Читать книгу Mit dem Fahrrad vom Atlantik bis ans Schwarze Meer - Mady Host - Страница 7
FRANKREICH – Auf dem Loire-Radweg vom Atlantik nach Nevers ... rund 700 Kilometer
ОглавлениеWie heißt es so schön? Aller Anfang ist leicht. Auch wenn ich ganz allein auf mich und meine mangelnde Orientierungsfähigkeit gestellt bin, so fällt mir der Start in mein Radlerabenteuer überhaupt nicht schwer. Der Radweg ist grundsätzlich gut beschildert, und wenn ich mich doch einmal verfahre, so kann ich dieses Defizit mit meiner Kommunikationsstärke ausgleichen: Ich spreche die Landessprache ausreichend gut, dass es genügt, durchzukommen und mich sogar etwas zu unterhalten. Auf Navigationstechnik möchte ich weitestgehend verzichten, meine wasserabweisenden bikeline-Radkarten sowie mein gesunder Mund, der gerne fragt, sollen mir für die Orientierung genügen. Ich hoffe, das geht gut und ich lande nicht plötzlich in Norwegen statt an der Schwarzmeerküste …
Zelten in Frankreich – mein Zuhause
Der Loire-Radweg selbst macht es mir auch leicht, ihn zu mögen, denn er ist vor allem aufgrund seiner ursprünglichen Landschaft, die ihn umgibt, reizvoll. Die Loire gilt als einer der letzten ungezähmten Flüsse Europas. Sie ist für größere Schiffe überwiegend zu seicht, so darf sie fließen, wie es die Natur ihr vorgibt. Hin und wieder verlässt der Weg den Fluss und gräbt sich in die Weinberge, was mich nicht selten in den ersten Gang herunterschalten lässt, manchmal sogar – ich gebe es nur ungern zu – auch ein Stück keuchend zum Schieben zwingt, mit 25 bis 30 Kilogramm Gepäck aber eigentlich auch kein Wunder. Alles in allem macht Fidibus, so habe ich mein Trekkingrad während meiner heimischen Trainingsfahrten getauft, vom ersten Kilometer an einen guten Job. Ich sitze vor dem Zelt und wünsche mir, dass es weiter so gut laufen wird, wie es das gerade tut. Ich bin schnell im Hier und Jetzt meines Radlerabenteuers angekommen: Wenn ich nicht gerade fahre, pausiere ich, wechsele hier und da ein paar Worte, als würde ich es schon lange so tun. Ja, meinen Reiserhythmus habe ich gefunden. „Einfach machen“ wird schnell zu meinem Motto. Ich spüre keine Einsamkeit, weder auf der Strecke noch beim Kochen am Zelt. Die Dinge sind, wie sie sind, und sie sind gut. Ja, darüber bin ich glücklich.
Und damit bin ich augenscheinlich nicht allein. In Le Thoureil, einer winzigen Ortschaft mit rund 450 Einwohnern, die keine zweihundert Kilometer von meinem Tourstart, nahe dem Atlantik, entfernt liegt, muss ich einfach stoppen, als ich auf der Loire-Uferpromenade einen liebevoll gestalteten Eiswagen mit rot-weißer Markise entdecke. Ich beobachte die Menschen, die fröhlich schnatternd anstehen, und den Verkäufer. Er lächelt, hat für jeden Kunden ein freundliches Wort auf den Lippen. Seine kullerrunde Brille, das weiße Käppi und die blau-weiß karierte Hose stehen ihm ausgezeichnet und unterstreichen seine sympathische Erscheinung. Während er Eiskugeln in Waffeln schaufelt, stelle ich mein Fahrrad ab und will gerade meine Kamera aus der Tasche holen, als mich eine quirlige Frau um die Vierzig im perfekten Englisch anspricht. Sie fragt nach dem Woher und Wohin und erzählt dann genauso ausgiebig wie zügig, dass sie einige Jahre in Paris lebte, dort im Onlinemarketing tätig war und jetzt ganz in der Nähe dieses Ortes ihr Zuhause habe und Bootstouren auf der Loire anbiete.
Glücklicher Eisverkäufer
„Gestern war ich zwölf Stunden auf dem Wasser“, erklärt sie mir, während ich die Kamera startklar mache.
„Das klingt toll“, freue ich mich.
Der Eisverkäufer hat gerade Leerlauf und gesellt sich zu uns. Ich erzähle ein wenig von mir und meiner Reise. Meine Gesprächspartnerin und der Eisverkäufer kennen sich und wechseln plötzlich einige rapide gesprochene Worte in ihrer Landessprache. Dabei werfen sie einen Seitenblick auf mich und zwinkern einander zu. Dann lotst mich Henricus, wie sich der Eismann vorgestellt hat, zu seinem Wagen, öffnet das mit einer goldenen Abdeckung geschützte Eisfach. Er taucht seinen Portionierer in die kalte Masse, während sich die ehemalige Pariserin Patricia meine Kamera schnappt. Ich weiß, dass sie damit etwas Gutes vorhat, will aber dennoch nachhaken, was. Per Fingerzeig auf ihren geschlossenen Mund bringt sie mich allerdings zum Schweigen. Henricus tritt hinter seinem Wagen hervor, holt mich an seine Seite und drückt mir eine gefüllte Eiswaffel in die Hand. Patricia, die einige Meter vor uns Stellung bezogen hat, betätigt den Auslöser. Ich lache. Henricus freut sich: „Siehst du, du lächelst, weil ich dir ein Eis geschenkt habe. Und da ich dir eine Freude machen konnte, bin nun auch ich glücklich.“
„Schön, dass die Überraschung gelungen ist“, schaltet sich Patricia ein und gibt mir die Kamera zurück.
„Natürlich verschenke ich mein Eis nicht immer an die Leute, aber die Reaktion der Menschen ähnelt deiner. Mein Job ist positiv besetzt, und Passanten, die sich an einem sonnigen Tag ein Eis kaufen, sind in den meisten Fällen glücklich, spätestens, wenn die kalte Köstlichkeit auf ihren Zungen schmilzt“, grinst mich der Mann mit dem Glücksjob zufrieden an.
„Das glaube ich Ihnen“, erwidere ich, „Ihr freundliches Lächeln strahlt über die ganz Uferpromenade“, füge ich auf Englisch an.
„Zeit für einen Abstecher zum Wasser“, entführt mich Patricia auf eines der traditionellen Loire-Holzschiffe, an deren Mast sich ein Segel spannen lässt. Zusammen mit ihrem Kollegen bietet sie mehrstündige Touren an. Gern fährt sie mit den Gästen flussaufwärts und lässt sich dann mit ihnen still zurücktreiben. Die daraus entstehende Ruhe, in die sich nur die Geräusche der Natur mischen, führt sie ganz bewusst herbei.
„Das ist meine Meditation“, erklärt sie, während sie sich ans Steuerrad stellt und mir sanftmütig zulächelt, die Krempe ihres Hutes wirft einen leichten Schatten auf Gesicht, Hals und Dekolleté.
Der Loire-Radweg stattet charmanten Orten wie Saumur, dessen Schloss aus dem 14. Jahrhundert hoch über dem Fluss thront, genauso einen Besuch ab wie Souzay-Champigny, einer Gemeinde sechs Kilometer östlich von Saumur. Souzay verfügt über ein Netz von unterirdischen Straßen, die bereits im 11. Jahrhundert in den Stein geschlagen worden sind, die Einkaufsstraße mit Geschäften in den einzelnen Höhlen wurde sogar noch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts genutzt. Die Wegführung beeindruckt mich so sehr, dass ich meinen Fidibus schiebe, was zudem meine Beinmuskeln schont. Der recht steile Radweg geleitet mich zunächst durch eine Öffnung direkt in den Felsen, der sich in einem Bogen über mich spannt. Das Gestein, was an arglos zerknülltes Papier erinnert, erstreckt sich nicht durchgängig über den Weg, sodass das Tageslicht noch immer eine Chance hat, sich zu zeigen. Ich gehe an zugemauerten Eingängen vorbei und kann die einstmals hier ansässigen Geschäfte erahnen. Dann, entlang einer mit Efeu bewachsenen Mauer, verläuft der schmale Weg wieder ganz unter freiem Himmel. Wenig später wird es dann aber doch noch einmal recht dunkel, und einige in den Boden eingelassene Strahler müssen für Helligkeit sorgen. Es sind nicht nur die schattigen, teils recht finsteren Wegstücke, die mich begeistern, sondern auch das Flair des Ortes. Ich begegne hier niemandem, fühle mich aber dennoch gut aufgehoben, vor allem zwischen hellen Steinhäusern, von deren Mauern üppiges Grün mit roten Blüten fällt.
Radweg in der Nähe von Saumur
Ich rolle weiter und komme in Turquant mit einem Künstler ins Gespräch, der sein Atelier mitten im Felsen hat. Als wir seinen Arbeitsort betreten, fahre ich mir über die Gänsehaut auf meinen Armen. Er teilt mir mit, dass er sich nach eineinhalb Jahren an die Kälte gewöhnt hat und dass das Glück darüber, etwas zu erschaffen und dies dann sogar zu verkaufen, die Sorge um kalte Finger deutlich übertrifft. Seine Augen lächeln, während er sich über eine Werkbank beugt. Der Franzose, der noch keine Dreißig sein kann, trägt sein langes gewelltes Haar zum Zopf gebunden und erklärt mir, dass diese Region für ihre „troglos“ bekannt sei – so finden sich Restaurants, Galerien, ja sogar Hotels in Höhlen. Er empfindet es als großes Glück, auf diesem Fleckchen Erde kreativ arbeiten zu können. Ich verstehe, wovon er spricht, sehe mich noch einmal um, als ich Fidibus aus dem Eingangsbereich schiebe.
An diesem Ort entsteht nicht nur Kunst, sondern der Bau selbst ist ein Kunstwerk. Dichter Efeu fällt vom Felsen, in den Fenster und Türen, Räume und Flure geschlagen wurden. Etwas Neues, Besonderes kennenzulernen, macht mich heute glücklich. Ich bin mir meines Privilegs, diese Reise machen zu können, bewusst und empfinde es als großes Glück, interessanten Menschen wie dem Künstler begegnen zu dürfen. Neben der Spontaneität, die ich auf Reisen ohne vorgebuchte Übernachtungsorte so sehr schätze, ist es vor allem der Zugang zur Bevölkerung, weshalb ich gern per Fahrrad oder auch als Rucksackreisende umherziehe. Wenn ich mit meinem bepackten Fidibus vorfahre, öffnet sich manche Tür. Auch mein kreativer Gesprächspartner hatte mich gleich neugierig angelächelt, als ich mich dem Eingangsbereich näherte. Allein die Tatsache, dass ich mein Gepäck und auch mich selbst auf einem unmotorisierten Zweirad befördere, scheint die Botschaft „Ich komme in Frieden“ auszusenden.
Mein Finger fährt über das glatte Material meines Tourenbuches und bleibt an einem wohlklingenden Namen hängen: Chambord. Als ich mich vor meiner Reise mit der Loire-Region befasst habe, bin ich einem Schloss nämlich immer wieder begegnet: dem „Château de Chambord“, welches das größte und wohl auch prächtigste aller Schlösser an der Loire ist. Der Renaissancebau wurde von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannt.
Ich freue mich sehr darauf, diese Meisterleistung menschlicher Baukunst zu besuchen, und versuche mir das nasse Wetter schönzureden, als ich bei kaum mehr als zehn Grad Celsius mein klitschnasses Zelt verstaue. Den Beschilderungen nach Chambord folgend, gelange ich an eine Stelle, welche auf einmal in die entgegengesetzte Richtung verweist. So bitte ich einen Passanten, mir auf meiner Karte zu zeigen, wo ich mich gerade befinde. Als er blättern will, weil ich offensichtlich nicht einmal annähernd da bin, wo ich hoffe zu sein, lasse ich die Schultern dann doch ziemlich enttäuscht hängen. Ich triefe vor Nässe, mir ist kalt und meine Finger erinnern an ungekochten Spargel, so steif fühlen sie sich an. Ich dachte eigentlich, Halbfingerhandschuhe im Juni seien ausreichend … Ich weiche auf eine mäßig befahrene Landstraße aus, die mir aufgrund des Regens und der schlechten Sicht nicht gerade als sicherster Weg für eine Radfahrerin erscheint, und bemühe dann noch mal Google Maps. Ein wenig irre ich noch umher, auch weil die Internetverbindung mir in einem waldreichen Abschnitt verloren geht, und werde für meine Mühen entlohnt, als sich das Schloss dann recht plötzlich vor meinen Augen empor reckt. Es ist wirklich gigantisch, mir stockt der Atem vor Überraschung über diese immense Menge an Pracht, wenn auch in einen Regenschleier gehüllt. Zusammen mit etwa fünfzig Erstklässlern in kleinen gelben Fahrradwesten erreiche ich die gepflegten Grünanlagen, die das Schloss säumen. Ich überlege, ob ich hineingehe. Der Renaissance-Bau, in dem auch Leonardo da Vinci seine Spuren hinterlassen haben soll, ist gigantisch. Die stolze Anzahl von 440 Räumen und 84 Treppen belegen die Ausmaße. Aber auch von außen gibt es einiges zu bestaunen, der Schlosspark muss sich seiner Größe von etwa 5500 Hektar nämlich auch nicht schämen, er nimmt damit nahezu die gleiche Fläche wie Paris ein. Auf einem kleinen Teich treiben sogar Boote.
Château de Chambord
Die offensichtliche Schönheit dieses Bauwerks spricht dafür, auch einen Blick ins Innere zu werfen, mein eiskalter, nasser Körper und die steifen Finger legen aber ein Veto ein. Die unbeantwortete Frage „Wohin mit Fidibus und Gepäck?“ gibt den Ausschlag, nach kurzer Erkundung der Außenanlage weiterzufahren. Das Flair dieses Ortes, das ich trotz der unangenehmen Wetterbedingungen gespürt habe, soll mir als Erinnerung genügen. Noch ahne ich nicht, wie weise diese Entscheidung ist und wie sehr ich einen zeitlichen Puffer bis zum Einbruch der Nacht heute noch brauchen werde …
Zunächst benötige ich aber erst einmal Energie für meinen durchnässten Radlerkörper und mache Rast in Beaugency, einer Stadt, die aufgrund ihrer Loirebrücke mit 22 gotischen Bögen und einer Länge von 440 Metern bekannt ist. Lange war sie der einzige Übergang zwischen Orléans und Blois. In der Stadt selbst bedaure ich den noch immer niederprasselnden Regen, denn dieser Ort gilt als beeindruckendes Beispiel mittelalterlicher Militärarchitektur in Frankreich. Mir gefällt das Stadtbild, und ich würde gern mehr sehen als die nasse Welt außerhalb der Bäckerei, an deren Fenster ich nach draußen blicke, während ich mir ein Mandelcroissant und heiße Schokolade schmecken lasse. Auch wenn es keine Sitzgelegenheiten gibt, lässt mich die Bäckersfrau gewähren, so lange, bis ich zum Supermarkt um die Ecke rollen kann.
Es ist kurz vor 15 Uhr und die Ladenöffnung steht unmittelbar bevor. Mit mir warten eine Gruppe Teenie-Jungs, eine freundlich wirkende Omi und ein Pärchen mittleren Alters, das mich immer wieder anlächelt. Während ich einkaufe, wartet Fidibus voll beladen vor der Tür, nur die Lenkertasche habe ich abgeknipst. Aus Sorge um mein Hab und Gut wollte ich eigentlich auch immer die komplette und fest verstaute Kameraausrüstung, vielleicht sogar das hochwertige Zelt mitnehmen, wenn ich das Rad zum Einkaufen abstellen muss, aber hier an diesem beschaulichen Ort habe ich eher das Gefühl, die Menschen würden auf mich aufpassen, als irgendetwas Böses im Schilde zu führen. So verhalte mich ausnahmsweise mal etwas lockerer.
Das Alleinreisen selbst funktioniert gut für mich, aber Dinge wie unbeschwert einkaufen, Sehenswürdigkeiten von innen anschauen, in freier Wildbahn zelten, mit vier statt mit zwei Augen auf Wegverlauf und Verkehr größerer Städte schauen – all das habe ich als Alleinreisende nicht. Mein Multitasking ist schon in mancher Stadt auf die Probe gestellt worden: Route finden beziehungsweise behalten, nicht umfahren lassen, selbst nicht umfahren, Sehenswürdigkeiten entdecken, filmen, fotografieren, dabei noch einen Seitenblick riskieren, ob nicht irgendwo ein Lebensmittelgeschäft zu finden ist … Aber es geht und wird mit jeder Stadtpassage auch etwas leichter.
Nach Verlassen des Ortes komme ich gut voran und freue mich aufs Erreichen meines Tageszieles Orléans. Der Regen pausiert sogar ein Weilchen und der Fahrtwind gibt meiner Kleidung die Chance, etwas trockener zu werden. Voller Vorfreude stelle ich mir vor, wie ich auf dem Campingplatz in meinem gemütlichen Zelt sitze, erst heiße Nudeln zu warmem Tee löffele, mir dann als Dessert einen süßen Tassenpudding zubereite. Ich werde nicht allzu spät ankommen, kann nach dem Tagebuchschreiben bestimmt noch viele Seiten meines Krimis lesen, vielleicht sogar besonders zeitig schlafen gehen … Meine Gedanken werden vom erneut einsetzenden Regen ertränkt. So kurz vorm Ziel! Gemein. Kurz vorm Ziel? Pustekuchen! Ich muss meine Karte wohl falsch gedeutet haben, denn ich biege am Stadtrand von Orléans zu früh ab und wundere mich über die kleine Nebenstraße, in der ich mich plötzlich befinde. Ein erneuter Blick auf den Plan lässt mich ernsthaft zweifeln, ob das stimmen kann. Ich sehe mich nach Fußgängern um, aber bei dem Mistwetter ist hier niemand unterwegs, nur ein Autofahrer rollt gerade los und hinterlässt eine Lücke, hinter der eine geöffnete Haustür sichtbar wird. Darin steht ein weißhaariger Mann und winkt seinem abreisenden Besucher hinterher. Ich stoppe und nutze die Gelegenheit, ihn nach dem Weg zum Campingplatz in Orléans zu fragen, dabei wische ich die Tropfen auf der transparenten Regenhülle meiner Lenkertasche beiseite und deute auf den anvisierten Punkt.
„Wollen Sie nicht erst einmal auf einen heißen Kaffee reinkommen, Sie sind ja ganz nass“, lautet seine Antwort. „Mein Name ist Jean“, fügt er dann noch lächelnd an.
Ich mustere den Mann, höre kurz auf mein Bauchgefühl, das grünes Licht gibt, und nicke dann. Er stößt die Tür auf und gibt mir zu verstehen, dass ich mein Fahrrad samt Gepäck einfach hineinschieben soll. Wir befinden uns in einem länglichen Schuppen, von dem aus wir scharf abzweigen und in einer urgemütlichen Essküche landen. Auf einem riesigen massiven Holztisch stehen ein Teller mit Käse, eine Schüssel Tomaten, eine Tüte mit Backwaren, benutzte Weingläser und Tassen sowie leere Weinflaschen – Zeugen des Essens, was hier gerade erst stattgefunden haben muss. Ich nehme die Einladung, Platz zu nehmen, dankbar an und erfahre von Jean, dass er Familienbesuch hatte, der gerade erst wieder abgereist ist. Ich lege meine Hände um die Tasse, die mir mein Gastgeber hingestellt hat. Jeans Französisch ist für mich sehr gut zu verstehen, sodass ich schnell einiges über ihn erfahre. Er deutet auf das Geschirr vor uns und erklärt mir, dass er Familie auf Korsika hat.
„Sie waren zu Besuch und haben Wein mitgebracht. Von dort kommen nämlich die besten Weine der Welt“, klärt er mich stolz auf und lächelt glücklich.
„Was macht Sie denn besonders glücklich?“, will ich wissen.
„Das ist einfach“, erwidert Jean prompt. „Hinter mir liegen Tage voller Glück. Ich habe für alle gekocht, wir haben zusammen gesessen, geplaudert und den besten Wein von der schönsten Insel getrunken. Ich liebe Korsika, die Landschaft, die Gerüche – alles an der Insel macht mich froh. In diesem Jahr war ich mit meinem 16-jährigen Sohn dort. Wir sind in unserem Oldtimer über die Insel gefahren. Das war pures Glück, wir zwei Männer in diesem Auto, auf einem zauberhaften Fleckchen Erde.“
Er bietet an, mir sein Auto nach dem Kaffeetrinken zu zeigen, es stehe hinter dem Haus, unter seinem Carport. Ich nicke begeistert und erfahre noch, dass er eine Frau hat, die um einiges jünger ist als er und aus Peru stammt. Der gemeinsame 16-jährige Sohn spreche aber kaum Spanisch, sondern nur die Sprache seines Wohnlandes Frankreich.
„Leider haben Sie meine Frau verpasst“, erklärt mir Jean, „Sie ist gerade in der alten Heimat, weil ihr Vater gestorben ist. Ansonsten leben wir hier gemeinsam und sie arbeitet im Krankenhaus.“
Er denkt nach und fügt an: „Natürlich war auch der Tag unserer Hochzeit ein sehr glücklicher, ja, das war ein bedeutender Höhepunkt in meinem Leben. Es ist normal, dass – und ich meine das keinesfalls negativ – irgendwann der Alltag einkehrt, und in diesen mischen sich dann immer wieder Highlights, zum Beispiel der Familienbesuch oder die Inselrundfahrt mit meinem Sohn.“
Wie auf ein Stichwort erscheint selbiger in der Küche und begrüßt mich mit Wangenküssen. Das schwarze Haar und die ebenso dunklen Augen verraten die Herkunft seiner Mutter.
Nachdem ich den besten Kaffee meines Lebens ausgetrunken habe, gehen Jean und ich nach draußen, wo er mir sein Liebhaberstück zeigen möchte. Sorgsam hebt er die Plane an, rollt sie zur Seite, bis ich das Prachtexemplar bewundern kann. Es ist ein Fahrzeug der Morgan Motor Company, britischer Sportwagenhersteller, der im Jahr 1909 von Harry Frederick Stanley Morgan gegründet worden ist. Vor mir glänzt der dunkle Lack des edlen Cabrios, an dessen Seite Jean gern fürs Foto posiert.
Auch wenn ich mich pudelwohl bei meinem sympathischen Gastgeber mit der runden Brille, den weißen Haaren und dem gestreiften Longsleeve fühle, so ist es an der Zeit weiterzuziehen, obwohl es leider immer noch regnet. Jean malt mir den kürzesten Weg zum Campingplatz auf ein Stück Papier und öffnet die Haustür. Ich drücke ihm noch eine Magdeburg-Postkarte, einen Gruß aus meiner Heimat, in die Hände und parke aus. Solche kleinen Souvenirs habe ich auf jeder Reise dabei, sie schaffen eine Verbindung zu meinem Wohnort und sind der visuelle Zugang, mit dem ich zeigen kann, woher ich komme und wie es dort aussieht.
Der glückliche Jean an seinem Morgan
Während ich Fidibus nehme, um ihn rückwärts aus dem Schuppen zu schieben, knackt es plötzlich und mein Fahrradständer, der schon erste Spuren eines Defekts gezeigt hatte, bricht vollends ab und liegt traurig zwischen meinem Rad und mir. Jean und ich nehmen es mit Humor, mein Gastgeber hebt das kaputte Teil auf und ich entgegne lachend: „Nun haben Sie noch ein Souvenir von mir.“
Als ich wieder auf der Straße bin und der Route folge, die mir Jean aufgezeichnet hat, freue ich mich über meinen Makel in puncto Orientierung, denn was entginge mir nur, wenn ich mich nicht verfahren würde … Manchmal haben eben auch Schwächen ihre Stärken.
Die selbstgemalte Karte ist jedenfalls großartig und ich erreiche schnell die Stelle, an der laut meiner Fahrradkarte der Zeltplatz sein müsste. Ich rolle am Loire-Ufer vor und zurück, einmal, zweimal, dreimal, kann jedoch partout keinen Campingplatz ausmachen. Das gibt es doch nicht! Ich frage Jogger, Fußgänger, biege sogar zur nächsten Straße ab, um mich bei einem Autofahrer zu erkundigen. Ich weiß nicht, wie lange ich schon umherirre, als eine junge Frau, die Englisch mit mir spricht, ausführlich auf ihrem Smartphone recherchiert und dann eine Nummer anruft, von der wir beide der Meinung sind, sie gehöre zum Campingplatz, der nahezu vor unserer Nase sein müsste. Wir erfahren, dass er erst ab dem 22. Juni geöffnet hat, was erklärt, warum wir ihn nicht sehen, da das Areal noch komplett abgeriegelt und winterfest gemacht und damit nahezu versteckt ist. „Was mache ich denn jetzt?“, frage ich mich und fahre langsam Richtung Innenstadt, denn an eine Weiterreise bis zum nächsten Platz ist gar nicht zu denken, angesichts der abendlichen Tageszeit.
So viel zum Thema „Heute steht das Zelt mal zeitig“. Momentan fühlt sich der Grund, weshalb ich so gern individuell reise, also weil ich mich gern überraschen lasse, eher negativ als positiv an. Die Kehrseite der Medaille, die Seite, die mich mehr fordert als fördert, liegt oben. Allein unterwegs zu sein, ist aufregend, macht mir Spaß und hat bisher ja auch gut funktioniert, aber wenn es eben mal nicht so läuft, kippt die Stimmung doch ein wenig. Meine
Optionen sind zudem weniger, als sie es in Zweisamkeit wären, denn dann würde ich Wildniscamping in Erwägung ziehen. Aber allein begebe ich mich auf gar keinen Fall in ein nasses Gebüsch am Stadtrand, dafür fehlt mir der Schneid. Es bleibt also nur, irgendeine Form von touristischer Unterkunft zu finden.
Glücklicherweise entdecke ich bald ein Hotel, sehe aber keinen geeigneten Ort, an dem ich mein Rad, das ohne Ständer nun nicht mehr überall ausharren kann, sicher zu parken. So schiebe ich Fidibus in die Lobby, tropfe erst den Boden, dann den Tresen mit meinen Jackenärmeln voll, als ich mich zur Rezeptionistin hinüberbeuge und nach einem Zimmer frage. Nicht nur dieses Hotel ist restlos ausgebucht, sondern auch eine Handvoll anderer, welche die freundliche Frau für mich abtelefoniert. Ich schraube mein Maximalbudget zwangsläufig nach oben und sie findet ein freies Zimmer in der Nähe, was sie noch von 85 auf 80 Euro heruntergehandelt bekommt. Dank ihrer Wegbeschreibung finde ich es schnell und werde von einer jungen, perfekt geschminkten Mitarbeiterin freundlich begrüßt. Fidibus darf in den Haushaltsraum, in dem die Rezeptionistin ihn geduldig festhält, während ich alle Taschen entferne. Ich hinterlasse eine dicke Spur aus nassem Dreck, als ich am Fahrstuhl zum Stehen komme und den Knopf drücke. Zusammen mit all meinen Taschen, die ich mir an jedes erdenkliche Körperteil gehängt habe, quetsche ich mich hinein und fahre nach oben.
Es ist 20 Uhr, als ich die Taschenriemen, die sich trotz des nur kurzen Weges tief in meine Schultern geschnitten haben, von mir streifen kann. Ich lasse mich auf das Bett fallen, atme einige Male erleichtert durch und schäle mich dann aus den Klamotten, um mich auf den Weg unter die heiße Dusche zu machen. Anschließend möchte ich wenigstens einen meiner Pläne in die Tat umsetzen, erhitze Wasser und bereite mir den ersehnten Tassenpudding zu. Na bitte, geht doch!
Am nächsten Morgen bin ich schon um 7 Uhr wach, obwohl ich erst zur Geis-terstunde das Licht ausgeschaltet habe. Ich fühle mich noch müde, kann aber auch nicht mehr einschlafen. So schaut mir aus dem Badezimmerspiegel ein recht zerknautschtes Gesicht entgegen. „Dann wasche ich dich eben, wenn du nicht mehr schlafen willst“, grummele ich mein Abbild an und beschließe, die Zeit gut zu nutzen und mir Orléans anzuschauen.
Fidibus und mein Gepäck dürfen nach dem Auschecken im Hotel lagern, sodass ich unbeschwert und zu Fuß losziehen kann.
Die Stadt liegt am nördlichsten Punkt des Laufs der Loire und ist mir vor allem wegen Jeanne d`Arc, der Jungfrau von Orléans, bekannt. Unter Karl dem Großen erblühte die Stadt zu einem geistigen Zentrum, in dem im Jahr 1305 die erste Universität gegründet wurde. Im Laufe der Zeit erlangte Orléans so große Bekanntheit, dass man diesen Ort sogar als Hauptstadt Frankreichs betrachtete. Die Jungfrau von Orléans kam ins Spiel, als die Engländer die Stadt in den Jahren 1428/29 für fünf Monate belagert hatten, denn Jeanne d`Arc bekämpfte mit ihren Mannen die Eindringlinge erfolgreich und zog am 8. Mai 1429 als Nationalheldin in die befreite Stadt ein.
Nahe ihrer Statue, die sie auf einem hohen Sockel zu Pferd zeigt, lerne ich einen jungen Mann kennen, der hochkonzentriert über eine Sandskulptur gebeugt kniet und sorgfältig mit Küchenmesser und Pinsel ein Kunstwerk schafft, das ich jetzt schon als zwei schlafende Hunde erkennen kann. Offensichtlich sitzt er hier bereits seit einigen Stunden.
Besuch bei Jeanne d`Arc
Die wilde Loire
Neugierig zu erfahren, wer er ist, spreche ich ihn auf Französisch an, woraufhin er nur mit wenigen Worten gebrochen reagiert. Mit Englisch geht es auch nicht besser, wohl aber auf Spanisch, das sei seine beste Fremdsprache, erfahre ich von dem Rumänen. Er arbeite in seinem Heimatland als Lkw-Fahrer und mache gern Urlaub in Frankreich, um jeweils fünf Stunden pro Tag Sandfiguren zu erschaffen – etwas, was ihn erfülle. Dass hinter dem Mann, der hier so vertieft in seine Kunst am Boden hockt, ein rumänischer Brummifahrer steckt, welcher seine Ferien als Hobbykünstler in einem Land Tausende Kilometer entfernt verbringt, hätte ich wohl kaum vermuten können. Längst hat er sich wieder seiner Arbeit gewidmet und besprüht den Sand mit Wasser, um präziser modellieren zu können.
Mal zu Fuß unterwegs zu sein, noch langsamer als mit Fidibus, empfinde ich, auch angesichts dieser unerwarteten Begegnung, als sehr wertvoll. Außerdem macht mich die pure Leichtigkeit glücklich, die ich beim Flanieren ohne Gepäck fühle. Ich verliere mich in kleinen Gassen mit alten Fachwerkhäusern, sitze in der Sonne am Loire-Ufer, werfe einen Blick in die Kathedrale Sainte-Croix d’Orléans, religiöses Zentrum des Bistums Orléans. Der fünfschiffige Bau wurde vielfach zerstört und im Jahr 1601 im gotischen Stil wiederaufgebaut. Mein Blick schweift besonders gern über die Buntglasfenster, die das Tageslicht zum Leuchten bringen.
Überraschenderweise darf ich ein weiteres Treffen mit meinem Vater und Franka erleben. Die beiden haben die Gelegenheit genutzt, noch einige Tage Urlaub zu machen. Dieser neigt sich nun aber so langsam seinem Ende zu – allerdings nicht ohne ein Wiedersehen, wie sie mir per WhatsApp vorschlagen. Ihre Rückfahrtroute haben sie nämlich extra so gelegt, dass wir uns heute auf dem Campingplatz in Sully, gut 50 Kilometer von Orléans entfernt, sehen können. Ich freue mich auf einen finalen Abend im familiären Nest, in dem es für mich ganz sicher bestes Essen und für Fidibus ein wenig Pflege geben wird.
Meine Tagesetappe ist damit kurz und ich lasse es langsam angehen, pausiere auf einer Bank am Loire-Ufer und schaue mir die Wolken an, die sich im Wasser spiegeln, und erfreue mich am üppigen Grün an der Uferlinie, an Sandstränden in der Ferne und der endlich wiedererwachten Sonne, welche ihre Strahlen auf mein Gesicht schickt. Die Inseln, die ich immer wieder in diesem Fluss sehe, gefallen mir besonders, sind sie doch Kennzeichen eines Gewässers, das vom lauten vereinnahmenden Schiffsverkehr glücklicherweise verschont bleibt.
Pause hinter Orléans
Der Radweg führt unter anderem auf hervorragendem Asphalt auf dem Deich entlang und kurz vor meinem Ziel verläuft er dann abgegrenzt neben einer Landstraße, über die mein kleines familiäres Begleitteam und ich nahezu zeitgleich den Campingplatz erreichen. Die Freude über das Wiedersehen ist groß, wir tauschen unsere Erlebnisse aus, schlemmen gemeinsam, zeigen einander Reisefotos und spielen Boules – ein Hobby, dem meine beiden gern in ihren Campingurlauben nachgehen, vor allem in Frankreich, wo es an jeder Ecke entsprechende Plätze dafür gibt. Vor Einbruch der Dunkelheit baut mein Vater noch einen neuen Fahrradständer an meinen Fidibus. Ein passendes Geschenk, denn mein treuer Drahtesel und ich feiern heute Jubiläum: Eine ganze Woche schon fahren wir an Frankreichs wildem Fluss entlang und haben um die 550 Kilometer zurückgelegt. Es rollt …
Die Loire von oben in der Nähe von Sully
In meiner ersten Woche bin ich so freundlich in diesem Land aufgenommen worden, dass ich meine persönliche „Tour de France“ jeden Tag aufs Neue genieße. Immer wieder sprechen mich Menschen an, auch wenn ich sie gar nicht nach dem Weg frage. Wenn sie dann erfahren, wohin meine Reise noch geht, sind sie aus dem Häuschen und bewundern meinen großen Plan, bis nach Rumänien zu radeln. „Sie sind sehr mutig“, ist der meistgehörte Satz bisher, gefolgt von den Top drei Fragen: „Wo kommen Sie her?“, „Wohin wollen Sie?“ und „Haben Sie sich verfahren?“ Offensichtlich wirke ich manchmal etwas verloren, wenn ich – vor allem in Städten und in deren Vororten – nach Wegweisern Ausschau halte. An mancher Schlüsselstelle fehlt mir ein Schild beziehungsweise taucht es erst ein paar Meter später auf, was mich hin und wieder suchen lässt. Aber alles in allem gelingt es mir, die grobe Richtung nach Rumänien zu halten.
Ja, ich sagte die „grobe Richtung“. Gut eine Woche nach meinem Start verfahre ich mich so gründlich, dass ich mich ziemlich fernab des Weges befinde, aber auch hier gilt: „Schwächen haben ihr Gutes“, denn ich lerne zwei sympathische Frauen kennen. Die Häuser des Dorfes, in dem ich gelandet bin, wirken eher schlicht, manche sogar etwas ärmlich. Die ältere der beiden Frauen hat dünnes Haar und der mangelnde Wohlstand ist ihr an den Zähnen abzulesen. Die jüngere ist kräftiger, trägt ihr blondes Haar kurz, aber modisch und hat zwei Kinder im Schlepptau. Dank der häufigen Herumfragerei ist mein Französisch in der kurzen Reisezeit viel besser geworden, sodass wir ins Plaudern kommen. Die beiden Nachbarinnen sind restlos beeindruckt von meiner Tour und wollen mir beinahe nicht glauben, dass es aus eigener Kraft noch bis nach Rumänien gehen soll. Allein schon die zurückgelegte Distanz vom Startpunkt am Atlantik wirkt auf sie wie eine Unmöglichkeit und das mit so viel Gepäck. Dass ich allabendlich auf Campingplätzen mein Lager aufschlage und mir mein Essen selbst koche, lässt sie dann fast an meiner realen Existenz zweifeln. Es ist schon spannend, wie unterschiedlich Gesprächspartner mein Abenteuer wahrnehmen. Für die radelnde Kollegin aus der Reisebranche bin ich diejenige, mit der es sich austauschen lässt. Im Vergleich zum weltreisenden Totalaussteiger erscheint mein Vorhaben vielleicht als – zugegeben etwas überspitzt formuliert – Sonntagsspaziergang. Aber für die Frauen vor meiner Nase vollbringe ich eine wahre Meisterleistung. Ja, es ist alles Ansichtssache und verändert sich mit der Perspektive und dem Erfahrungsschatz des Gegenübers. Alles in allem zählt natürlich, wie ich selbst auf mich blicke. Weil ich mit Outdoorurlauben groß wurde, bin ich an diese Art des Reisens zwar gewöhnt, empfinde trotzdem Stolz über meine Umsetzung. Es ist meine bisher längste Radlerdistanz und das auch noch allein, zumindest die erste Streckenhälfte betreffend. Dass die Frauen vor meiner Nase mich so loben, steigert diese Empfindung.
Die Loire in Nevers
Ich will mich später besser an sie erinnern und packe meine Kamera aus. Währenddessen erzählen sie mir von der Wichtigkeit des Familienzusammenhalts. Die Angehörigen der älteren Frau leben zwar verstreut an unterschiedlichen Orten, aber sie sehen einander regelmäßig, essen dann zusammen und tauschen sich aus. „Das macht mich glücklich“, erzählt mir meine Gesprächspartnerin. Ihre Nachbarin hat sich in der Zwischenzeit umgezogen und nun posieren sie zusammen mit den beiden Kindern vor einem der Häuser für mein Foto. Sie lachen und winken in die Kamera und ich nehme ihnen ab, dass die regelmäßige Aussicht auf Familienbesuch in diesem kleinen abgelegenen Dorf sie immer wieder erfreut.
Am Abend erreiche ich – ohne weitere Extrarunden – die Stadt Nevers, am Zusammenfluss von Loire und Nièvre rund 260 Kilometer südlich von Paris gelegen. In dieser 36.500-Einwohner-Stadt, deren Altstadtbild von engen Gassen und Bürgerhäusern aus dem 14. bis 17. Jahrhundert geprägt ist, ist heute richtig etwas los. Ich gerate mit meiner Kameraausrüstung mitten in eine Wohltätigkeitssportveranstaltung, bei der Menschen für einen guten Zweck einen Laufwettkampf absolvieren. Ihre Strecke führt sie am „Espace Bernadette Soubirous“, dem Kloster, in dem der Leichnam der heiligen Bernadette Soubirous zu finden ist, vorbei. Die Heilige hatte einst als Mädchen mehrere Marienerscheinungen.
Bevor ich mich in das Reich der Träume verabschiede, kann ich heute noch mein erstes Radtourenbuch verstauen, denn die Karte „Loire-Radweg“ endet hier in Nevers und wird von „EuroVelo 6 – Frankreich Ost“ abgelöst. Stolz über meine bisher erbrachte Leistung schließe ich die Augen und träume schon von der Region Burgund, dem südlichen Elsass und den Tälern sowie Kanälen, die mich erwarten.