Читать книгу Mit dem Fahrrad vom Atlantik bis ans Schwarze Meer - Mady Host - Страница 8

FRANKREICH OST Von Nevers nach Basel rund 600 Kilometer

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Ich verlasse Nevers und folge einem unbefestigten, aber sehr gut zu fahrenden Kanalradweg in südöstliche Richtung. Weil ich so zügig vorankomme, rolle ich bis zur Mittagspause durch und bestelle mir beim Universum einen Supermarkt, der am heutigen Sonntag lange genug geöffnet hat und in dem ich mich mit Keksen eindecken kann. Seit einigen Tagen vermute ich verwandtschaftliche Beziehungen zum Krümelmonster, so groß ist mein Heißhunger auf das Gebäck geworden.


Mein neues Grundnahrungsmittel

Ziemlich exakt 12:30 Uhr stehe ich vor einem riesigen Markt am Ortseingang von Decize und überfliege schnell die Öffnungszeiten an der Tür: sonntags bis 12:30 Uhr. Eine Mitarbeiterin, die eigentlich gerade die Pforten dicht machen will, mustert mich freundlich. Mein Blick scheint Bände zu sprechen, denn plötzlich unterbricht sie ihre Tätigkeit und bietet an: „Na, los, fünf Minuten! Ihr Radler müsst doch essen …“

Dankbar schlüpfe ich hinein, kaufe in Windeseile Kekse, einen Joghurtdrink und ein paar frische Sachen aus der Obst- und Gemüsetheke. An der Kasse danke ich ihr und dem Universum und reiße vor der Tür hungrig die Packung meiner Krümelmonsternahrung auf.

Es geht noch ein Weilchen am Kanal entlang, bis der Weg dann über eine asphaltierte Straße führt, die nahezu verkehrsfrei ist, allerdings habe ich das Gefühl, dass es deutlich häufiger auf als ab geht. Kaum komme ich mal ein kleines Stück zügig rollend voran, tritt schon die nächste Steigung in mein Blickfeld und meine Hand muss in den ersten Gang drehen. Hoffentlich reicht die Keksenergie, denn ich stecke mitten in einer Einhundert-Kilometer-Etappe, die nötig ist, um meinen anvisierten Campingplatz zu erreichen. Ich schalte auf den Meditationsmodus um, statt auf meinen Atem konzentriere ich mich nun auf nichts anderes mehr als „fahren, fahren, fahren“, Gefühle der Anstrengung blende ich bewusst aus, was wirklich gut funktioniert. In einem Dorf, dessen Namen ich vergessen habe, frage ich eine Frau, die in an ihrem Haus werkelt, nach frischem Wasser. Bereitwillig füllt sie meine Trinkflaschen auf, bietet mir sogar den Besuch ihres WCs an. Wenig später wechsele ich ein, zwei Worte mit einem belgischen Pärchen, das nach Frankreich ausgewandert ist, sonst begegne ich keiner Menschenseele, auch andere Radler sind nirgendwo auszumachen.


Wegweiser

Ich ziehe durch und erreiche nach 104 Kilometern Diou, einen kleinen Ort, der alles hat, was ich heute noch brauche: einen Campingplatz. Erneut meint es das Universum gut mit mir, als es erst, nachdem ich das Zelt aufgebaut habe, einen starken Schauer auf die Erde schickt. Wo könnten die Kekse und der heiße Tee besser schmecken als hier in meinem Zelt, auf dessen Dach die Wassertropfen ein Konzert geben …?! Auch das ist Glück für mich.

Die Nachteile des Alleinreisens erwischen mich heute eiskalt. Das Zusammenspiel aus warmer Jahreszeit, Campingplatz und Arachnophobie führen mich gleich am Morgen an den Rand meines persönlichen Wahnsinns. Wer 1990 US-amerikanische Horrorfilme geschaut hat, weiß, wovon ich spreche. Als ich meine Behausung öffne, um Richtung Sanitäranlagen aufzubrechen, regnet es zwar nicht mehr, aber alles ist noch sehr nass. Und wem begegnet man in der Natur gern einmal? Ich denke, man muss keine große Zelterin sein, um die Antwort zu kennen. Meine Finger haben den Reißverschluss des Eingangs gerade bis zum oberen Ende bewegt, als eine dicke schwarze Spinne pfeilschnell hinabsaust. Ich schrecke heftig zurück, wähle die Flucht und finde mich Hundertstelsekunden später auf einem Bein hopsend im nassen Gras vor meinem Zelt wieder. Entgegen meiner üblichen Reaktion auf diese Tiere bleibe ich weitestgehend stumm. Nur ein leiser gepresster Laut verleiht meinem Schreck Ausdruck. Schließlich steht unweit von mir das nächste Zelt, welches zwei deutsche Paddler bewohnen, und blamieren möchte ich mich nicht, ein bisschen Stolz habe ich auch. Da stehe ich nun schwankend auf einem Bein, um wenigstens nur eine Socke zu durchnässen, und überlege, was ich tun soll. Normalerweise habe ich jemanden in meiner Nähe, der weniger Angst vor Spinnen hat als ich, was zugegebenermaßen keine allzu große Kunst ist. Es hilft nichts, ich muss da jetzt allein durch. So nähere ich mich meiner Behausung, schlüpfe erst einmal in meine Turnschuhe, allerdings nicht ohne sie vorher gründlich ausgeschüttelt zu haben – man weiß ja nie – und suche den Rasen zwischen Innen- und Außenzelt gründlich ab, die Spinne ist nirgendwo zu sehen. Ob ich das nun als gutes oder schlechtes Zeichen werten möchte, weiß ich nicht, zunächst zählt das Ergebnis und dieses lautet: keine Spinne mehr.

Als ich wenig später frisch und in Radlerkleidung im Schneidersitz im weit geöffneten Zelt hocke, um mir mein Frühstück zuzubereiten, habe ich mich erstaunlich gut beruhigt und den Vorfall wirklich erfolgreich verdrängt. Ich packe mir ein paar Kekse zurecht, belege ein Brot und schnippele einen Apfel, dann greife ich nach meinem Topf, um Kaffeewasser einzufüllen, schieße ihn jedoch wie eine gezündete Handgranate von mir weg, als ich sehe, wer in diesem Topf sitzt: die Spinne. Igitt, ausgerechnet hier hat sie sich versteckt! Mir stehen die Haare zu Berge. Durch den Wurf ist sie aus ihrem Versteck geschleudert worden und verharrt verschreckt und perplex auf der Wiese vor mir, vielleicht ein, zwei Armlängen entfernt. Ich will ein guter Mensch sein und nicht sinnlos Tiere töten, nur weil ich diese irrationale Reaktion zeige. Ich gebe ich ihr eine Chance und flüstere: „Wenn du vom Zelt wegläufst, darfst du leben, wenn nicht, dann muss ich leider …“ In diesem Moment setzt sich das Spinnentier in Bewegung und krabbelt zielgerichtet auf mich zu. Ich murmele noch „Sorry, ich habe es wirklich versucht“ und wumms landet mein Turnschuh auf dem hohen Rasen … Von diesem Morgen an rüttele ich immer, wirklich ausnahmslos immer, von innen das ganze Zelt einmal durch und klopfe an die Decke, bevor ich den ersten Reißverschluss öffne.

So grün ich im Gesicht auch bin, als ich endlich meinen Morgenkaffee schlürfe, so sehr zeigt mir diese simple Begebenheit, wie erkenntnisreich das Alleinreisen sein kann. Mal eine Zeitlang sich selbst überlassen zu sein und sich seinen Ängsten stellen zu müssen, erlebe ich als wertvolle Erfahrung. Wenn ich über mich nachdenke, fällt mir auf, dass einige meiner Eigenschaften gegen eine solche Reise sprechen. Ich bin weder sonderlich begabt, wenn es um Reparaturen geht, mein technisches Verständnis ist mittelmäßig, der Orientierungssinn verkümmert und Angst vor Viehzeug habe ich auch, trotzdem bin ich mit einem Verkehrsmittel, an dem theoretisch einiges kaputt gehen könnte, unterwegs und zelte, obwohl ich mich vor Spinnen fürchte. Ja, klar, meine Kommunikationsstärke ist hilfreich, vermag aber auch nicht zu zaubern. Die Achtbeinerin weg zu quasseln hat schließlich nicht funktioniert. Das Motto meiner allerersten Tage „einfach machen“ treibt mich an, denn die Lust auf solche Touren und mein Hunger auf die Welt sind einfach größer, als dass ich stattdessen immer zu Hause bleiben mag. Ich versuche vor und während einer Reise, die ganze Unternehmung nicht allzu sehr zu „zerdenken“ und mir auszumalen, was alles Problematisches passieren könnte. Ich baue ganz einfach darauf, dass ich in dem Moment, in dem ich vor einer Herausforderung stehe, diese dann meistern werde. Ein Grundstock an Vorbereitung, Recherchen zu Land und Leuten sowie das Erlernen, wie ich einen Platten repariert bekomme, habe ich getroffen, den Rest gehe ich mit einer gesunden Portion an Vertrauen in die Welt und mich an. Ich stelle fest, allein bin ich weniger emotional: Wenn da niemand ist, der nach dem Verfahren den richtigen Weg mit mir sucht oder der Viehzeug für mich entfernt, dann behalte ich einen kühleren Kopf, denn das muss ich, wenn ich weiterkommen will. Wenn es regnet und ich morgens alles nass zusammenpacke und keiner da ist, der zuhört, in dem Moment, in dem ich gerade das Wetter beklagen möchte, dann lasse ich es sein. Eine spannende Erkenntnis.

Als ich heute alles fertig verstaut habe, Fidibus beladen ist und ich mich gerade noch einmal umdrehe, um zu prüfen, ob irgendetwas herumliegt, bleibt mein Blick an der Stelle hängen, an der der schwarze Leichnam so ungefähr liegen müsste. Genauer hinsehen und suchen möchte ich gar nicht. Keine Ahnung, ob der weiche Untergrund und die hohen Halme das Überleben des Tieres gesichert haben. Ich entschuldige mich zur Sicherheit noch einmal kleinlaut für den – mindestens versuchten – Mord und fahre mit der Befürchtung los, gerade keine Karma-Punkte gesammelt zu haben.

Ich weiß nicht, womit ich das ausgerechnet heute verdient habe, aber bereits gegen halb drei Uhr am Nachmittag steht mein Zelt auf dem wunderschönen Campingplatz an einem See in der Nähe des Örtchens Palinges. Es gibt für Radler extra Parzellen mit Tisch und Stühlen, wunderbar gepflegt für elf Euro, was in den Schnitt passt, den ich bisher für meine Zeltnächte aufgebracht habe. Ja, mit acht bis elf Euro komme ich gut aus, um meine Übernachtungen zu finanzieren.


Auf dem Campingplatz in Palinges

Ich kann es kaum glauben, als ich an meinem zwölften Reisetag Bekanntschaft mit Didier und Claudine mache, sie sind die ersten „Verrückten“, die ich treffe, die auch bis nach Constanța in Rumänien radeln wollen. Voll bepackt, mit Fahne am Rad und in gelbe Warnwesten gehüllt, auf denen Unterschriften und Sprüche stehen, sind die beiden fröhlichen Radler kaum zu übersehen. Ins Gespräch kommen wir, weil wir gemeinsam an einer Stelle landen, an der wir den weiteren Wegverlauf auskundschaften müssen und nach Schildern suchen. Das französische Rentnerehepaar ist ähnlich erfreut wie ich über dieses Gleichgesinnten-Treffen und wir sind uns auf Anhieb sympathisch, dennoch verlieren wir uns bald wieder aus den Augen, weil die zwei eine Pause machen. Als wenig später ich für ein Weilchen verschnaufe, rollen sie fröhlich winkend an mir vorbei. Ich schließe wieder zu ihnen auf und unser Wettrennen findet ein Ende. Dem Radweg am Canal du Centre gemeinsam folgend, verlieren wir uns nun im ausführlichen Gespräch. Für Claudine ist heute ein ganz besonderer Tag, der offizielle Beginn ihrer Altersrente, nachdem sie als Assistentin für Menschen mit geistiger Einschränkung oder Erkrankung gearbeitet hat. Ihr Mann Didier ist bereits seit drei Jahren pensioniert. Er war in einer Fabrik für Dämmungen oder Isolierung tätig. Die gemeinsamen Söhne, Ende zwanzig und Ende dreißig arbeiten als Architekt und Manager, leben in Paris und Lyon, während das Zuhause von meinen neuen Radlerfreunden in der Nähe von Clermont-Ferrand ist. Ungefähr drei Mal im Jahr kommt die Familie zusammen, berichtet mir Claudine – eine Frau, der die Fröhlichkeit in jedem Fältchen ihres Gesichts geschrieben steht. Ihr Lachen erklingt oft und äußerst herzlich. Als ich von meiner Arbeit als Reisejournalistin und -referentin berichte, ist sie ganz aus dem Häuschen und staunt: „Solch einen Job mache ich in meinem nächsten Leben auch.“ Wenn ich an mein nächstes Leben denke, muss ich wohl eher fürchten, ein Dasein als Regenwurm zu fristen, bei der aktuellen Karma-Bilanz …

Von meiner dunklen Vergangenheit als vermeintliche Mörderin wissen die beiden zum Glück nichts und schlagen vor, mich zu adoptieren. Ich läge schließlich altersmäßig zwischen ihren Jungs und über ein Mädchen würde sich Claudine sowieso freuen. Wir lachen viel und plaudern ununterbrochen, was der weiteren Schulung meiner Sprachkenntnisse sehr zugute kommt. Englisch oder andere Sprachen beherrschen die beiden kaum, sodass uns lediglich ihre Muttersprache bleibt. Wir haben für heute unterschiedliche Campingplätze anvisiert, weil diese aber nur wenige Kilometer voneinander entfernt liegen und wir uns so mögen, einigen wir uns auf ein gemeinsames Tagesziel: Chagny, eine 5500-Seelen-Gemeinde im Département Saône-et-Loire. Hier wählen wir für unsere Zelte zwei nebeneinander liegende Parzellen aus. Nicht lange, nachdem wir aufgebaut haben, linst Claudine über die Hecke und lädt mich zum Abendessen ein. Natürlich sage ich sofort zu.

Die hohe Esskultur der Franzosen zeigt sich sogar beim Camping, denn das Essen, was die beiden zaubern, ist um Welten besser als meine traditionelle Pasta, in die ich allabendlich eine andere Sorte Tütensuppe rühre. Hier gibt es Nudelsuppe mit frischem Brokkoli, dazu Brot, Cracker, Obst. Mein Magen freut sich über die hochwertigen Zutaten, mehr jedoch noch über die liebenswerte Gesellschaft. Während Claudine herrlich mitreißend lacht, ist Didier eher der Typ stiller Schmunzler, mit Augen, die sich mit ihm und der Welt freuen. Claudines Persönlichkeit wird von ihren frechen kurzen Haaren und der sportlichen Figur, die in einer langärmligen karierten Outdoorbluse sowie einer Funktionshose steckt, unterstrichen. Didier ist groß und drahtig, hat eine Glatze und auf seiner Nase sitzt eine Brille mit schmalem dunklem Rand, über Kinn und Wangen verteilen sich weiße Bartstoppeln. Das Bild dieser beiden Menschen auf der großen Camping-Plane, die zugleich Buffettafel ist, ist herrlich. Fröhlich schlemmen die Eheleute und bieten mir immer wieder von ihrem leckeren Brot an. Wir kommen ins Philosophieren darüber, wie gut wir es doch alle gerade haben – in herzlicher Gesellschaft, an der frischen Luft und der gleichsam reichhaltigen sowie schmackhaften Nahrung.

„Hach, was haben wir es schön. Wir dürfen die Reise machen, die uns mit dem, was der Mensch wirklich braucht, auskommen lässt“, preist die quirlige Claudine unser Beisammensein.

„Das ist es, was uns so gefällt: das simple Leben, die Natur, das Bewegen an der frischen Luft“, ergänzt ihr Mann.

„… wohlgemerkt freiwillig“, schaltet sich seine Liebste wieder ein, „wir haben diese Einfachheit bewusst gewählt. Natürlich kippt das Konzept, wenn du ohne Wohnung bist, auf der Straße leben musst, an Würdegefühl verlierst, weil du schmutzig bist, da du keine Dusche hast und nicht, weil du darauf verzichtest, wenn – wie bei uns – auch mal ein schöner Wildcampingplatz lockt.“

Ich nicke und glaube den beiden jedes ihrer Worte, als ich auf den Auslöser meiner Kamera drücke und ihre strahlenden Gesichter einfange.

Im Laufe des Abends stellen wir fest, dass wir einige Reiseerfahrungen wie Pilgertouren teilen. Die beiden haben genauso wie ich die Distanzen ihrer Radwanderungen kontinuierlich gesteigert. Mit dem aktuellen Vorhaben von 4000/5000 Kilometern soll es auch ihre bisher längste Tour auf zwei Rädern werden.

Nachdem wir uns aufgrund beginnenden Regens voneinander verabschiedet haben, sitze ich in meinem Zelt, die Beine stecken im Schlafsack und ich lächele, weil ich glücklich bin über meine neuen Bekannten. Wir ticken gleich, finden es schön, unbeschwert und aus eigener Kraft zu reisen, sind der Meinung, dass Träume angepackt werden müssen und empfinden Dankbarkeit für das Leben, welches man uns teils geschenkt, was wir uns aber auch selbst geschaffen haben. Nur in einer Sache sind wir nicht einer Meinung, etwas, das allerdings dafür sorgt, dass sich mein Glück heute sogar noch steigert: Sie mögen Vollmilchschokolade nicht sonderlich gern, sodass ich mein Gastgeschenk wieder mit in mein Zelt genommen habe, wo ich nun Stück für Stück die ganze Tafel allein aufesse. Das ist definitiv die gute Seite der Medaille …


Meine französischen Eltern

Für mich steht ein weiteres Familien-Highlight an, denn der Bruder meiner bereits verstorbenen Großmutter mütterlicherseits gründete nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Frankreich eine Familie. Ihre Angehörigen bekomme ich sporadisch zu Gesicht, zuletzt 2014 während meiner Interrailtour. Heute werden wir uns endlich wiedersehen, was mich mit großer Vorfreude erfüllt und in den Monaten vor der Reise beachtliche Triebfeder fürs Französischpauken war, denn die drei Familienmitglieder, die ich sehen werde, sprechen ausschließlich ihre Muttersprache. Einziger Wermutstropfen: Ich muss befürchten, meine neuen Radlerfreunde Claudine und Didier zu verlieren, weil ich nur knapp 25 Kilometer bis nach Chalon-sur-Saône zurücklege. Die beiden werden – wie ich sonst auch – ihre achtzig bis einhundert Kilometer rollen.

Trotz der kurzen Zeit im Sattel gelingt es mir heute, einen Rekord zu erreichen: Ich knacke die Eintausend-Kilometermarke, und das bei bestem Sonnenschein.

Der Beiname der Stadt, in der ich am frühen Mittag ankomme, kündigt schon an, dass der Fluss, die Saône, künftig mein Begleiter durch die historische Region von Burgund sein wird. Doch ans Weiterfahren will ich noch nicht denken, als ich mich auf den Weg zum Bahnhof mache, auf dessen Parkplatz die Nachkommen beziehungsweise Ehepartner meines Großonkels ihr Auto abstellen. Wir herzen und drücken uns ausgelassen, setzen uns dann in ein nahegelegenes Café. Trotz der Seltenheit unserer Treffen spüre ich sogleich eine angenehme Nähe zu ihnen und es kommt mir vor, als würden wir uns viel öfter sehen, als es die Realität hergibt. Wir verbringen die nächsten zwei, drei Stunden miteinander, reden über Alltag und Familie, schwelgen in Erinnerungen an die Besuche in den 1990er-Jahren. Ich muss ausführlich von meiner Reise und den Daheimgebliebenen berichten, besonders am Wohlergehen meines über neunzigjährigen Opas sind sie interessiert.

Es wäre so schön, wenn wir noch einmal alle zusammenkämen, egal, ob in Deutschland oder Frankreich, sind wir uns einig. Vielleicht liegt es an uns, der nachfolgenden Generation, das zu organisieren? Eines der Kinder habe auch ein großes Interesse, den deutschen Teil der Familie kennenzulernen, höre ich und muss lächeln, als ich an den kleinen Jungen denke, der er war, als ich mit meinen Eltern Frankreich besuchte. Damals erschien unser Altersunterschied von fünf oder sechs Jahren gigantisch, heute spielt es wohl kaum eine Rolle, dass wir Ende zwanzig und Mitte dreißig sind …


Meine echte französische Familie

Puh, ich bin ganz schön erschöpft von dieser Intensiveinheit im Sprachenlernen, als wir uns nach einem gemeinsamen Foto zur Abendzeit voneinander verabschieden. Die Freude über das Wiedersehen mit Menschen, die ich so selten treffe und doch als so vertraut empfinde, ist aber größer als die Müdigkeit.

So laufe ich noch einige Zeit beschwingt durch die Gassen dieses einladenden Ortes, beobachte Menschen, die vor Cafés und Restaurants sitzen. In der zweitgrößten Stadt in Burgund lockt vor allem die Kathedrale St. Vincent am gleichnamigen Platz mich und meine Kamera an. Die Altstadt rund um die Kathedrale ist so gut erhalten, dass es mir riesigen Spaß bereitet, an den Fachwerkhäusern entlang zu spazieren. Rast mache ich etwas abseits in einem kleinen Lokal in einer schmalen Gasse. Ich bekomme einen der wenigen Außenplätze ab und lasse mir einen regionalen Rotwein empfehlen. Der Givry trifft meinen Geschmack gut und schenkt mir einige Zeit des stillen genießerischen Seins und Beobachtens vorbeischlendernder Menschen. Als das Glas geleert ist und ich eigentlich gerade zahlen will, komme ich mit dem Kellner ins Gespräch, der sich als Besitzer des Lokals vorstellt.


Bummel durch Chalon-sur-Saône

Ob er glücklich ist?

„Oui, bien sûr!“, erwidert mein Gesprächspartner überzeugt. Schon seit dreißig Jahren verkauft der Gastronom Wein, die meiste Zeit davon hatte er eine Bar im noch stärker touristisch erschlossenen Bereich dieser Stadt, erst seit einigen Jahren arbeitet er an diesem Standort. Hier gefällt es ihm besser, weil es familiärer zugeht. Immer wieder grüßen ihn die Vorbeikommenden oder bleiben auf einen Schwatz stehen. Ich sehe mir meinen Gesprächspartner genauer an und stelle mir eine Frage, die mich in diesen Tagen schon öfters beschäftigt hat: Wie nur schaffen es die Franzosen, so oft ausgesprochen adrett zu wirken? Der Wirt trägt eine schlichte braune Hose zu schwarzen Turnschuhen und ein dunkles Langarmshirt mit zarten hellen Streifen. Obwohl seine Frisur nicht außergewöhnlich ist, so wirkt dieser Mann chic. Ja, viele Franzosen haben etwas an sich, was ihnen Eleganz verleiht, vielleicht tut die nobel klingende Sprache ihr Übriges. Von den sorgsam geschminkten anmutigen Frauen ganz zu schweigen …

Der Weinkenner setzt sich mit einem Glas Rebensaft vor sein Lokal und lächelt sanft in meine Kamera. „Ja, die Arbeit macht mich glücklich“, bestätigt er, was ich bereits vermutete. Es sei vor allem der Kontakt zu Menschen in Freizeitstimmung, der ihn erfülle. „Es ist schön, sie lachen zu hören“, ergänzt er. Als würde er seinen Aussagen Nachdruck verleihen wollen, spendiert er mir einen zweiten Wein, nicht ohne sich vorher zu erkundigen, ob er mir auch geschmeckt habe.

Bekannte des Wirtes, die uns beobachteten, fragen nach meiner Reise und zeigen sich äußerst interessiert. Ich berichte, erhalte Anerkennung und noch die ein- oder andere Nachfrage. Ein wenig weinselig halte ich heute fest: Ja, jedes freundlich gewechselte Wort, jeder kleine Dialog zwischen Menschen, die einander interessant finden, hat das Potenzial für einen Glücksmoment.

Mit roten Wangen radele ich zum Campingplatz zurück.


Der glückliche Weinlokalbetreiber

Auf meinem Weg in das gut einhundert Kilometer entfernte Dole fliege ich förmlich, obwohl ich an feuerrot leuchtenden Mohnfeldern vorbeikomme, dessen Samen ja bekanntlich müde macht. Mein straffes Tempo steigert sich sogar noch, als ich zu sieben jungen Radlern, die sich die „Green Riders“ nennen, aufschließe. Insgesamt ist die Gruppe mehr als 20 Radler stark und unternimmt die Reise ans Schwarze Meer in Form eines öffentlichen Trips. Das heißt jeder, der möchte, kann sich ihnen anschließen. An ihren Ruhetagen leisten sie ehrenamtliche Arbeit auf Farmen, helfen bei Reparaturen oder der Ernte. Die Idee des ökologischen Reisens geht auf Rob Greenfield zurück, der einst von New York City nach Seattle, auf der anderen Seite der Staaten, radelte. Der amerikanische Abenteurer, Umweltaktivist und Unternehmer hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, für eine gesunde Erde einzutreten. Verschiedene öffentlichkeitswirksame Projekte, mit denen er auf Lebensmittel-, Strom- und Wasserverschwendung aufmerksam macht, kennzeichnen seine Arbeit. Um zum Beispiel für den Wert von Wasser zu sensibilisieren, verzichtete er ein Jahr lang aufs Duschen und nutzte für die Körperpflege lediglich natürliche Wasserquellen wie Flüsse, Seen, Wasserfälle, sogar den Regen. Der 1986 geborene Mann ist für die Menschen, denen ich mich angeschlossen habe, großes Vorbild. Organisiert hat sich die Gruppe vor der Abreise via soziale Medien, und der Transport ihrer Fahrräder über den großen Teich schlug lediglich mit einhundert Dollar Aufpreis aufs Flugticket zu Buche. Tagsüber teilen sie sich in Dreier- oder Vierergruppen auf – je nach Fitnesslevel. Eine Gruppengröße von sieben Sportlern ist schon eine Ausnahme. Nur für die Nacht sind die Crews größer: Die aktuell 20 Radler splitten sich zur Hälfte, sodass sie in Zehnergruppen zelten können, überwiegend wild. Bei Arbeit und Unterschlupf auf Höfen und ähnlichem kommen dann alle zusammen und verbringen die Nächte in großen Räumen. Ihr Zeitplan ist straffer als meiner, bereits Ende Juli wollen sie am Schwarzen Meer sein, eine knappe Woche vor mir, was ihr Tempo erklärt. Meine Wohlfühlgeschwindigkeit ist etwas langsamer als ihre, außerdem suche ich stets nach dem schönsten beschilderten Radweg, während meine Gesprächspartner sich von Google Maps auch mal direkt über eine Landstraße von Dorf zu Dorf schicken lassen. Da sie genau das gerade vorhaben und ich mir nach 50 Kilometern eine erste Pause verdient habe, klinke ich mich aus.


Mohnpracht

Mit meinem neuen Grundnahrungsmittel, Keksen, sitze ich am Fluss Saône und beobachte einen – vorsichtig ausgedrückt – fülligen Angler, welcher einen dicken Karpfen aus dem Wasser zieht. Ein paar Stücke frisches Baguette und zart schmelzender Camembert bereichern meine Rast. Hier in der Heimat des Käses schmeckt selbst die simple Supermarktvariante cremig und würzig. Die Backwaren, egal, ob süß oder eben in länglicher Form, sind ausnahmslos schmackhaft. Gern halte ich in kleinen Dörfern an winzigen Bäckereien und versorge mich mit Energie, erfreue Bäckersmann und -frau mit meinem deutschen Akzent, der sich unverkennbar in mein Französisch mischt. Ich lasse es ganz sicher entspannter angehen als die Green Riders, auch wenn ich täglich Notizen anfertige, Fotos sichte und ein paar anderen Dingen nachgehe, die mich als Reisejournalistin auf dieser Tour begleiten. Meine Bewunderung gilt diesen engagierten jungen Menschen, die ihre „Ruhetage“ dazu nutzen, ehrenamtlich aktiv zu sein und körperlich zu arbeiten. Ich wünsche ihnen, dass sie mit ihrer Tour die gewünschte Aufmerksamkeit erzielen und pünktlich am Schwarzen Meer ankommen.


Auf dem Weg nach Besançon

An einem Kanal entlang trägt mich Fidibus durch das nasse Frankreich, wobei ich mir hin und wieder kurze Abschnitte mit Gleichgesinnten teile. Meistens folge ich beim Treten und Pausieren jedoch lieber meinem eigenen Rhythmus. Ich mag es, meinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Oft drehen sich diese beim Treten nicht selten um die nächste Mahlzeit. Das ist zwar wenig spektakulär, aber als Kontrast zum vielseitigen und mitunter aufregenden heimischen Arbeitsalltag ganz angenehm.


Verregnete graue Stadt Besançon

An Orten, deren Namen wohlklingen, Rochefort-sur-Nenon und Orchamps, folge ich dem Rhein-Rhône-Kanal, bis der Fluss Le Doubs mein Begleiter nach Besançon wird. Der Ort hat es sich in einer Schleife des Gewässers bequem gemacht und gilt als grünste Stadt Frankreichs. Ich erreiche sie bei strömendem Regen. Das Flusstal, welches ich zuvor passiert habe, hat vom Wetter ja noch profitiert, sah es während einer kleinen Wolkenlücke doch sehr ansehnlich aus, mit weiten saftigen Rasenflächen zwischen dicht bewaldeten Hügeln … Aber hier in der Stadt, in der ich mir nur zitternd schiebend ein, zwei Gässchen anschaue, wird lediglich eine Erinnerung bleiben: grau. Vom natürlichen Wachstum, was der Regen zu verursachen vermag, sehe ich in den Straßen, über denen triefende Wolken hängen, nämlich nichts.

Plötzlich mache ich vor meiner Nase zwei gelbe Westen mit Unterschriften aus. Ich gebe sofort Gas und schließe jubelnd zu Didier und Claudine auf. Ja, ich habe sie wieder – und das trotz meiner kurzen Etappe nach Chalon-sur-Saône! Sie freuen sich genauso wie ich und wir erzählen einander von den geleisteten Etappen und den in der Zwischenzeit gemachten Erfahrungen und Menschen, die wir trafen. Die beiden haben eine Handvoll Reisende kennenlernt, was sie mir kurz berichten, bevor Claudine schnell anfügt: „Aber mit niemandem von denen war es wie mit dir.“ Wir lachen und ich gebe das Kompliment überschwänglich zurück. Mit ihnen teile ich auch gern einmal länger meinen Weg.

Wegen des nassen Wetters versuchen wir uns nicht zu ärgern, können wir es doch sowieso nicht ändern, übrigens auch ein Grund, weshalb sie und ich nie die Wettervorhersage checken. Uns ist klar, dass auf einer solch langen Reise Regentage dabei sein müssen. Vor der Tour hatte ich gedacht, es würde mich mehr stören, im Nassen zu fahren, aber ich weiß um die Qualität meiner Kleidung und meines Hilleberg-Zeltes, sodass es mir alles in allem wenig ausmacht, wenn sich die Wolken ausweinen.


Das Wetter sorgt für einen zauberhaften Uferanblick

Didier, Claudine und ich halten fest, dass es bei uns Radlern zwei Kategorien gibt: „die Untersteller“ sowie „die Durchfahrer“. Wir gehören zu letzteren. Einmal richtig durchnässt, ist schließlich keine Steigerung mehr möglich. Außerdem kommen wir an solchen Tagen besonders zügig voran, weil Picknickpausen im Regen einfach weniger Spaß machen.

Optisch hat das aktuelle Klima schließlich auch etwas, freue ich mich, als ich meine Kamera zum Fluss ausrichte, auf dessen gegenüberliegender Uferseite eine kleine Steinkirche ihr Spitzdach-Türmchen zwischen den Bäumen vorschiebt und sich der Wolkendunst in den Hügeln in Szene setzt.

Ähnlich schön ist die Lage des Zeltplatzes in Baume-les-Dames in einem Tal, das nur eine Farbe kennt: Grün. Von meinen französischen Eltern habe ich mich noch einmal getrennt und freue mich diebisch, als die einhundert Kilometer heute schon um 16:30 Uhr geschafft sind, vor Ankunft meiner beiden Freunde und sogar noch vor Öffnung der Rezeption.

Als wäre es meine Belohnung, schieben sich die Wolken auseinander und machen Platz für die wärmenden Strahlen der Sonne. Ich genieße Tee, Brot und Camembert als Nachmittagssnack und bemerke einen weiteren Vorteil von Regentagen: Die Freude über Wetterbesserung ist umso größer und die Sonne hat das Potenzial, meine Endorphine in die Achterbahn zu schicken. Ich grinse in den Himmel.


Das perfekte Frühstück

Die letzten Kilometer in dem Land, dem ich mich nicht nur verbunden fühle, weil ich hier Familie habe und schon als kleiner Stöpsel das erste Mal herreiste, sondern auch, weil es Startpunkt meines großen Radlerabenteuers war, verbringe ich nahezu fliegend. Eine Tagesetappe von fast 120 Kilometern befördert mich nach Mulhouse im Elsass, weit im Osten Frankreichs und am Dreiländereck Frankreich, Deutschland, Schweiz. Eine Mühle ist Namensgeberin des Ortes, dessen Geschichte bis ins 9. Jahrhundert zurückreicht. So ziert ein Mühlrad heute das Stadtwappen.


In Mulhouse

Ich finde einen herrlich großen Rasenabschnitt für mein Zelt auf dem hiesigen Campingplatz und beginne den folgenden Tag mit einem Bummel durch den verschlafenen Stadtkern. Der Sonntag hat hier alles in einen Dornröschenschlaf versetzt, sodass ich freie Sicht auf das Rathaus aus dem 16. Jahrhundert genieße. Der dreigeschossige Bau basiert auf einem rechteckigen Grundriss, Zugang erhält man über eine überdachte, gegenläufige Freitreppe. Ich finde das Äußere sehr ansehnlich, so ist die Schauseite komplett bemalt, die Grundfarbe sorgt mit einem Fliederton für positive Ausstrahlung, ebenso die bunten Renaissance-Fassaden.

Nach ein paar Videoaufnahmen von der protestantischen Stephanskirche, deren fast einhundert Meter hoher Glockenturm das Stadtbild beherrscht, schiebe ich Fidibus durch ein paar Gassen mit Cafés, nehme noch einmal einige tiefe Atemzüge croissant-geschwängerter Frankreichluft und bereite mich mental auf den Abschied aus diesem liebenswerten Land vor.

Zurückgeschaut ... Glücksmomente in Frankreich

Mit Frankreich verbinde ich die Bezeichnung „savoir-vivre“. Dieser Begriff lässt sich damit übersetzen, dass man es versteht zu leben. Während die Franzosen den Ausdruck eher im Sinne von gutem Benehmen oder korrekten Umgangsformen gebrauchen, wird er im Deutschen als „Lebenskunst“ verstanden. Was heißt es, ein Lebenskünstler zu sein? Und wenn es jemand besonders gut versteht zu leben, ist er dann auch gleichsam glücklich?

Immer, wenn es ums Glück ging, blühten meine Gesprächspartner auf und wussten, was sie glücklich macht. Sie waren sich darin einig, dass andere Menschen zum eigenen Glück dazugehören. Das können Familienmitglieder sein oder auch frohe Menschen, die einen bei der Arbeit umgeben – als Eisverkäufer ebenso wie als Weinlokalbetreiber.

Die Arbeit selbst, ob nun als Künstler mit Atelier im Stein oder als Guide auf dem Wasser, in der Ruhe der Natur, hat großes Glückspotenzial, was ich bestens nachvollziehen kann. Zu Hause liebe ich es, am heimischen Schreibtisch zu sitzen und in Textform zu bringen, was ich erlebt habe. Hier vor Ort bin ich glücklich, weil mich meine Reise am Glück anderer teilhaben lässt. In Didier und Claudine habe ich Gleichgesinnte getroffen, deren Erkenntnis ich ebenfalls teile: Ich mag wie sie dieses simple Reise- und Campingleben mit Gepäck, welches ich aus eigener Kraft befördere.

Meine Übernachtungswiesen recherchiere ich tagsüber, entscheide einige Kilometer vor meinem Tagesziel, wo ich mein Zelt aufschlage. Ich bin spontan und Änderungen gegenüber aufgeschlossen. Diese Flexibilität, gebunden an die Autonomie, die mir meine Reiseform ermöglicht, ist es auch, warum ich so gern unterwegs bin.

Willkommen geheißen zu werden im Haus eines Wildfremden, auf der Picknickdecke von Sportsfreunden oder von den eigenen Verwandten sind aber wohl die Glücksmomente, die sich am nachhaltigsten in meinen Erinnerungen festsetzen werden …

Mit dem Fahrrad vom Atlantik bis ans Schwarze Meer

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