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Weihnachtsvorbereitungen

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Herr Apothekenbesitzer Wagner stellte drei Flaschen Portwein vor seine Gattin hin, die eifrig damit beschäftigt war, Pakete zu packen.

»Hast du daran genug, Erna?«

»Jawohl, eine Flasche für die kranke alte Anna, die andere für den armen Fischer, und die dritte bekommt die leidende Schwester des Briefträgers.«

Frau Wagner war schon wieder damit beschäftigt, ein neues Paket zusammenzuschnüren, lächelnd schaute ihr der Gatte dabei zu.

»Wirst du denn mit all deinen vielen Weihnachtsvorbereitungen fertig werden, kleine Frau?«

»Hoffentlich, – mir schwirrt allerdings der Kopf, wenn ich daran denke, was noch alles zu erledigen ist. Heute nachmittag kommt Joachim mit seinem Freunde Wendelin. – Hast du denn für Herrn Wendelin die Zigaretten besorgt?«

»Sie werden im Laufe des Tages hergebracht.«

»Morgen mittag kommt Bärbel. Ich muß für das Kind heute nachmittag noch rasch die Briefbogen mit Monogramm abholen. Sie sind erst gegen sechs Uhr fertig. Ich bin aber trotz aller Arbeit so unendlich glücklich, endlich wieder alle meine vier Kinder um mich zu haben.«

»Es sind fünf. Herr Wendelin ist doch auch dabei.«

»Er ist immer so dankbar. Er, der kein Elternhaus mehr hat, soll dieses Jahr bei uns ein recht schönes Weihnachtsfest verleben. Ich kann ihm gar nicht genug danken wegen des prachtvollen Einflusses, den er auf unseren Joachim ausübt.«

»Hast recht, liebe Erna. Joachim würde im nächsten Jahre niemals ins Examen gestiegen sein, wenn ihn Herr Wendelin nicht in den Fingern gehabt hätte.«

Das Gespräch wurde durch lautes Geschrei unterbrochen, das aus zwei Knabenkehlen stammte. Die beiden Zwillinge, Martin und Kuno, waren sich wieder einmal in die Haare geraten.

»Du kriegst eins mit dem Schlagring!«

»Ach, – du Verbrecher!«

»Nieder mit dir!«

Noch einige laute Schreie, dann entschwand der Lärm.

Apothekenbesitzer Wagner hatte sich lachend in einen Stuhl fallen lassen.

»Unser Kuno wird mit seinen Weihnachtsgaben nicht zufrieden sein, weil wir ihm alles, was auf seinem Wunschzettel stand, gestrichen haben.«

Sorgenvoll schaute Frau Wagner auf.

»Woher hat der Junge nur diese tollen Gedanken?«

Der Apothekenbesitzer zog aus der Tasche mehrere Zettel hervor, und wieder lachte er.

»Wunschzettel eures treuen Sohnes Kuno, genannt Sherlock Holmes«, las er. »Ein Schlagring, einen dicken Totschläger, einen sechsläufigen Revolver, genannt Browning, ein dolchartiges Messer, das nicht zusammenklappt, wenn man damit sticht, eine Blendlaterne, Schuhe mit glatten Gummisohlen, sogenannte Schleichschuhe, einen Schattenanzug aus schwarzem Trikot, viele Süßigkeiten.«

»Es ist doch schrecklich, derartige Wünsche niederzuschreiben«, sagte Frau Wagner sorgenvoll.

»Das ist alles gar nicht so schlimm. Der Junge wird von diesen Mordgedanken bald abkommen, wenn er, ebenso wie Martin, seine Indianerausrüstung bekommt.«

»Aber er hat uns schon gar manchen tollen Streich geliefert.«

»Das haben Joachim und Bärbel auch getan. Mach’ dir nur des Jungen wegen keine Sorgen, Erna. Zum Glück schlummert in allen unseren Kindern so viel Gutes, daß die überspannten Ideen, die ein jeder von ihnen hat, keine tiefen Wurzeln schlagen werden. Denken wir doch an unsere Jugend zurück. Lieber Himmel, was war ich für ein Bursche, und schließlich hast du doch einen ganz brauchbaren Mann bekommen, liebes Weib.«

Während Herr und Frau Wagner nun die letzten Vorbereitungen zum Weihnachtsfeste trafen, hatten die beiden Zwillinge bereits wieder Frieden geschlossen und standen jetzt in der Küche, um den Schokoladenbrei zu kochen. Sie hatten es durchgesetzt, daß sie aus Marzipanmasse Ringe, Würste und Brezeln formen durften, hatten den Marzipanteig so lange auf Tischen und Kommoden ausgerollt, bis die weiße Masse dunkelgrau geworden war. Als die Mutter erklärt hatte, daß man sich vor solch schmutzigen Marzipansachen ekle, war Martin auf den Gedanken gekommen, das graue Marzipan mit schwarzer Schokoladenmasse zu überziehen. So wurde jetzt in der Küche diese Masse gekocht, um die Marzipansachen wieder ansehnlich zu machen.

Die Köchin war etwas ungehalten darüber, daß die Schokoladenmasse nun schon zum dritten Male umgeschüttet wurde, weil sie bereits zweimal kräftig angebrannt war.

»Mir braucht ihr von eurem Naschwerk nichts anzubieten«, sagte sie, »pfui Teufel, das sieht ja ganz fürchterlich aus!«

Martin war eben dabei, eine der grauen Marzipanwürste auf dem Küchentisch noch etwas länger auszurollen. Da brach die Wurst entzwei, und unwillkürlich versuchte Martin die beiden Stücke mit Speichel zusammenzukleben.

»Pfui, du Schmutzfink!«

Gelassen steckte Martin die beiden Teile in den Mund.

»Mir schmeckt es«, sagte er kurz.

»Der Bärbel wird es auch schmecken«, versicherte Kuno.

»Das glaube ich nicht«, erwiderte die Köchin. »Bärbel ist eine feine junge Dame geworden.«

Die beiden Knaben brachen in wieherndes Gelächter aus und riefen:

»Bärbel eine Dame! Du bist ja ganz meschugge, Emma.«

»Wollt ihr euch nicht erst einmal die Hände waschen, Jungens, ehe ihr weiterkocht? – Pfui, Martin, an dir klebt ja die dicke Tinte.«

Martin wischte sich hastig die Finger an der Jacke ab; dann begann das Eintauchen der Marzipansachen in den heißen Schokoladenbrei. Das war keine leichte Arbeit, zumal sich Martin dabei einige Male die Finger verbrannte und die süßen Stücke hastig auf die Erde fallen ließ. Dann aber legten die Knaben all die tropfenden Würste auf den soeben sauber gescheuerten Küchentisch. Emma, die mit einer anderen Arbeit beschäftigt war, sah das Unheil erst, als der Tisch bereits bis zur Hälfte belegt war.

»Nun aber hinaus, ihr schrecklichen Bengel, und euren Kram nehmt mit, sonst werfe ich alles auf die Erde!«

Da holte Kuno eine Zeitung, und da hinein wurde das tropfende Marzipan gewickelt.

»Wir machen es bei uns wieder auseinander«, entschied Kuno. Darauf zogen sich die beiden Knaben in ihr gemeinsames Zimmer zurück.

Gegen Abend kamen die beiden Studenten an. Apothekenbesitzer Wagner holte seinen Sohn und dessen Freund persönlich von der Bahn ab. Er hatte seine helle Freude an den gut aussehenden jungen Männern, die beide in dem Gedanken, das Fest hier verleben zu können, recht beglückt waren.

Besonders aus den Augen Harald Wendelins strahlte das Glück. Er, der schon seit Jahren kein Elternhaus hatte, der ein richtiges Weihnachtsfest kaum kannte, war Wagners aus tiefstem Herzen dafür dankbar, daß er die Ferienzeit wieder hier in Dillstadt verleben durfte. Wie froh und geborgen fühlte er sich im Kreise dieser fröhlichen Familie, wie viele nette Stunden hatte er schon damals hier verbracht.

Man sprach von dem bevorstehenden Examen. Joachim wie auch Harald hatten sich dem Maschinenbaufach zugewandt und wollten im Frühling ihren Diplomingenieur machen.

»Ist Fräulein Bärbel auch schon eingetroffen?«

»Nein, unser Bärbel kommt erst morgen. Aber sie ist noch ein Kind, Herr Wendelin, bitte, schenken Sie sich die förmliche Anrede und nennen Sie unser Goldköpfchen einfach beim Vornamen.«

Harald Wendelin wurde von den Zwillingen gar bald mit Beschlag belegt. Kuno besonders wollte wissen, ob er schon einmal überfallen worden sei, ob er sich gegen Einbrecher verteidigen könne, und ob es wohl richtig sei, wenn man den ersten Angreifer k.o. boxe und den zweiten niederschösse.

»Vielleicht könnte man auch in jede Hand eine Pistole nehmen und alle der Reihe nach niederknallen. – Wie würden Sie es machen?«

»Ich würde mich gar nicht zu solchem Raubgesindel begeben.«

»Das kann aber sehr schnell einmal kommen. Mein Freund hat mir erzählt, daß auch in unserer Gegend eine Verbrecherbande umgehen soll. Eines Tages hat man es auf die Apotheke abgesehen, weil man weiß, daß in der Apotheke Werte sind. – Wenn ich erst meinen Schlagring habe, brauchen alle nichts mehr zu fürchten.«

»Du bist ja ein gefährlicher Bursche geworden, Kuno.«

»Ich bin nur auf der Hut, – ich kann jetzt schon den ganzen Korridor entlangschleichen, ohne daß jemand etwas merkt. Und einen Schlüssel kann ich auch schon geräuschlos umdrehen. Wenn ich erst meinen Schattenanzug habe, mache ich mal einen Versuch beim Uhrmacher. Ich schleiche mich lautlos in seinen Laden, tue so, als ob ich eine goldene Uhr klaue, und dann schlage ich Alarm.«

»Ich würde dir raten, das bleiben zu lassen, lieber Kuno.«

»Ich will doch mal ein berühmter Detektiv werden. Je eher man mit dem Lernen beginnt, um so besser. – O, Sie werden schon in einigen Jahren von mir hören, Herr Wendelin.«

Aber auch Martin wollte von dem jungen Ingenieur allerhand wissen. Ob er schon in Wäldern gewesen wäre, wo Indianer lebten, und ob er zu skalpieren verstände.

So verging der erste Abend sehr angeregt. Herr und Frau Wagner hatten Mühe, ihr Lachen zu unterdrücken, wenn die Zwillinge ihre grausigen Pläne enthüllten und von ihrer Zukunft sprachen. Der eine wollte ein berühmter Indianerhäuptling werden, der andere ein bekannter und gesuchter Detektiv.

Am 23. Dezember war man fast noch aufgeregter. Heute sollte Bärbel heimkommen, und auf die Schwester freuten sich die Zwillinge ungemein.

»Mit der ist ein Ding zu drehen«, meinte Kuno, »die hat Mumm in den Knochen. Da werden wir schon ’ne Geschichte schmeißen. – Ich plane Großes!«

Frau Wagner und die beiden Knaben holten Bärbel von der Bahn ab. Goldköpfchen hatte sich zwar vorgenommen, die junge Dame zu spielen, um auf die beiden jüngeren Geschwister einen recht guten Eindruck zu machen. Aber als der Zug in Dillstadt einfuhr, als sie die Ihrigen so erwartungsvoll auf dem Bahnhofe sah, als Martin und Kuno sogar noch neben dem rollenden Wagen einhertrabten, war alle Würde vergessen. Die grüne Schülermütze wurde vom Kopf gerissen und den Brüdern mit einem lauten Jubelrufe zugeschleudert.

Sie war die erste, die aus dem Zuge sprang, sie riß die Mutter fast um. Es war eine stürmische Begrüßung, die nun folgte, durch jedes Wort klang der Jubel der Mädchenseele, wieder daheim zu sein.

»Gibt es in Dresden auch Verbrecherbanden, Bärbel?«

Bärbel hatte dafür zunächst noch keine Erwiderung, sie mußte erst ihrem Herzen Luft machen, und immer wieder klang es von ihren Lippen:

»Au fein, daß ich wieder zu Hause bin!«

Über alles hatte sie Freude; über die kahle Linde am Markt, über den alten Bretterzaun an der Ecke der Friedrichstraße, über das holprige Pflaster Dillstadts, sie begrüßte ein paar Hunde; und immer wieder jubelte sie: »Mutti, Mutti, Dillstadt ist doch die schönste Stadt der Welt!«

Der Apothekenbesitzer erwartete seine Tochter vor dem Hause. Als man um die Straßenecke bog, lief die junge Dame mit ausgebreiteten Armen die letzten fünfzehn Meter dem wartenden Vater entgegen.

»Vati – Vati …«

Herr Wagner schloß sein zurückgekehrtes Goldköpfchen zärtlich in die Arme und küßte das Kind auf die frischen, roten Lippen.

»Wie schön, mein Kleines, daß wir dich nun wiederhaben!«

»Sechzehn Tage bleibe ich hier. Ach, sechzehn herrliche Tage!«

Dann kamen auch Joachim und schließlich Harald Wendelin. Als er das zierliche junge Mädchen erblickte, wollte ihm doch im ersten Augenblick die vertrauliche Anrede nicht recht über die Lippen kommen. Bärbels große, blaue Augen schauten forschend auf den Studenten, der sich vor ihr verneigte.

»Willkommen, mein gnädiges Fräulein!«

Bärbel fühlte einen wohligen Schauer über den Körper rieseln. Zum ersten Male in ihrem Leben hatte sie ein Mann »gnädiges Fräulein« genannt. Wie war es nur möglich, daß sie sich bisher aus Harald Wendelin gar nichts gemacht hatte? Er war doch eigentlich ein entzückender Mensch.

»Seien Sie mir auch willkommen«, sagte sie ein wenig geziert und reichte ihm drei Finger der rechten Hand.

»Das gibt es nicht, mein lieber Herr Wendelin«, warf Herr Wagner dazwischen. »Sie gehören in unser Haus, und unser Goldköpfchen ist für Sie das Bärbel, weiter nichts.«

Bärbel wandte den Kopf dem Vater zu, ein vorwurfsvoller Blick traf ihn.

»Ja, ja, man wächst heran«, sagte sie, »noch eine ganz kurze Zeit, dann muß man ans Heiraten denken. – Aus Kindern werden Leute.«

»Also dann – Bärbel, liebes Bärbel«, sagte Harald Wendelin warm.

»Hm.«

Eigentlich war doch der Harald Wendelin gar nicht so nett, wie das zuerst den Anschein gehabt hatte.

»Sie könnten mich vielleicht auch Barbara nennen. So nennen mich unsere Doktoren, und Doktor Hering legt immer einen ganz besonderen Ton in dieses Wort.«

»Ich finde Bärbel viel passender«, erwiderte der Student.

»Nun, wie Sie wollen«, erwiderte Bärbel, sich kurz abwendend.

Dann saß sie mit den Zwillingen in ihrem Zimmer und packte aus. Die beiden Knaben hockten um ihren Koffer herum und wollten durchaus wissen, ob sie auch von der Schwester beschenkt würden. Goldköpfchen nickte mit blitzenden Augen.

»Du kriegst was Feines, Kuno. – Mach’ mal die Augen zu, dann zeige ich es dem Martin.«

Kuno tat es, blinzelte aber neugierig nach dem verheißenen Geschenk.

Bärbel holte ein kleines Büchlein hervor. Es war ziemlich abgegriffen.

»Ich habe es alt gekauft«, flüsterte sie Martin zu, »denn neu kostet die Kriminalgeschichte zwanzig Pfennig. Ich habe es für zehn Pfennige von meinem Freunde Hans Herwig bekommen. – Fabelhaft interessant. Der Meisterdetektiv bringt siebzehn Verbrecher um.«

»Au – fein«, rief Kuno, »gib her, das lese ich gleich!«

Er hatte längst die Augen wieder geöffnet und griff nach dem Hefte. Goldköpfchen versteckte es rasch auf dem Rücken.

»Du weißt von nichts«, sagte sie kategorisch.

»Und was kriege ich?« fragte Martin.

»Noch was Feineres!«

Martin wurde in den Schrank gesperrt, dann zeigte Goldköpfchen dem anderen Zwilling einen Federstutz.

»Den hat mir Ediths Mutter geschenkt. Sie hat ihn früher mal auf dem Hut getragen. Der Martin kann ihn als Skalp gebrauchen.«

»Interessiert mich gar nicht«, meinte Kuno verächtlich, »gib mir lieber das Buch. – Wie heißt es denn?«

»Der rote Faden.«

Trotz allen Bittens war Goldköpfchen doch nicht zu bewegen, dem Bruder schon heute das Buch zu geben.

»Bärbel, ich schenke dir auch ganz was Feines, wenn du mir heute schon das Buch borgst. Zu schenken brauchst du es mir ja erst morgen.«

»Was gibst du mir?«

»’ne Spritze.«

»Was?«

»Komm mal mit!«

Vergessen war der im Schrank eingeschlossene Martin. Kuno zog die Schwester hinüber ins Knabenzimmer. Er holte seinen Mantel hervor und griff in die Tasche. Ein Paket Bindfaden, einige Blechstücke, einige Knöpfe, ein Taschenmesser, eine Garnrolle, Bilder aus Zigarettenschachteln und zwei leere Kästchen kamen daraus zum Vorschein.

»Also in der anderen Tasche«, sagte Kuno und stopfte seine Schätze schnell wieder hinein.

Dann hielt er das Corpus delicti in der Hand.

»Du – Bärbel, – das kleine Aas macht für ’nen Taler Spaß! Ich habe es vom Richard bekommen. Dessen Vater ist Zahnklempner. Wenn du Wasser hineinfüllst und die Spritze durchs Schlüsselloch steckst, ist das ein famoser Witz. Wir haben die Emma schon immerzu damit geärgert. Auch in der Schule gut zu gebrauchen.«

»Fein«, jauchzte Bärbel und dachte im ersten Augenblick an Harald Wendelin, dem sie mit dieser Spritze in frühester Morgenstunde eine kleine Dusche geben wollte.

»Ich werde dir zeigen, wie man es macht«, sagte Kuno wichtig.

Mit recht unschuldigen Gesichtern strichen die beiden im Korridor entlang. Kuno entfernte geräuschlos den Schlüssel aus dem Schlosse der Küchentür, die mit Wasser gefüllte Spritze wurde hineingeschoben, und nun warteten die beiden, bis Emma in der Schußlinie war.

S-s-s-st!

Von innen ein leiser Schrei, denn der feine Strahl war Emma mitten ins Gesicht gegangen. Und während sich Kuno trotz seines schnellen Laufens geräuschlos entfernte, vernahm man doch Bärbels Schritte, die dem Bruder eiligst folgte.

Die Küchentür wurde hastig geöffnet.

»Du bist es, Bärbel! – Na, von dir hätte ich auch was anderes erwartet! So ein Unsinn, und das will ’ne junge Dame sein!«

Lachend lief Bärbel davon. Ja, diese Spritze, das war eine Errungenschaft, die mußte sie haben. Damit konnte man auch in Dresden fabelhafte Erfolge erzielen.

Da Herr und Frau Wagner noch immer stark beschäftigt waren, blieb sich das junge Volk allein überlassen. Bärbel fiel es schwer aufs Herz, daß sie noch einige kleine Besorgungen zu machen hatte. Sie wollte daher die Abendstunde dazu benutzen, noch rasch einzukaufen. Von dem ihr gesandten Reisegeld war noch eine Mark übriggeblieben, die konnte für Weihnachtsgeschenke ausgegeben werden.

Im Flur hingen Mantel und Mütze; eiligst kleidete sie sich an und ging davon. Natürlich traf sie sogleich alte Bekannte. Dem Herrn Bürgermeister gegenüber gab sie sich als artige junge Dame, und als sie Frau Doktor Meiring mit deren halberwachsenem Sohne traf, spielte sie sich ganz erwachsen auf. Wieder wurde sie als gnädiges Fräulein angeredet, und das machte sie furchtbar stolz.

Dann ging es ans Einkäufen. Bärbel erstand drei Meter hellblaues Bändchen, wanderte aber durch das ganze Lager, um jedem Verkäufer, der sie anredete, zu sagen:

»Noch einen Augenblick, ich bin mit der Wahl noch nicht fertig.«

Es war zu herrlich, von allen als Dame behandelt zu werden.

Als sie endlich den Laden verließ, lief sie in der Tür beinahe mit Frau Heidenreich zusammen.

»Ach, das ist ja das kleine Bärbel aus der Apotheke!«

»Ich bin erst gestern aus Dresden gekommen.«

Frau Heidenreich plauderte einige Augenblicke mit dem jungen Mädchen, dann sagte sie lächelnd:

»Da kannst du mir gleich einen Gefallen erweisen, Bärbel. Ich habe draußen den Kinderwagen stehen und möchte meine kleine Enkelin nicht ohne Aufsicht lassen. Du bist wohl so gut und fährst die Kleine die wenigen Augenblicke auf und ab, bis ich meine Einkäufe erledigt habe.«

Bärbel war starr vor Entrüstung.

»Gnädige Frau, ich – bin sehr eilig!«

»Es dauert gar nicht lange, Bärbel. Siehst du, hier ist der kleine Schreihals. – Ach je, nun weint die Kleine schon wieder; fahre sie auf und ab, Bärbel. – Aber paß gut auf, sie ist unruhig und könnte aus dem Wagen stürzen.«

Nochmals lächelte Frau Heidenreich dem jungen Mädchen zu, dann war sie im Innern des Ladens verschwunden.

Bärbel schoß einen grimmigen Blick auf das schreiende Baby. Gerade hier, an der belebtesten Ecke, sollte sie Kindermädchen spielen. Wenn man sie sah, was sollten sich die vorübergehenden Herren nur denken! – Solch eine Zumutung!

Das Kleine schrie jämmerlich.

»Natürlich bist du naß«, brüllte Bärbel den Schreihals an, »aber ich denke nicht daran, dich vor aller Welt trockenzulegen, du Ferkel, – das mag deine Großmutter daheim besorgen.«

Sie stieß den Kinderwagen hastig vor sich her, zog ihn wieder zurück und rief dabei grimmig:

»Jetzt bist du endlich still, du Schreihals!«

Aber das Kleine schrie weiter.

Bärbel wagte kaum, die Augen aufzuschlagen, aber das alles half nichts, die Vorübergehenden erkannten sie doch; und um das Unglück voll zu machen, kam nun gar noch Anita Schleifer mit ihrer Mutter daher.

Bärbel wurde glühend rot. Anita Schleifer war bis zum vorigen Jahre ihre Mitschülerin gewesen. Besonders Anita hatte stets so verächtlich auf alle die herabgesehen, die irgendeine Dienstleistung taten. Sie war die Tochter des reichen Holzhändlers Schleifer, und Bärbel erinnerte sich noch sehr genau an Anitas letzten Geburtstag, bei dem es freilich furchtbar langweilig gewesen war, aber immerhin hatte ihr die elegante Aufmachung bei Schleifers sehr imponiert.

Was mußte Anita denken, wenn sie sie neben dem Kinderwagen sah und Babys betreuen?

Sie merkte Anitas spöttischen Blick, sie hörte auch deren Worte:

»Das ist doch Bärbel Wagner. Ist sie denn hier in Stellung gegangen?«

Bärbel kochte. Sie wandte Anita und Frau Schleifer den Rücken zu und stierte auf die Tür des Geschäftshauses, ob denn noch immer nicht Frau Heidenreich erschiene.

Endlich kam sie. Sie trug mehrere große Pakete in der Hand; ein Angestellter brachte einen Mülleimer hinter ihr her.

»Wir hätten Ihnen doch gern die Waren ins Haus geschickt, gnädige Frau.«

»Danke, danke, ich brauche die Sachen sofort, und ich habe hier eine freundliche Helferin, die mir die Pakete gewiß gern heimträgt.«

Bärbel vernahm diese Worte, sie hatte im ersten Augenblick die Absicht, im Sturmschritt das Weite zu suchen. Aber schon fühlte sie Frau Heidenreichs behandschuhte Rechte.

»Ich danke dir herzlich, liebes Bärbel. Und nun hilfst du mir auch noch, die Einkäufe heimzutragen. Der Weg ist ja nicht weit. Hier, nimm den Mülleimer, wir packen noch einiges hinein, dann geht es prachtvoll. Den Wagen schiebe ich mir lieber allein.«

Grenzenloser Aufruhr herrschte in Bärbels Seele. Man hatte sie zweimal »gnädiges Fräulein« genannt, und jetzt lief sie mit einem Mülleimer durch Dillstadt. Am liebsten hätte sie geweint.

»Die Eltern lassen sich derartige Sachen immer schicken«, preßte sie hervor, »dem Kaufmann macht das keine Mühe. In Dresden wird auch alles ins Haus geschickt.«

»Die Leute haben zur Weihnachtszeit zu viel zu tun, Bärbel. Außerdem brauche ich den Mülleimer sofort. Er ist ja nicht schwer.«

Bärbel Wagner ging wahrhaftig neben dem Kinderwagen einher, in der Rechten den Mülleimer tragend. So mußte es Johann Huß zumute gewesen sein, als er zum Scheiterhaufen schritt. Aber sie kochte, sie schwur Frau Heidenreich Rache.

Endlich, endlich kam das Haus in Sicht. Bärbel beschleunigte die Schritte, damit sie möglichst rasch die Ecke erreiche.

Plötzlich durchfuhr sie ein grenzenloser Schreck. Dort drüben kamen ihr zwei junge Herren entgegen: Joachim und Harald Wendelin.

Wohin jetzt mit dem Mülleimer?

»So – nun sind wir daheim, mein liebes Bärbel. Nochmals vielen herzlichen Dank für die freundliche Hilfe; grüße die Eltern und …«

Das weitere vernahm Bärbel nicht mehr. Sie sah, wie zwei junge Herren sie grüßten, sie fühlte fliegende Hitze im Antlitz, sie stellte polternd den Eimer zu Boden, und ohne sich von Frau Heidenreich zu verabschieden, stürmte sie davon.

»Bärbel – Bärbel!«

Erst an der nächsten Straßenecke machte sie halt, dann wurde sie von den beiden Studenten eingeholt.

»Warum laufen Sie uns denn davon?« fragte Harald Wendelin lächelnd.

»Sie brauchen mich gar nicht zu schonen«, herrschte das junge Mädchen den Ahnungslosen an, »ich weiß, was Sie sagen wollen.«

»Was hast du denn, Bärbel?«

»Wozu denn die Komödie? Ihr habt es doch alle beide gesehen. – Es ist unerhört!«

»Wir haben gar nichts gesehen, Bärbel.«

Sie atmete tief auf. »Nun ja, als wohlerzogene Studenten schuldet man einer jungen Dame Rücksichten. – Lassen wir also Gras über den Mülleimer wachsen. – Aber eigentlich ist es empörend!«

Harald Wendelin warf seinem Freunde einen belustigten Blick zu. Wohl hatten beide Bärbel mit dem Mülleimer erblickt, aber daß sich das junge Mädchen dadurch so degradiert vorkam, war keinem von ihnen in den Sinn gekommen. Warum sollte man nicht in der Weihnachtszeit mit Paketen beladen durch die Stadt laufen?

Als man sich endlich der Apotheke näherte, blieb Bärbel plötzlich stehen.

»Wo ist denn mein Band?«

Erregt begann sie in allen Taschen zu suchen, aber das kleine Päckchen mit dem blauen Band war verschwunden.

»Es wird im Mülleimer liegen«, sagte sie zornig, »aber ich gehe nicht mehr zurück, sonst muß ich ihr am Ende noch den Müll heruntertragen. – Nun, so geht es ohne das Band.«

Die beiden Studenten belustigten sich außerordentlich über das temperamentvolle junge Mädchen, aber sie hüteten sich wohl, Bärbel zu necken.

Man kam gerade zum Abendessen zurecht.

»Beeile dich«, sagte Emma zu Bärbel, »es hat schon zu Tisch geläutet.«

Die Familie Wagner war um den Eßtisch versammelt, nur Martin fehlte.

»Klingeln Sie doch noch einmal«, sagte Frau Wagner.

Im Flur ertönte die Glocke; aber auch jetzt ließ sich Martin nicht sehen.

»Diese Verspätungen liebe ich nicht«, sagte der Hausherr. »Wahrscheinlich ist der Junge ausgegangen und kann wieder nicht zur rechten Zeit heimfinden.«

Man aß heute absichtlich etwas langsamer, weil man immer noch auf den fehlenden Zwilling wartete. – Endlich erhob man sich, Herr Wagner gab den Auftrag, das Essen abzuräumen.

»Der Junge bekommt heute nichts mehr. Jetzt wollen wir alle hinübergehen und das Konfekt für den Weihnachtsbaum an Faden binden und die Nüsse vergolden. Morgen früh dürft ihr dann den Baum anputzen.«

Groß und Klein war begeistert. Diese Weihnachtsvorbereitungen waren doch das Allerschönste.

So saß man nun wieder um den großen Tisch, nur Frau Wagner wurde jetzt von Minute zu Minute unruhiger. – Wo steckte der Martin? Sie ging ins Schlafzimmer der Kinder, der Knabe war nicht dort. Sie telephonierte bei Bekannten an, bei denen Martin häufig weilte; aber auch hier wußte niemand etwas von ihm.

Kurz vor zehn Uhr wurde alles zusammengepackt.

»Kuno geht nun zu Bett, und auch Bärbel wird müde sein.«

»Wenn doch der Martin nicht da ist?« Alle Gedanken Kunos waren auf das morgige Weihnachtsfest gerichtet, sonst hätte es ihm einfallen müssen, daß der arme Bruder in Bärbels Schrank eingeschlossen war.

Aber auch Bärbel erinnerte sich der flüchtigen Episode nicht. Sie ging hinauf in ihr Zimmer, kleidete sich aus und schlüpfte ins Bett.

Kaum hatte sie die Decke über die Ohren gezogen, als sie plötzlich ein Poltern und Hämmern vernahm.

Entsetzt sprang sie auf, lief ins Nebenzimmer, das Schlafzimmer der Eltern. Es war leer. Sie stürmte weiter.

»Kuno – Kuno!«

Schlaftrunken fuhr der Knabe auf.

»Kuno – Kuno, – eine Räuberhorde geht bei mir um!«

Für wenige Sekunden saßen die beiden Geschwister zitternd zusammen. Dann stürzte Kuno nach der Kommode, nahm daraus ein Stück Gummischlauch, holte sein Taschenmesser hervor und sagte feierlich:

»Nu los!«

Als man im Zimmer der Eltern wieder ankam, hörten die beiden plötzlich eine jammervoll klingende Stimme, erneutes Hämmern und Schreien. – Da blickten sich Bruder und Schwester in die Augen.

»Martin!«

»Im Schrank!«

Da saß nun der arme Junge. Eine ganze Weile hatte er gerufen und geklopft, schließlich war er ermüdet eingeschlafen und jetzt erst wieder erwacht.

Als Bärbel die Tür öffnete, hagelte es Püffe und Schläge.

»Dumme Trine, – dämlicher Idiot!«

Über Martins Gesicht strömten die Tränen, trotzdem ging er mit geballten Fäusten auf Kuno los. Es gab eine regelrechte Schlägerei. Beide Knaben wälzten sich am Boden, Stühle wurden gerückt, bis schließlich Frau Wagner, die von dem Lärm herbeigerufen wurde, von unten heraufgeeilt kam und das Knäuel am Boden sah.

Es war ein sonderbarer Anblick. Kuno im Nachthemd, Bärbel danebenstehend, bald den einen, bald den anderen der Brüder mit Wasser bespritzend, dazu der zerraufte und verschlafene Martin.

Frau Wagner, die überglücklich war, ihren Jüngsten endlich wiederzuhaben, hatte zwar ernste Vorwürfe für Bärbel und Kuno, aber sie fühlte sich doch grenzenlos erleichtert, denn sie hatte sich schon die schrecklichsten Gedanken gemacht, und alle Freude auf das morgige Weihnachtsfest war in ihr erloschen gewesen.

»Sie ist eben eine Gans«, sagte Martin immer wieder. »Wenn sie in Dresden nichts anderes lernt als Vergeßlichkeit, soll sie mir gestohlen bleiben.«

Eine halbe Stunde später lagen die Wagnerschen Kinder wieder friedlich in ihren Betten.

»Ätsch«, sagte Martin vor dem Einschlafen zu Kuno, »ich habe eine Marzipankartoffel bekommen, und du nicht.«

»Ich krieg den Schlagring, der ist mir viel lieber.«

Magda Trott: Goldköpfchen Gesamtausgabe

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