Читать книгу Der Große Herr und die Himmlische Frau - Maggi Lidchi-Grassi - Страница 3
II
ОглавлениеEs regnete noch immer. Stunde um Stunde kam es herunter und schien die Welt davonzuwaschen. Die Männer froren bis auf die Knochen, und es fiel John schwer, mit Handschuhen zu zeichnen. Es hatte die ganze Patrouille hindurch geregnet. Die Wollkappen unter ihren Helmen waren durchnäßt worden, und das Wasser hatte die schwarze Schmiere in ihren Gesichtern verwischt. Der Vordermann und der Hintermann waren kaum sichtbar, und jeder befand sich in einem kleinen dunklen Bereich voll Furcht und Kälte. Sie wateten durch schlüpfrigen Matsch zum Niemandsland und schauten nach Handzeichen aus, die man erraten aber nie wirklich sehen konnte. Stimmen klangen wie Regen, der wie Stimmen klang. Dann kam etwas, das ein Befehl gewesen sein konnte, doch war es ein Fluch, der sich Koch entrungen hatte. Sie zogen ihn aus dem Granattrichter. Sie hatten einen leeren deutschen Schützengraben durchquert und waren schlitternd, krabbelnd und rennend in die warme Küche zurückgekehrt. Drummond hatte dem Hauptmann Bericht erstattet. Was konnte er ihm gesagt haben?
Jetzt, zwei Tage später, wo er Impis Kopf zeichnete, stellte sich John noch immer diese Frage. In Texas hatten die Feldübungen für ihn auch keinen Sinn ergeben, aber hier und jetzt war alles unmittelbar bedrohlicher. Sie waren in die dunkle, feinderfüllte Nacht hinausgegangen, ohne zu wissen, was sie taten. Drummond wußte, was zu tun war. Jeder hatte sich darauf verlassen.
“Aber Kelly, wir alle verlassen uns auf das, was jemand sagt. So ist das Leben überall. ‚Mä, mä, schwarzes Schaf ... Aber nichts für den kleinen Jungen, der am Ende der Gasse lebt.’[4]. Aber nichts für den kleinen Jungen, der am Emde der Gasse “ Blom machte große Augen.
“Was sagt der da?” gähnte Impi. “Hey, Kelly, das dauert lange. Bin ich so ein interessanter und schwieriger Gegenstand?”
Er betrachtete Impi, der den Kopf gegen die Wand zurückgelehnt hatte, und seine Sorgen verschwanden. Die Masse dieses Kopfes, der sich nur halb von den Schatten abhob, war das Problem, das er lösen mußte.
“Hältst du das Stück Kohle richtig, Kell?” Impis Kopf bewegte sich.
“Holzkohle. Bitte nicht bewegen.”
“Nur ein Ire schleppt Kohle und Dichtung in seinem Rucksack mit sich herum.”
“Hör auf, dich zu bewegen.” Er hatte die Augen fertig und fing an, die kleinen Lachfältchen einzuzeichnen, die um sie herum lagen. Die Schattierung belebte Impis zart geschnittenes Gesicht auf dem Papier. Die Blässe der Wange, die gegen den Bart abstand, wiederholte sich in den Schatten und der Wand. Die regenüberströmte Außenmauer, die im rechten Winkel zum Fenster entlanglief, die windgepeitschten Bäume, die fetten Regentropfen, die auf dem Fensterbrett explodierten, und die endlos dahintreibenden Wolken, die ihre Schatten in den Raum warfen, zogen sich vor seinem Blick zusammen. Eine Stille hatte Zeit und Raum durchquert, um dieser in Unordnung geratenen Welt eine Ordnung zu bringen.
Liebe Kathy,
endlich, nach zwei Tagen vollständiger Verwirrung, in denen Du mir als das einzig Wahre und Bleibende erschienen warst, fühle ich mich wieder etwas gesammelter. Ich glaube, die Schwierigkeiten begannen, als mir der Führer unseres Trupps – ein netter Kerl, aber eine regelrechte Kassandra – von den deutschen Verteidigungsanlagen erzählte, gegen die wir antreten müssen. Die erste Patrouille, die wir machten, führte uns über unsere eigenen Linien und ins Niemandsland, und wir haben tatsächlich einen leeren deutschen Schützengraben durchquert. Keiner wußte, ob das tatsächlich unsere Aufgabe war. Aber alles hier scheint so sinnlos. Die ganze Patrouille war verrückt. Ich hatte Angst, aber an einem Punkt fühlte ich mich zum Lachen. Es war kalt und regnete, und wir konnten nichts sehen. Ich weiß nicht wie, aber irgendwie sind wir nicht verlorengegangen. Ab und zu erhellte sich der Himmel mit Explosionen wie beim Feuerwerk am Unabhängigkeitstag. Ich fragte mich immer wieder, was ich hier tat. Was in aller Welt machte ich mit meinem geschwärzten Gesicht? Ich benahm mich wie ein Pfadfinderjunge oder so etwas, und der Regen tropfte mir in den Rücken, und der Schlamm zog an meinen Stiefeln und ließ mich alle paar Minuten auf den Knien landen. Und weißt du, was die einzige Antwort war, die mir kam? Ich versuche, mich nicht töten zu lassen. Das muß das Ziel jedes einzelnen Mannes in unserem Trupp sein, in unserem Zug, und in der ganzen Armee. Es ist das Ziel der ganzen Welt. Aber wie sind wir dann in diesen Krieg hineingekommen? Es macht einen nachdenklich. Alle müssen das gleiche denken, aber keiner redet davon. Weißt du, was uns der Typ am Vorposten sagte, als wir in das Niemandsland hinausgingen? “Paßt auf, Jungs, kommt diesen Weg zurück und gebt uns Betty Grable[5] laut und deutlich, wenn ihr am Leben bleiben wollt. Wir sind furchtbar nervös.”
Ich habe Impi gezeichnet. Ich hatte nie zuvor gesehen, was für ein hübsches Gesicht er hat. Es hat gewöhnlich einen amüsierten oder scherzhaft-panischen Ausdruck. Er redet die ganze Zeit wie ein Maschinengewehr und spielt den Clown. Doch hat er sich in diesem Moment gegen die Wand geflezt. Um seine Augen liegen Lachfältchen, doch lassen sie ihn jetzt erscheinen, als würde er weinen.
Der Brief entspann sich in seinem Kopf. “Hey, Kelly, ich bin noch keine Leiche. Ich kann nicht ewig so bleiben.” Plötzlich sprang Impi auf, war mit zwei großen Schritten an seiner Seite und starrte auf die Zeichnung. “Hey, du kannst zeichnen. Du bist großartig. Kein Wunder, daß die auf mich stehen. Ich glaub’, ich werde das am Eingang aufhängen und sie für mich Schlange stehen lassen. Was meinst du, Kell?” Er setzte sich die Wollkappe auf und schob an den Enden den Bart unter. Dann hüllte er sich in eine Decke. Er beugte eine imaginäre Partnerin zurück. “Giovanna sagt, ich wirke wie Rudolf Valentino. Ich bin der Scheich von Arabien[6].” Er tanzte Tango. “Entschuldige, du schöne Kreatur, aber ich muß durch die Wüste reiten. Lawrence von Arabien wartet auf mich. Das heißt, ich bin Lawrence von Arabien.” Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, er zog sich die Decke über die Nase und galloppierte, sie hinter sich her fliegen lassend, bis zur Tür.
“Wirst du gefälligst aufhören!” rief Koch.
John sah, daß er ein christusartiges Gesicht gezeichnet hatte.
“Mann, seit dieser verrückte Italiener da ist, ist das ein Irrenhaus!”
“Hör auf, Imp!” Ein Stiefel, ein leerer Proviantkarton und ein Buch regneten auf Impi herab, der anhielt und drohend einen Arm erhob.
“Hütet euch!” rief er. Dann zog er sich wieder die Decke über die Nase und tanzte in seine Ecke zurück. Von der Decke gedämpft hörte man, wie er einen Schlager pfiff.
Die Tür öffnete sich mit einem Knall, und Metter trat, eine Hand erhoben, in den Raum; zwischen seinem Daumen und Zeigefinger glänzte etwas.
“Kelly und Imperiello! Ich hab’ was für euch.”
“Ein Zwei-Wochen-Paß?” fragte John.
“Post von meinem Frauenfanclub.”
John trat vor, und Metter hielt ihm ein Paar in Silber gefaßte Gewehre auf blauem Untergrund hin.
“Was ist das?”
“Abzeichen für Frontsoldaten. Kriegt man nach fünf Tagen.”
Sie hatten die ersten fünf Tage geschafft. Die gekreuzten Gewehre ließen ihn vor Zufriedenheit strahlen. Kowalski trat heran, stützte sich auf seine Schulter und lächelte breit und zustimmend. Türk hörte zu spielen auf und grinste über das ganze Gesicht.
Alle schauten ihn an. Jetzt hatten Metters Finger die Nadel an seiner Jacke befestigt. Mit diesen Männern würde er leben oder sterben. Er war einer von ihnen.
“Du mußt sie auf der Innenseite tragen”, sagte Metter zu Impi.
“Ich bin geehrt, Sergeant. Aber wenn es dir nichts ausmacht, werde ich jetzt, wo ich das Abzeichen habe, die Patrouillen auslassen.”
“In deinem Fall ist es für fünf Tage Abwesenheit.”
“Hier habt ihr was zum Feiern.”
Walker hatte die Hände erhoben, und von jeder baumelte eine Flasche Wein.
Sie hatten Madame Schelle ihre Rationen gegeben, und aus dem großen Eisentopf, in dem sie mit einem Holzlöffel rührte, kam der Duft von Rinderhackfleisch, das in Wein, Kräutern und Zwiebeln schmorte.
Es war Abend. Die nur mäßig erhellte warme Küche wirkte durch den Dampf verschwommen. Impi, der am großen, schwarzen Kohleofen neben Madame Schelle stand, beugte sich vor, zog den Duft ein und ließ die Augen rollen.
“Mama mia, das ist gut!” rief er den Männern am Tisch zu, nahm eine tief gewölbte Kupferkelle von ihrem Haken und schob sie gewandt unter Madame Schelles vorspringendem Busen in den Topf hinein. Dann zog er sie zurück, halbvoll mit Saft und Stücken von Rindfleisch.
“Ah non, alors, Monsieur Impi, vous allez prendre tout le jus.” [7]
Impi, der sich eilig in Sicherheit begeben hatte, schnupperte an der Kelle und warf ihr eine Kußhand zu.
“Oui, oui”, sagte sie ätzend. Impi verzog das Gesicht zu einer schuldbewußten Miene und hielt ihr die Kelle hin, als wollte er sie zurückgeben. Sie wandte sich ab, um das Lächeln zu verbergen, das sich auf ihrem schönen vollwangigen Gesicht gebildet hatte, und er warf ihr einen Schwarm leidenschaftlicher Küsse zu.
“Großartig, Imp”, rief Wacky und klatschte. Jemand pfiff. Impi schwatzte Madame Schelle noch mehr Wein ab. Blom prüfte das Etikett. Robert zog eine Flasche aus seinem Rucksack, die dort auf eine Gelegenheit gewartet hatte, und Türk brachte eine versiegelte hervor. Es war Kognak. Sie setzten sich um den Tisch, kauten Cheddarkäse und rauchten. Koch summte leise. Es war ein ständiges Brummen, unerkenntlich und fast ohne Melodie.
Zwiebeln und Knoblauch hingen in langen Ketten von den Holzbalken. Kupferpfannen und -töpfe hafteten an der Wand, Kessel glitzerten in den Ecken, und ihr Polierglanz flößte den erschöpften Gesichtern der Männer Leben ein. Der Abend hüllte ihn ein, und er spürte die kleinen silbernen Gewehre auf seinem Herzen. Er hatte die Patrouille durchgestanden. Er war unter guten Menschen. Er würde ebenfalls ein tapferer Soldat sein. Er würde einen guten Krieg kämpfen. Die Küchentür schwang auf, und Wacky trat einem noch größeren Mann entgegen, der auf der Türschwelle stand. John wußte sofort, daß es der Tapfere Leutnant war. Kampfzerzaust und triumphierend stand er da, die eine Hand auf der Hüfte und die andere auf der Türleiste. Er grinste, während die Männer eine Schlange bildeten, um ihm zu gratulieren und seine Ordensbänder zu inspizieren. Das war ein Held.
“Hey, Leu! Außerordentliche Dienstleistung! Großartig!” In Wackys Stimme lag eine Ehrerbietung, die den Dekorierten als etwas Besonderes erscheinen ließ. Plötzlich verdunkelten sich die Augen des Leutnants. Dann war es weg. Er schüttelte die Hände der Männer eine nach der anderen.
“Ich kann Drummond und Metter nicht finden. Kowalski, würdest du sie bitte rufen?” Sein Blick fiel auf John.
“Du bist neu.”
“Jawohl, Sir. Ich heiße John Kelly.” Er salutierte zackig. “Gratuliere, Herr Leutnant.” Sie schüttelten sich die Hände, und John fühlte, wie eine Dunkelheit aufwallte, endlos und gewaltig, und ohne jede Hoffnung auf Rettung. Sie kam aus der Hand des Leutnants.
Impi trat heran, um den ausgestreckten Arm zu schütteln.
“Ich heiße Imperiello.”
Als sie den Bauernhof verließen, um auf dem Hügel Kampfstellungen zu beziehen, regnete es. Es regnete auf der Straße, und der Donner war nicht mehr fern. Schwärme von glänzenden Regenmänteln erkämpften sich ihren Weg über das Land.
Liebste Kathy,
jetzt endlich ... werde ich herausfinden, worum es geht. Ich hoffe, daß ich es schaffe.
Sie drangen in den Wald ein, der dicht mit schwarzen, tropfenden Nadelbäumen bestanden war. Mit den Füßen konnten sie die Explosionen spüren. Der Klang des Krieges ... Es war der Klang des Krieges, und dennoch bewahrten die Wälder ihr regendurchtränktes Schweigen. Für John hatte das alles etwas seltsam Aufregendes; es verwandelte die Furcht in ihr Gegenteil, in ein gefaßtes Annehmen seines Schicksals.
Nach einer Weile erreichten sie zerbombtes Gebiet. Sie gingen um Krater herum und suchten sich ihren Weg durch tote und sterbende Bäume hindurch, die durch die üppig grünenden um sie herum noch trostloser wirkten.
“Wie oft muß ich euch noch sagen, daß ihr keine Haufen bilden sollt?” Die Unteroffiziere rannten vor und zurück, schoben und stießen. Das Gelände stieg an. Ein dünnes Kreischen erklang und ließ seinen Geist stillstehen. Das ist es. Aber es war es nicht.
Der Schlamm ließ sie schlittern und mit ihren schweren Rucksäcken zwischen den knorrigen Wurzeln hinfallen. Stets ging es hinauf, rutschend und an den Zweigen ziehend. Drummond war neben ihm.
“Achte nur auf den Mann vor dir. Es wird jetzt steil. Bleibt ausgebreitet. Sie beschießen den Kamm. Etwas von ihrem Zeug wird hier landen.” Und dann war er wieder voran und halb im Nebel verschwunden.
Ein seltsames Flattern und Flüstern ... und immer wieder eine Stimme, die in das flatternde und knisternde Geflüster hineinschrie: ... Runter, runter! Er lag ausgespreizt im Schlamm, die Wange an den nassen und glatten Regenmantel gedrückt. Der Matsch sprang unter ihm weg und nahm ihn erneut in seine plötzliche Härte auf, während sein Kopf und Herz explodierten. Die Luft war fortgepumpt worden. Er konnte nicht atmen. Sein Kopf sprang panisch nach oben, und er kämpfte um Sauerstoff. Zwei Meter vor ihm verwandelte sich ein Gesichtsfleck um einen keuchenden Mund in Kowalski. Sie schauten einander an. Schwer atmend schüttelte Kowalski den Kopf.
Sie erreichten ihre Stellung in der frühen Abenddämmerung und gruben sich in die matschige Erde ein, gruben und gruben.
“Hey, schau dir das mal an.” Auf dem Bauch liegend, wies Kowalski über den Grat des Hügels, der ein bis zwei Meter vor ihrem Loch entlanglief. Neben ihm ausgestreckt, blickte John in einen goldenen Nebel hinein, den orangefarbene Wirbel und Ausbrüche punktierten. Es hatte zu regnen aufgehört.
“Hey, das ist schön”, sagte John. “Wo sind wir? Alles, was ich sehen kann, sind Wälder.”
“Das ist unser Zeugs, was da drüben landet. Da sind die Krauts.” Kowalski zeigte in die Richtung.
“Wo ist die Stadt?”
“Kreuzbach? Da drüben zur Rechten, wo der ganze Rauch ist.”
“Morgen werden wir sie sehen.”
Neben ihm im Loch war Kowalski eingeschlummert, und sein Atem schnurrte sanft in der Kehle. Über John senkte sich die schwärzeste und kälteste Nacht, die er je erlebt hatte. Er versuchte, sich ihr entgegenzustemmen. Nur die Stimmen, die schwach aus den anderen Löchern kamen, drängten sie zurück. Man wartete, als wenn eine Tür sich öffnen würde, um eine noch schwärzere Nacht hereinzulassen.
Eine furchtbare Explosion erfaßte John und warf ihn auf die Seite. Er lag da und schnappte nach Luft, und das Herz schlug ihm gegen den Hals. Der Boden sprang nach oben, kippte ab, und sprang erneut, während er versuchte, sich an der Wand festzuhalten.
Abgesehen vom Spiel der Explosionsblitze war die Dunkelheit zurückgekehrt. Plötzlich wurde es still, und es war kalt und feucht.
“Sie haben schon wieder angefangen!” rief Kowalski wütend. “Wir werden kein scheißbißchen Schlaf kriegen.”
Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade; der Herr ist mit dir. O Herr, ich weiß, ich bin ein armer Sünder, aber bitte, bitte ...
Die Welt erbebte, dann explodierte sie. Gegenstände hagelten herab. Ein Regen von Zweigen, kleinen Eisstückchen und Erde ließ Johns Körper erschauern.
Langsam verklang der Lärm. Aber dann erhob sich ein anderes und furchtbareres Geräusch: “Mama, Mama!” Das schwache kindliche Jammern ließ John zu Eis erstarren. Noch mehr Stimmen: “Sanitäter! Mama! Mami!”
“Ah! Ah!”
“Mama! Mama!”
“Warum unternehmen sie nichts?” Seine Knöchel preßten sich gegen den Mund. “Warum unternehmen sie nichts?”
“Die Sanitäter gehen herum”, sagte Kowalski. “Sie kriegen ihr Morphium.” Die Hilferufe verstummten einer nach dem anderen.
“Wie geht’s?” Es war Drummonds Stimme.
“Prima, Sarge. Wir sind O.K.”, sagte Kowalski.
Was für eine Frage! Würden sie wirklich weiter so tun, als wäre alles in Ordnung? Wie konnten sie Worte und Sätze verwenden, die man am Telefon benutzt, oder wenn man Freunde bei einer Hochzeitsfeier trifft? Wie kam es, daß keiner von den Stimmen der Verwundeten sprach, die schwach und ohnmächtig riefen, als hätte ein drei Wochen altes Baby gelernt, sein Entsetzen auszudrücken?
Granatsalven zischten vorbei und explodierten auf dem Hang.
“Wie ist die Lage, Sarge?” fragte er und trug zu der Illusion bei. Er hörte seine Stimme. Es half.
“Wir greifen noch immer im Morgengrauen an.” Phosphorglanz erhellte die Nacht. Eine grüne Leuchtkugel. Drummond blickte in die Ferne. Kowalskis blasses Gesicht starrte ausdruckslos. John stellte fest, daß er zitterte. Er hatte sich daran erinnert, von Zeit zu Zeit die Zehen in den Thermostiefeln zu bewegen, aber jetzt rührten sie sich nicht. Er hob die Füße aus dem Eis, doch gab es nichts, worauf er sie stellen konnte, und sie fielen zurück. Das Blut gefror einem zu Eis und tat weh wie ein Messer, während erwachsene Männer nach ihrer Mami schrien. Keiner sprach davon bei der Grundausbildung. Keiner warnte einen.
Die Luft atmete unheilvoll, seufzte und zischte. Eine riesige Welle fing ihn und warf ihn auf den Rücken. Er lag da und schnappte nach Luft, und eine Leuchtkugel schwebte herab. Seine Ohren pfiffen und würden nie wieder frei sein. Ein Ausbruch von tödlichen Funken zerriß die Nacht. Unidentifizierbare Geräusche durchbrachen das Pfeifen in seinen Ohren, das Grunzen und Quietschen von zur Panik getriebenen Schweinen. Das Grunzen verwandelte sich in ein verrücktes Lachen, und dann in eine Art geistesschwaches Geplapper. Er wandte sich um und schaute Kowalski an.
“Hör auf!” rief jemand.
“Was ist das, Koki?” Die Schreie kamen näher. Metter und ein anderer führten jemand zwischen sich. Der Kopf des Soldaten in der Mitte hatte den Helm verloren und saß steif und angewinkelt auf dem Hals, während der Körper zerrte und zuckte. Das Trio näherte sich ihnen schwankend und taumelnd. John und Koki bückten sich. Ihre Hände fuhren empor, um die Köpfe zu verdecken. Der brabbelnde Soldat in der Mitte war der Tapfere Leutnant.
Als sie in Texas waren, hatten sie eine endlose Zeit darauf verwandt, Erdhaufen von einem Ort zum anderen zu transportieren, Löcher zu graben und in sie hineinzukriechen, und dann wieder herauszukriechen, um neue zu graben. Stets waren sie in Bewegung gewesen, und nun, nach einem nichtendenwollenden, brutalen Morgen, trotteten sie zurück, und ihre Kolonne ließ Wolken von braunem Staub aufwirbeln, der sich in ihren Ohren, Augen und Nasenlöchern und auf der wunden Haut ihrer Wangen festsetzte. Vom texanischen Himmel brannte die weiße Sonne auf sie herunter. Er dachte gerade an Sergeant Müller, als der Himmel sanfter wurde und auf ihn herablächelte. In ihm standen seine Himmlischen Eltern. Sie waren die Mutter und der Vater seiner Kindheit und seiner Seele.
Stets waren Sie zu ihm in den Kinderwagen gekommen, und wenn er alleine spielte, sprachen Sie zu ihm. Es gab nichts, das Sie nicht wußten, doch sagte er es Ihnen trotzdem. Dann sagte ihm sein Bruder, daß mit Leuten, die mit Abwesenden sprachen, etwas nicht stimmte. Er mußte Ihnen sagen, daß er seinen Platz im Team nicht riskieren konnte. Sie mußten sich vom Baseball fernhalten. Sie durften ihn auch nicht bei den Treffen seiner Mannschaft stören. Schließlich mußten Sie von allen ernsthaften Unternehmungen verbannt werden. Nur nachts, wenn er zu Bett gegangen war, konnte er Sie hereinlassen. Dann kam ein Tag, wo er Sie nicht mehr rufen konnte. Erst in Texas, nach Gott weiß wie vielen Jahren des ernsthaften Lebens, waren Sie wieder zu ihm gekommen. Irgend etwas in seiner Not erinnerte sich daran, wie er Sie zu rufen hatte. Sie waren sich jedes schmerzenden Schrittes bewußt, den er tat. Sie waren nie fortgewesen. Seine Müdigkeit war verschwunden. Sein Körper plagte sich hier unten in der brennenden Sonne, aber er war bei Ihnen, schwerelos und vollkommen zufrieden. Ihre Welt badete ihn in Lieblichkeit. Die Sonne war kühl. Jetzt ging er gerade; seine Arme schwangen, und sein Herz war voll von verborgenem Morgentau. Die Reihen von Helmen, die auf und ab tanzten und im Licht glänzten, summten in metallischer Harmonie.
“Komm schon, Kelly.” Kowalskis Stimme hatte einen unendlich verlorenen Ausdruck. Es war jetzt ruhiger; weit auf der linken Seite erhellten Granateinschläge den mit einem düsteren Glanz über dem Grat des Hügels tagenden Himmel. In ein paar Metern Entfernung hockten die Offiziere und Sergeant Drummond in einem kleinen Kreis und blickten auf etwas hinab, das sich in ihrer Mitte befand. Priester, die sich über den Boden neigten und irgendeine Erdgottheit, einen Gott des Krieges anriefen. Vom Himmel kam verhaltener Donner; Regenwolken bauten sich zu einer Wand auf.
“Was machen sie?”
“Sie vergleichen Karten.” Es war kein Leutnant unter ihnen.
“Ist einer von ihnen so gut wie Lui?”
“Drummond ist ein guter Soldat. Er ist in Ordnung. Er wird jetzt amtierender Leutnant sein.”
John blickte auf Drummonds massive Schultern. Er war beinahe untersetzt. Jetzt blickte der Hauptmann Drummond an. John wollte, daß Drummond aufpaßt, daß er versteht. Der Wind trug Wortfetzen zu ihnen herüber.
“... die Stadt um jeden Preis ...”
“Immer um jeden Preis”, murmelte Kowalski.
“Ein Kloster ... am Rand der Wälder ... ein Park ... wahrscheinlich unter Beschuß ... in mehreren Reihen ... hinüber ... Erster Zug ...”
“Wir gehen zuerst.”
“Dritter Zug ... zur Unterstützung ... die Waffen bleiben direkt vor uns. Division ... Artillerieunterstützung ... durch den Park ...” Ein Zischen und ein zögerndes Flattern. “Runter, runter!” .“ Ein Zischen und ein zögerndes Flattern. „Runter, runter!“ kreischte eine Stimme. Eine Explosion. Schwarzer Rauch quoll auf, und Korditgeruch verbrannte ihnen die Nasen.
“Schweinehund!” rief Kowalski. “Das war eine von unseren. Schweinehund! Die muß defekt gewesen sein.”
“Die Artilleristen müssen defekt sein.” John blickte auf. “Wie ich sagte, kriegen wir Artillerieunterstützung.” Der Hauptmann gebot dem Lachen mit der Hand Einhalt. Wenn sie lachen konnten, würden sie vielleicht auch überleben und davon erzählen können. Der Hauptmann hatte geendet. Sein Herz fiel wieder in den Kreislauf der Furcht zurück, und sein Mund wurde trocken. Der schwarze, klebrige Rauch verdünnte sich. Die Männer schauten auf die Uhren.
“Der Hauptmann ist in Ordnung”, sagte Kowalski. Gut. Kowalskis Gesicht glich einer Maske, nur die Augen bewegten sich. Sie hielten an und hefteten sich auf John. Sie schauten sich an und lächelten schwach.
“Warum können wir nicht schon losgehen?”
Die Offiziere begaben sich zu ihren Männern. Drummond öffnete den Mund und sagte etwas.
Der Meldegänger, ein drahtiger Junge, erhob sich vom Boden und trottete zu ihm hin. Er hörte zu, nickte, rannte zu einem Schlupfloch, schaute hinein, bewegte die Lippen und rannte weiter. Aus den Löchern, in die Clayton sein Wort sprach, erhoben sich Männer. Jetzt beugte er sich über Impis. John wartete. Metter sammelte den Trupp zusammen.
“Los. Wir werden besser ...” Kowalski legte sich umständlich den Rucksack an und stand mit zitternden Armen da. “Angreifen ist ein Scheißdreck!” Er schloß die Augen.
“Hier kommt Metter.” Er versuchte, etwas zu sagen, doch konnte er nur stocken und schlucken. Er wirkte wie ein Kranker. John konnte sehen, wie sich hinter Metter allmählich ein Helm aus dem Loch erhob. Langsam wurde der Rand sichtbar. Impis Kopf vollführte eine rasche krähenartige Umschau und verzog sich wieder. Dann kam er ganz herauf. Das Gesicht war starr, und die Schultern steif. John folgte Kowalski mit schweren Gummibeinen aus ihrem eigenen Loch. Impi, der hinter Metter stand, kratzte sich an der Achsel. Er wandte sich John zu, zeigte mit dem Gewehr auf den Fuß und verzog die Augenbrauen. John zuckte mit der Schulter und versuchte, Metter zuzuhören.
“... egal was ihr macht, verteilt euch. Wer Haufen bildet, wird Feuer auf sich ziehen.” Das weiß ich alles, dachte John. Hatte Metter nicht irgend etwas Besonderes zu sagen, das er sich für diesen schmerzvollen Augenblick aufbewahrt hatte? Er verpaßte ein paar Worte. ‚Hör zu’, sagte er sich. ‚Für dieses eine Mal paß auf.’ Doch wanderte sein Geist immer wieder zu Kathy und der Parkbank zurück.
“Wie ihr wißt, ist Sergeant Drummond jetzt amtierender Leutnant. Wenn er die Pfeife bläst, ziehen wir los. Achtet auf seinen Arm. Schaut nach Handzeichen aus. Wir kriegen Artillerieunterstützung.” Seine Stimme war fest und metallisch. “Wenn wir uns der Stadt nähern, wird das Schutzfeuer aufhören. Und nun zum letzten Mal: Wenn ihr am Leben bleiben wollt, bleibt ausgebreitet! Und noch eins ... RUNTER!”
Der Boden sprang John entgegen. Die Granate kreischte vorbei und landete in einiger Entfernung. Schwarzer Rauch quoll empor. Metter schaute kniend darauf. Auch John blickte in die Richtung. “Runter!” Es war seine eigene Stimme.
Drummond erschien neben Metter. “Das ist unser Feuer”, rief er. “Es wird uns bis nach Kreuzbach Deckung geben.”
Unablässig explodierten Salven auf dem Hang. Eine schwere Dunstglocke breitete sich über den Hügel aus.
“Mama mia! Da sollen wir durchgehen?” Impi starrte mit weiten Augen den Hang hinunter.
“Sie decken uns”, erklärte Wacky. Impi schob den Helm mit dem Gewehr zurück und kratzte sich am Kopf.
“Danke. Ich gehe nackt ...”
“In Ordnung, solange du den Helm aufbehältst”, fiel ihm Metter ins Wort.
Das Brüllen einer Explosion schnitt seine nächsten Worte ab. Die Männer warteten stumm leidend, und Dreck lag auf ihren Jacken und Gesichtern. Wie geistlose Tiere, dachte sich John. Die Augen blickten aus ängstlichen, schmutzigen Wangen hervor. Wenn Drummond oder Metter den Arm hob, würden sie ... Plötzlich fand er sich auf dem Boden sitzend und nach Luft schnappend. Er blickte um sich, sah seinen Trupp gegen den Rauch gezeichnet und stand auf. Drummond starrte den Hang hinunter.
“Es ist zu nah! Sie werden uns in Stücke zerreißen, bevor wir auch nur gestartet sind.” Er schaute auf die Uhr, schüttelte den Kopf, gab Metter ein Zeichen, daß er dableiben solle, und rannte los. John schaute zu, mit dem unangenehmen Gefühl, daß sie darauf warteten, abgeschlachtet zu werden.
Drummond war zurück und schwang den Arm.
“Vorwärts! Vorwärts!”
“Aber schau dir das an!” Metter starrte den Hang hinunter.
“Es hört auf! Der Hauptmann hat die Artillerie angerufen.” Ein markerschütterndes Pfeifen. “Los!” Eine Explosion. Die Männer begannen, über den Kamm des Hügels in den Rauch einzudringen; die Bajonette auf den Gewehren durchstießen ihn und verschwanden. John folgte. Eine Stimme rief etwas. Eine Pfeife schrillte und schrillte. Es war ein anderes und mehr durchbohrendes Pfeifen als das der Granaten.
“Du verdammter Arsch, kannst du mich nicht hören?” Es war Metter, der ihm einen Ellenbogenstoß gab und ihn nach links schob. Also das hatte er gehört. Metter rief heiser: “Breitet euch aus. Breitet euch AUS! Zu nah beisammen!” Zur Rechten fiel ein Mann. Sein Gewehr lag im Schlamm. John ging hinüber, um ihm zu helfen. Auf seinem Rücken breitete sich ein dunkler Fleck aus.
“Weiter! Die Sanitäter sind hinter uns. Weiter!”
“Runter, runter!” John fiel in einen kleinen Krater. Auf der anderen Seite klebte Robert am Boden, und sein hellbrauner Haarschopf verhing ihm die Augen. Eine riesige Schlange schlug mit dem Schwanz auf den Wald. Peitschenartige Schockwellen fuhren über sie hinweg. Bums! Ein fettes, zufriedenes Bums. Die Schlange ließ den Schwanz knallen. Bums! Bösartige Wellen schlugen ihm gegen das Trommelfell.
“Was ist das?” rief John über den Suppenteller.
“Achtundachziger. Die Hunde nageln uns fest.” Festnageln. Ein Standardausdruck. Aus der Grundausbildung. Er hatte nichts mit der Furcht des Körpers zu tun, die einem das Eis unter den Füßen schmelzen läßt, oder mit jenen Eis- und Erdbrocken, die nun auf ihn herabregneten. Zur Rechten rief jemand: “Mama, Mama!” Eine blasse, klagende Stimme, die bald erstarb. Finger, kalt wie das Leben, das gegangen war, ergriffen ihn. Er kämpfte mit der Angst, doch hatte sie ihm die Kraft genommen. Drummond hockte und schrie sie an, wobei er den Kopf in alle Richtungen drehte.
“Zum Wald! Der einzige Weg.”
Die Pfeife kreischte. Und auf der rechten Seite eine andere. “Rennt!” John rannte. Zehn Meter vor ihm wirbelte Appleby zu ihm herum, öffnete den Mund und blies eine hellrote Blase. Dann fiel er auf den Rücken. John hüpfte über ihn hinweg und verweilte einen langen Augenblick über dem klaffenden Loch in der Brust und dem Riß in der Hose. Er umrundete einen großen Granattrichter, sprang über Wurzeln und über einen toten Soldaten, fand, daß er nicht länger atmen konnte, verlängerte nichtsdestoweniger seine Schritte und tauchte in den Schatten der Bäume ein.
Keuchend fiel er auf Tannennadeln nieder, fand seinen Atem, zwang sich auf die Füße und begann, mit Beinen weiterzumarschieren, die wie die eines eintägigen Kalbes wackelten. Plötzlich hielt er an. Hier, durch einen in den Wald gesprengten Korridor, sah er große Rundbögen in den Ruinen der Schönheit. Durch die Schatten der umgebenden immergrünen Bäume fielen die langen Strahlen des frühen Morgens auf das Kloster. Der Geruch von feuchtem Untergrund fand den Weg in seine Nase. Die Natur würde bestehen, lange nachdem sie sich alle gegenseitig umgebracht hatten. Durch das Zischen und Pfeifen seiner Ohren hindurch hörte er klare Stimmen, die einen gregorianischen Choral sangen. Er betrachtete die Überbleibsel menschlichen Strebens und ihre zarte architektonische Ausgeglichenheit. Ein reiner und unverletzlicher Glanz schimmerte durch die rauchende Luft. Der Hauptmann hatte “Kloster” gesagt. Eine dicke schwarze Wolke quoll am rechten Ende des Bauwerks auf. Er schaute in die Richtung. Die Stimmen erstarben. Das große Gemäuer wankte und verblaßte, während der Rauch sich um es ausbreitete. Als er sich hob, sah John, daß weniger von den Bögen standen. Wenn diese auch fallen würden, würde die Welt ihren Krieg verlieren. Der Schrecken seiner eigenen Auslöschung verband sich mit etwas Größerem; er lag im Schoß eines namenlosen Entsetzens.
Von den Pfeifen vorangetrieben, fing er an zu laufen. Das Kloster fuhr fort, sich in Wolken aufzulösen. Von allen Seiten preßten ihn die Einschläge. Sein Geist war ein riesiger Gong. Die glühenden und brennenden Köpfe von Hämmern flogen ihm vor den Augen. Eine Wurzel hatte ihn gepackt. Nur Zentimeter über seinem Gesicht fuhren große Stiefel vorbei und blendeten ihn mit Tannennadeln und Schmutz. Trauer überfiel ihn. Keiner hatte gehalten, um zu sehen, ob er tot war. Keiner würde es tun. Er war wieder auf den Füßen und rannte geduckt vorwärts. Das Kloster. Jetzt waren sie am zerstörten Flügel vorbei. Jemand stand schweigend da, unnatürlich schweigend in einem der Bögen. Eine von den laufenden Männern, explodierenden Granaten und zerbröckelnden Steinen getrennte Welt; eine menschliche Gestalt, eingerahmt in einen Rundbogen. Ein kleiner Mönch, das Gesicht gen Himmel gewandt, die Hände nach Art der Mandarine in die Ärmel seines Gewandes gesteckt. Er mußte beten. Wozu? Ringsherum zerfielen Wahrheit und Ordnung. ‘Ave Maria, Vaterunser!’ “Sinnlos!” rief er still. “Selbst die Tapferen Leutnants drehen durch.” Jetzt war er näher herangekommen und sah den alten Priester mit dem gelben Missionarskleid, lächelnd wie ein Buddha.
Der Priester wandte ihm das Gesicht zu und schaute ihn an und durch ihn durch.
‚Solange ich hier stehe’, sagten die Augen, ‚und im Namen unseres Heilands halte ich die Welt zusammen.’
Er lag wieder auf dem Boden.
“Vorwärts!” rief eine Stimme. Wieder die Pfeife. Sein eingedrillter Köper versuchte aufzustehen. Ein Paar Stiefel rannte an ihm vorbei. Er kämpfte sich auf die Knie und balancierte das Gewehr. Sein rechter Arm erhob sich zum Gruß. Die Finger des Mönches zeichneten zum Segen ein Kreuz. Hinter der Gestalt stieg Rauch aus den Trümmern. Wie viele Granaten würde diese zerbrechliche Welt überleben? Er erhob sich auf die Beine. Die Hand des Priesters blieb in der Luft stehen. Er verneigte sich davor und wankte davon.
Etwas warf ihn auf den Boden. Winzige Lichtpünktchen vollführten einen Wahnsinnstanz. Etwas krabbelte sein Gesicht hinunter. Während er auf der Wache gedöst hatte, war eine Küchenschabe aus der Kombüse geklettert; jetzt lief sie ihm über die Wange. Der Kapitän des Schleppers hatte gesagt, daß er ihn über Bord werfen würde, wenn er noch einmal auf der Wache einschlief. Er gab seinem Kopf einen leichten Schlag. Aus der Dunkelheit kamen Stimmen. Jemand rief ihm ins rechte Ohr. “Festgenagelt!” Er wandte sich um. Die Lichtpünktchen hörten auf, sich zu bewegen. Er blickte in einen dunklen Tunnel, den kleine weiße Meilensteine säumten. Kokis Zähne!
“Die Hunde haben uns festgenagelt.” Kokis Gesicht hing ohne Hals in der Luft. “Beweg dich nicht.” Der Rauch trieb weg und enthüllte Hals und Körper.
John nickte benommen.
“Bist du in Ordnung?” Koki zeigte auf sein Gesicht. “Was ist das?”
“Küchenschabe”, flüsterte er. Koki starrte ihn an; dann wandte er sich um und bewegte sich schlangenhaft davon. Wie war er in dieses Loch gekommen? Auf der anderen Seite kniete ein bärtiger Soldat und murmelte hebräische Gebete, wobei er vor und zurück schaukelte. John schaute sich um. Etwas fuhr an seinem Ohr vorbei. “Dummer Hund!” rief der Soldat. “Runter mit dem Kopf! Die haben den ganzen Park auf der Kimme.” Dann neigte er sich noch tiefer und drückte betend die Fäuste an die Brust.
Zur Rechten stand eine Bank, und daneben prangten rote Blumen. Sie mußten sich im Stadtpark außerhalb von Kreuzbach befinden. Ein grauweißer Kupid mit einem erhobenen Fuß, der Grübchen hatte, tanzte auf dem Rand eines halben Brunnenbeckens. Hinter ihm trieben die Wolken über den grauen Himmel. Ein zerschossener Baum lehnte sich über einen Zierteich. John hob den Kopf.
Wo war Impi? Konnte er durch das seinen Weg hindurchgespaßt haben? Warum war Koki verschwunden? Wie war er hierhergekommen? Er berührte das Kinn, die Nase und die Augenlider, als könnten ihm diese Landmarken des Gesichts helfen, die Orientierung zu finden. Die Uhr sagte ihm, daß seit dem Angriff zwei Stunden vergangen waren. Seine Finger erreichten den Augenwinkel ... und bewegten die steifgewordene Haut. Blut, und keine Küchenschabe. An den Fingerspitzen haftete getrocknetes Blut zusammen mit Spuren von frischem Rot, die Farbe von ein paar Büscheln Geranien, die trotzig auf ihren Stengeln standen. Man hatte ihn gestreift.
“Los, wir gehen hinein!” Metters Gesicht stand gegen den bewegten Himmel ab.
Trappelnd lief er ihm über Kopfsteinpflaster nach, auf das erste graue Haus zu. Das furchtbare Mörser- und Maschinengewehrfeuer fing wieder an. Die Kugeln von Heckenschützen pfiffen an ihnen vorbei. Sie hörten das Zumm-Zumm-Zumm, wie Mörsergranaten in ihr Rohr fielen. Er warf sich gegen die nächste Tür und fand sich in einem Werkzeugschuppen wieder, wo Impi saß und versuchte, einen Bolzen freizukriegen.
“Impi!” Impi blickte ihn unheilvoll an und schien ihn nicht zu erkennen.
“Dieser verdammte Bolzen ...” Er schüttelte wütend die Waffe.
“Was ist los?”
“Irgendein Scheiß...”
“Laß mal sehen.” Impi warf ihm das Gewehr zu. Es war mit trockenem Matsch überkrustet. Wie er sich mit dem Problem beschäftigte, beruhigte sich Johns Geist, und seine Hände wurden sicher. Er kratzte den Bolzen frei. Vor der Tür explodierten Mörsergranaten. Er ließ den Riegel hin- und hergleiten, schaltete den Sicherungshebel und gab die Waffe Impi zurück.
“Bist du verwundet, Kell?”
“Ich bin O.K.” Sie hockten sich hin, unter der Höhe des Fensterbretts.
“Komm, Kell, laß uns den Rest des Kriegs hier verbringen. Ein französisches Mädchen wird uns finden und uns Essen bringen ... und so weiter, et cetera.” Impi zündete sich eine Zigarette an, und Metter stand vor ihnen wie ein Geist, den das Streichholz gerufen hatte.
“Setzt eure Ärsche in Bewegung!” schrie er und war fort. Sie folgten ihm; neben ihnen zermaserten Kugeln die Mauer.
“Von da drüben”, rief Robert. Sie warfen sich auf den Boden und schossen auf die Fenster eines entzückenden, geranienverzierten Puppenhäuschens. Robert rannte hinüber, drückte sich gegen die Wand und zog den Abzieher aus einer Handgranate. Seine Lippen zählten, und er warf. Sie machte einen sanften Bogen, stand über dem Fensterbrett und fiel durch das Glas. Das Haus rumpelte, schüttelte sich und stand wieder still.
Die Tür zwischen den Fensterkästen schwang auf.
“Kamerad.” Ein Deutscher in zerschlissenem Mantel trat über die Schwelle, die Hände hinter dem Hals verschränkt. Aus seinen Zähnen hing ein dreckiges Taschentuch. Die Augen und der Mund versuchten zu lächeln. Metter wandte sich John zu. “Geh mit Robert hinein. Es könnten noch mehr drin sein.” Vorsichtig nach Sprengfallen tastend, führte er Robert durch ein verlassenes Haus, in dem unheimlich die Dielen knarrten und die Vorhänge flatterten. Dann trat er blinzelnd in das Tageslicht und fand Metter, der mit verzerrtem Gesicht über dem zitternden Gefangenen lehnte und ihn schüttelte.
“Sag’s ihm auf Kraut, Koch! Sag ihm, daß ich seine Eier holen werde, wenn er nicht redet. Wir wissen, daß die hier ein SS-Regiment haben. Sage ihm ...” Koch, dessen Gesicht nur Zentimeter von dem des Deutschen entfernt war, sprach rasch etwas. Der Gefangene wimmerte ein paar Worte. Drummond trat aus dem nächsten Haus.
“Er sagt, die Genfer Konvention ...”
“Zum Teufel mit der Genfer Konvention! Schau nach, ob er tätowiert ist!” Sie zogen dem Mann den Mantel, den Pullover und das Hemd aus.
Auf der weichen, weißen Haut standen Blitzzacken wie Peitschenstriemen.
“Schutzstaffel. – Schweinehund!” Metters Hand gab dem zarten rosa Gesicht des Deutschen einen derben Schlag. “Helmut Stein 766712.” Wieder schlug er ihn. Der Kopf machte einen Sprung. Er weinte jetzt.
“In Ordnung, Koch”, sagte Drummond. “Bring ihn zum Verhör ins Bataillonshauptquartier. Sie haben sich im ersten Haus eingerichtet, das wir auf dem Weg herein passiert haben. Helmut wird reden.” Koch hielt die Kleider des Deutschen auf seinem Gewehrlauf hin. John las die Entschuldigung in seinem Blick. Etwas geschah zwischen ihnen. Metter sagte etwas zu Drummond, um sich zu verteidigen: “Die Hunde denken, sie sind die einzigen, die hart sein können.” Koch stieß den kleinen Deutschen mit dem Gewehr an, damit er losmarschiert.
“Hey, Kelly!” rief Blom von einem Fenster im ersten Stock. “Komm und helf mir hier oben. Auf der anderen Straßenseite sind ein paar Leute in der Klemme.” John stapfte die wackelige Treppe hinauf. Vielleicht wäre es im Zimmer wärmer gewesen, doch hatte die Mauer ein großes V-förmiges Loch. Zwischen zwei zerbrochenen Fenstern hatte jemand einen Tisch gegen die Wand geschoben. Auf diesem stand Blom und schoß vorsichtig durch das rechte von den beiden. John schlich zu dem anderen hin und blickte hinaus. In dreißig Metern Entfernung hockte, von Kugeln umpfiffen, ein anderer Trupp der Kompanie Easy. Die Bruchstücke einer zerstörten Mauer waren ihr einziger Schutz. John wies auf ein seltsam intaktes Gebäude, das im Trümmerfeld stand.
“Sind da die Schweine drin?” Blom zuckte mit der Schulter und schoß erst in eines der Fenster, und dann in ein anderes.
“Vielleicht sind sie es im Raum, aber in der Zeit werden sie leerer Raum werden.” John schoß von seiner Seite aus im Uhrzeigersinn in die Fenster. “Das heißt im Klartext, daß sie hinüber sein werden, mein Junge.” Blom schoß gegen den Uhrzeigersinn. Das Feuer verlangsamte sich, ohne aufzuhören.
Der Leutnant, der hinter der Wand hockte, hob den Kopf. Eine Kugel prallte von seinem Helm ab. “Hey, ihr da!” rief er. “Holt ein Panzerfaustteam, um diesen Schurken einzuheizen. Ich hab’ zwei Verwundete hier unten.”
“Ich gehe.” John rannte die schwankenden Stufen hinunter. Am Eingang hielt er an. Wenn er ihn verließ, was sollte dann eine Kugel davon abhalten, ihn zu finden? “Bring deinen Arsch von diesem Eingang weg!” sagte er sich. “Wenn du hier nicht bald loskommst, bist du ein verdammter Feigling.” Ein anderer Teil sagte mit vernünftiger Stimme: “Vielleicht bin ich das.” Türk schaute ihm von seiner Tür aus zu. Er rannte los, dicht an den Wänden entlang.
“Kell! Ich geb’ dir Feuerschutz.” Ein zerbrochenes Fenster rahmte Impis unbehelmten Kopf ein. John stürzte durch die Seitentür ins Haus.
“Wo ist Drummond?” keuchte er. “Und setz dir den Helm auf.”
“Weiß nicht. Vielleicht oben.” Impi feuerte wieder. “Diese Typen da drüben versuchen, mich umzubringen. Macht mich nervös.”
“Ich muß Drummond finden.”
“Kell, wünschst du dir nicht, wir wären in Greenpoint?” Wie seltsam. Seltsam, daß Impi immer noch an Orte denken konnte.
“Drummond muß oben sein. Wacky ist da mit ‘nem Haufen Fusel und benimmt sich wie ein Cowboy. Er ist ...” John war aus der Tür hinaus. Zwei und drei Stufen auf einmal nehmend, erreichte er das erste Geschoß.
“Und wo glaubst du, daß du hingehst?” rief ihm Drummond vom anderen Ende des Flures zu.
John rannte zu ihm hin und rief: “Sarge – nächste Straße – ein Trupp in der Klemme. Ihr Leu will ein Panzerfaustteam.”
“In Ordnung. Jetzt geh auf deinen Posten zurück. Und – Kelly. Du bist jetzt amtierender Unteroffizier. Sie haben Kowalskis Kopf erwischt.”
John wandte sich um und eilte den Flur entlang. In einem schweren Goldrahmen hing das Bild eines vor Arroganz steifen Soldaten an der Wand, das Gesicht im Profil. Hatten Soldaten wirklich je solche schmalen Finger gehabt, die auf der Hüfte ruhten, den Umhang nachlässig nach hinten geworfen, um eine Schulter mit Epauletten zu enthüllen? Hatten solche Männer je Krieg geführt? Er stand da und betrachtete die rötlichen Koteletten, den Lederglanz an der Wade und das Schimmern von Schwert und Sporen.
Die Tür des ersten Zimmers an der Treppe stand offen. Am Fenster war Walkers breiter Rücken hinter der BAR.
“Ich schieß’ dir den Arsch ab, Schweinehund!” rief er. Die Gabel, die das Gewehr trug, stand neben zwei Flaschen auf dem Fensterbrett. Er bückte sich, um eine aufzuheben, und beugte sich nach hinten, um zu trinken. Die Stiefel gruben sich in das austernfarbene, mit Satin überzogene und nun schmutzbeschmierte Steppbett.
John äffte Drummond nach und bellte: “Walker!”
“Mann, Kell, ich hab’ mir fast in die Hose gemacht.” Alkohol lief ihm über das Kinn. “Wir verschwenden hier echten französischen Kognak. Der Hauptmann sagt, das Haus hat einen wirklich guten Keller. Hier, versuch etwas davon.”
“Wie kannst du trinken und zugleich gerade schießen?”
“Ich bin Texaner.”
“Ich dachte, ich hätte dir gesagt, du sollst mit deinem Arsch auf deinen Posten zurückgehen!” Drummond funkelte ihn von der Tür aus an.
“Jawohl, Sarge, ich meine ...”
“Das Panzerfaustteam ist bereits drüben. Wenn sie fertig sind, wird das verdammte Haus leerstehen. Jetzt geh rüber und bleib auf deinem Platz!”
“Jawohl, Sarge!”
“Nimm Impi mit. Und versuche zu verstehen: Wir haben einen Haufen Leute verloren, nur um diese kleine Ecke der Stadt einzunehmen. Wenn jetzt alle den Clown spielen, werden wir sie wieder verlieren.”
Er trat mit Impi aus dem Hauptgebäude und rief Walker zu, er solle ihnen Feuerschutz geben. Die BAR spie, und sie rannten über die Straße bis zum Hintereingang, und dann die wackelnde, baufällige Treppe hinauf.
“Was für ein Schrottplatz, was, Kelly?”
“Das muß ein apartes Haus gewesen sein da drüben.”
“Das ganze ist ein Schrottplatz. Ich sag’ dir was, Kell, Williamsburg ist mir millionenmal lieber. Was mich angeht, können die Krauts diese Müllhalde behalten, den ganzen Haufen für einen Morgen Land von Greenpoint.” Blom war verschwunden. Impi bezog auf dem Tisch Stellung und saß, das Gewehr lose zwischen den Beinen hängend, mit dem Rücken zur Wand. Er nahm den Helm ab und rieb sich die Ohren warm, dann kreuzte er die Arme und beklopfte sich die Schultern.
“Setz den Helm auf!” John starrte auf die Straße.
“Weißt du, Kell, der ganze Scheiß, den sie uns in den Kriegsfilmen gezeigt haben, wo die Soldaten alle aussehen wie der Lackaffe an der Wand auf der anderen Straßenseite ... So ist es nicht. Wenn sie mir so eine Uniform geben würden und Loretta Young im Dekolleté lang und breit für mich in Ohnmacht fallen würde, würde ich mich ja nicht beschweren. Aber, Kell, sie sagen dir nie, wie es wirklich ist. Ich sah einen Kerl, dem sie den Mund abgeschossen hatten. Und er versuchte, mir etwas zu sagen. Und keine Worte.” John nickte. “Ich sag’ dir was, Kell, wenn das Italien wäre, würd’ ich weglaufen und mich irgendwo verstecken. Ich würd’ dich mitnehmen.” Er lächelte. Seine Stimmung hatte sich gewandelt. “Ich würd’ dir so eine hübsche Ragazza finden ... Italienische Mädchen sind lieb. Sie verstehen einen Mann.” Kugeln schlugen in die Wand ein.
“Weißt du, Kell, ich benehme mich immer, als wäre ich der größte Weiberheld. Das ist nur Gerede. In Wahrheit liebe ich Giovanna.”
“Setz den Helm auf! Du machst mich verrückt.”
“Das ist alles. Ich will ein guter Mensch sein. – Kell, ...” Seine Stimme wurde lauter. “Ich verstehe diesen Krieg nicht. Ich glaube nicht, daß ihn irgendeiner versteht. Das letzte Mal kämpfte mein Vater mit den Engländern gegen die Krauts. Er haßt die Krauts. Italiener hassen immer die Krauts. Was soll ich tun, wenn wir mit italienischen Jungs kämpfen müssen? Soll ich auf meinen Cousin schießen? Soll ich sie treten, wie es Metter mit dem Kraut gemacht hat, und sagen: ‚Wo ist dein Bataillon, du dreckiger Itacker?’ Sind denn alle verrückt? Glaubst du, daß es falsch ist, von all diesem Scheiß wegbleiben zu wollen?” Er kroch zum Fenster und schaute vorsichtig hinaus. “Ziemlich gefährlich um diese Ecke ‘rum.”
John sagte: “Was mich angeht, glaube ich, es wäre falsch. Du weißt, was Churchill sagt: Alles ist besser, als daß die Nazis die Welt regieren. Dieser Hitler ist verrückt und will, daß die ganze Welt sein Sklave wird und ‚Heil Hitler’ ruft.”
“Ja, mein Cousin hat das auch gesagt, als sie aus Italien schrieben. Sie wollen nicht kämpfen. Sie sagen, Mussolini ist nur ein Clown. Vielleicht sind wir alle Clowns, oder wir würden nicht hier sein und einander töten. Wir Menschen wurden nicht dafür geschaffen. Wir sollen einander lieben. Irgendein dummer Hund versucht, herüberzukommen.” Er hob das Gewehr, um ihm Feuerschutz zu geben.
“Hey, Imp! Steck deinen verrückten Kopf hier runter.” Er hielt ihm den Helm mit dem Gewehr hin. Impi gab ein kurzes ersticktes Lachen von sich, hielt die Hand aufs Herz und wirbelte herum wie in einem Western. Dann fiel er auf Johns Schoß und stieß die beiden Gewehre und den Helm zu Boden.
“Hör auf damit!” John gab ihm eins mit dem Ellenbogen. Impi schlitterte hinab und zog John mit sich. Die Lippe verzog sich und hielt ein Lachen zurück, doch dann öffnete sich der Mund geräuschlos. John drückte ihm die Schulter. “Impi!” Er blickte ihn an und schüttelte ihn leicht. Dann legte er den Kopf auf Impis Brust – sein Helm kratzte den groben Stoff – und hörte ein klopfendes Herz. Es war sein eigenes. Impis war weg. Er zog den Mantel zur Seite, schob die Hand unter die Kleider und ließ sie über die Brust, den Magen und den Bauch gleiten, warm wie ein Schoßhündchen, warm und heil. Impi war intakt. Sein Geist wanderte. Seine Finger suchten den Hals ab, und dann pellten sie langsam die Wollkappe auf, lösten den seidenen Bart und legten die Ohren frei. Etwas Warmes krabbelte ihm über die Finger: Impis Blut. Er schob den Bart zurück, zog die Wollkappe wieder über das Kinn, zerrte ihn auf den Tisch und wartete, wartete mit Impis Kopf in der Armbeuge. Er blickte zum Himmel empor und suchte die Wolken nach Zeichen ab, bis ihm der Blick schwamm. Als er wieder nach unten schaute, hatte Impi sich verändert. Christus lag in seinen Händen. Ein riesiges Streichholz entzündete sich neben seinem Ohr und ließ das Haus beben. Er hielt sich mit einer Hand am Tisch fest und stützte den Gefallenen mit dem Arm. Der Tisch sprang ein weiteres Mal, bevor er stillstand. Schwarzer Rauch trieb an den Öffnungen vorbei.
Die Teile des Puzzles fügten sich zusammen. Nicht nur das Kloster und die Religion waren in die Luft gesprengt worden. Es war ihr Mittelpunkt, es war Christus selbst. Das war die Botschaft des Tages. Er saß da mit Impi in den Armen. Es war das Ende aller Dinge. Er war zu traurig und erschöpft, um sich zu bewegen, und zu gequält, um sich still zu halten; er wiegte den Körper langsam vor und zurück, wie er es bei alten Männern in der Synagoge von Brooklyn gesehen hatte. Er betrauerte sowohl Christus als auch Impi.
Einmal fühlte er sich hungrig, doch verschwand der Hunger, bevor er sich entscheiden konnte nachzusehen. Ein anderes Mal belebte sich sein rechtes Bein mit Millionen Nadelstichen, doch fiel es nur in einen noch tieferen Schlaf.
Als es begann, dunkel zu werden, fiel ihm auf, daß alles still war. Keine Gewehrschüsse, und keine Granaten. Es hatte schon eine ganze Weile keine mehr gegeben. Er mußte Bericht erstatten. Diese Ecke war gesäubert worden. Wie viele Stunden war er hiergewesen? Seine Uhr sagte vier. Drei Minuten vor vier. Es mußte bald dämmern. Er wollte nicht im Dunkeln hierbleiben. Er ruhte Impis Kopf auf den Tisch. Er hatte jetzt Hunger. Er hatte nicht gegessen seit ... sein Geist wankte; seit dem Loch auf dem Bergkamm. Er stand schweigend da und nahm den Helm ab.
“Tut mir leid, Imp”, sagte er. “Ich muß gehen.” Er bedeckte Impis Gesicht, doch war sein Taschentuch dreckig. Er steckte es sich in die Tasche und legte Impis Hände über der Brust zusammen. Er machte ein Kreuz und empfahl ihn der Mutter Gottes. Unten hatte Türk den Eingang verlassen. An seiner Stelle gab es einen neuen, fetten Mann, der im Stuhl schlief. Als er Johns Stiefel hörte, erwachte er.
“Wo ist Türk?” fragte John.
“Hat ‘s erwischt.”
Im Haus auf der anderen Straßenseite aß Drummond Hackfleisch.
“Impi is tot.” Drummonds Gesicht war matt und düster. Er blickte auf Johns blutbespritzten Mantel und seinen abwesenden Ausdruck.
“Hast du seine Uhr mitgebracht?”
John starrte ihn an. Er hatte damit gerechnet, daß er in Tränen ausbricht oder sein Mitleid bekundet. Auch das war tot und begraben. Seine Uhr! Langsam wandte er sich um.