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Bärbel will etwas erleben

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Die Versetzung zu Ostern war glatt vonstatten gegangen, an der grünen Mütze trug Bärbel jetzt den silbernen Streifen der Untersekunda. Mit einem stolzen Gefühl war das junge Mädchen ins Elternhaus gekommen, als Untersekundanerin machte man doch erheblich mehr Eindruck als nur eine Schülerin der Tertia.

Die Eltern hatten ihrem Goldköpfchen als Belohnung einen lange gehegten Wunsch erfüllt und ihr eine Laute geschenkt. Es war vorgesehen worden, daß Bärbel in Dresden in einem kleinen Konservatorium Unterricht nehmen sollte. Fürs Klavierspielen hatte sie wenig Neigung; ihre Stimme war klein, aber niedlich, und so hielten es Wagners für das beste, sie im Lautenspiel ausbilden zu lassen.

Die Osterferien waren sehr vergnügt verlaufen, obwohl diesmal weder Bruder Joachim noch Harald Wendelin in Dillstadt weilten. Beide Studenten steckten mitten in den Examenarbeiten und hatten viel zu tun.

So war Bärbel als Untersekundanerin nach Dresden in das Haus ihrer Großmutter zurückgekehrt und kam sich beinahe schon als erwachsene Dame vor. Fast alle ihrer Mitschülerinnen waren gleich ihr versetzt worden, nur zwei waren in der Tertia kleben geblieben, unter ihnen Herta Brodowin.

Das war für die Untersekundanerinnen eine große Freude. Mit Herta ließ sich keine gute Freundschaft halten, seitdem der Klub »Blaublümelein« aufgeflogen war.

Sogar den Ordinarius, Doktor Gerlach, behielt man. Bärbel hatte zwar gehofft, daß man den schönen, schwarzlockigen Studienrat Adams bekommen würde, aber schließlich war es gut, daß man Doktor Gerlach hatte, denn man war an ihn gewöhnt.

Für die Geschichtsstunde behielt die Untersekunda Doktor Rollmops, der noch immer seinen bellenden Ton anschlug, wenn er mit den Schülerinnen redete. Bärbel hatte dafür gesorgt, daß man ihm das Leben nicht gar zu schwer machte, und wenn sich wirklich der kecke Übermut an ihn heranwagte, war es immer wieder Goldköpfchen, das schlichtend eingriff.

Das blieb natürlich von Doktor Hering nicht unbemerkt, und er empfand für das frische, blondlockige Mädchen eine herzliche Zuneigung, die er aber unter ganz besonders rauhen Worten verbarg. Trotzdem ahnte Bärbel, daß sich zwischen ihr und dem Rollmops festere Fäden gesponnen hatten. Als er eines Tages wieder einmal mit seiner hartklingenden Stimme Bärbel bei aufforderte, etwas zu erzählen, sagte Goldköpfchen trocken:

»Warum brüllen Sie denn gerade mich immer so an, Herr Doktor?«

»Tue ich das?« fragte er kurz.

»Ja.«

Da bemerkte sie, daß er, von den Ohren her, rot wurde, daß diese Röte sich schließlich über das ganze Gesicht verbreitete, daß er das Lehrbuch bis an die Nase hob und schließlich hervorstieß:

»Netz dich sieder!«

Er verbesserte sich sofort.

»Setz dich nieder!«

Aber für Bärbel war dieses Versprechen der Anlaß zu einem lauten Auflachen.

»Netz dich«, rief hinter ihr halblaut eine der Mitschülerinnen.

Schon wieder tat Goldköpfchen der junge Studienrat leid. Energisch biß sie sich auf die Lippen, aber es dauerte doch eine ganze Weile, ehe sie sich innerlich wieder beruhigt hatte. Seit jenem Tage hatte die ganze Untersekunda ihren Spaß daran, Herrn Doktor Rollmops zu fragen: »Darf ich mich jetzt netzen, Herr Doktor?«

Aber auch Bärbel wurde von Neckereien nicht verschont. Es stand für die Schülerinnen der Untersekunda fest, daß Doktor Rollmops für Bärbel Wagner schwärme.

»Wenn sich ein Mann im Anblick einer jungen Dame mit der Zunge verheddert, so ist das der unumstößliche Beweis, daß er in sie verliebt ist«, erklärte Edith. »Ich habe so etwas bei Nietzsche oder einem anderen Philosophen gelesen.«

Bärbel wies diese Zumutung energisch zurück. Sie interessierte sich gar nicht für Doktor Rollmops, und es blieb ihr schließlich nichts anderes übrig, als ihr Herzensgeheimnis preiszugeben, um endlich vor den Neckereien Ruhe zu haben.

»Wie kann ich an einen Mann denken, wenn ich das Bild eines anderen im Herzen trage?«

Man bestürmte sie, sie solle beichten. Da kam es heraus.

Seit vierzehn Tagen besuchte Bärbel ein kleines, bescheidenes Konservatorium. Ein ganz junger Lehrer erteilte ihr Lautenunterricht. Dieser junge Mann, der, wie Bärbel sagte, Apfelblüten als Bäckchen hatte, dessen Haare wie frische Semmeln aussahen, trug den romantischen Namen Merkur. Schon am ersten Tage hatte sich Bärbel in den Lautenlehrer bis über beide Ohren verliebt.

»Er ist geradeswegs vom Olymp herabgestiegen«, schwärmte sie der Großmutter vor, »wenn er eine Lyra in den Händen hätte, wäre das Götterbild fertig.«

Von diesem Merkur berichtete Goldköpfchen jetzt ganz ausführlich, um den schrecklichen Verdacht loszuwerden, daß sie in Doktor Rollmops verliebt sei.

Eben in diese Tage fiel die Erstaufführung einer Operette, die so einschlug, daß man in ganz Dresden von dem jungen Komponisten sprach. Der Name dieses Mannes, der über Nacht berühmt geworden war, tönte in aller Munde.

Auch die Untersekunda unterhielt sich von dem berühmt Gewordenen, und Bärbel stieß den Seufzer aus: »Ach, wie herrlich muß es sein, wenn die ganze Welt von einem spricht, wenn man eine Berühmtheit ist!«

»Ja«, pflichtete ihr Edith bei, »man dusselt so ins Leben hinein. Man müßte von sich reden machen, man müßte etwas erleben.«

»Zweiundzwanzig Jahre, und noch nichts für die Unsterblichkeit getan«, deklamierte Bärbel. »Wie können wir unsere kostbare Jugendzeit so verdusseln! Don Carlos sehnte sich auch nach einem Erlebnis. – Ach, Kinder, wenn man doch einmal so ein richtiges, den Menschen aufwühlendes Erlebnis hätte. Dann bildet sich der Charakter. Aber wir sitzen morgens in der Schulstube, und nachmittags geschieht auch nichts.«

»Ach ja, ein Erlebnis müßten wir haben«, klang es im Chore. »Etwa so, wie es Lukrezia hatte, als sie dem Bruder den Giftbecher reichte, oder Elsa, der der Lohengrin erschien.«

»Wenn wenigstens eine gewaltige Liebe über einen käme«, meinte Edith, »die einen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt macht. Aber mit den dummen Jungen vom Kant-Gymnasium ist ja nichts los.«

Bärbel schloß die Augen. Eine himmelstürmende Liebe, so etwas Aufwühlendes, so etwas, wo sie in einem Atem lachen und weinen mußte. Sie hatte manches Buch gelesen. Oh, was litten darin die jungen Mädchen, bis sie sich endlich den Herzallerliebsten errungen hatten!

Ja, wenn etwas Derartiges in ihr Leben träte, wie wunderschön mußte das sein!

Frau Lindberg betrachtete ihre Enkelin kopfschüttelnd, als sie hörte, daß Bärbel über die Langeweile des Daseins klagte.

»Ist das gelebt, Großchen? Ereignet sich etwas, das den Charakter umschweißt und ihn dann herauskristallisiert? Wie kann ich überhaupt ein Charakter werden, wenn mir gar nichts geschieht?«

»Aber mein geliebtes Bärbel, was soll denn geschehen?«

»Ich möchte etwas erleben«, rief Bärbel mit ausgebreiteten Armen, »etwas Großes, Pompöses, – meinetwegen auch etwas Schauriges. Die Leute sollen hinter mir dreinstaunen. – Ach, Großchen, warum bin ich kein Dichter!«

»Man lebt viel ruhiger in bescheidener Zurückgezogenheit, Bärbel.«

Goldköpfchen schüttelte so heftig den Kopf, daß die Locken um ihr Haupt flogen.

»Ich sehne mich nach einem Erlebnis! Ach, Großchen, wie fange ich das nur an?«

Frau Lindberg mußte über diesen sehnsüchtigen Wunsch lächeln. Sie kannte die Sturm- und Drangperiode der Jungmädchenjahre, aber sie maß diesem Sehnen weiter keine Bedeutung bei.

Da Bärbel einsah, daß sie weder als Komponistin, noch als Dichterin, am allerwenigsten aber als Schauspielerin ihr Erlebnis haben würde, beschloß sie, sich zunächst auf die Liebe zu werfen. Es war ja einer da, für den sich ihr Herz entzündet hatte: der apfelbäckige Merkur. Sie hatte jetzt gerade ein so interessantes Buch vor, in welchem eine junge Dame sich durch zärtlichen Augenaufschlag und girrendes Lachen den Mann errang. Warum sollte sie das nicht auch versuchen? Gleich morgen, in der Lautenstunde, wollte sie den ersten Anlauf nehmen. Vielleicht sank ihr dann Herr Merkur zu Füßen, vielleicht bedeckte auch er ihre Hände mit glühenden Küsten, wie es der Held im Buche tat.

Diesmal hatte sie eine kleine Heimlichkeit vor der Großmutter. Sie zog die neuen Lackschuhe und das blaue Sonntagskleid an. Sie mußte schön sein, wenn sie die Liebe eines Mannes gewinnen wollte.

Da saß sie nun mit klopfendem Herzen neben dem Lehrer. Seine Schulter berührte die ihrige, sie ließ ein Zucken merken, als er mit seiner Hand ihre Rechte berührte, um ihr die richtige Fingerstellung zu zeigen. Dann ließ Bärbel die Laute sinken, ein lauter Seufzer kam aus ihrem Munde.

»Haben Sie Schmerzen?«

Bärbel wippte mit dem Lackschuh. Er sollte sehen, was sie für einen kleinen Fuß hatte.

»Ach«, sagte sie, auf den Schuh starrend.

»Sie haben wohl zu enge Schuhe an, Fräulein Wagner?«

»Dummkopf«, ging es ihr durch den Sinn.

»Nein«, erwiderte sie und drückte die Laute fest ans Herz. Dann schlug sie kokett die Augen zu ihm auf und fragte mit gänzlich verstellter Stimme: »Wollen wir fortfahren?«

Wieder begann der Unterricht, aber instinktiv merkte Bärbel, daß Herr Merkur heute recht unaufmerksam war. Hatte ihr Verhalten bereits Eindruck auf ihn gemacht?

Wenn wirklich die große Liebe zu ihm kam, oh, dann hatte sie ja ihr Erlebnis!

Sie schaute den Lehrer verstohlen an; seine Augen ruhten auf ihren goldblonden Haaren.

»Sie sehen mich ja so komisch an?«

»Entschuldigen Sie, – aber Ihr Haar ist so wundervoll.«

»Ach …«

»Ich liebe dieses goldblonde Haar.«

Das war der Anfang. So ähnlich hatte der Held in dem Roman auch gesprochen. Bärbel riß vor innerer Freude an den Saiten. Da fuhr Herr Merkur zusammen, strich sich mit der Rechten über die Stirn und verlangte, daß sie die Übung von vorn beginne.

»Goldköpfchen nennt man mich daheim.«

»Wie reizend!«

»Eigentlich heiße ich Barbara, aber wenn man nett zu mir ist, nennt man mich Bärbel.«

»Bärbel!« Ein Jubelruf kam über die Lippen des Lehrers, er krampfte die Hände zusammen, legte sie dann aufs Herz und flüsterte nochmals mit leiser Zärtlichkeit: »Bärbel!«

Goldköpfchen schloß die Augen. – Nun war es so weit. Nun würde er wohl gleich vor ihr niedersinken und ihren Namen noch einmal so süß hinhauchen, wie er es eben getan hatte. Ja, das war die Liebe, die große, echte Liebe!

»Verzeihen Sie, Fräulein Wagner«, sagte er plötzlich gefaßt, »aber …«

»Es macht nichts«, flüsterte Bärbel.

»Sie müssen nämlich wissen, ich …«

»Ich weiß alles«, sagte Bärbel stockend.

»Nein, Fräulein Wagner, noch niemand weiß es, denn wir haben uns erst gestern abend verlobt. – Sie heißt nämlich auch Bärbel und hat genau solch goldene Haare wie Sie.«

Eine Sekunde lang hatte das junge Mädchen, ein Gefühl, als stürze ihm kaltes Wasser über den Rücken. Dann griff Bärbel so temperamentvoll in die Saiten, daß zwei davon rissen.

Ein Märchen von Grimm fiel ihr ein.

»Es ist ein Band von meinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen.«

»Darum bin ich auch heute ein wenig zerstreut, Fräulein Wagner. – Sie müssen entschuldigen. Aber daß Sie nun auch gerade Bärbel heißen.«

Das also war die große Liebe, das war das ersehnte Erlebnis. Wozu hatte sie denn die guten Schuhe angezogen und das Sonntagskleid? Er liebte eine andere.

»Wenn Sie nicht in Stimmung sind«, sagte Bärbel ziemlich mißmutig, »dann möchte ich heute – ich bin nämlich auch nicht in Stimmung. Ich komme lieber am Montag wieder.«

»Aber wir könnten deswegen doch …«

»Nein, nein«, sagte sie unwillig, indem sie sich den Hut auf die Locken drückte, »schwärmen Sie weiter von Ihrem Bärbel.«

Als sie unten im Hausflur stand, kam ihr der Gedanke, nun auch die Laute an der Eingangssäule zu zerschellen.

»Weh dir, verruchter Mörder, du Fluch des Lautentums, dahin ist all mein Hoffen!«

Nein, – wozu sollte sie die schöne Laute zerschlagen? Sie würde sich diese Liebe aus dem Herzen reißen und auch diese Enttäuschung überwinden. – Vielleicht kam doch noch einmal das große Erlebnis zu ihr.

Damit war der semmelblonde Merkur mit den Glotzaugen für Bärbel erledigt.

Auch in den nächsten Tagen gab es gar nichts zum Erleben. Ein Tag ging wie der andere dahin, und Bärbel klagte allabendlich dem Großchen, daß es noch immer nichts für die Unsterblichkeit getan habe. Jedesmal, wenn sie in die Zeitung schaute, wenn irgendein Name Erwähnung fand, tippte sie mit dem Finger darauf und sagte seufzend:

»Wenn ich doch auch einmal durch die Druckerschwärze ginge!«

Es war ihr ganz einerlei, ob der Name lobend oder tadelnd erwähnt wurde. Der Dieb, der vor den Schranken des Gerichtes stand, erregte ebenso ihr Interesse, wie der Direktor einer Bank, der sich unter eine Ankündigung schrieb.

»Ein Erlebnis zu haben, Großchen, und gedruckt zu werden, welch ein Glück!«

Da kam sie eines Tages mit glühenden Wangen heim.

»Großchen! – In mein Leben ist etwas Neues getreten, – ich werde sehend!«

»Was ist denn schon wieder los, Goldköpfchen?«

»Gabriele hat mich doch zu heute nachmittag eingeladen. Dort gibt es eine spiritistische Sitzung. Gabriele meint, wir können einen Tisch tanzen lassen, und wenn einer in Trance wäre, könnten wir sogar Geister klopfen hören.«

»Fangt ihr auch mit dem Unsinn an, Kinder?«

»Ich habe schon von Hellsehern gelesen, Großchen, und gerade jetzt sagt man, daß das Verbrechen in Pirna durch einen Hellseher aufgeklärt werden soll. – Oh, ich weiß schon, wie wir uns die Geister dienstbar machen. Ich habe dir doch erzählt, daß jetzt so viele in der Schule anonyme Briefe kriegen. – Gabriele meint, wir werden den Geist fragen, wer sie schreibt.«

»Nun, ich denke, die Geister werden sich gar nicht erst zu euch bemühen«, scherzte Frau Lindberg. Sie war in der jetzt folgenden Unterredung eifrig bemüht, die bevorstehende Sitzung des Mystischen zu entkleiden.

Aber für Bärbel war doch diese geplante spiritistische Versammlung etwas ganz Neues. Als man sich bei Gabriele Langen zum Kaffee einfand, schlangen alle anwesenden jungen Mädchen den Kuchen mit denkbar größter Eile herunter, weil man gar nicht schnell genug die Geister herbeizitieren konnte.

Endlich war es so weit. Man ging ins Nebenzimmer, ließ die Rolläden vor die Fenster und zündete nur eine einzige Kerze an.

»Es ist auch ohne Kerze noch hell genug«, meinte Gabriele, »die Sonne läßt sich nicht ganz aussperren. Aber ich denke, wir sind alle so andachtsvoll gestimmt, daß die Geister kommen werden.«

Sie gab darauf die Erklärungen: die Geister klopften, der Tisch würde tanzen, vielleicht sogar bis zur Decke hinauffliegen.

Voller Erwartung saßen die zehn jungen Mädchen um den kleinen Tisch, legten die Hände gespreizt an den Rand der runden Platte, das Schweigen begann.

Bärbel brannte vor Aufregung. Wenn wirklich ein Geist erschien, hatte sie ihr großes Erlebnis. An diesem Geist wollte sie die nächsten Jahre zehren. Wer würde wohl erscheinen? Ach, daß sie sich einen ihrer Freunde aussuchen dürfte!

Man saß und saß, – keines der jungen Mädchen rührte sich, keines gab einen Laut von sich. Bis endlich Gabriele Langen flüsternd sagte:

»Kinder, merkt ihr etwas? Er bewegt sich.«

Richtig! – Da fing der Tisch auch schon zu wackeln an. Er wackelte stärker, neigte sich nach rechts, nach links, da rief Gabriele mit dumpfer Stimme:

»Geist – bist – du – da?«

Der Tisch neigte sich.

»Er ist gekommen«, sagte Gabriele flüsternd.

»Wer denn?« fragte Bärbel neugierig.

»Das werden wir erkunden«, meinte Gabriele.

»Geist – wer bist du? – Gib Antwort auf unsre Frage.«

»Kann der Geist reden?«

»Nein, – paßt nur auf!« Und nun nannte Gabriele der Reihe nach die Buchstaben des Alphabetes. A, B, C, und so fort.

Bärbels Herz klopfte stürmisch. Wenn doch jetzt ihr geliebter Gotenkönig, der schwarzhaarige Teja, in dem Tische säße. Sie schwärmte so furchtbar für diesen unglücklichen Mann. Angstvoll verfolgte sie jedes Neigen des Tisches. Als er bei dem Buchstaben R nur noch ganz leise wackelte, stieß ihn Bärbel in ihrer Begeisterung kräftig weiter, immer noch einmal, immer noch, bis endlich der Buchstabe T erreicht war. Dann hielt sie den Tisch fest.

Nun ging es von vorn los. Wieder wartete Goldköpfchen in angstvoller Spannung, um beim Buchstaben E die Hände fest auf die Platte zu pressen. Schließlich hatte man den Teja herausgefunden, und triumphierend schaute sich Gabriele im Kreise um.

»Der unglückliche Gotenkönig sitzt unter uns, – der letzte seines Volkes. – Was soll er uns künden?«

»Wer die anonymen Briefe in der Schule schreibt«, flüsterte Bärbel.

»Richtig! – Hoher Gotenkönig, sage es uns, wer unsere Mitschülerinnen in so gemeiner Weise beschimpft? Sprich, künde aus dem Jenseits, wer es ist!«

Jetzt half Bärbel nicht mehr nach. Sie war selbst viel zu gespannt, von wem alle diese Niederträchtigkeiten kamen. Sie selbst war bisher mit solch einem häßlichen Briefe verschont geblieben, aber Edith, Valeska, Trude und noch viele andere hatten derartige Schreiben erhalten.

Gabriele begann wieder die Buchstaben aufzuzählen. Der Tisch wackelte und wackelte, bis er endlich bei W halt machte.

»Wanda?« ging es im Kreise umher? Wanda war eine sehr unbeliebte Obersekundanerin.

Richtig, bei A hielt der Tisch zum zweiten Male an.

Dann wackelte er weiter. Man buchstabierte Wag, dann ging es weiter »Wagn«, auch der Vokal E kam noch. Da sprang Bärbel auf.

»Du bist wohl verrückt? Ich habe diese Briefe nicht geschrieben!« Laut schlug sie mit der Faust auf die Tischplatte.

Die Umsitzenden schauten verlegen und mißtrauisch auf Bärbel.

»Das habt ihr gemacht«, rief Bärbel, »ihr habt den Tisch hin und her gedrückt, um mich zu ärgern.«

»Nein, der Gotenkönig.«

»Quatsch! Meint ihr, der Gotenkönig sitzt in diesem Tisch? Das ist ja alles dummes Zeug! Wenn ihr mir so Gemeines zutraut, komme ich nie wieder zum Kaffee zu einem von euch.«

»Aber, Bärbel«, beschwichtigte Edith, »das glaubt doch keiner von dir.«

»Doch, einer muß es glauben, sonst hätte er den Tisch nicht so lange hin und hergeschoben, bis mein Name daraus wurde. Solch ein Blödsinn, ein Geist soll in einen Holztisch kriechen. Ich pfeife auf den Geist!«

»Er hat sich eben geirrt«, beschwichtigte Gabriele. »Vielleicht gibt es eine zweite Wagner, die die Briefe geschrieben hat.«

»Mich habt ihr damit kränken wollen!«

Man widersprach lebhaft. Man versicherte Bärbel der innigsten Freundschaft. Nur die kleine schelmische Lisa lächelte verstohlen dazu.

Aber Bärbel machte ihrem entrüsteten Herzen unentwegt Luft, schimpfte auf die Geistersitzung, auf Teja, auf allen Aberglauben und auf die Anwesenden.

Währenddessen hatte Lisa ihre Mitschülerin Edith auf die Seite gezogen.

»Ich war es, Edith, ich habe gemerkt, wie Bärbel durchaus den Teja haben wollte, und wie sie den Tisch gewaltsam hin und her schob. Da habe ich auch etwas nachgeholfen.«

»Pfui, Lisa, das finde ich gemein!«

»Es war doch nur ein Spaß.«

Frau Langen, die den Tumult im Zimmer hörte, kam schließlich und schlichtete den Streit. Auch sie wußte der Geistersitzung einen so humoristischen Anstrich zu geben, daß Lisa endlich freimütig gestand, daß sie sich den kleinen Spaß erlaubt habe. Nun gab auch Goldköpfchen zu, daß es durchaus den Teja haben wollte und tatsächlich geglaubt habe, man könne dadurch den Geist beeinflussen, hier zu erscheinen.

Bei einer guten Ananasbowle wurde der Frieden zwischen den jungen Mädchen wieder hergestellt. Schließlich tranken alle auf den Gotenkönig Teja und stellten die Gläser auf die Platte des verhexten Tisches.

Also war auch das kein Erlebnis geworden. Aufseufzend berichtete Bärbel dem Großchen, daß ihre Hoffnungen abermals fehlgeschlagen wären. Sie müsse sich wohl damit abfinden, ein Dasein des Alltags zu führen, ihr sei es nicht beschieden, auf den Höhen des Lebens zu wandeln.

»Sei glücklich und zufrieden, Bärbel, daß du eine so schöne Jugendzeit verlebst. Du hast deine Eltern, deine Geschwister, du darfst dir einen Lebensberuf nach deinem Ermessen wählen, hast satt zu essen und bist gesund. – Was willst du mehr?«

»Du hast ja recht, Großchen, mit dem Lebensberuf ist das freilich so ’ne Sache. – Wenn ich nur erst im klaren wäre, was ich einmal werden möchte.«

»Zum Überlegen bleibt dir noch lange Zeit, mein liebes Kind.«

»Ich denke, ich werde Arzt. Dann kommt das große Erleben. Wenn die Todkranken vor mir liegen, mache ich sie mit meinem Können wieder gesund. – Vielleicht werde ich aber auch ein berühmter Erfinder. – Lehrer werde ich ganz bestimmt nicht, Großchen, dieser Beruf gefällt mir nicht.«

»Wer so geschickte Hände hat, wie du, mein Goldköpfchen, dem steht die ganze Welt offen.«

»Du meinst, weil ich so gut sticken kann? Oder weil ich so nette Sträuße binde?«

»Weil du in allem so viel Geschmack entwickelst, Goldköpfchen. Was du dir auch vornimmst, immer sieht es reizend aus. Was für hübsche Dinge machst du aus buntem Papier, wie nett stattest du Körbchen und dergleichen aus, wie anmutig verstehst du einen Tisch zu schmücken.«

»Das ist ja alles ganz schön, Großchen, – wenn nur in meinem Leben das große Erlebnis wäre!«

»Das kommt mit den Jahren, mein geliebtes Goldköpfchen. Das läßt sich nicht gewaltsam herbeiziehen. Eine jeder Mensch hat sein Erleben, der eine früher, der andere später.«

Wieder reihte sich ein Tag an den anderen. Da wurde Goldköpfchen an einem Nachmittage von Großchen mit einem zerbrochenen Schmuckstück zu einem ziemlich weit entfernt wohnenden Goldschmied geschickt. Da Bärbel in Dresden bereits gut Bescheid wußte, wanderte sie, um den Weg abzukürzen, durch mehrere kleine Nebenstraßen und bog schließlich in die steil aufsteigende Friedrichstraße ein.

Es war ein heißer Junitag, Bärbel trug ein schlichtes Voilekleid, das nur durch einige Spitzeneinsätze verziert war.

Ihre Gedanken weilten wieder einmal daheim bei den Eltern. Dabei bekam das jugendfrische Antlitz einen so verträumten Ausdruck; Bärbel vergaß alles um sich her, und schon manchmal war sie in solchen Fällen mit eiligen Fußgängern zusammengestoßen.

Heute wurde sie durch laute Rufe aufgeschreckt. Sie hörte scheltende Stimmen; die großen Blauaugen glitten die Straße entlang.

Vor ihr quälte sich ein vollbeladener Kohlenwagen die steile Straße empor. Bärbel hörte klatschende Schläge einer Peitsche, lautes Fluchen, sie vernahm verschiedene Zurufe von Frauenlippen, und eiligst setzte sich das junge Mädchen in schnellere Gangart, um zu sehen, was es dort vorn gäbe.

Sie überblickte sehr bald die Sachlage. Der beladene Wagen war viel zu schwer für das eine Pferd, das vorhin schon einmal in die Knie gebrochen, vom Kutscher aber roh emporgerissen worden war. Der Körper des Tieres war mit Schweiß bedeckt. Der junge Kutscher hatte die Peitsche umgedreht und schlug nun mit dem Stiel erbarmungslos auf das erschöpfte Pferd ein.

Die entrüsteten Umstehenden wurden von dem Rohling mit wüsten Schimpfworten bedacht, und als der Braune zum zweiten Male vorn in die Knie brach, versetzte der Kutscher dem Tiere mit dem Stiel der Peitsche einen schweren Schlag gegen die Weichen.

Bärbel sah das abscheuliche Schauspiel, und die Empörung wallte in ihr auf. Ihr Temperament riß sie hin. Mit wenigen raschen Sprüngen war sie mitten auf dem Damm, holte mit der Rechten weit aus und versetzte dem Kutscher eine schallende Ohrfeige.

»Tierschinder!«

Die Mütze flog dem Manne vom Kopfe, die Peitsche entfiel seiner Hand, aber im nächsten Augenblick hatte der rohe Bursche Bärbel vorn an der Brust gefaßt. Er schüttelte sie so stark hin und her, daß es dem jungen Mädchen schwarz vor den Augen wurde. Es besaß aber noch so viel Geistesgegenwart, um die kleine lederne Handtasche, die es trug, dem Kutscher ins Gesicht zu schlagen. Dann fühlte sich Goldköpfchen fortgerissen, sie sah sich von Menschen umringt; und als sie verstört wieder zu sich kam, stand vor ihr ein Polizeibeamter. Bärbel wurde von den Armen einer Dame gehalten, aus denen sie sich rasch löste und verlegen stotterte:

»Danke, danke, mir ist nichts.«

Als sie aber an sich heruntersah, stellte sie errötend fest, daß der schmale Spitzeneinsatz auf der Schulter zerrissen war, der Ärmel des Kleides hing weit herab.

Sie raffte ihn hoch und schaute sich nach dem Pferde um, das jetzt wieder auf den Füßen stand. Sie sah auch den Kutscher, erblickte sein hochrotes Gesicht und hörte die lauten Beschimpfungen, die auf ihn herabhagelten.

Dann mußte Bärbel ihren Namen nennen. Sie wollte es anfangs nicht, und nur zögernd kam die Adresse von ihren Lippen.

»So ein tapferes junges Mädchen«, sagte eine der Umstehenden.

»Das war die einzige Strafe für diesen Rohling«, rief eine andere, »die Ohrfeige saß!«

»Das hat mir an Ihnen gefallen!«

Bärbels Hände wurden gedrückt; immer mehr Menschen strömten herbei. Sie war plötzlich der Mittelpunkt des Interesses. Einer erzählte es dem anderen, mit welcher Energie dieses junge Mädchen eingegriffen habe, und immer neue Menschen traten heran, um Bärbel anerkennende Worte zu sagen.

Goldköpfchen wurde immer scheuer und gedrückter. Am liebsten wäre sie jetzt in die Erde gesunken. Wie hatte sie nur so temperamentvoll handeln können!

»Bravo, bravo, kleines Fräulein«, sagte ein alter, weißhaariger Herr und tätschelte Goldköpfchens Hand. »Wenn alle Menschen so mutig vorgehen würden, hätte die Tierquälerei bald ihr Ende gefunden.«

»Ein prächtiges Mädchen!«

Bärbel zitterte vor Aufregung. Wollten denn diese Lobreden gar nicht enden? Sie hatte einem Kutscher eine Ohrfeige gegeben, stand hier mit zerrissenem Kleide und konnte aus dem sie eng umschließenden Kreise nicht heraus.

»Ach, lassen Sie mich doch fort«, sagte sie endlich verängstigt.

Eine Frau reichte dem jungen Mädchen eine Sicherheitsnadel, damit wurde der ausgerissene Ärmel festgesteckt.

»Ich besorge einen Wagen, mein Fräulein«, sagte der weißhaarige Herr, »so können Sie doch nicht heimgehen.«

Jetzt erst bemerkte Bärbel, daß sich beim Schlagen ihre Handtasche geöffnet hatte und leer war.

»Meine Sachen!« rief sie erschreckt.

Die Umstehenden beteiligten sich am Suchen. Bärbel wurde immer verlegener, denn in der Handtasche steckte das Bild von Gerhard Wiese, ein nicht gerade sauber zu nennendes Taschentuch, eine zerbrochene Zigarette und ein Taschenspiegel mit Sprung, außerdem befanden sich einige Bonbons dazwischen. Als man ihr alle diese Sachen zurückgab, schämte sie sich sehr, und wieder hatte sie den heißen Wunsch, ein Tarnkappe zu besitzen, um zu entschwinden.

Endlich kam die Droschke.

»Nein«, sagte Bärbel, »man soll das Pferd doch lieber nehmen und mit vor den Kohlenwagen spannen, sonst quält der Kutscher das arme Tier noch weiter den Berg hinan.«

»Seien Sie ohne Sorge«, sagte der Polizeibeamte, »dafür ist bereits gesorgt. Sie dürfen ruhig heimfahren. Der rohe Kutscher erhält einen gehörigen Denkzettel, und ein zweites Pferd wird gleich zur Stelle sein.«

»Passen Sie auch gut auf, daß er das arme Tier nun aus Wut nicht noch mehr schlägt?«

»Dafür werde ich schon sorgen.«

Bärbel war beruhigt. Als sie in den Wagen stieg, rief ein größerer Knabe begeistert: »Hoch soll sie leben!«

Bärbel erzitterte. Das war ihr noch nie passiert. Man hatte sie mitten auf der Straße in der großen Stadt Dresden hochleben lassen. Fremde hatten ihr die Hand gedrückt, ein alter Herr einen Wagen besorgt.

Als sich Bärbel in die Polster des Wagens lehnte, zog sie bald das rechte, bald das linke Bein vor Erregung hoch, in ihren Ohren tönte noch immer der Beifall der Menge, das Herz klopfte in stürmischen Schlägen.

Frau Lindberg wurde anfänglich aus dem Bericht der Enkelin nicht klug, denn alles sprudelte durcheinander: das Hochleben, der weiße Herr, die Ohrfeige, der zerbrochene Spiegel. Nur ganz allmählich kam auf Befragen der Großmama ein wenig Ordnung in den Bericht.

Gegen Abend machte sich Frau Lindberg zu einem Ausgang fertig. Eine Viertelstunde später saß sie in der Redaktion des Anzeigers.

»Wir kennen uns ja seit unserer Kindheit, mein lieber Herr Dressel. Nicht wahr, Sie tun mir den Gefallen?«

»Noch heute, gnädige Frau! Warum soll man einem so tapferen jungen Mädchen eine solche Freude nicht machen?«

»Nehmen Sie vielen Dank!«

Dann kam der nächste Tag.

Es war ein merkwürdiger Zufall gewesen, daß eine Schülerin der unteren Klassen des Gymnasiums den Vorfall mit angesehen und sogleich darüber berichtet hatte. In der großen Pause wußte es bereits die ganze Klasse, daß Bärbel gestern nachmittag einem Pferde das Leben gerettet hatte. Sie wehrte verlegen ab, erzählte aber doch mit hell leuchtenden Augen von der Huldigung, die man ihr gebracht hätte.

Nach der Pause geschah etwas ganz Wunderbares. Mit dem Ordinarius erschien der Direktor in der Klasse.

»Barbara Wagner!«

Hastig überlegte Bärbel, was sie wohl schon wieder verbrochen haben könnte: und nur zögernd folgte sie dem Befehl, sich vorn ans Katheder zu stellen.

Dann sank der blonde Kopf immer tiefer, das rosige Antlitz wurde dunkelrot. Der Direktor berichtete von dem tapferen Vorgehen Bärbels und sprach ihr vor der ganzen Klasse seine volle Anerkennung aus. Er ermahnte die anderen Schülerinnen, jede Tierquälerei nach Kräften zu verhindern und sich an Bärbel ein Beispiel zu nehmen.

Damit war Bärbel die Hauptperson der ganzen Schule geworden. Alles drängte sich an sie heran, jeder lobte sie, und Bärbel wurde immer verlegener und kleinlauter. Wohl fühlte sie sich stolz und glücklich, aber es bedrückte sie doch, daß man so viel Aufhebens von ihr machte.

Sie war froh, als sie endlich im Sturmschritt nach Hause eilen konnte.

»Fräulein Bärbel, im Salon wartet ein Herr«, sagte das Hausmädchen.

»Auf mich?«

»Ja, die gnädige Frau ist auch im Salon. Sie sollen gleich hineingehen.«

Zögernd, mit kleinen Schritten, betrat das junge Mädchen das Zimmer. Ein Herr von etwa vierzig Jahren erhob sich. Er trug ein Päckchen in der Hand, auf dem drei rote Rosen lagen.

»Der Besuch gilt dir, liebes Bärbel«, sagte die Großmama. »Hier siehst du Herrn Müller von der Kohlenfirma Groß & Co., der dir den Dank der Firma überbringt.«

»Wir sind glücklich, mein gnädiges Fräulein, in Ihnen eine so reizende Polizistin gefunden zu haben. Wir sind stets bemüht, unsere Kutscher zur Schonung der Tiere anzuhalten, aber nicht immer erfahren wir von den scheußlichen Mißhandlungen. Wir hörten von Ihrem tapferen Vorgehen und danken Ihnen nochmals von Herzen.«

Mit einer tiefen Verbeugung legte er das Konfekt und die Blumen in Bärbels Hand.

Goldköpfchen konnte nichts sagen. Sie stotterte etwas Unverständliches. Am liebsten hätte sie sich hinter die Großmutter versteckt. Lieber Himmel, was hatte sie denn so Aufsehenerregendes getan? Ein Herr der Kohlenfirma kam zu ihr, und heute früh hatte sie die Rede des Direktors angehört.

Der nette Herr richtete noch mehrfach das Wort an Bärbel, aber die junge Sekundanerin war in ihrem ganzen Leben noch niemals so verlegen gewesen wie heute. So empfahl sich Herr Müller bald, nicht ohne daß er zuvor noch einen lächelnden Blick auf die Verlegene geworfen hatte.

Als er gegangen war, blieb Bärbel noch stumm. Sie blickte abwechselnd auf die Rosen und auf das Konfekt.

»So, mein liebes Kind, nun komm zu Tisch.«

Schweigend folgte Bärbel. Neben dem Teller lag ein Zeitungsblatt, eine Stelle darin war rot angestrichen. Bärbel schaute darauf nieder. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Da stand zu lesen, daß die Untersekundanerin Bärbel W. gestern durch ihr resolutes Verhalten einer unerhörten Tierquälerei ein Ende bereitet habe. Die wohlverdiente Ohrfeige, die das junge Mädchen dem Kutscher verabreicht hätte, sei die einzig richtige Strafe für ein derartiges Verhalten. Der Artikel schloß mit den Worten: zur Nachahmung empfohlen!

Zwei große blitzende Tränen rollten über Bärbels Wangen. Dann schlug sie die Augen zur Großmutter auf, das Antlitz war wie in Sonne getaucht.

»Großchen«, klang es zitternd vor innerer Erregung.

»Nun steht mein Bärbel sogar in der Zeitung.«

»Großchen«, die alte Dame wurde von zwei Mädchenarmen fast erdrückt. »Nun hab’ ich mein Erlebnis, mein riesenhaftes Erlebnis! Großchen, jetzt bin ich glücklich!«

In der Abendstunde kam ein Fliederstrauß, an dem hing ein Gedicht.

»Von Gerhard Wiese«, jubelte Bärbel, dann las sie schwärmerisch:

»Wo ist der Held, der Dir an Kühnheit gleicht?

Die ganze Welt Dir heut den Lorbeer reicht.

Du Pferdeschützerin, nimm diesen Flieder,

Mein Herz senkt sich bewundernd vor dir nieder.«

Bärbel stürmte zur Großmutter.

»Großchen, wie sagt Carlos: o Gott, das Leben ist doch schön! Jetzt bin ich beglückt, jetzt bin ich befriedigt, mein Lebenszweck ist erfüllt!«

Magda Trott: Goldköpfchen Gesamtausgabe

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