Читать книгу Unter den Narben (Darwin's Failure 2) - Madeleine Puljic - Страница 6

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3. Kapitel

Ramin

Wütend stürmte der ehemalige Priester durch die Gänge des Regierungssitzes. Er stieß jeden beiseite, der nicht schnell genug den Weg freiräumte. Verständnisloses Gemurmel folgte ihm, doch davon ließ er sich nicht bremsen. Er eilte weiter, erreichte die weniger frequentierten Bereiche und schlüpfte unbemerkt in die unscheinbare Nische an der Seite. Nervös sah sich er um, während der Scanner seinen Chip erfasste.

Es dauerte schier endlose Sekunden, dann endlich glitt die hintere Wandverkleidung beiseite. Ramin atmete auf und schlüpfte in den schmalen Gang, der ihn direkt in die privaten Räumlichkeiten des Präsidenten führen würde. Kam es ihm nur so vor, oder dauerte die Autorisierung tatsächlich jedes Mal länger?

Er schob den Gedanken beiseite. Darüber konnte er sich ein anderes Mal Gedanken machen, im Augenblick gab es dringlichere Dinge zu besprechen. Solange die Sicherheitskontrolle ihn einließ, war er noch nicht aufgeflogen. Und selbst wenn jemand einen Verdacht schöpfte, hier drinnen konnte ihn niemand aufspüren – kaum jemand außer ihm kannte diesen Zugang. Nur er und natürlich der Präsident selbst benutzten die geheimen Wege hinter den offiziellen Bereichen.

Also hetzte er weiter, rannte durch den verwinkelten Gang, bis er Sepions Büro erreichte. Verschwitzt und außer Atem trat er durch die geheime Tür, und der entrüstete Blick des Präsidenten machte ihm einmal mehr klar, wie rasch es mit seinen Privilegien vorbei sein konnte.

Eine Augenbraue des Regierenden wanderte pikiert nach oben. »Ja?«

»Es gab einen neuen Anschlag«, keuchte Ramin.

Er fühlte einen dicken Schweißtropfen, der ihm feucht und unappetitlich über die Wange lief. Sepion verzog angewidert den Mund. Schlagartig wurde Ramin bewusst, zu welchem Fehler ihn seine Aufgebrachtheit verleitet hatte: Kein Klon würde sich derart körperlich verausgaben, ein Regierungsmitglied erst recht nicht! Sich so abzuhetzen war ein undenkbares Verhalten für jemanden aus der Oberschicht. Er hätte anrufen sollen, eine sichere Verbindung beauftragen und … Zu spät. In seiner Aufregung war er in seine alten, verräterischen Gewohnheitsmuster zurückgefallen.

Der Präsident wandte sich jedoch bloß desinteressiert ab. »Ich weiß.«

»Du weißt es bereits?«, wiederholte Ramin fassungslos. Er räusperte sich verhalten, um diesen Fehler zu überspielen, straffte die Schultern und strich seine Kleidung glatt. Betont neutral fuhr er fort: »Gibt es schon eine Anweisung, wie wir darauf reagieren werden?«

»Nein.« Sepion betätigte den Sensor, der seinen Kleiderschrank aktivierte, und musterte die Hemden in der ersten Reihe. »Was interessiert es mich, ob diese Verrückten nun auch die Unterschicht angreifen?«, fragte er, während er ein cremefarbenes Stück mit dezenten Golddrucken auswählte. »Wenigstens eine Nacht, in der nicht weiteres Geld in Flammen aufgeht.«

Ungeachtet der Anwesenheit seines Beraters begann der Präsident sich zu entkleiden. Er entblößte bleiche, teigige Haut. Fettschwulste wölbten sich um seinen blassen Leib und hingen wie Fremdkörper daran herab.

Nun war es an Ramin, Abscheu zu empfinden. Er senkte den Blick, um sich nicht zu verraten.

»Das Kloster war der Regierung unterstellt«, merkte er an. Es erhielt Zuschüsse, um die wachsende Arbeiterschicht versorgen zu können. Was Ramin auch von seinen ehemaligen Kollegen halten mochte, an der Aufgabe des Klosters zweifelte er nicht. In seinen Augen fiel es unter den Schutz des Präsidenten.

Sepion sah das allerdings anders. »Sie haben nie getan, wofür wir sie bezahlt haben.« Er streckte die Arme aus und wartete darauf, dass Ramin ihm beim Ankleiden half. Als sein Berater ergeben den weichen Stoff ausschüttelte, fuhr der Präsident fort: »Diese sogenannten Priester haben immer nur schlecht von uns gesprochen.«

»Sie haben die Unterschicht ruhig gehalten«, wandte Ramin ein. Die Verteilung der Ressourcen unter den Arbeitern war nicht nur essenziell, um die Menschen dort unten am Leben zu erhalten, sie war auch im Sinne der Regierung. Wenn Sepion schon nicht die menschliche Verpflichtung des Klosters anerkennen wollte, dann doch wenigstens das.

Wieder wurde er enttäuscht. »Diese Aufgabe haben sie ja nun ebenfalls gehörig vernachlässigt, meinst du nicht? Insofern haben die Puristen wenigstens einmal etwas Vernünftiges getan, indem sie uns von diesem Ballast befreit haben. Eine unnötige Ausgabe weniger, über die ich mir den Kopf zerbrechen muss.« Er schloss den Kragen und sah seinen Berater durchdringend an. »Wieso kümmert dich das so?«

Wie so oft waren es halbe Wahrheiten, auf die Ramin zurückgreifen musste. Er log selten, doch noch weniger konnte er frei sprechen. Jedes Wort, jedes Zucken seiner Gesichtsmuskeln konnte ihn verraten. Ramin zwang sich zur Ruhe. »Es wird weitere Aufstände geben«, warnte er. »Schlimmere. Die Reinen haben eine Grenze überschritten, indem sie nun auch Natürliche angegriffen haben.«

»Gut«, antwortete der Präsident. »Wenn sich die Unterschicht gegenseitig dezimiert, gibt uns das vielleicht die Gelegenheit, Noryak wirtschaftlich wieder einigermaßen zu stabilisieren. Dein wunderbarer Plan zum Wiederaufbau zeigt bisher nämlich keine großen Erfolge.«

»Es ist ein langfristiger Plan«, gab Ramin zu bedenken. Eine Wirtschaft stabilisierte sich nicht über Nacht, in Kriegszeiten erst recht nicht.

Doch davon wollte Sepion nichts wissen. »Wie wohl alle deine Vorschläge«, gab er barsch zurück. »Erfolg hat bisher jedenfalls nichts gezeigt. Immer noch wissen wir nicht, wo sich die Aufständischen versteckt halten. Die gefangenen Puristen reden nicht, und die Arbeiter noch weniger. Allmählich glaube ich, meine Minister sabotieren mich mehr, als sie mich unterstützen!«

Oder du erwartest einfach Wunder, dachte Ramin grimmig. Er tat, was er konnte, um den Bürgerkrieg einzudämmen und Noryak zu retten. Die Stadt nicht nur wiederaufzubauen, sondern sie auch lebenswert zu machen, für alle. Der Wahnsinn der Puristen und die Kurzsichtigkeit des Präsidenten, dem egal war, ob neunzig Prozent der Bevölkerung im Elend lebte oder auf den Straßen starb, erschwerten dieses Vorhaben allerdings gewaltig.

Er seufzte. Es hatte keinen Zweck, diese Probleme zu erläutern. »Du weißt, dass ich dir und Noryak diene.«

»Dann tu endlich etwas!«

»Wir könnten Spione aussenden«, schlug Ramin vor. Der Gedanke entstand aus der Not heraus, aber womöglich war er gar nicht so abwegig. »Geringfügig Optimierte«, führte er weiter aus, »die sich unter die Arbeiter mischen. Die ihr Vertrauen gewinnen und so vielleicht in Erfahrung bringen, wie man an die Puristen herankommt.«

»Wir sollen Optimierte nach unten schicken?« Ein winziger Hauch von Fassungslosigkeit trat auf das feiste Gesicht des Präsidenten. »Weißt du, wie es dort unten aussieht?«

Schmutz, Elend, Tod. Ramin wusste das besser als jeder Klon. Doch das war noch nicht alles. »Nicht nur in die unteren Bereiche der Stadt. Die Natürlichen sind misstrauisch. Wenn wir sie erreichen wollen, dann müssen wir ihnen dort begegnen, wo sie alle gleich sind: in den Fabriken.«

Sepion runzelte dezent die Stirn. »Wir sollen also die Unversehrtheit eines Optimierten gefährden.«

»Wenn der Aufstand kein Ende nimmt, sind wir alle davon betroffen«, erinnerte Ramin ihn. »Was, wenn die Puristen als nächstes Ziel den Regierungssitz auswählen?«

Der Präsident zuckte kaum merklich zusammen. Sein eigenes Wohl lag ihm offenbar doch am Herzen. »Meinetwegen«, sagte er. »Aber die Regierung darf damit nichts zu tun haben. Du selbst wirst das Nötige in die Wege leiten.«

Das überraschte Ramin. Bisher war er nur Berater gewesen, hatte über keinerlei offizielle Aufgaben oder Weisungsrechte verfügt. »Ich, Präsident?«

Ein künstliches Lächeln erschien auf Sepions Lippen. »Du lässt dich doch als Minister der Geheimnisse titulieren. Damit fallen Spione unter deinen Aufgabenbereich. Kümmere dich darum, und liefere Ergebnisse. Rascher als Jorek, wenn ich bitten darf.« Er warf einen Blick in die Spiegelfläche an der Fensterfront, zupfte sein strähniges Haar zurecht und wedelte ungeduldig mit der Hand in Richtung seines Beraters. »Und jetzt geh. Ich habe noch Wichtigeres zu tun, als mir deine Weisheiten anzuhören.«

Ramin nickte ergeben. »Ich bitte dich nur, die bisherigen Versuche nicht aufzugeben. Wir müssen die Fabriken am Laufen halten …«

»Und das neue N4-Center errichten«, unterbrach Sepion ihn. »Das weiß ich selbst. Geh jetzt.«

Irritiert trat Ramin einen Schritt zurück. »Jawohl, Präsident«, stieß er hervor, doch Sepion beachtete ihn überhaupt nicht mehr.

Nun, er hatte danach gestrebt, den Präsidenten zu einem selbstdenkenden Mann zu erziehen, der nicht nach den Wünschen seiner Minister tanzte. Das war ihm offenbar gelungen. Jetzt musste er wohl oder übel einsehen, dass er damit auch sich selbst den Einfluss genommen hatte.

Doch das machte nichts. Sepion hatte ihn mit einer neuen Aufgabe betraut. Statt zu manipulieren, würde er einen Teil von Noryaks Zukunft von nun an selbst bestimmen können.

Am Untergang des Klosters konnte er nichts mehr ändern, aber wenigstens gab es noch die Gebetsstätten. Wenn es ihm gelang, diesen Krieg zu beenden, konnte er die Priesterschaft selbst wiederaufbauen. Er könnte ein neues Kloster erschaffen, das die Werte des Glaubens auch tatsächlich hochhielt. Mit Priestern, denen ihre Schützlinge mehr am Herzen lagen als der eigene Rang.

Es gab da auch jemanden, der ihm in den Sinn kam. Der junge Schüler, der Ramin seine Anstellung im Kloster gekostet hatte, weil er den Intrigen der jungen Priester nichts entgegenzusetzen gehabt hatte. Empathisch, gelehrig, pflichtbewusst. Ja, der Junge wäre der Richtige, um die Priesterschaft wieder zu dem zu machen, was sie sein sollte. Die Stütze der Gesellschaft. Ramin würde das Kloster aus seiner Asche heben, mit Atlan als neuem Abt.

Ranya

Zuerst waren es nur Gerüchte, die Ranya erreichten. Von einem neuen Gewaltakt der Reinen. Einem, den niemand einordnen konnte. Ein Ziel, das niemand verstand. Also war sie den Berichten gefolgt, hatte den Unterschlupf verlassen, den sie für ihre Gruppe gefunden hatte, und sich auf die Suche nach der nächsten Nachrichtenquelle begeben.

Sie musste nicht lange suchen. Die Monitore der Hochhäuser übertrugen inzwischen rund um die Uhr die neuesten Schreckensmeldungen, und heute zeigten sie alle dasselbe: ein Feuer, das aus zerborstenen Fenstern schlug, ein heruntergekommenes Gebäude irgendwo in Noryak, verhüllte Gestalten, die ohne jede Hast den Ort des Anschlags verließen. Doch es war nicht irgendein Haus, kein beliebiger Laden, der den Puristen zum Opfer gefallen war. Ranya erkannte die Fassade, das große Tor. Ihr Herz krampfte sich erschrocken zusammen. Das Kloster!

Wieso? Was hatte Haron davon, den Hort der Priesterschaft niederzubrennen? Die Priester waren nicht ihre Feinde. Einstmals hatte Ranya sogar gedacht, dieser Ort wäre der sicherste in ganz Noryak. Damals, als sie ihren Sohn in die Obhut der Schwarzgewandeten gegeben hatte. Es schien eine Ewigkeit her zu sein.

Atlan. Bei der Erinnerung an den Jungen traten ihr Tränen in die Augen, bahnten sich einen Weg über ihre vernarbten Wangen hinab. Er war in Sicherheit. Es gab keinen Grund für ihn, sich im Kloster aufzuhalten. Doch wenn das Kloster brannte, war Atlan für sie endgültig verloren. Seit die Anschläge begonnen hatten, verweigerte er ihr jede Möglichkeit des Kontakts. Und wenn er diese Bilder sah, würde er sie erst recht verdammen. Für etwas, das sie nicht getan hatte, das sie niemals unterstützt hätte.

Was sie auch tat, wie sehr sie es auch versuchte, sie entkam dem Schatten der Gewalt nicht, den die Puristen verbreiteten. Ranya ballte die Hand zur Faust, aber in dieser Geste lag mehr Verzweiflung als Wut. Warum hatten die Reinen ausgerechnet dieses Ziel gewählt? Dort gab es nichts, das es sich zu stehlen lohnte! Was bezweckten sie mit diesem Anschlag?

Frustriert wandte Ranya sich von den Bildschirmen ab, schlüpfte zwischen Müllbergen und zerbröckeltem Mauerwerk hindurch und trat den Weg zurück in ihren Unterschlupf an. Xenos hätte niemals zugelassen, dass die Reinen sich an Unschuldigen vergingen, ganz gleich, was sie von dem neuen Abt hielten. Das war Wahnsinn! Es würde die Arbeiter und Priester bloß weiter gegen die Reinen aufbringen, und damit würde es auch für sie und ihre Gruppe schwerer werden, zu überleben.

Ein resignierter Seufzer entrang sich Ranyas Brust. Vielleicht hatte sie im Innersten trotz allem gehofft, dass Haron etwas bewirken konnte. Dass die Oberschicht erkennen würde, wie sehr die Menschheit ihretwegen litt. Aber der Weg, den er dabei beschritt, würde sie alle ins Verderben führen. Und dieses Morden war es, die sinnlose, eskalierende Gewalt, die sie nicht länger mit ansehen wollte. Der Grund, weshalb sie aus der Unterstadt geflohen war.

Ranya legte eine Hand an die improvisierte Tür zu ihrem Unterschlupf und sah all die Narben und Schwielen, die ihre Finger bedeckten; die schlaffe, fleckige Haut. Sie war alt, wie die meisten Puristen, die sich ihr angeschlossen hatten. Was sollten sie schon ausrichten? Wem sollten sie noch nützen? Sie bezweifelte, dass Haron überhaupt bemerkt hatte, dass sie gegangen waren. Sein Sog war so viel stärker, als sie angenommen hatte. Es waren so wenige, die seinen Weg ablehnten, und so viele, die sich ihm anschlossen. Die Jungen gierten nach Blut, nach Veränderung. Was übrig blieb, waren die Alten und Kinder.

Aus dem Unterschlupf klang das Lachen eines Mädchens, und unwillkürlich musste Ranya lächeln.

Ihnen nützten sie. Den Kindern, die niemanden mehr hatten, die von der Straße gekommen oder deren Eltern im Aufstand gefallen waren. Für sie musste sie stark sein, für sie musste sie überleben.

Ranya drückte die Tür auf und kehrte in ihr neues Zuhause zurück. Die Zuflucht war ärmlich eingerichtet, kaum mehr als ein paar schmutzige Matratzen, die sie um einen niedrigen Tisch herum angeordnet hatten. Es war beengt, und es stank. Aber wenn es den Kindern ermöglichte, ohne Hass aufzuwachsen, ohne den Wunsch, sich Narben zuzufügen … Wenn diese Kinder lachen konnten, dann hatte sich die Entbehrung gelohnt.

Sie nickte den Frauen zu, die diese wilde Bande von Kleinkindern beaufsichtigten, die über das Matratzenlager stürmte. Saske, die Älteste der Gruppe, kam umständlich auf die Beine.

»Ist es wahr?«, fragte sie. Ihr Blick zuckte zu den Kindern, doch die waren zu sehr mit ihrem Spiel beschäftigt, um etwas von dem Gespräch mitzubekommen. Dennoch senkte Saske die Stimme noch weiter. »Ein Anschlag auf die Unterschicht?«

»Es ist das Kloster«, antwortete Ranya ebenso leise. Sie war erstaunt, wie ruhig sie dabei klang.

Saske presste eine zitternde Hand an den Mund. »Sie werden uns hassen«, wisperte sie.

»Sie haben allen Grund dazu.« Die Gebetsstätten verweigerten den Reinen bereits jede Spende, und nun, da das Kloster gefallen war, würden sie Puristen erst recht nicht in ihren Gemeinden dulden. Von den Priestern konnte Ranya kein Verständnis erhoffen. Nicht einmal von ihrem eigenen Sohn.

Dabei hatte sie getan, was Atlan ihr nahegelegt hatte: Sie hatte die Unschuldigen aus Harons Fängen geholt. Obwohl sie gewusst hatte, dass es schwer werden würde, allein zu überleben. Sie hatte auf Atlans Unterstützung gehofft. Nun musste sie einen anderen Weg finden – oder sterben.

Saske scheuchte einen schmutzigen Jungen fort, der sie am Ärmel zog, und fragte leise: »Werden sie uns aufspüren?«

»Wen meinst du?«, entgegnete Ranya. »Die Priester? Die Arbeiter? Oder die Reinen?« Keine dieser Aussichten war angenehm. Ihre Feinde nahmen von Stunde zu Stunde zu.

Saske war wohl zu einem ähnlichen Schluss gekommen. Sie hob mit einer beiläufigen Geste die Schultern. »Macht es einen Unterschied?«

Ranya lächelte bitter. »Nein, ich schätze nicht.« Wer auch immer sie hier finden sollte, würde sie verurteilen für das, was sie waren. Puristen. Verräter. Abtrünnige.

Vielleicht war jetzt der Zeitpunkt gekommen, ihrem Jungen zu zeigen, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Dass sie die Aktionen der Puristen nicht unterstützte, nichts mit all dem Wahnsinn zu tun hatte.

Doch sie zögerte. So sehr sie Atlan auch wiedersehen wollte, sie konnte unmöglich an seiner Gebetsstätte erscheinen. Er würde sie nicht empfangen, sie würde nur für Unruhe sorgen. Wenn sie jetzt ging, würde sie womöglich nicht zurückkehren, und sie durfte ihre Schützlinge nicht im Stich lassen. Also musste sie jemand anderen schicken. Keinen Puristen, niemanden, dem man die Verbindung zu den Attentätern ansah. Jemanden, der unauffällig war und der sich in Noryaks Straßen zurechtfand.

Ihr Blick fiel auf die Neue. Ein Mädchen, das nicht lachte, nicht weinte. Sie saß still in ihrer Ecke, beobachtete die anderen Kinder beim Spiel und gesellte sich doch nie dazu. Das Leben an der Oberfläche hatte tiefe Wunden in ihr hinterlassen, die erst nach und nach zu heilen begannen. Es hatte Wochen gedauert, bis sie den Reinen mit etwas anderem als Feindseligkeit und Misstrauen begegnet war. Mittlerweile schien das Mädchen ihre Anwesenheit immerhin zu dulden.

Irgendetwas sagte Ranya, dass der Tag gekommen war, sie als eine der ihren anzusehen.

»Leera«, sagte sie sacht. »Komm her, Kind. Ich möchte dich um etwas bitten.«

Haron

Mit der stickigen Luft der Unterstadt schlug Haron auch der Lärm entgegen. Tausende gedämpfte Stimmen, die durch ihre schiere Masse in seinen Ohren dröhnten. Sie klangen euphorisch, und das ließ ihn seine Schritte beschleunigen.

Doch als er die Haupthalle erreichte, prallte er unwillkürlich zurück. Wann waren sie so viele geworden? Die Höhle war bis auf den letzten Winkel mit Menschen gefüllt, die Luft war so verbraucht, dass er das Gefühl hatte, nicht genug Atem zu bekommen. Es stank nach den Ausdünstungen tausender Leute, nach Hunger, Krankheit und Schweiß.

Das schien die versammelten Leute allerdings nicht zu stören. Sie plauderten ausgelassen, feierten mit dem Wenigen, was sie hatten.

Harons Rationierung war hart, wenn sie ihn also nicht noch weiter hintergangen hatten, waren das die Vorräte der nächsten Woche, die sie für ihre Feier benutzten. Entweder vertrauten sie darauf, dass er die Einteilung lockerte, oder sie nahmen den Hunger in Kauf. Die Leiber, die Haron unter den Lumpen ausmachen konnte, waren ebenso abgemagert wie der des Klosterjungen, den er noch auf dem Arm trug. Und trotzdem feierten sie.

Was gab es an der Zerstörung des Klosters zu feiern? Was dachten sie, dass sie mit ihrem Anschlag erreicht hätten? Nichts als sinnlose Gewalt, die unnütze Verschwendung wertvoller Ressourcen. Das war nicht der Weg, den er ihnen zeigen wollte. Er hatte die Puristen aus ihrem passiven Zustand befreien wollen, um eine bessere Welt zu schaffen. Mit ihnen, für sie. Für alle, die unter dem Joch der Oberklasse litten. Für Sianna …

Bei dem Gedanken an seine Frau spannte er unwillkürlich die Muskeln an. Das Kind begann zu wimmern. Haron wandte sich zu seinem stillen Begleiter um und drückte ihm den erschöpften Jungen in die Arme.

»Bring ihn zu den anderen«, ordnete er an. »Sieh zu, dass er etwas zu essen bekommt, und dann hol dir deinen Anteil am Gelage.«

Hemmon grinste. Als hätte Haron ihm die Teilnahme am Fest irgendwie verwehren können. Er konnte von Glück reden, wenn der Hüne es nicht als Nachteil ansah, ihn begleitet zu haben. Einen ganzen Tag hatten sie auf den Besuch des Klosters verschwendet, während die anderen aktiv geworden waren. Wenn die Reinen erst einmal zu dem Schluss kamen, dass sie besser beraten waren, Ariat zu folgen statt ihm …

Ein Gedanke, den er von vornherein unterbinden musste. Er nickte Hemmon noch einmal zu und wandte sich dann wieder der Menge zu.

Er musste nicht lange suchen. Ariats schmale Gestalt war leicht auszumachen, sie hatte es sich im Zentrum der Halle bequem gemacht – an dem Platz, der eigentlich ihm gebührte. Selbst auf diese Entfernung sah er den rosigen Schimmer auf ihren Wangen und den fiebrigen Glanz ihrer Augen, die den Konsum des einzigen Produkts bezeugten, das sie im Überfluss besaßen: Alkohol.

Energisch bahnte er sich seinen Weg durch die feiernden Puristen. Die ersten Leute, die er anrempelte, reagierten ungehalten. Dann erkannten sie, wer sich da durch ihre Reihen drängte, und begannen zu jubeln. Haron lächelte und nickte ihnen zu. Sie wussten nicht, dass der Befehl für diesen Anschlag nicht von ihm gekommen war, und er würde alles tun, damit es dabei blieb. Es konnte nur einen Anführer geben, und das war er.

Der Jubel ließ Ariat aufblicken. Sie setzte ein hinterhältiges Grinsen auf, doch als sie erkannte, dass er nicht das Weite suchte, sondern auf sie zu marschierte, gefror ihre zuvor so ausgelassene Miene. Haron sah die Anspannung in ihren Schultern, als würde sie erwägen, aufzuspringen und davonzulaufen. Ein aussichtsloses Unterfangen. Die Reinen drängten ihm entgegen, sodass sie ihr den Fluchtweg abschnitten. Zugleich machten sie ihm respektvoll Platz. Nur wenige Schritte, dann hatte er den Raum durchquert und trat an Ariats Seite.

Sie zuckte zusammen, als er die Hand hob. Doch statt ihr die Prügel zu verpassen, die sie eigentlich verdient hätte, nahm er ihr den Becher ab und legte den Armstumpf gönnerhaft um ihre Schulter. Ohne auf ihren Widerstand zu achten, drückte er sie eng an sich, während er den Becher hob, und die Menge zur Ruhe aufzufordern.

»Ein großer Sieg!«, brüllte er, damit alle ihn hören konnten. »Aber es ist nur der Anfang!«

»Was soll das?«, zischte Ariat. »Das ist mein Erfolg, nicht deiner!«

Haron ignorierte sie. »Wir werden die Oberen das Fürchten lehren«, fuhr er fort. »Wir werden ihre Grundfeste erschüttern, ihre Stadt in Schutt und Asche legen! So lange, bis Noryak wieder denen gehört, die es aufgebaut haben: den Natürlichen!«

Er prostete ihnen zu und nahm einen Schluck des scharfen Gebräus. Ihm stand der Sinn ganz und gar nicht nach Schnaps, und noch weniger nach Feiern. Dennoch lächelte er. Es blieb ihm nichts anderes übrig.

So leise, dass nur Ariat ihn hören konnte, sagte er: »Du hältst die Klappe und kommst mit.«

Grob lotste er sie durch das Gelage der feiernden Menge und in Richtung seines Quartiers. Als sie versuchte, sich loszureißen, schleuderte er den Becher fort und packte sie am Arm. »Reiz mich nicht noch weiter, ich warne dich.«

Er stieß sie durch den Eingang seiner Höhle und zog den Vorhang hinter sich zu. Ariat stand breitbeinig und kampfbereit im Halbdunkel, jedes Anzeichen von Trunkenheit war verschwunden. Ihre Augen blitzten, als wollte sie ihn mit ihren Blicken töten.

Das konnte sie gerne versuchen. Bringen würde es ihr nichts.

»Was soll das Theater?«, fauchte sie. »Was glaubst du, wer du bist?«

»Immer noch der Anführer der Reinen«, entgegnete er leise. »Und wenn du noch einmal etwas derartig Dummes tust, werde ich dich eigenhändig erwürgen, ist das klar?«

Sie zuckte zusammen. Haron war selbst überrascht von der Ruhe, mit der er diese Worte ausgesprochen hatte. Es war keine leere Drohung, das wussten sie beide.

»Ich habe nur getan, was du ihnen versprochen hattest«, protestierte Ariat, doch in ihrer Stimme lag Unsicherheit. Sie schlug die Augen nieder.

»Hältst du mich wirklich für so dumm?« Haron schnaubte. »Die anderen kannst du belügen, aber mich nicht! Also versuch es gar nicht erst.« Er trat an sie heran, so nah, dass sie zu ihm aufsehen musste. »Du hörst mir jetzt gut zu«, sagte er. »Folgendes ist geschehen: Ich war mit Hemmon im Kloster, um weitere Vorräte zu sichern. Diesen Teil wird er dir gerne bestätigen. Und als die Priester uns die Unterstützung verweigert haben, hast du wie vereinbart die Vernichtung des Klosters ausgeführt.«

Ihre Augen weiteten sich.

»Wer nicht für uns ist, ist gegen uns«, fuhr er fort. »Hast du das verstanden?«

Ariat zog eine Grimasse. »Ich soll also so tun, als hätte ich auf deinen Befehl gehandelt, du großer Anführer.«

»So sieht es aus. Entweder bist du für die anderen die Stellvertreterin, der ich blind vertraue und wichtige Aufgaben delegiere, oder ich werde eine andere Lösung finden.«

Wut trat in ihren Blick, aber sie konnte nicht die Furcht darin auslöschen. Hektische rote Flecken zeichneten sich unter ihren Narben ab. »Du kannst mich nicht einfach umbringen!«, stieß sie hervor.

»Ich kann«, erwiderte er kalt. »Und ich werde, wenn du die Gemeinschaft gefährdest.«

»Ich habe nichts Falsches getan!« Ihre Stimme kippte. »Du hast dein Versprechen gebrochen …«

»Irrtum!« Er musste sich beherrschen, um nicht die Stimme zu heben. Dieses Gespräch sollten nur sie beide hören, und auch wenn er die größte Lauscherin gerade in die Mangel nahm, war sie durchaus nicht die Einzige in der Unterstadt, die glaubte, das Recht zu haben, alles zu wissen. »Ich war an der Oberfläche, um einen Anschlag vorzubereiten. Einen, der unseren Krieg weitergebracht hätte, nicht so wie dein persönlicher Rachefeldzug gegen die Priester.«

Wieder verzog sie verächtlich das Gesicht. Er stieß sie gegen die Wand, sodass ihr Kopf hörbar gegen den Felsen schlug. Nun war es Schmerz, der ihre Lippen kräuselte.

»Wie viel Sprengstoff hat uns dein kleiner Egotrip gekostet? Wie viel von den Ressourcen, die wir für einen richtigen Anschlag hätten gebrauchen können?«

Zum ersten Mal schien sie zu begreifen, was sie angerichtet hatte. Statt sich zu verteidigen, ließ sie die Hand sinken, mit der sie ihren Hinterkopf betastet hatte.

»Dein Eigennutz hat uns Zeit gekostet, die wir vielleicht nicht mehr haben«, fasste Haron zusammen. »Wir müssen diesen Krieg beenden. Ich will ihn gewinnen. Und wenn du mich dabei nicht unterstützen willst, dann muss ich daraus meine Konsequenzen ziehen. Hast du mich verstanden?«

Der alte Trotz trat in ihre Augen, aber sie wusste, dass es klüger war, klein beizugeben. »Ja.«

»Gut.« Mit routiniertem Griff löste er den Verschluss seiner Hose.

Ihre Augen weiteten sich, als ihr klar wurde, was er vorhatte. Sie protestierte, wollte ihn wegdrücken, doch er packte sie und stieß sie grob aufs Bett. Er war stärker als sie, das hatten sie oft genug erprobt. Nur dass es diesmal kein Spiel war.

Den anderen gegenüber konnte er nicht zeigen, dass Ariat ohne seine Zustimmung gehandelt hatte. Aber das bedeutete nicht, dass er ihren Ungehorsam einfach dulden würde.

Helbar

Die Zahl der Gläubigen, die an diesem Abend in seiner Gebetsstätte zusammengefunden hatte, überraschte Helbar. Er war ein erfahrener Priester. Er leitete sein Gebetshaus seit Jahrzehnten, doch so ein Andrang war ihm bisher noch nie untergekommen. Angst zeichnete sich auf ihren Gesichtern ab, eine Furcht, die er nicht teilte. Mit dem Kloster hatte er längst gebrochen, und den Berichten nach zu urteilen, die er zuletzt vernommen hatte, war es für den Glauben das Beste, das Übel an seinem Ursprungsort auszubrennen. Viel hatte Lorio ohnehin nicht von der einst stolzen Einrichtung übriggelassen.

Doch Helbar verstand, weshalb seine Anhänger das nicht so sehen konnten. Beschwichtigend breitete er die Arme aus. Er wartete, bis das vielstimmige Gemurmel im Saal verstummte, und hob die Stimme. »Danke, dass ihr gekommen seid. In Zeiten der Unruhe ist es umso wichtiger, inneren Frieden zu finden …«

»Was geschieht jetzt?«, unterbrach ihn ein junger Mann. Seine Wange zierte eine halb verheilte Brandwunde, doch er trug immer noch den Overall seines Arbeitgebers. Ein fleißiger Arbeiter.

Dennoch war das kein Verhalten, das Helbar in seiner Gebetsstätte dulden wollte. Er zog missbilligend die Augenbrauen zusammen. Hier sprach er, niemand sonst.

Bevor er den vorlauten Sprecher jedoch entsprechend zurechtweisen konnte, hatte sich eine ausgezehrte Frau erhoben und rief: »Genau! Wie geht es jetzt weiter?«

Auch andere Stimmen wurden laut. »Werden die Gebetshäuser geschlossen?«

»Was ist mit den Spenden? Werden sie weitergeführt?«

»Wohin können wir uns wenden?«

Helbar hatte genug. »Ruhe!«, brüllte er so laut, dass es von der niedrigen Decke hallte. Er zwang ein Lächeln auf sein Gesicht. »Es bleibt alles wie gehabt. Die Tore der Gebetsstätten bleiben geöffnet, und meine Brüder und ich haben immer ein offenes Ohr für eure Sorgen. Und solange wir Spenden erhalten, werden wir sie weitergeben. Nach demselben Prinzip wie bisher: Wer Hilfe benötigt, wird sie empfangen. Doch wer mit den Reinen paktiert und Leben nimmt, benötigt keine Hilfe von uns.«

Zustimmendes Gemurmel war die Folge. Er würde die Puristen aushungern. Dieses Pack, das keine Scheu kannte, sich an den Spenden der Arbeiter zu bereichern, während sie mordend und plündernd durch die Straßen zogen und auch noch diejenigen attackierten, denen sie das wenige Brot vom Teller stahlen.

»Also bleibt ruhig«, schloss er seine Beschwichtigung. »Und haltet euch von den Aufständen fern, dann wird euch nichts geschehen.«

Einige verzogen die Gesichter. Vor den Gefahren ihres Alltags konnte sie diese Vorsicht nicht schützen. Der mussten sie sich selbst stellen. Helbar wusste nur zu gut, dass die Bedingungen in den Fabriken schlimmer waren denn je, aber diese Sorge konnte er ihnen nicht abnehmen.

»Ich weiß.« Er hob die Hände. »Es gibt keine Sicherheit, solange diese Parasiten unter uns weilen.«

Die Unruhe kehrte zurück, und er atmete hörbar durch, als würden ihm die folgenden Worte widerstreben. Als hätte er sie nicht schon tausendfach in seinen Gedanken geformt. Doch diesmal sprach er sie aus.

»Ich kann euch nicht dazu raten, Gewalt zu verüben. Aber ich betone auf das Äußerste, dass euch niemand dafür verurteilen kann, wenn ihr euch zur Wehr setzt, um euch und die Euren zu schützen.«

Sie sahen ihn schockiert an. Zu lange hatte er die Maske der Freundlichkeit und des Verständnisses getragen. Es wurde Zeit, dass er ein Zeichen setzte. Zeit, dass jemand die Wahrheit aussprach.

»Elend hat es in Noryak immer gegeben, das wisst ihr ebenso gut wie ich«, fuhr er fort. »Eskaliert ist es erst, seit die Puristen ihr Unwesen trieben.«

Die Ersten nickten zaghaft.

»Nicht die Oberschicht ist das Problem«, erklärte Helbar, bebend vor gerechtem Zorn. »Wir hier unten sind es gewohnt, unsere Dinge selbst zu regeln. Auf einander zu achten. Doch die Puristen wenden sich gegen uns. Sie stehlen das Wenige, das wir besitzen, zerstören das, was uns am Leben erhält!«

»Unmenschen«, zischte jemand, laut in der betretenen Stille des Gebetshauses.

Diesmal begrüßte Helbar den Einwurf. Er nickte bekräftigend. »So ist es! Sie sind Verräter am eigenen Volk!«

Sie auszuhungern war nicht genug. Wenn sie dem Spuk ein Ende machen wollten, mussten sie die Reinen auslöschen, sie an die Exekutive ausliefern und …

Ein lautes Knacken ließ ihn aufblicken. Das breite Eingangstor glitt langsam auf, und Helbar runzelte die Stirn. Er legte Wert auf Pünktlichkeit, Unterbrechungen konnte er nicht leiden.

Doch es war kein Nachzügler, der sich durch das Tor schob, sondern ein schmutziger Halbwüchsiger in blauer Adeptenrobe. Sein Gesicht war verquollen, als hätte er mehrere Schläge einstecken müssen, Ruß schwärzte seine blasse Haut. Er blinzelte geblendet in das unstete Licht der Neonröhren.

Mittlerweile hatten sich alle Gläubigen umgewandt, um zu sehen, wer da Helbars wütende Rede unterbrochen hatte. Als der Junge die geballte Aufmerksamkeit der Anwesenden bemerkte, zögerte er. Dann jedoch fiel sein Blick auf den Priester an der Kanzel, und er drückte das Tor endgültig auf.

Helbar erstarrte. Hinter dem Jungen tauchten weitere Adepten auf, alt genug, um kurz vor ihrer Priesterweihe zu stehen. Sie hielten die jüngeren Novizen an der Hand, die Kleinsten trugen sie auf den Armen. Fast dreißig Kinder drängten in den Gebetsraum, viele davon trugen improvisierte Verbände um Arme oder Beine. Sie alle waren verschmutzt und ausgemergelt, ihre Gesichter gezeichnet von Ruß und Blut. Ihre Roben waren zerschlissen und voller Brandflecken.

Hilflos und verloren sahen sie aus. Der lebende Beweis, dass Helbar nicht besser war als die Puristen, die den Anschlag verübt hatten, der ihnen das Zuhause genommen hatte. Ebenso wie seine Anhänger hatte Helbar nur die politische Bedeutung gesehen, die der Fall des Klosters zur Folge hatte. Aber er hätte es besser wissen müssen.

All die Kinder, die über die Jahre ins Kloster gebracht worden waren. Verwaist, zurückgelassen und vergessen … Er hatte keinen Gedanken daran verloren, was mit ihnen geschehen war. Das Kloster hatte weit mehr Jungen als diesen ängstlichen Haufen beherbergt, und er hatte keine Sekunde darauf verschwendet, sich um sie zu sorgen. Wo war der Rest der Adepten?

Ungesehen hinter seinem Rednerpult ballte Helbar eine Hand zur Faust.

Sie hatten ihre Schüler im Stich gelassen, er und die anderen Priester. Als sie mit dem Kloster gebrochen hatten, hatten sie gewusst, welche Zustände im Kloster geherrscht hatten. Doch sie hatten nur ihren eigenen Vorteil gesehen, ihren Stolz. Sie hatten die Kinder Lorios Wahnsinn überlassen, sie einem Mann ausgeliefert, der vor blanker Gewalt ebenso wenig zurückschreckte wie vor heimtückischem Mord.

Nun standen sie da, ihre hageren Gestalten ebenso anklagend wie der abgestumpfte Ausdruck in ihren Gesichtern. Und alles, woran Helbar denken konnte, war, wie er sie schnellstmöglich wieder loswurde.

Unter den Narben (Darwin's Failure 2)

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