichts. Als der Junge stolperte, hob er ihn auf die breiten Schultern. Zu dritt machten sie sich auf den langen Weg zurück.
Die Nacht fiel herein, als sie noch Stunden von der Unterstadt entfernt waren, färbte den Himmel vom ewigen Grau des Smogs zu undurchdringlichem Schwarz. Haron wartete darauf, die Feuer der Aufstände auflodern zu sehen, doch die Nacht blieb dunkel. Zwar bewegten sie sich immer noch durch die kleinen, uneinsehbaren Nebenstraßen, um nicht aufgehalten zu werden – dass aber nichts zu hören, nichts zu sehen war, erschien ihm seltsam. Hatten seine Leute aufgegeben? Sahen sie keinen Grund zu kämpfen, wenn er sie nicht dazu antrieb?
Erst als ihr Weg sie wieder in die Nähe einer Hauptstraße führte und sie einen Blick auf die riesigen Monitore an den Häuserfronten der Oberschicht werfen konnten, erkannte er seinen Irrtum.
Es hatte sehr wohl einen Anschlag gegeben. Doch nicht auf die Läden der Optimierten, keines der vereinbarten Ziele für Plündereien. Nichts, um den Hunger zu stillen oder den Krieg voranzutreiben. Diesmal war es nicht die Suche nach Lebensmitteln und Waffen gewesen, die das Ziel ausgewählt hatte, sondern blinde Rache.
Haron biss die Zähne zusammen. Das Kloster brannte, und er wusste nur zu gut, wer dafür verantwortlich war.